Übungsverzeichnis

Achtsam für Körper und Geist
Ankommen bei sich selbst – eine Meditation
Befreiung vom MUSS – Freude am Tun finden
Dankbarkeit ausdrücken und Wertschätzung kultivieren
Die gute Absicht hinter einem unakzeptablen Verhalten finden
Forderungen oder: Wie kann ich die Realität des Gegenübers einbeziehen?
Gewalt im Alltag
Hilfreiche Fragen für die Drehbücher des Alltags
Kurze Selbstempathie
Lob des Fehlers
„Macht mit“ oder „Macht über“
Meine eigenen Auslöser erkennen und heilen
Meinen Ärger wahrnehmen und seine Botschaft entschlüsseln
Mit den Kindern Bitten finden und schwierige Situationen freundlicher gestalten
Mit welchen Ohren höre ich?
Sich selbst wertschätzen
Teamentwicklung mit der GFK
Verbindung statt Kritik
Vom Gegeneinander zum Miteinander – eine Mediation
Vom Urteil zum Bedürfnis
Vorbereitung auf einen authentischen Dialog
Wechselspiel zwischen authentischer Selbstmitteilung und empathischem Zuhören
Wertschätzen statt Loben
Wertschätzung entwickeln
Wie bin ich da?

Vorwort

Ich schreibe dieses Vorwort im März 2020, während der Corona-Krise. Weltweit erleben wir, wovon in diesem Buch für den Mikrokosmos der KiTa die Rede ist: Dass wir alle immer miteinander verbunden sind. Dass die Handlungen einer Person sich auf die anderen auswirken und dem Leben dienen oder schaden.

In Quarantäne verlangsamt sich (scheinbar) das Leben. Wir beschränken uns auf Wesentliches. Was ist wirklich wichtig? Mit einem Mal wird sichtbar, wo sich die oft übersehenen Stellschrauben im Getriebe unserer Gesellschaft befinden. Die Kindertageseinrichtungen gehören aus meiner Warte auf jeden Fall dazu, jetzt, da sie nur Notbetreuung anbieten. Massenhaft können Eltern nicht berufstägig sein. Sie tun nun, was ansonsten die Aufgabe der ca. 768 000 pädagogischen Fachkräfte dieses Landes ist: Sie verbringen viele Stunden (mehr) am Tag mit ihren Kindern und entdecken zusammen die Welt.

In der KiTa werden die Grundlagen für ein lebenslanges Lernen gelegt. In diesem Buch erläutere ich an Beispielen aus der Praxis, wie die Gewaltfreie Kommunikation (GFK) mit ihrer Essenz die Beziehungsgestaltung unterstützen kann: Gleichwürdigkeit und Verbindung zu leben und dadurch wertschätzende Beziehungen zu sich selbst, im Team, zu den Kindern und Eltern gestalten.

Mit dem ersten Kapitel erweise ich meinem Lehrer Marshall Rosenberg Reverenz. Es ist außerdem getragen von meiner Wertschätzung für die pädagogischen Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen. Ich beschreibe, worin ich eine glückliche Verbindung zwischen GFK und Frühpädagogik sehe.

Im zweiten Kapitel wende ich mich dem Thema Selbstempathie für pädagogische Fachkräfte zu. Es gibt einen Spruch: Der Ausweg liegt im Inneren. In diesem Sinne sind für mich die Beziehung der pädagogischen Fachkräfte zu sich selbst und ihre Selbstannahme die Grundlage für professionelles Denken und Handeln. Und das wiederum ist eine Voraussetzung für eine weitere Qualitätsentwicklung in den Kindertageseinrichtungen, ebenso wie eine wertschätzende, unterstützende Zusammenarbeit im Team, womit sich das dritte Kapitel beschäftigt: Was heißt gewaltfreie Kommunikation im Team und was gewaltfreies Handeln? Erst wenn über diese beiden Themen Klarheit besteht, ist es möglich, sich auf einer anderen Ebene um die Beziehung zu den Kindern und deren angemessene pädagogische Begleitung zu kümmern. Das ist Thema im vierten Kapitel: Was signalisieren Kinder und wie ist es möglich, ihre Bedürfnisse wahrzunehmen, zu beantworten und für sie einen Ort zum emotionalen Wachsen zu schaffen?

Im fünften Kapitel wird die Beziehung zu den Eltern betrachtet. Warum wird diese Begegnung oft als herausfordernd und schwierig erlebt, und wie ist es möglich, auch hier mehr Verständnis und Verständigung zu erreichen?

Im sechsten Kapitel beschreibe ich, wie ich mir eine gewaltfreie Kindertagesstätte vorstelle, was aus meiner Warte dazu gehört und dazu beitragen kann, dass mehr Einrichtungen sich in diese Richtung entwickeln.

Letztendlich – und so verstehe ich mehr oder minder jedes Kapitel – geht es mir darum, dass sich pädagogische Fachkräfte ihrer Rolle und Kraft bewusst werden bzw. bewusst sind und in diesem Sinne als Gestalter*innen der Kindertagesstätte und in der Gesellschaft agieren. Für mich schließt das unbedingt mit ein, sich für bessere Rahmenbedingungen in der Frühpädagogik einzusetzen. Die Kindertagesstätte wird heute oft als ein Raum der begrenzten Möglichkeiten wahrgenommen: Zu wenig Personal, zu schlecht bezahlt, zu wenig Plätze, zu wenig Zeit, um den Kindern die unendlichen Lernmöglichkeiten zu eröffnen, und, und, und. Das aber muss nicht sein. Gerade deshalb lohnt es, sich mit dem unterstützenden Potenzial der Essenz der GFK auseinanderzusetzen: Verbindung zwischen den handelnden Personen in der Kindertagesstätte herzustellen, Trennungen wahrzunehmen und zu überwinden und zu sehen, welcher Raum sich eröffnet, wenn man gemeinsam und in Verbundenheit handelt.

Marshall Rosenberg schrieb dazu: „Das Problem ist nicht, dass wir nicht immer alle unsere Bedürfnisse erfüllen können, sondern dass wir nicht wissen, wie das geht. Wir haben oft feste Vorstellungen im Kopf und denken: ‚So will ich es, nur so kann ich glücklich werden‘, das heißt, wir verwechseln ständig unsere Wünsche und unsere Strategien mit unseren Bedürfnissen“ (2004, S. 107). In diesem Sinne will das Buch ermuntern und ausdrücklich dazu einladen, wertschätzende Beziehungen in Wahlfreiheit und Fülle zu leben, und es will dafür ein kommunikatives Rüstzeug bieten.

