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Mein Leben als Maskenträgerin

Selbstverletzendes Verhalten aus betroffener Sicht erklärt

Lea Bach

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Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Lektorat: Melanie Wittmann

Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM

www.literaturredaktion.de

Cover: Gestaltet mit Bilder von © Anja Greiner

und © trahko - Adobe Stock lizenziert

Bilder Innenteil: © Lea Bach

ISBN: 978-3-86196-700-2 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-069-8 - E-Book

*

Inhalt

Vorwort

Die Maske

Die Klinge

Das Wiederkehren

Das Tal der roten Tränen

Der neue Weg

Die Station

Das Labyrinth

Radikale Akzeptanz

Therapiestunden

Das unbekannte

Mein erster

Part zwei

Der erste Schultag

Es ist nicht leicht,

Worte mit Bedeutung

Nicht jeder Tag

Jeder Mensch hat eine Aufgabe

Der Lichtblick

Karl, der Käfer

Schöne Erinnerungen

Das Bärenkind

Außer Kontrolle

Blickkontakt

*

Du kannst die Wellen nicht stoppen,

aber du kannst lernen, sie zu reiten.

Es ist alles möglich, wenn der Wille

und das Streben danach groß genug sind ...

*

Vorwort

Die Natur schenkt uns ein Lächeln, das wir oftmals nicht erkennen. Sie ist farbenfroh und hell. Manchmal stürmt es. Manchmal schneit es. Ein anderes Mal aber steht die Sonne am Himmel und wärmt uns. Sie lässt uns strahlen und glücklich sein. Dann wiederum ist alles grau, die Wolken bilden eine dicke Mauer und es regnet.

Die Natur kann vieles ausdrücken. So wie wir ...

„Kopf hoch!“

„Stark bleiben.“

„Falsches Lächeln.“

„Weitermachen ...“

Auch wenn es noch so schwerfällt ... kämpfen lohnt sich!

Sei unbeschwert! Lass das Leben auf dich regnen und genieße die Augenblicke des Glücks. Schau nicht weg, sondern hin! Freue dich über das kleine Glück, nicht über große Wunder. Nimm das, was du hast, an und denke nicht über das nach, was du nicht hast. Akzeptiere das, was dir dein Schicksal schenkt.

Hallo, ich bin Lea und 15 Jahre alt. Manchmal starre ich auf einen Punkt und träume mich weit weg. Ich träume gerne.

Viele halten mich für verrückt oder abgedreht. Manchmal laufe ich tanzend und laut singend durch die Straßen und denke darüber nach, wie schön es ist, glücklich zu sein. Es ist ein schönes, wärmendes und freies Gefühl von Schwerelosigkeit. Man glaubt beinahe, man könnte fliegen. Doch wenn man dieses Gefühl nicht mehr spüren kann, weil im Leben etwas passiert ist, das eine Art Schalter im Kopf umlegt, der für das Glücklichsein zuständig ist, dann kann das sehr schlimm sein. Auch ich habe so etwas erlebt.

Eines Abends werde ich aufwachen und bemerken, dass alles nur ein Traum war. Ich werde den Wecker hören und wissen, dass all die Schmerzen nicht echt waren. Dass die ganze Geschichte geträumt war und all die Last, die jahrelang auf meinen Schultern lag, nur noch Asche und Staub ist. Nichts davon ist je wahr gewesen.

Doch ich wache auf und muss leider feststellen, dass es kein Traum gewesen ist. Jede Narbe, die ich auf meiner Seele trage, begleitet mich Tag für Tag.

An alle, die aus Worten Messer machen, die urteilen, bevor sie denken. An die Menschen, die glauben, es sei besser, alles zu beenden und aufzugeben, weil sie vor lauter Nebel keine Sonne mehr sehen können, die vor Schmerz schreien. Es gibt Hoffnung! Ein Engel hört euch weinen. Der Engel, der spürt, wie es euch geht, der eure Tränen trocknen wird und euch endlich davon erlöst. Ich habe ihn selbst kennengelernt. Er ist kein Mensch und auch kein Tier. Ich denke, dafür gibt es keine wirkliche Erklärung, denn es passieren so viele Dinge jeden Tag, die man sich einfach nicht erklären kann. Es gibt Wunder. Man muss nur fest genug daran glauben!

Viele halten mich für naiv und dumm. Doch ich habe all das nur überstanden, weil ich den Glauben niemals aufgegeben habe, dass eines Tages alles besser wird. Ich habe die Welt und meine Geschichte so oft verflucht, mich gefragt: „Warum ich? WARUM ausgerechnet ICH???“ Doch ich denke, das Schicksal spielt nun mal gerne mit uns, und das ist gut, denn so lernen wir.

