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Wie das Leben eben so spielt

Geschichten, Märchen und Gedichte aus Realität und Fantasie

Gisela Luise Till

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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© 2018 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

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Cover gestaltet unter Verwendung von Bildern

von © lapas77 + © pathdoc – lizensiert Adobe Stock

Alle Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2018

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

ISBN: 978-3-86196-758-3 – Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-092-6 – E-Book (2020)

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Inhalt

Sturmflut

Lebensweg

Heimatlos

Ich will ...

Riskanter Ausflug

Heimat

Bittere Erfahrung

Hass

Wie gewonnen,

Wehmut

Karlchen muss baden

Der Sensenmann

Frühling ...

Eine kleine Peinlichkeit

Leitsatz

Ein neues Zuhause

Liebe

Schwarz wie die Nacht

Das ist schön

Schöne Bescherung!

Besuch

Behaglichkeit

Hochzeit mit Hindernissen

Gedanken am Tag danach

Ein schönes Erlebnis

Suche nach Glück

Das Blatt wendet sich

Lodernde Flamme – erloschene Glut

Frauenlogik

Rätselhafte Begegnung

Herbst

Bild der Erinnerung

Ein unmoralisches Angebot

Ich liebe es

Freiheit

Erste Liebe

Tag der Entscheidung

Melancholie

Lebensabend

Im eigenen Museum

Erinnerung

Das schönste Geschenk

Vergessen

Glückliche Vorsehung

Sommer ade

Komm ins Märchen-Zauberland

Die verwunschene Prinzessin

Der Glückspilz

Weihnachtserwachen

Wer war der Dieb?

Schöne Weihnacht

Der Weihnachtsengel

Wie Knecht Ruprecht zum Nikolaus kam

Der Weihnachtsstern

Weihnacht

Die Autorin

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Der erste Schritt führt zum Ziel –

mach dich auf den Weg.

*

Sturmflut

Jan stand am Fenster und blickte besorgt auf das Meer. Seit Tagen zeigte die See sich von ihrer rauen Seite und schlug wieder einmal mit aller Härte zu. Windgepeitschte Wellen schlugen auf das Land und ließen das Haus erzittern. Außer ein paar Nachbarhäusern, die aus dem Wasser ragten, war von der Insel nicht mehr viel zu sehen. Die kleine Hallig war überflutet und Jan saß mit seinem Vater Hein fest.

Nein, sein Vater saß nicht fest, er lag fest. Sein altes Leiden war wieder aufgeflammt: Von Minute zu Minute schwoll sein Hals mehr zu und raubte ihm die Luft. Ausgerechnet jetzt besuchte die Mutter mit dem Motorboot Oma und konnte wegen des Sturms nicht heimkommen. Normalerweise liebte Jan es, wenn draußen der Sturm heulte. An solchen Tagen hatten die Eltern Zeit. Sie saßen dann gemeinsam in der Stube, spielten Karten oder lauschten einer von Paps’ Seemannsgeschichten. Doch dieses Mal war alles anders. Dieses Mal packte ihn die Angst. Sein Vater war in Gefahr und er war ganz allein.

Jan sog tief die Luft ein und atmete kräftig durch. Mit schwerem Herzen starrte er auf das Meer und dachte an die schönen Stunden, die er mit seinem Vater verbracht hatte. Es war wundervoll, wenn er mit ihm über die See schipperte und das Ruder halten durfte. Dann fühlte er sich so groß und stark wie ein richtiger Kapitän.

Vater Hein war ein richtiger Seebär und hatte ihm alles über die Seefahrt beigebracht. Er war ein Mann, der Wind und Wellen trotzte und immer das Richtige tat. Jan liebte ihn von ganzem Herzen, und sein sehnlichster Wunsch war, so zu werden wie er. Und nun das: Paps hatte Fieberanfälle, lag hilflos wie ein Wickelkind im Bett und er wusste nicht, was er tun sollte!