Ihnen viel Freude beim Lesen und viele Anregungen für Ihren Beruf.

1. Gewaltfreie Kommunikation trifft Frühpädagogik – eine glückliche Verbindung

„Ich begreife es einerseits als unsere Aufgabe, uns selbst und unser persönliches Umfeld von der Gewalt in unserer Sprache und in unserem Denken zu befreien. Und andererseits ist es unsere Aufgabe, die Machtstrukturen zu verändern, die uns überhaupt erst so konditioniert haben und die immerfort das Unglück produzieren, das wir bekämpfen.“

(Marshall B. Rosenberg 2004a, S. 133)

1.1 Die Entstehung der GFK und ihre Bedeutung für die Haltung gegenüber Kindern

Respekt vor jedem Kind

Kinder kommen auf die Welt und warten auf die Bestätigung: „So, wie du bist, bist du richtig und bereicherst mein Leben.“ Das wünschen sich Kinder auch dann, wenn sie ein Verhalten zeigen, mit dem die Erwachsenen nicht einverstanden sind. Marshall Rosenberg, der Begründer der Gewaltfreien Kommunikation (GFK), war davon überzeugt: (Kleine) Kinder sind auf natürliche Weise mit ihren Gefühlen und Bedürfnissen verbunden. Bereits wenige Wochen nach der Geburt lächeln sie, wenn jemand ihre Bedürfnisse beantwortet. Sie schreien, wenn sie hungrig sind, sie eine neue Windel brauchen oder wenn es ihnen langweilig ist und sie sich Kontakt wünschen. Da gibt es nichts Verstelltes, Anklagendes. Eindeutig geben sie Auskunft über sich: „So geht es mir gerade. Bist du bereit, für mich da zu sein?“, und suchen die Verbindung. Für den amerikanischen Psychologen waren Kinder „Natur-Giraffen“.

Giraffen- versus Wolfssprache

In Jahrzehnten eigenen Lernens entwickelte Marshall Rosenberg, beginnend in den 1980er-Jahren, ein Kommunikationsmodell, das er auch „empathische Kommunikation“ oder „Giraffensprache“ nannte. Dieses inzwischen auf der ganzen Welt verbreitete Modell hilft, Konflikte zu lösen, ohne dass es Gewinner*innen und Verlierer*innen gibt, egal ob es um Streit in der Familie, in der Schule, am Arbeitsplatz geht oder sogar um kriegerische Auseinandersetzungen zwischen Gruppen und Völkern. Es sensibilisiert Menschen dafür, was Worte anrichten können. Sie können Mauern errichten, wehtun und trennen. Zugleich können Worte auch Fenster sein, durch die sich Menschen füreinander öffnen und sich besser verstehen.

In seinen Seminaren setzte Marshall häufig zwei Handpuppen ein: die Giraffe und ihren Gegenspieler, den Wolf. Letzterer gilt als Metapher für eine Kultur der Herrschaft und der Dominanz, des Rechthabens und des Kleinmachens. Giraffen, die Landtiere mit dem größten Herzen, stehen für ein freundliches, mitfühlendes, dennoch kraftvolles und klares Verhalten, das eine Verbindung spüren lässt. Mit einem einfachen Satz kann man einem anderen Menschen die Hände reichen als eine Geste für: „Ich verstehe dich. Ich sehe dich.“ Die Sprache hingegen, in der sich der Wolf äußert, ist geprägt von Schuld bzw. Beschuldigung sowie von Beschämung. Die führt zu Trennung, Schmerz, Ärger und Angst. Liebevoll fügte Marshall Rosenberg hinzu, dass der Wolf eigentlich eine Giraffe mit Sprachfehler sei. Denn auch mit seinen wertenden, anklagenden Mitteilungen drückt der Wolf aus, was er dringend braucht. „Sei still!“ oder „Du störst!“ könnte beispielsweise heißen: „Ich brauche so dringend Ruhe. Bist du bereit, mich darin zu unterstützen?“

Es gibt einige Zeilen, die diese fatale Metamorphose sehr anschaulich beschreiben – eine Verwandlung, die ich bei mir selbst häufig beobachten konnte und die ich auch bei anderen, selbst bei Kindern, hin und wieder wahrnehme:

Wir wollen alle geliebt werden.

Werden wir nicht geliebt,

wollen wir bewundert werden.

Werden wir nicht bewundert,

wollen wir gefürchtet werden.

Werden wir nicht gefürchtet,

wollen wir gehasst und missachtet werden.

Wir wollen ein Gefühl

in unseren Mitmenschen auslösen,

ganz gleich, um welches es sich dabei

auch handeln mag.

Die Seele zittert vor Leere

und sucht Kontakt

um jeden Preis.

(Hjalmar Söderberg, 1869–1941)

Mit seinem Modell der GFK wollte Marshall Rosenberg daran erinnern, dass wir Menschen seit unserer Kindheit und oft über Generationen hinweg eine tiefe Sehnsucht in uns tragen: „… unser einfühlendes Wesen, das sich wieder entfaltet, wenn die Gewalt in unserem Herzen nachlässt“ (Rosenberg 2004, S. 22). Der idealistische Friedenskämpfer war davon überzeugt: Vor Millionen von Jahren fingen die Menschen an zu sprechen, um in Verbindung zu sein. Deshalb suchte Rosenberg nach einer Sprache, die diese Verbindung unterstützt und nährt.

Die Verbundenheit zwischen den Menschen anzuerkennen und zu stärken und damit für den Frieden im Kleinen wie im Großen zu wirken – dafür trat Marshall Rosenberg klar, charismatisch und auch humorvoll in seinen Workshops und Seminaren weltweit ein. Alle Menschen, so seine Botschaft, egal wo sie leben, ob jung oder alt, gleich welcher Herkunft, gleich welcher Religion oder Kultur sie angehören, haben die gleichen menschlichen Bedürfnisse: Sie alle brauchen Luft zum Atmen, Nahrung und ein Dach über dem Kopf. Alle Menschen brauchen andere Menschen, Gemeinschaft, Geborgenheit, Verständnis und Unterstützung. In ihre Gemeinschaft wollen sie sich einbringen, wollen angenommen und geschätzt werden, wollen Freude empfinden, sich ausdrücken und kreativ tätig werden, einzigartig sein sowie gesehen werden, wie sie sind. Indem sie ihre Bedürfnisse leben, bereichern sie die Gesellschaft und tragen zu Veränderungen bei – jeder an seinem Platz. In diesem Sinne kann die Gewaltfreie Kommunikation auch die Kindertagesstätten1 bereichern, die erste Bildungsinstitution, mit der Kinder hierzulande in Kontakt kommen.