Meine Oma sagt immer: „Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt!“ Und mit dieser Aussage liegt sie meiner Meinung nach goldrichtig. Es geschehen jeden Tag Dinge auf dieser Welt, die grausam und ungerecht sind. Viele Leute schauen einfach weg und schließen die Augen. Sie sind feige. Schaut nicht weg, sondern hin! Geht auf die Leidenden zu und hört ihre Schreie. Vielleicht werdet auch ihr eines Tages froh darüber sein, wenn euch jemand hilft.

Ich möchte euch etwas verdeutlichen, das ihr vielleicht nur schwer verstehen werdet. Vielleicht wird es euch berühren ... oder ihr glaubt mir nicht, aber ich habe Menschen kennengelernt, die mir das Leben neu beigebracht haben. Menschen, die mir in einer Zeit geholfen haben, als ich mich selbst schon fast aufgegeben hatte. Damals war ich an einem sehr schwarzen und traurigen Punkt in meinem Leben angekommen. So etwas wünsche ich niemandem, noch nicht einmal meinem schlimmsten Feind. Ich konnte mich an nichts mehr erfreuen. Ich war tagelang traurig und konnte – oder wollte – mit niemandem reden. Ich zog mich zurück und verschanzte mich in meinem Zimmer. Grenzte mich von Menschen ab, die sich meine Freunde nannten, wurde immer mehr zum Einzelgänger und doch konnte ich nicht alleine sein. Ich wollte zwar alleine sein, doch der Unterschied liegt darin, dass es jemandem, der gerne alleine ist, nichts ausmacht, tatsächlich alleine zu sein. Wenn man allerdings lieber zu zweit sein möchte, macht einen die Einsamkeit traurig.

Es ist, als würde Mama Ja sagen und Papa Nein ... ein ewiges Hin und Her zwischen den Fronten. Es beginnt zu schmerzen und man weiß nicht mehr, was gut oder böse ist. Man ficht einen ständigen Kampf aus, bei dem man nicht einmal weiß, welche Waffen man benötigt, um den Tag zu überstehen. Also ist Spontaneität gefragt. Doch wie mache ich das, sodass man mir nichts anmerkt?

Ich möchte euch auf eine kleine Reise mitnehmen, sie führt zurück zu meinem zehnten Lebensjahr. Das ist die Zeit, die ich den Wendepunkt nenne. Mit neun Jahren hatte ich starkes Übergewicht und habe deswegen sechs Wochen Kur von der Krankenkasse genehmigt bekommen. Ich durfte nach Sylt. Das ist eine kleine Insel in der Nordsee, zwar teuer, aber dafür wunderschön und sehr ruhig. Ich habe die sechs Wochen sehr genossen, viele neue Menschen kennengelernt und bin zum ersten Mal mit dem Thema Tod konfrontiert worden. In der vorletzten Woche meines Aufenthalts hat mir meine Mutter am Telefon gesagt, dass mein Opa gestorben sei. Ich begriff, dass er nie wiederkommen würde, dass ich ihn nie, nie wieder in meine kleinen Arme schließen könnte. Ich habe sehr viel geweint und wollte unbedingt nach Hause, aber meine Eltern und die Kurbetreuer meinten, dass ich das auch so hinbekommen würde. Nur leider habe ich nie wirklich Abschied nehmen können. Ich kann bis heute nicht zu Opas Grab gehen, ohne eine Träne zu vergießen. So sehr berührt es mich noch immer. Jedes Mal, wenn ich seine Ruhestätte besuche, was nicht oft vorkommt, muss ich weinen und denke darüber nach, wie es wohl wäre, wenn ich damals die Kur abgebrochen hätte. Doch diese Frage kann mir niemand beantworten. Und je mehr man über das Was-wäre-wenn nachdenkt, grübelt und sich den Kopf zerbricht, desto trauriger und deprimierter wird man. Zumindest geht es mir so.

Einen ganz bestimmten Abend in meinem Leben werde ich niemals vergessen. Wenn ich heute darüber nachdenke, dann tut es mir leid. Ich fragte mich damals oft, was zwischen meinen Eltern so falsch lief, dass sie sich immer und immer wieder streiten mussten. Doch eigentlich hatte ich die Wahrheit, den großen Grund, direkt vor meinen Augen. Mein Vater hat meiner Mutter immer und immer wieder unterstellt, dass sie andere Männer hätte. Doch das stimmte nicht!