Dem Jungen kamen die Tränen. So hilflos hatte er sich noch nie gefühlt. Er eilte in die Küche, kochte Tee, stellte Wasser auf den Herd und machte warme Umschläge. Danach legte er dem Vater einen Verband um den Hals und fragte immer wieder: „Wie geht es dir? Wie geht es dir?“

Vater Hein röchelte mit belegter Stimme: „Ich brauche meine Medizin, ohne die überlebe ich nicht. Hoffentlich kommt Mama bald, der Kaufmann hat noch einige Flaschen.“

Jan blickte auf die See und fragte sich, was er machen sollte. Momentan lag das Meer wie ein schlafender Wolf, der seinen Bauch langsam hob und senkte, ausgestreckt vor ihm. Der Sturm machte eine Pause, so als wollte er sagen: „Komm, fahr los, hol die Medizin!“

Wenn er jetzt das alte Ruderboot flottmachte, konnte er es in der gegenwärtigen Flaute bis zum Krämer schaffen. Ihm blieb keine Wahl: Wenn er nicht an Vaters Tod schuld sein wollte, musste er es jetzt wagen. Jan straffte seinen Körper und zog mutig seine Mütze über den Blondschopf. Er warf nochmals einen prüfenden Blick auf das Meer, ging zum Bootshaus, zerrte den Kahn ins Wasser und ruderte los.

In der Ferne sah er den Krämerladen. Das Haus hob und senkte sich in den Fluten. Jan legte sich kräftig in die Ruder. Es war nicht weit, noch ein paar Schläge, dann war er da. Beim Kaufmann zurrte er, wie ein erfahrener Seemann, den Kahn fest und ging in den Laden. Drinnen erklärte er dem Krämer seine Notlage und drängte zur Eile. Der Krämer verpackte die Medizin in eine kleine Holzkiste und schnürte sie mit einer Schnur zu. Damit machte Jan sich auf den Heimweg.

Kaum dass er auf See war, heulte der Sturm erneut auf. Das Meer riss wie ein gefräßiges Raubtier sein Maul auf und spuckte meterhohe Wellen aus seiner grässlichen Fratze.

Jans Nussschale tanzte bald oben, bald unten in der tobenden Brandung. Der Kahn ächzte und krachte. Bei jedem Ächzen packte den Jungen die nackte Angst. Er drückte die Medizinkiste mit den Füßen auf den Boden und pullte um sein Leben. Die Gischt spritzte ihm ins Gesicht und der Boden unter seinen Füßen füllte sich mit Wasser. Der Sturm fauchte ein blutrünstiges Lied und das Meer vollführte einen wahren Hexentanz.

Jans steif gefrorene Hände konnten die Ruder kaum halten; sie wurden ihm aus der Hand gerissen und mit der nächsten Welle über Bord gespült. Dem Meer ausgeliefert, klammerte er sich an die Bootskante und schrie um Hilfe. Er schrie und schrie. Der Wind zerfetzte seine Schreie, dann packte ihn die Gischt. Der Junge wurde aus dem Kahn geschleudert und tauchte unter.

Neptuns Hand zog ihn ins kalte Nass und wirbelte ihn wie ein Spielball durch die Wellen. Jan konnte gut schwimmen, doch die Kälte versteifte seine Glieder. Seine Hände und Füße fühlten sich taub an und wollten ihm nicht mehr gehorchen. Sich dagegen zu wehren war sinnlos. Er fühlte, wie seine Lebenskraft schwand, und wollte sich ergeben.

Dreimal tauchte er auf und unter, dann verschluckte ihn das Meer. Jans Sinne schwanden. Er dachte an seinen Vater, an die Medizin und ihm wurde plötzlich bewusst, dass er um sein und um Vaters Leben kämpfen musste.

Mit letzter Kraft und der Entschlossenheit eines Ertrinkenden strampelte er durch das brodelnde Wasser, schoss zur Oberfläche und schnappte gierig nach Luft. Als er zu Atem kam und sich umblickte, tänzelte die Medizinkiste neben ihm. Mit ein paar Schwimmzügen war er bei ihr, erwischte sie und quetschte seine Hand durch die Schnüre. In dem Moment rammte ihn eine Planke. Er bekam sie zu fassen, warf die Arme darüber und klammerte sich daran fest.