Gehen wir mit der Haltung der GFK an Dinge heran, befreit uns das von der Last der Anforderungen. Stattdessen haben wir die Freiheit der Wahl und die Chance, Verantwortung für uns selbst und das eigene Umfeld zu übernehmen. In der Haltung der GFK fragen sich einzelne pädagogische Fachkräfte und Teams: Worum geht es mir / worum geht es uns? Was ist mir / uns wirklich wichtig? Wofür möchte ich meine / möchten wir unsere Kraft nutzen? Was brauche ich dafür? Verbunden mit einer Vision öffnen sich durch diese Haltung Wege zum kraftvollen, engagierten gemeinsamen Handeln. Das wird nicht gelingen, ohne Verantwortung für die eigenen Gefühle und Bedürfnisse, aber auch für Gedanken zu übernehmen, und verlangt eine ständige Auseinandersetzung mit sich selbst und anderen. Für diesen Prozess will das Buch eine Anregung und Unterstützung sein. Es ist in Dankbarkeit und Würdigung für Marshall Rosenberg und all meine anderen Lehrer*innen geschrieben sowie auch in Dankbarkeit für die vielen Erfahrungen, die ich als Prozessbegleiterin, Trainerin und Coach sowie als Journalistin in den zurückliegenden drei Jahrzehnten in und um Kindertagesstätten sammeln durfte.

Vom Raufbold zum Friedensstifter

Marshall Rosenberg bewies durch sein eigenes Leben, dass jeder Mensch in der Lage ist, wirksam zu sein und Impulse zu Veränderungen zu geben. 1934 geboren und 2015 gestorben, wuchs er in einer jüdischen Familie in der einstigen US-Auto-Metropole Detroit auf. Als Junge lernte er, nicht zu weinen. Dabei war er in der Schule häufig Anfeindungen wegen seiner Herkunft ausgesetzt. Als Neunjähriger erlebte er die Aufstände der Schwarzen gegen die Rassendiskriminierung mit und deren brutale Niederschlagung; eine Erfahrung, die ihn erschütterte. In seinen Jugendjahren galt er selbst als gefürchteter Raufbold. Dabei hatte er auch liebenswürdige, großherzige Seiten erfahren, vor allem von einer seiner Großmütter, die er mit viel Wärme beschrieb. Sie teilte das wenige, das sie hatte, mit anderen Menschen. Deshalb bewegten Marshall seit seiner Kindheit zwei Fragen: Warum sind manche Menschen fähig, sich in andere einzufühlen und auch unter schwierigen Bedingungen Verständnis und Mitgefühl zu entwickeln? Und warum scheinen manche Menschen nicht dazu in der Lage zu sein und verletzen ihr Gegenüber und empfinden nichts dabei?

Um Antwort auf diese Fragen zu finden, studierte Rosenberg klinische Psychologie, promovierte und wurde Psychotherapeut. Einer seiner Lehrer war Carl Rogers, der Begründer der klientenzentrierten Gesprächstherapie. Einige Zeit führte er eine erfolgreiche Privatpraxis. Allerdings bemerkte er, dass er bei seinen – vorwiegend weiblichen – Klient*innen nur individuelle Symptome heilen konnte. Die gesellschaftlichen Strukturen und die Art, miteinander zu sprechen und zu handeln, blieben davon unbeeinflusst und machten weiter krank. Das ließ ihm keine Ruhe. Er sah, wie riesig das Ausmaß des Leidens auf unserem Planeten ist. Deshalb suchte er nach Wegen, Menschen mit den grundlegenden Kenntnissen über ihr eigenes Wesen vertraut zu machen und die helfenden, heilenden Werkzeuge der Psychologie und Psychotherapie nicht länger nur den Therapeuten zu überlassen. Er wollte die mitfühlenden Seiten in jedem Menschen wecken und alle befähigen, die Gesellschaft insgesamt zu verändern.

Vor allem in den letzten Jahren seines Lebens war ihm der Einsatz für den „sozialen Wandel“, wie er es nannte, sehr wichtig. Dabei inspirierte ihn u.a. der brasilianische Befreiungspädagoge Paulo Freire. Dieser alphabetisierte in den 1950er- und 1960er-Jahren die Bauern seines Landes, indem er sie unterstützte, Protestbriefe über ihre Lebensbedingungen an die Regierung zu schreiben. Freire schlug so zwei Fliegen mit einer Klappe: Lernen und Empowerment. Auch Rosenberg wollte ein einfaches Modell entwickeln, um Menschen zu bestärken, sich für ihr eigenes Leben und die Welt verantwortlich zu fühlen und entsprechend zu handeln. Er reflektierte seine eigene Arbeit und die seiner Kolleg*innen und entwickelte daraus die GFK. – So einfach dieses Modell ist, ist es auch komplex und herausfordernd.

Kinder als Lehrmeister

Als Vater nutzte Marshall Rosenberg sein eigenes Modell zur Verständigung mit seinen drei Kindern. Sie halfen ihm zu erkennen, welche Sprache hilfreich ist, in Kontakt miteinander zu kommen und Verbindung zu erleben, und er erfuhr, welche Art der Haltung und der Sprache Widerstand und Trauer produziert. Zugleich nahm Rosenberg wahr, wie unterschiedlich die Macht zwischen Kindern und Erwachsenen verteilt ist und wie viel Gewalt wir Erwachsenen – in aller Regel unbewusst – gegenüber Kindern einbringen.