Er fuhr oft mit meiner Schwester und mir zur Arbeitsstelle meiner Mutter, um zu kontrollieren, ob sie auch wirklich arbeitete. Meist war das kurz vor Schichtende. Und es geschah mit der Begründung: „Wir helfen Mama aufräumen, dann ist sie schneller fertig.“

Er spionierte ihr hinterher wie ein Detektiv, der nach etwas ganz Bestimmtem suchte. Irgendwann hat er sogar Wanzen installiert, weil er der Meinung war, dass sich meine Mutter mit ihren „Affären“ in unserem Haus treffe. Er brachte es so weit, dass selbst ich irgendwann glaubte, sie hätte jemand anderen. Doch irgendwann durchschaute ihn. Er war ein Stalker!

Ich wusste nicht, auf welcher Seite ich stehen sollte. Doch bald wendete sich das Blatt. Ich bemerkte, dass zwischen unserem Babysitter und meinem Vater etwas anderes lief. Aber dazu später mehr.

2009 hat meine Mutter meinen Vater vor die Tür gesetzt. Die Beziehung meiner Eltern war schon längere Zeit nicht mehr die beste. Was mich ehrlich gesagt nicht wunderte. Doch an jenem Abend war es besonders schlimm. Er verpasste ihr eine Ohrfeige und schubste sie gegen den Küchenschrank. Ich hatte damals echt Angst vor ihm, aber vor allem hatte ich Angst um meine Mutter. Sie war schon immer eine Art Heiligtum für mich gewesen.

Alles begann mit einem harmlosen Streit um eine Kreditkarte, die meine Mutter nicht herausgeben wollte, da mein Vater nicht gut mit Geld umgehen konnte. Ich bekam diese laute Auseinandersetzung mit und warf mein Beschützer-Kuscheltier an meine Zimmertür in der Hoffnung, sie würden darauf reagieren. Doch nichts passierte. Die Schreie wurden noch lauter und ich bekam sehr große Angst. Mein Vater war ein Monster, eine tickende Zeitbombe.

Nachdem ich die Treppen hinuntergerannt war, beobachtete ich, wie er ausholte und meiner Mutter mitten ins Gesicht schlug. Es tat mir tief im Herzen weh. Er hat zwar meine Mutter geschlagen, aber mich gleichzeitig ebenso verletzt. Ihre Backe und ihr Auge waren knallrot, später sogar ein bisschen blau.

Ich schrie: „Hör auf! Bitte, hör auf!“, doch mein Vater drehte sich nur um und ging in Richtung Sofa. Er tat ganz cool. Das machte er immer, wenn es Streit gab.

Ich traute ihm nicht, denn ich hatte große Angst vor ihm, weil er sehr aggressiv war. Er schrie meine Mutter an, sie schrie zurück. Das war der Abend, an dem alles eskalierte. Ich habe ihn bis heute nicht vergessen!

An diesem Abend hatte ich das Gefühl, meine Mutter, Schwester und Oma (die später noch dazukam) beschützen zu müssen. Ich glaube, ich habe noch nie so gezittert. Ich war sehr wütend und zornig und schrie so laut, dass ich mich selbst nicht wiedererkannte. Ich war voller Adrenalin, voller Wut und voller Kraft, mein Puls schlug mir bis zum Hals. Später schrie mein Vater auch noch meine Oma an. Das war mir endgültig zu viel. Ich habe sehr, sehr viel geweint, geschrien, getobt.

Ich glaube, es war schon der Anfang des nächsten Tages (0:30 Uhr oder so), als meine Mutter mit zu meiner Oma gefahren ist. Meine Schwester schlief bei mir im Bett und ich habe die ganze Zeit mit der Angst gekämpft, dass er, mein Erzeuger, hochkommt und uns tyrannisiert.

Als ich vier Jahre alt war, haben meine Eltern beide sehr viel gearbeitet. Meine Schwester war zu diesem Zeitpunkt noch ein Baby und war auf einen Erwachsenen angewiesen. Deshalb hatten wir einen Babysitter. Anfangs war das auch für mich eine tolle Sache, doch nach ungefähr drei Jahren änderte sich alles. Nadine hatte keine Zeit mehr, weil sie viel für die Schule lernen musste, und so vermittelte sie uns eine Freundin von sich, die ihr Taschengeld aufbessern wollte. Doch aus dem Babysitten wurde für mich die Hölle. Jessica verliebte sich in meinen Vater. Damals muss sie 16 gewesen sein und er ungefähr 25. Eine für mich komische Vorstellung. Wie auch immer. Ich war sieben Jahre alt, als ich das erste Mal bemerkte, dass die Beziehung meines Vaters zu Jessica etwas anders war, als sie es zuvor zu Nadine gewesen war. Ich meine, man kann doch unterscheiden, ob zwei Menschen sich lieben oder nur gernhaben, oder?