So schnell der Sturm gekommen war, so schnell ebbte er ab und die Wogen glätteten sich. Entkräftet trieb Jan mit der Kiste im Wasser. Er fühlte nichts mehr: weder dass die Schnur in sein Handgelenk schnitt, noch dass seine Arme und Beine steif wurden.

Nach einiger Zeit drang das Tuckern eines Schiffsmotors an seine Ohren. Tock, tock, tock. Er horchte. Weg war es. Außer dem Pfeifen des Windes hörte er nichts mehr.

Doch, da! Tock, tock, tock. Das Geräusch kam näher, wurde lauter. Plötzlich packten ihn zwei kräftige Hände und eine Stimme befahl: „Los, mein Jung, rein ins Schipp!“

Jan lag keuchend auf den Schiffsplanken. Erschöpft öffnete er die Augen und sah in das liebevolle Gesicht seiner Mutter.

*

Lebensweg

Ich wandle nicht auf Veilchen,

auch nicht auf der Rosen Dorn.

Geh seitwärts mal ein Weilchen,

doch meist geh ich nach vorn.

So wie die Bächlein fließen,

so will ich weitergehen.

Denn ich will noch wissen,

was hinterm Berg ist zu sehen.

Wird mein Weg mal steinig,

dann bleib ich einfach stehen.

Ruh mich aus ein wenig,

will nicht rückwärtsgehen.

*

Heimatlos

Im Jahr 1944 tobte der Zweite Weltkrieg mit all seinen Schrecken über Deutschland.

Obwohl auf den Wiesen das Obst an den Bäumen hing und das Vieh auf den Weiden stand, hungerten die Menschen. Sie konnten weder das Vieh bergen, noch die Ernte einfahren, denn hinter dem Dorf verlief die Westfront. Der kleine Ort lag zu dieser Zeit unter ständigem Artilleriebeschuss der amerikanischen Streitkräfte. Anwohner, die ihre Wiesen betraten, um das Fallobst oder Vieh zu retten, wurden rücksichtslos beschossen.

Einige Bewohner waren schon geflüchtet, andere verbrachten die schlimmsten Tage des Krieges in ihren Kellern und hofften, dort bis zum Ende des Krieges durchzuhalten. Somit traf es die Bevölkerung wie einen Keulenschlag, als der Befehl kam, den Ort zu räumen. Zwangsräumung, Ausquartierung, Evakuierung waren die drei gefürchteten Worte, die seit Langem im Dorf die Runde machten.

Alsdorf war bereits von den Amerikanern besetzt und so war es nicht verwunderlich, dass auch das kleine Bauerndorf Anfang November zwangsevakuiert wurde. Meine Familie war auch dabei.

Nachdem die Mutter – hochschwanger – bei einer Bombendetonation die Kellertreppe hinuntergeschleudert worden war und mit viel Glück keinen großen Schaden davongetragen hatte, war es für meine Familie leichter, sich der Zwangsausweisung zu fügen. Wir kamen nach Thüringen und wurden in Hildburghausen in einer alten Schule einquartiert.

Bevor wir uns auf den zugewiesenen Feldpritschen niederlassen konnten, musste die Unterkunft von allem möglichen Ungeziefer gereinigt werden!

Ohne Erfolg: In kürzester Zeit tanzten wieder die Flöhe im Raum herum.

Welch ein Glück, dass später der Familie in Eishausen ein anderes Quartier zur Verfügung gestellt wurde. Dort verbrachte sie, mehr schlecht als recht, die letzten Monate des Krieges.

Nun wurde der Vater, nicht kriegstauglich, weil verwundet, zum Volkssturm beordert. Der Volkssturm war eine zusammengewürfelte Gruppe. Alte Männer, Verletzte und Jugendliche – von überall her – sollten den Ort vor eventuellen Angriffen schützen.