Erwachsene haben die Position und auch die Macht zu bestimmen, was richtig und was falsch ist. Entsprechend belohnen und bestrafen sie. Dadurch fallen Kinder aus ihrer natürlichen Verbindung mit den Bedürfnissen heraus. Wie fatal das für ein Kind ist, wurde Marshall Rosenberg (vgl. Rosenberg 2004a, S. 103) bewusst, als er mit seinem damals dreijährigen Sohn Brad darüber sprach, warum er ihn wohl liebe. Der Junge mutmaßte, weil er nicht mehr in die Windeln machte, nicht mehr das Essen vom Tisch warf und Ähnliches. Für diese Verhaltensweisen hatte der Vater den Sohn wertgeschätzt und gelobt und dem Kind hatte sich das eingeprägt. Verborgen hinter dem Lob blieb jedoch die Freude des Vaters an der Individualität seines Sohnes. Aus dieser Erfahrung schlussfolgerte Marshall Rosenberg, dass es für Kinder besonders wichtig ist, „nicht mit dem Bild aufzuwachsen, dass Erwachsene wissen, wann sie etwas gut gemacht haben und wann nicht, und dass sie danach bewertet werden, in welchem Maß das, was sie tun, als gut, richtig oder toll beurteilt wird“ (2004a, S. 103). Vielmehr werden Kinder, wenn sie in ihren Bedürfnissen genährt werden, die für sie richtigen Handlungsweisen finden.

Rosenberg (2004a, S. 105) beschreibt, dass er mit seinen drei Kindern Chef spielte: Er war der Ober-Chef, der wichtige und für alle geltende Entscheidungen den Kindern übergab. Heute würde man das wohl als Partizipation bezeichnen. Beim Chefspiel erwarben die drei Rosenberg-Kinder Fähigkeiten, die die Gesellschaft dringend braucht: Über den eigenen Tellerrand hinauszublicken, auch die Bedürfnisse der anderen in Betracht zu ziehen und dadurch Entscheidungen zu treffen, die allen guttun. Dazu gehörte auch die Erfahrung, sich mit einem Vorschlag durchzusetzen und den Ärger der Geschwister auf sich zu ziehen. Aber genau das machte das Lernen nachhaltig und effektvoll. Es ging um echte, für die Kinder bedeutsame Dinge. Und das konnte auch ein Streit darüber sein, wie drei Bonbons verteilt werden.

Gleichzeitig erlebte der Kommunikationstrainer, wie anstrengend es ist, sich gewaltfrei zu äußern. Es braucht Zeit, die Position der Kinder zu verstehen und die eigene zu ergründen und gute Wege zu finden, beiden gerecht zu werden. Wenn er sich gedrängt und unter Druck fühlte, war durchaus auch Rosenberg geneigt, den schnellen, eher gewaltvollen Weg der Forderungen zu wählen. Entsprechend vermittelte er seinen Kindern: Entweder ihr gebt mir Zeit, mich mit beiden Seiten zu verbinden und beide zu verstehen. Oder es bleibt nur, dass ich mich durchsetze.

Sich gegenseitig zu sehen und zu würdigen, das ist es jedoch, was Kinder und Erwachsene zufrieden und auch widerstandsfähig sein lässt. Wir lernen: Gewaltfrei handeln ist kaum möglich ohne Reflexion. Dafür braucht es zusätzliche Zeit, die auch in der Kindertagesstätte eingeplant werden sollte, damit Veränderungen eine Chance haben.

Marshall Rosenberg zeigt auch auf, wo der Einfluss eines Erwachsenen seine Grenzen hat. In unserer Gesellschaft schätzt man das gemeinhin wohl etwas anders ein, doch laut Rosenberg sind Eltern oder andere Erwachsene nicht für das Verhalten von Kindern verantwortlich. Sie können einen Rahmen stecken und die Kinder darin unterstützen, ihn zu füllen. Darüber hinaus können sie das Verhalten der Kinder vor allem durch ihr Vorbild beeinflussen. Deshalb schlägt Rosenberg (2004a, S. 100) vor, sich selbst zu befragen: „Lebe ich eigentlich die Werte, die ich meinem Kind mit auf den Weg geben möchte?“ Wenn ich also möchte, dass Kinder Konflikte friedvoll und im Miteinander lösen, werde ich mit dem Anliegen wenig erfolgreich sein, wenn ich das Kind anschreie. Ehrlichkeit werde ich nur ernten, wenn das Kind mich als ehrlich erlebt, selbst wenn es unangenehm ist, meine Wahrheit auszusprechen. Es gehört dazu, dass ich als Erwachsener eingestehe, dass ich manchmal hilflos, schwach, ideenlos oder was auch immer bin.

Was ist Gewalt?

Wenn ich gebeten werde, über meine Arbeit zu sprechen und die GFK vorstelle, höre ich häufig: „Ach, das brauche ich nicht. Ich schlage nicht. Ich bin nicht gewaltvoll!“ – Ist das wirklich so?

An dieser Stelle möchte ich zu einer ersten Übung einladen2. Auf subtile Weise eröffnet sie den Zugang zur Gewalt im eigenen Denken und Handeln, auch wenn man sich – wie ich – vom Wesen her als warmherzig und zartfühlend wahrnimmt. Die Übung zeigt, wie das Denken in den Kategorien von Richtig und Falsch, Gut und Böse die Sozialisation von Menschen, auch meine eigene, prägt.

 ÜBUNG: Gewalt im Alltag

Erinnern Sie sich an einen Moment, in dem Sie den Impuls verspürten, Ihre physische Kraft zu gebrauchen und zu markieren: „Das stimmt nicht. Das geht so nicht. Das ist falsch.“

Das kann eine Situation sein, in der Sie mit der Faust auf den Tisch schlugen, die Stimme erhoben, fest zupackten oder einen Gegenstand warfen – oder es nur im Sinn hatten.

Kennen Sie solche Konstellationen?

Wenn ja, gehen Sie, so genau es Ihnen auch immer möglich ist, in die Situation zurück. Vielleicht gelingt es Ihnen, Ihren inneren Film in gewisser Weise rückwärts abzuspulen.

Was genau war zuvor passiert?

Und vor allem: Was war Ihr Gedanke in diesem Augenblick?

Wie fühlte sich Ihr Körper in diesem Moment an? Was nehmen Sie jetzt in der Erinnerung wahr?

 

Wie oft in meinem Leben, auch in der Beziehung zu meinen Kindern und Enkelkindern, war ich überzeugt: „Das ist nicht richtig!“, „Das darf nicht sein!“, „Das geht gar nicht!“, „Das ist falsch!“, „So, wie ich es will, ist es richtig!“. Und genau solche Absolutheitsansprüche sind Gewalt! Sie erkennen nicht die Realität in dem konkreten Moment an. Für den anderen Menschen ist etwas anderes Fakt. Das sollte ich ebenso berücksichtigen wie meine eigene Sicht.