Ich habe meiner Mutter von meinem Verdacht erzählt. Doch sie wollte es nicht wahrhaben und hat es schöngeredet. Sie hatte, glaube ich, Angst oder so etwas.

Jessica war jeden Tag bei uns, auch wenn mein Vater nicht arbeiten musste. Sie saßen immer auf der Couch und spielten Karten. Es war jedes Mal nach der Schule ein beklemmendes Gefühl, nach Hause zu müssen. Manchmal, wenn ich um 16 Uhr Schulschluss hatte, dachte ich wirklich darüber nach, einfach nicht nach Hause zu gehen. Sondern an einen anderen Ort, an dem mich niemand finden würde.

Manchmal hat mich Julian nach der Schule nach Hause begleitet. Er ging mit mir in eine Klasse und wusste von meinem Verdacht. Er wollte mir helfen, weil er mich mochte. Er brachte mich oft zum Lachen, doch mein Vater konnte ihn nicht leiden. Irgendwann fanden wir durch Zufall eine SMS auf dem Handy meines Vaters, in der sich Jessica für den Tag und die schöne Nacht bedankte. Doch auch dies schluckte meine Mutter. Sie verstand mich nicht.

Eines Tages war ich bei Elena zu Besuch. Wir hatten viel Spaß zusammen und aßen Chips und Popcorn bei einem lustigen Film. Doch dann sagte die Uhr, dass es Zeit wäre, nach Hause zu gehen. Ich wollte jedoch nicht und Elena hatte die Idee, da es Wochenende war, dass ich bei ihr übernachten sollte. Ich rief meine Mutter an, die zögerlich zustimmte.

Am nächsten Tag kam ich nach Hause, um mit dem Hund Gassi zu gehen. Und wen traf ich da wohl an? Meinen werten Herrn Vater mit seiner Jessica. Sie saßen beide auf der Couch und spielten mal wieder Karten. Ich ging nach oben und sah, dass meine Mutter schlief. Einige Zeit später ging ich in ihr Zimmer, um ihr zu sagen, dass ich wieder da sei und mit dem Hund eine Runde durch den Wald spazieren würde, worauf sie mit Tränen in den Augen antwortete: „Wie konntest du mich nur alleine lassen?“

Ich war von mir selbst enttäuscht und wütend über ihre Aussage, da ich sie gestern Abend extra angerufen und gefragt hatte, ob ich bei Elena übernachten dürfe. Ich nahm Ben (unseren Hund) und ging mit Elena gemeinsam spazieren. Als ich nach zwei Stunden wiederkam, zog ich mich in mein Zimmer zurück und hörte laut Musik. So begann mein Hass auf mich selbst zu wachsen. Ich dachte oft darüber nach, ob ich an all dem schuld war.

Ein großes Hobby von mir war das Reiten. Das ist etwas Wunderbares. Ich hatte mich von Mal zu Mal verbessert und war echt stolz auf meine Fortschritte. Natürlich konnte es auch vorkommen, dass man vom Pferd fiel. Das gehört dazu, jeder gute Reiter ist schon mal unfreiwillig abgestiegen. So bin auch ich (nicht nur einmal) vom Pferd gefallen. Und trotz Schmerzen bin ich wieder aufgestiegen.

An diesem Abend holte mich mein Onkel vom Reitunterricht ab, weil meine Mutter arbeiten musste. Als sie am späten Abend nach Hause kam, berichtete ich ihr von meinem kleinen Unfall und teilte ihr mit, dass ich Schmerzen im Schulterbereich hätte. Doch sie meinte nur, ich solle mich nicht so anstellen. Also versuchte ich, den Schmerz zu vergessen, und ging ins Bett.

Doch auch am nächsten Tag waren die Schmerzen nicht verschwunden. Ganz im Gegenteil, sie waren sogar noch schlimmer. Ich bat meine Mutter, mich ins Krankenhaus zu fahren, doch sie hatte auch an diesem Tag viel zu tun und war gestresst. Ich pochte allerdings darauf und gewann die Schlacht. Im Auto kam es zum Streit, bei dem ich erfuhr, dass meine Oma einen weiteren Hirntumor hätte. Das machte mich sehr traurig und wütend, da meine Oma schon genug Krebs und Tumore in ihrem Körper zu bekämpfen hatte und zu diesem Zeitpunkt ihre Lebensdauer als sehr gering eingeschätzt worden war.