Der Winter verging ohne gravierende Besonderheiten. Es folgte der Februar und somit Karneval. Nun trug es sich zu, dass Vater und einige Männer aus dem Volkssturm, alles Aachener und Kölner, sich am Karnevalssamstag in der Kneipe auf ein Bier trafen. Sie saßen dicht gedrängt an einem Tisch und sangen mit tränenerfüllten Augen: „Ich möcht zu Fooß noh Kölle jonn ...“

Der Wirt, ein miesepetriger Geselle, der auf die hergelaufene Bande – wie er sie nannte – nicht gut zu sprechen war, stürmte hinter der Theke hervor und schrie: „Ihr Saubande, raus hier! Draußen werden Soldaten erschossen und ihr sitzt hier und feiert Karneval!“

Der Gesang verstummte.

Schweigen machte sich breit.

Ein kräftiger, breitschultriger Einheimischer erkannte die Situation, er knallte seine Faust auf den Tresen und brummte: „Halts Maul, siehst du nicht, dass die Jungs Heimweh haben?“

Die gescholtenen Männer standen schweigend auf, gingen hinaus und lenkten ihre Schritte zum Dorfkrug. Hier, beim tauben Fritz, der schon lange nicht mehr richtig hörte, sangen sie die Aachener Lieder von d’r Brand, de Rues, de Paas und och d’r Öcherbösch – bis ihre Stimmen in Tränen erstickten.

*

Ich will ...

... nicht leben in einer Welt, wo kein Vogel singt

und vom Kirchturm keine Glocke klingt.

Wo den Kindern das Lachen fehlt

und einer den anderen aus Freude quält.

Wo alte Menschen einsam sind

und niemand da ist, der in den Arm sie nimmt.

Ich will nicht leben in einer Welt,

wo in den Herzen die Sonne fehlt.

Wo die Luft uns den Atem nimmt

und dir nichts als Krankheit bringt.

Wo Frauen der Männer Sklaven sind

und Mädchen töten ihr eigen Kind.

Ich will …

... dass die Familien glücklich leben

und ihren Kindern nur Liebe geben.

Wenn Mond und Sterne am Himmel stehen,

ich ohne Angst sie kann sehen.

Ich will, dass hier auf Erden

es endlich einmal soll Frieden werden.

*

Riskanter Ausflug

Es war in jener Zeit, als kaum Autos auf den Dorfstraßen fuhren, die Bauern mit ihren Pferdefuhrwerken übers Land zogen und die Bewohner noch vor ihren Häusern auf den Bänken saßen. Die Kinder benutzten die Straße als Spielplatz und niemanden verwunderte es, wenn plötzlich eine Kuh, ein Schaf oder ein Huhn über die Straße spazierte.

Zu dieser Zeit trug es sich zu, dass Lisa mit ihrer Familie in die Stadt zur Oma fuhr. Der Ausflug war ein großes Ereignis, das die Großfamilie sich nur einmal im Jahr gönnte. Und so machten sie sich in freudiger Erwartung auf den Weg zum Bahnhof. Doch niemand bemerkte, dass ihr Hund – Purzel – im sicheren Abstand hinterherschlich.

Die alte Dampflok näherte sich mit einer langen Rauchfahne und blieb kurze Zeit später fauchend und zischend stehen. Nachdem alle mit Gejauchze eingestiegen waren, setzte sich der Dampfzug wieder schwerfällig in Bewegung.

Und da – da musste es passiert sein! Doch niemand hatte es gesehen. Purzel sprang im letzten Moment in den Zug und ab ging die Reise.

Aachen Nordbahnhof war die Endstation. Hier verließ die Familie die Eisenbahn. Lisa hüpfte an Vaters Hand zum Ausgang und bestaunte die vielen Menschen, die aus dem Zug strömten. Plötzlich bemerkte sie einen schwarzen Spitz, der hinter einem Maschendraht bellend hin und her lief. Sie starrte auf den Hund und rief erstaunt: „Das ist Purzel!“

Der Vater schüttelte den Kopf. „Nein – unmöglich! Das ist ein fremder Hund. Wie soll Purzel denn hierherkommen?“

Der Hund kläffte immer lauter, er sprang gegen den Maschendraht, rannte vor und zurück und versuchte verzweifelt, einen Durchschlupf zu finden. Die Familie ging weiter und entfernte sich immer mehr von dem Tier. Je weiter sie sich entfernten, umso erregter kläffte der Hund. Angsterfüllt sprang er immer wilder gegen den Maschendraht.