Als Erwachsene nehmen wir uns aufgrund unserer körperlichen Größe, unserer größeren Lebenserfahrung, unserer Position und Verantwortung und auch, weil Kinder von uns abhängig sind und uns aus Liebe gern folgen, oft das Recht heraus, unsere Meinung durchzusetzen – häufig mithilfe von Lob und Strafe. Dadurch verlieren Kinder den Kontakt zu ihrer eigenen, ihrer intrinsischen Motivation. Das sind ihre eigenen Bedürfnisse, der Grund ihres Handelns.

In seinen Workshops lud Marshall Rosenberg häufig zu einem Experiment ein: Wie reagiert jemand, wenn er oder sie mit dem Verhalten eines Menschen nicht einverstanden ist? Und wie ist die Reaktion, wenn dieser andere Mensch ein Kind ist? Mit Entsetzen beklagte er den Mangel an Respekt von Erwachsenen gegenüber Kindern: „… dass wir – ich schließe mich da nicht aus – oft für unsere eigenen Kinder nicht annäherungsweise so viel Verständnis haben wie für Menschen, die uns gar nicht besonders nahe sind“ (Rosenberg 2004a, S. 98). Um nicht in diese Falle der gewaltvollen, kinderfeindlichen Kultur zu geraten, schlägt Rosenberg vor, mit einem Kind, über das man sich ärgert, so umzugehen, wie man es mit einer besonders geschätzten Person tun würde.

Ich nutze diese Übung von Marshall Rosenberg mitunter in meinen Workshops. Einmal beklagte sich Peggy, eine Erzieherin, vehement über das Verhalten eines Jungen in der Garderobe: Einem Kind nach dem anderen wende er sich mit lustigen Sprüchen zu, springe mal hierhin, mal dahin und vergesse dabei vollkommen, sich selbst anzuziehen. Peggy war und blieb davon überzeugt: Es gebe keinen akzeptablen Grund, nicht das zu tun, was sie ihm sage. Aus ihrer Sicht war es auf jeden Fall falsch, sich auf diese Weise zu verhalten. Entsprechend sollte das Kind ihre Strenge spüren. Auch als andere Kolleg*innen sie umstimmen wollten, hielt sie an ihrer Überzeugung fest. Dann fragte ich sie, wie sie handeln würde, wenn nicht dieser Junge, sondern ihr Idol sich so verhalten würde. Das war für Peggy damals Michael Jackson. Sobald sie sein Bild vor Augen hatte, fing sie an zu lachen, entspannte sich und war voller Freude. Nun erst war sie bereit, den Menschen in dem Jungen zu sehen und nicht länger in ihren Gedanken gefangen zu bleiben.

Und genau darum geht es in der Gewaltfreiheit. Es geht darum, anzuerkennen: „Mir fällt gerade etwas schwer. Ich habe eine Blockade, brauche etwas anderes / etwas muss anders sein.“ Bezogen auf die Situation in der Garderobe: „Ich brauche die Kooperation und Unterstützung der Kinder.“ Es ist dann gewaltfrei, die „Last“ des Moments auf sich zu nehmen und sie nicht dem Gegenüber aufzubürden. So definierte Mahatma Gandhi den Zustand, den er „Ahimsa“ oder „Gewaltlosigkeit“ nannte: „Ich mute mir etwas zu. Ich bin in Kraft und Verantwortung, bin stark und kreativ, stelle mich dem Gegenüber und ringe um eine gute Beziehung.“ Das verlangt den Handelnden viel ab. Deshalb setzte Gandhi auch hinzu: Gewaltfreiheit ist nichts für Feiglinge.

Gewaltfreiheit setzt darauf, in jedem Menschen in jeder Situation den Menschen zu sehen.

Gerade für Pädagog*innen wünsche ich mir deshalb ein Nachdenken über die Wahrheit, die in dem Satz von Marshall Rosenberg steckt: „… dass wir in unserer Kultur eine Person schnell entmenschlichen, wenn wir sie in eine Schublade ‚Kind‘ stecken“ (Rosenberg 2004a, S. 99). Natürlich hoffe ich vor allem in einem Punkt auf ein Umdenken und ein verändertes Handeln: Den Kindern ihre Rechte als Menschen zu geben. Dabei unterstützt auch die GFK.

1.2 Mehr als die vier Schritte – Institutionen schaffen, die das Leben bereichern

Mehr als 30 Jahre ist es her, dass die GFK nach Deutschland und in den deutschsprachigen Raum kam und sich hier so weit verbreitete wie in keiner anderen Region der Welt. Auch viele pädagogische Fachkräfte in Kindertagesstätten und Teams lernten unterdessen die GFK kennen. Vor allem beschäftigten sie sich mit den vier Komponenten bzw. Schritten der GFK, auf die es lohnt, die Aufmerksamkeit auszurichten:

Die vier Komponenten der GFK

Beobachtung: Was genau ist passiert? Was sind die Fakten? Wer hat was in dieser Situation getan? Was kann ich sehen und hören? Kann ich alle Bewertungen, (Vor-)Urteile und Erwartungen loslassen?

Gefühle sind an Körperempfindungen gebundene subjektive Reaktionen auf die Situation. Was fühle ich? Wo und wie fühle ich das? Wie mag es den anderen beteiligten Menschen gehen?

Bedürfnisse: Was brauche ich jetzt? Was ist mir wichtig? Um welche Bedürfnisse geht es? Spätestens hier öffnet sich die Dimension in den Raum: Wie lebt die Energie des Bedürfnisses in und zwischen uns?

Bitte: Erst aus der Wahrnehmung der Lebensenergie heraus lohnt es sich, zum vierten Schritt, zu der Bitte zu kommen: Wie wollen wir jetzt weiter vorgehen? Geht es zunächst um Verständigung, Verstehen, um die Klärung der Beziehung? Oder gibt es konkrete, positive, machbare Vorschläge für das Handeln im Moment? Was kann konkret getan werden, damit es allen besser geht?