2007 ‒ in diesem Jahr wurde ein Erzieher aus unserem Dorf wegen sexuellen Missbrauchs angeklagt. Ihm wurde vorgeworfen, 15 minderjährige Mädchen und Jungen belästigt und missbraucht zu haben. Daraufhin wurde das Kinderheim namens Vogelnest, in dem er gearbeitet hatte, geschlossen und die Pflegekinder wurden Pflegefamilien übergeben oder in ein anderes Kinderheim verlegt. Viele aus dem Dorf protestierten an besagtem Tag vor der Haustür des Erziehers. Die Kinder und Jugendlichen aus dem Heim bespuckten Polizisten und deren Autos. Sie waren aufgebracht und wütend über die Vorwürfe, denn sie wollten nicht aus ihrem gewohnten Umfeld weg. Ich war an diesem Tag im Kindergarten. Meine Mutter stand jedoch dabei und protestierte mit. Daher weiß ich das alles so genau.

Da auch ich teilweise im Vogelnest untergebracht war, wurde ich aufs Polizeipräsidium bestellt. Die Polizistin stellte mir sehr direkte Fragen und wollte etwas über einige sehr unangenehme Situationen wissen. Ich lächelte viel und verneinte die Fragen, die ich damals wahrheitsgemäß hätte beantworten sollen. Denn ich wusste ganz genau, dass das Nein gelogen war. Doch ich konnte nicht darüber sprechen. Ich wollte es nur vergessen. Ich war noch so klein und die Befragung war für mich schnell wieder vergessen. Zumindest dachte ich das ...

Und so kam etwas ins Rollen, das mich all die Jahre immer und immer wieder überrollte.

*

*

Die Maske

Manchmal ist die Maske ziemlich schwer auszuhalten. Und es kommt dir lange Zeit vor, als würde sie immer schwerer werden. Du fragst dich, wie lange du diesem Druck noch standhalten kannst. Es ist nicht einfach zu lachen, wenn du die ganze Zeit an deine Vergangenheit erinnert wirst. Ich meine, an seine Vergangenheit erinnert zu werden oder selbst zurückzublicken, ist, wenn man eine schöne beziehungsweise fröhliche, gute Vergangenheit hat, nicht schlimm. Man erinnert sich dann vielleicht sogar gerne zurück. Aber meine Vergangenheit gehört einem kleinen hilflosen und ängstlichen, teilweise aber auch fröhlichen und offenen Mädchen. Einem Kind, das voller Energie und Träume steckte. Dessen Zukunft noch weit vor ihm lag. Doch dieses Mädchen existiert nicht mehr! Es ist bereits tot! Gestorben durch Enttäuschung, Eiseskälte, Trauer, Unzufriedenheit und Kraftlosigkeit. Es ist ein innerlicher Kampf, den du Tag für Tag neu beginnst in der Hoffnung, irgendwann einmal zu gewinnen. Du lachst, obwohl du innerlich stirbst.

Auf die Frage „Wie geht es dir?“, antwortest du IMMER mit „Danke, mir geht es gut“, auch wenn du es nicht so meinst. Reden bedeutet Gefahr ... Die Gefahr lauert überall.

Ich hasse mein Leben und zugleich liebe ich es. Ich bin dankbar für alles, was ich habe, doch würde ich am liebsten einfach alles hinwerfen. Ich darf nicht reden, mit NIEMANDEM! Denn das ist mein Schutz.

Ich lebte so vor mich hin. Ging morgens in die Schule und kam abends spät nach Hause. Wenn mich meine Mutter fragte, was mit mir los sei, blockte ich ab. Ich rannte weg, weil ich dachte, dass dies die Lösung sei. Ich wollte nicht reden, mit niemandem. Ich kannte nur das Schweigen. Es schien fast so, als hätte ich Stück für Stück das Sprechen verlernt.

Als ich neun Jahre alt war, ist meine kleine Schwester verschwunden. Ich hatte panische Angst um sie, deshalb setzte ich mich aufs Fahrrad und suchte im ganzen Dorf nach ihr. Nichts!

Ich fuhr ein Stück in den Wald hinein, doch als ich einen dunklen Sprinter sah, begann ich zu zittern. Ich beobachtete Leute, die Angelgeräte aus dem Auto ausluden. Ich riss mein Fahrrad herum und fuhr in Windeseile wieder nach Hause. Ich dachte darüber nach, was ich getan hätte, wenn meine Schwester in diesem Auto gefangen gehalten worden wäre. Weg mit diesem Gedanken!

Als ich zu Hause ankam, brach ich zusammen. Ich verfing mich in einem Weinkrampf, konnte einfach nicht aufhören zu schluchzen. Meine Mutter hielt mich fest im Arm und beruhigte mich.