Mit diesen vier Komponenten können pädagogische Fachkräfte sich selbst, ihre Kolleg*innen, die Kinder und deren Eltern besser verstehen und freundlichere Beziehungen gestalten. Sie helfen allen, weniger belastet und angestrengt und stattdessen zufriedener und glücklicher zu sein. Die GFK unterstützt nicht nur bei der Selbstklärung und der Verständigung im Konflikt. Die GFK sorgt vor allem für Zwischenräume: beispielsweise zwischen Auslöser und Reaktion und auch zwischen verschiedenen Akteuren. Dadurch ermöglicht sie es, einen freundlichen, gewaltfreien Rahmen für die Beziehungen zu schaffen und diesen weiter auszudehnen.

Marshall Rosenberg ging es insbesondere darum, der Verbundenheit zwischen den Menschen zu dienen und lebensbereichernde Organisationen zu schaffen. Lebensbereichernd heißt vor allem: Die Bedürfnisse aller werden gesehen, alle Menschen, mit allem, was sie einbringen. Für die Kindertagesstätte heißt das: Die Kinder werden als selbstbestimmte Wesen, die pädagogischen Fachkräfte und die Eltern der Kinder werden als wichtige Akteure anerkannt. Es gilt, den Beziehungsrahmen zwischen diesen Polen freundlich und friedlich zu gestalten.

In Marshall Rosenberg Büchern findet man keine konkreten Ansätze für die Arbeit in der Kindertagesstätte. Er schrieb mehrere Texte darüber, wie Kinder einfühlsam begleitet werden können und wie die Schule für Kinder und Erwachsene in eine Institution des gemeinsamen Lernens verwandelt werden kann. In seinen Workshops und Texten zeigte er, wie Pädog*innen in den Institutionen den Lernwillen der Kinder unterstützen können. Er beschrieb, wie dafür die Beziehungen der Lehrenden zu sich selbst, zueinander und zu den Kindern gestaltet werden können. Diese Impulse nutze ich in diesem Buch auch für die Kindertagesstätte.

Der PISA-Schock und seine Folgen

Die Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten PISA-Studie im Jahre 2000 löste für das deutsche Bildungswesen etwas Ähnliches aus wie der Sputnikstart Ende der 1950er-Jahre für den Wettlauf der Systeme. Nach PISA wurde plötzlich auf eine Welt geschaut, die vorher mehr oder minder im Verborgenen lag: der Bereich der frühkindlichen Bildung und Erziehung, die Kindertagesstätten.

Beim Test ihrer Schulleistung im Jahr 2000 übertrafen Kinder aus Finnland und Korea die Schüler*innen aus deutschen Schulen um ein Vielfaches. Plötzlich stand eine Frage im öffentlichen Raum, die vorher als Privatangelegenheit abgetan wurde: Wie haben diese Kinder ihre frühe Kindheit verbracht? Besuchten sie eine Kindertagesstätte und was lernten sie dort? Oder war das nur „Betreuung“?

Der Kindergarten, der in der DDR zum Bildungssystem gehörte, wurde nun für Gesamtdeutschland als die erste Bildungseinrichtung entdeckt. In allen 16 Bundesländern schrieben Expert*innen Bildungspläne, die ab sofort Grundlage für die Arbeit der pädagogischen Fachkräfte sein sollten. Seither entstanden unzählige Programme und Initiativen, die in das Feld der Frühpädagogik einfließen und es bereichern sollen. Immerhin: In ihren ersten Lebensjahren sammeln Kinder die ersten, sehr grundlegenden Erfahrungen, auf die sie ein Leben lang aufbauen werden. Also ist es gut und wichtig, dass sie Partizipation und Inklusion erleben, sich beteiligen und beschweren dürfen, naturwissenschaftlich-technische und künstlerisch-ästhetische Erfahrungen sammeln, mit der Natur und den neuen Medien in Kontakt sind, Sprache lernen und um die Vielfalt der Sprachen und Ausdrucksmöglichkeiten wissen usw.

Doch was für das Leben der Kinder als Bereicherung gedacht wird, kommt für die in den Kindertagesstätten tätigen pädagogischen Fachkräfte häufig als Forderung an: „Wir müssen das machen!“, „Wir haben keine Wahl!“ Damit ist oft eine Überforderung verbunden. Angesichts der (in den meisten Bundesländern noch immer nicht genügenden) Rahmenbedingungen fragen sie sich: „Wie sollen wir das schaffen?“ Auch deshalb, weil die Bemühungen noch nicht erfolgreich waren, mit einem Bundesqualitätsgesetz einheitlich gute Bedingungen für alle 50 000 Kindertagesstätten im Land zu schaffen. Deshalb wird es höchste Zeit, den Rahmen zu betrachten, den pädagogische Fachkräfte in der Kindertagesstätte miteinander gestalten und welche Art von Beziehungen sie in diesem Raum leben.

Wie arbeiten in der Kindertagesstätte jene zusammen, die die Bildung vermitteln?3 Halten die pädagogischen Fachkräfte, die Teams, gemeinsam den Rahmen und verständigen sich über ihr Verständnis von Bildung? Wie nehmen sie die Ideen der Bildungsprogramme auf und wie machen sie diese zu ihren eigenen? Verstehen sie die Bildungsprogramme als eine Forderung, als eine Pflicht, die sie erfüllen müssen? Oder begreifen sie sie als einen Rahmen, in dem sie sich bewegen können? Als einen Rahmen, den sie entsprechend ihrer konkreten Bedingungen vor Ort auch ausdehnen oder verkleinern können.

Wie gestalten die pädagogischen Fachkräfte ihre Beziehungen zueinander? Geben sie sich Rückmeldungen? Wie unterstützen sie sich gegenseitig in ihrer Arbeit mit den Kindern? Und wie binden sie die Eltern in dieses Beziehungsgeflecht als die wichtigsten Partner*innen mit ein? Was brauchen die pädagogischen Fachkräfte persönlich und im Team, um dieser anspruchsvollen, schönen Aufgabe gerecht zu werden, Kinder in den ersten Lebensjahren begleiten zu können?

Auf diese Fragen wird dieses Buch Antworten geben.


1  Ich entscheide mich, meist den Begriff „Kindertagesstätte“ zu verwenden, statt die Verkürzung „KiTa“. Ich gestehe: Ich mag den Begriff „Kindergarten“, den Fröbel 1840, als er in Bad Blankenburg in Thüringen der ersten „Kinderbewahranstalt“ ein pädagogisches Konzept gab, für diesen Ort fand. Kindergarten = ein Garten der Möglichkeiten, zum Wachsen; auch wenn er heute nicht mehr alle Einrichtungen einbezieht.

2  Dazu inspirierten mich meine amerikanischen Kolleginnen Jane M. Connor und Dian Killian. Vgl: Killian, D. & Connor, J.M. (2014): Verbindung herstellen – Trennendes überbrücken.

3  Als GFK-Trainerin fühlte ich mich vor allem durch die Studie „Schlüssel zu guter Bildung, Erziehung und Betreuung“ (Viernickel et al. 2013) inspiriert, nicht nur das Kommunikationsmodell der GFK, sondern die Haltung und die Ansätze der GFK auf die Beziehungen in Kindertagesstätten zu übertragen.

2. Wertschätzung und Selbstempathie für pädagogische Fachkräfte

„Nähre dich selbst, indem du die Schönheit der Welt genießt, und nutze diese Energie, um Nahrung dorthin zu bringen, wo sie gebraucht wird. Aber pass auf, dass du diesen Gedanken nicht missbrauchst und ihn als Rechtfertigung für ein nettes unbekümmertes Leben nimmst. Nutze die Energie, die du aus dem Reichtum schöpfst, um dem Leben zu dienen.“

(Marshall B. Rosenberg 2004a, S. 132)

Geschichte 1: Das fehlt jetzt gerade noch! Oder: Sich an der Grenze entlanghangeln

Cornelia ist erst eine Stunde in ihrer Kindertageseinrichtung und sie ist bereits so k. o., als hätte sie sieben, acht Stunden hinter sich. „Wie soll ich nur den Tag überstehen?“, fragt sich die Dreiundzwanzigjährige besorgt. Würde sie ehrlich antworten, müsste sie sich eingestehen, dass sie innerlich nicht bereit ist, den Tag mit den Kindern zu gestalten.

Es begann schon am Vorabend. Sie hatte eine Unstimmigkeit mit ihrem Freund, die noch nicht aus der Welt ist. Deshalb schlief sie unruhig. Beim Aufwachen spürte sie eine Müdigkeit in ihren Gliedern, die auch die warme Dusche nicht wegspülen konnte. Immer wieder dachte sie daran, wie sie wohl den Streit mit ihrem Partner klären könnte. Dazu der Arbeitsweg: Der Bus kam zu spät. Sie verpasste den gewünschten S-Bahn-Anschluss. Im überfüllten Zug rückten ihr die Mitfahrenden dicht auf die Pelle. Jemand trat ihr auf den Fuß. „Als wäre ich der Fußabtreter der Nation!“, schoss ihr in den Kopf. Das Begrüßungslächeln ihrer Chefin, als sie Tasche und Jacke im Mitarbeiterraum einschloss und die Schuhe wechselte, empfand sie angesichts ihrer Verfassung wie Hohn: „Viel Spaß mit den Kindern.“ Haha.

Und nun hockt dieser Vater gleich neben ihrem Stuhl und redet bereits fünf Minuten auf seinen zweijährigen Sohn ein. Dabei möchte sie einfach nur in Ruhe mit ihrer Krippengruppe frühstücken. Das ist herausfordernd genug, mit fünf Mädchen und Jungen zwischen anderthalb und drei Jahren allein an dem Kindertisch zu sitzen und die hungrigen Kinder zu versorgen: Der eine will noch ein Brot, bei der Nächsten ist die Teetasse leer, der Dritte hat seinen Becher auf den Kopf gestellt. Die Vierte ist sauer, weil die Apfelstücke bereits alle aufgegessen sind und sie nichts abbekommen hat. Timing ist gefragt und höchste Konzentration. Schnell noch einen Apfel schneiden und mit dem Blick bei der häufig unzufriedenen Zweijährigen bleiben. Sonst fängt die an zu quengeln. Und aufpassen, damit die anderen nicht das Geschirr in Schlaginstrumente verwandeln oder die Konsistenz der nicht gegessenen Brote erforschen, indem sie sie durch ihre Finger drücken.

Cornelias Nerven sind zum Reißen gespannt. Sie kommt sich vor wie ein Dompteur in der Manege: Jeder Handgriff, jedes Rollen mit dem Stuhl um den Tisch, jedes an die Kinder gerichtete Wort, jedes Lächeln, alles muss stimmen, sonst gibt es Geschrei und Chaos. Wirklich dabei ist sie jedoch nicht. Die einzelnen Tätigkeiten rutschen ihr einfach so durch. Würde jemand sie hinterher fragen, welchem Kind sie die Nase geputzt, wer welches Obst gegessen hat und welche Farbe die Pullis der Kinder hatten, sie könnte es nicht beantworten.

Dazu dieser Vater. „Was redet der die ganze Zeit?“, denkt Cornelia und hört ihn mit seinem Sohn den Plan für den Nachmittag aushandeln. „Wollen wir zur Oma gehen und mit ihr Kaffee trinken? Oder doch lieber auf den Spielplatz und uns mit deinen Freunden treffen?“ „Mach eine Ansage!“, fordert Cornelia ihn in Gedanken auf. Doch sie lässt die Debatte laufen und lächelt den Mann unbeholfen zu. „Ich kann ihm doch nicht sagen, dass mich seine Anwesenheit stört, und ihn wegschicken“, glaubt sie. „Ich wünsche Ihnen auch einen schönen Tag“, gibt sie ihm mit auf den Weg, als er nach zehn Minuten Debatte den Raum verlässt, und atmet einmal kräftig durch. In diesem Moment fällt eines der Kinder vom Stuhl. Eine ganze Weile hat es bereits von einer Seite auf die andere gewackelt. Nun weint es laut. Cornelia kann gar nicht anders, als aufzuschreien. Sie verlangt von dem Mädchen, nun nicht noch zu heulen.

Da steht Undine, eine Kollegin aus dem Nachbarraum, neben Cornelia. Sie fragt, ob es gerade etwas viel für sie sei und ob sie mal aus dem Zimmer gehen möchte. Sie könne bei den Kindern bleiben. Offensichtlich hat sie den Schrei als Hilferuf wahrgenommen. In der Tat braucht Cornelia dringend Zeit für sich: Wenigstens ein paar Minuten Ruhe und die Gelegenheit, sich selbst zu spüren.

2.1 Sich selbst liebevoll beobachten

„Wie geht es mir in diesem Moment?“ Das ist für Erzieher*innen häufig ungewohnt: Auf sich selbst zu schauen und wahrzunehmen, was sie gerade fühlen. In einer Kindertagesstätte arbeiten sie, um Kinder im Alltag zu begleiten. Deshalb sind sie damit vertraut, danach zu schauen: Wie geht es den Kindern? Was brauchen sie? Dabei vergessen Erzieher*innen häufig sich selbst – auch mit fatalen Folgen für die Beziehung zu den Kindern und anderen am Alltag einer Kindertagesstätte beteiligten Personen.

Sich selbst zu spüren und die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu erforschen und kennenzulernen ist eine grundlegende Beziehung, um mit sich und der Welt in einen guten Kontakt zu kommen. In der GFK wird dieser Prozess Selbstempathie genannt. In einer Kindertagesstätte formt sich aus diesem Kontakt mit sich selbst die innerliche Kraft, mit der Erzieher*innen ihren pädagogischen Auftrag zu erfüllen. Dadurch entscheidet sich auch, wie sehr eine pädagogische Fachkraft von den Kindern (und anderen Menschen) als Vorbild und Identifikationsfigur wahr- und ernst genommen werden kann.

Deshalb steht für mich die Beziehung der pädagogischen Fachkraft zu sich selbst am Anfang einer gewaltfreien Kindertagesstätte. Gelingt es den Erzieher*innen und anderen Professionellen, „Ja“ zu sich selbst zu sagen und sich liebevoll anzunehmen? Dafür schlage ich eine Übung zur Selbsterforschung vor.

 ÜBUNG: Ankommen bei sich selbst – eine Meditation

Suchen Sie sich einen Ort, an dem Sie wenigstens fünf Minuten ungestört und in Ruhe verweilen können. Es empfiehlt sich, zu sitzen (und nicht zu liegen), um wach auf sich selbst schauen zu können (und nicht einzuschlafen).

Finden Sie eine bequeme Position, möglichst auf einem Stuhl. Setzen Sie sich aufrecht hin, die Wirbelsäule gerade, ohne den Rücken anzulehnen. Stellen Sie beide Füße fest auf den Boden auf, um die Erde zu spüren. Das kann eine grundlegende Erfahrung sein: Die Erde trägt uns immer, was auch immer im Außen geschieht! Wenn Sie mögen, schließen Sie die Augen. Beginnen Sie nun, die verschiedenen Ebenen Ihres Seins zu erkunden.

Nehmen Sie zuerst wahr, wie sich Ihr Körper anfühlt. Ist er weich, frei und entspannt oder spüren sie ihn als hart und angespannt? Ist er warm oder kalt? Gibt es Enge oder Weite, Bewegungen irgendwo? Gibt es möglicherweise einen Schmerz?

Schauen Sie sich alles an, ohne es zu bewerten oder verändern zu wollen.

Wie erleben Sie Ihren Körper in diesem Moment – von Kopf bis Fuß. Geben Sie sich selbst die Zeit zum Erforschen, die Sie brauchen. Es geht darum festzustellen: „So ist es jetzt! Schön, dass du dich zeigst.“

Gehen Sie dann auf die emotionale Ebene. Lauschen Sie in sich hinein und spüren, welche Gefühle mit den Körperempfindungen verbunden sind. Welche Gefühle nehmen Sie wahr? Sind diese Gefühle angenehm, unangenehm oder neutral? Spüren Sie Freude, Zufriedenheit, Wohlbefinden? Oder Angst, Traurigkeit, Erschöpfung, Enttäuschung? Oder sind Ihre Gefühle neutral? Möglicherweise können Sie bemerken, wie sich Gefühle von Moment zu Moment ändern. Das ist die Natur von Gefühlen. Es sei denn, Frust oder ähnliche Qualitäten haben sich festgesetzt und wollen nicht mehr weg. Umso mehr rufen sie nach Aufmerksamkeit und wollen gesehen werden. Sind Sie bereit, diese Gefühle, gleich welcher Qualität, willkommen zu heißen? „Ah, du bist da. Ich nehme dich an.“

Achten Sie in diesem Selbsterkundungsprozess darauf, welche Gedanken Sie bewegen. Dreht sich in Ihrem Kopf pausenlos ein Karussell mit Sätzen wie „Ich müsste …“, „Ich sollte …“, „Hätte ich doch …“? Oder gelingt es Ihnen, die Gedankenflut zu stoppen und so etwas wie Stille oder Leere zuzulassen? Können Sie Ihren Gedanken eine Auszeit geben und ihnen versprechen, sich ihnen später wieder zuzuwenden? „Ich verstehe schon, dass ihr etwas Wichtiges von mir wollt. Nach der Meditation kümmere ich mich um euch.“

Auf diese Weise können Sie herausfinden, was Ihnen im Moment wichtig ist und was Sie dringend brauchen. Welche Bedürfnisse melden sich? Geht es um Ruhe und Akzeptanz, Ordnung und Sicherheit, Spiel und Leichtigkeit oder Respekt und Frieden?4 Schauen Sie, welche Bedürfnisse von Ihnen jetzt wahrgenommen werden wollen. Was ist Ihnen jetzt das Wichtigste? Sagen Sie es sich innerlich: „Ich brauche …“ Wie ist das, nicht nur das Wort auszusprechen, sondern auch die Lebensenergie, die mit dem Bedürfnis verbunden ist, zu erahnen oder in sich zu spüren? Möglicherweise entstehen innerliche Bilder dazu oder zeigen sich Wege, wie sie dafür sorgen können und was Ihnen gerade guttun würde.

Von dort lohnt es sich auch weiterzugehen und sich zu fragen: Wie geht es Ihnen gegenwärtig in Ihrem Team? Wie fühlen Sie sich mit den Kindern und Ihren Kolleg*innen verbunden? Tut Ihnen der Kontakt gut und mögen Sie ihn? Oder gibt es Störungen, Abneigung oder Widerwillen?

Und wie fühlen Sie sich mit dem Raum, in dem Sie arbeiten, dem jeweiligen Gruppenraum, der Kindertagesstätte, der Gegend? Fühlen Sie sich wohl und gewissermaßen zu Hause oder eher fremd, überfordert, scheu?

Nehmen Sie alles einfach wahr. „So ist es.“ Das, was wir annehmen, kann sich wandeln.