1.png

o

Jon & Jenny

Angriff aus dem All

Arndt Mauer

o

Impressum:

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.papierfresserchen.de

info@papierfresserchen.de

© 2018 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Telefon: 08382/9090344

Alle Rechte vorbehalten.

Erstauflage 2018

Cover gestaltet mit Bildern von © airmel (Weltall), © gimmeephotos

(Hintergrund) und © Sylwia Nowik (Silhouette) – Adobe Stock lizenziert

Lektorat: Redaktions- und Literaturbüro MTM: www.literaturredaktion.de

ISBN: 978-3-86196-772-9 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-96074-204-3 - E-Book

*

Inhalt

Prolog

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

33

34

35

36

37

38

39

40

41

42

Der Autor

*

Prolog

In den Tiefen des Alls umkreiste ein Planet seit Jahrmillionen seine Sonne. Auf der Erde hatten die Astronomen ihn DV-CR1566 getauft. Nie war hier Besonderes vorgefallen. Niemand war da, um sich zu fürchten. Vor dem Schatten, der den Himmelskörper wie ein Leichentuch überzog.

Etwas war angekommen. Und hielt doch nur inne, bereitete sich vor. Denn das wahre Ziel lag noch weit entfernt: die Erde. Bald würde es dieses Ziel erreicht haben.

Nachtschwärze hatte die Hitze zurückgedrängt. Jon saß auf der Veranda und sah zu den Sternen. Als Kind hatte er versucht, sie zu zählen – und es am achten Abend aufgegeben. Aber noch immer wollte er wissen, was sich dort oben alles verbarg. Eines Tages würde er die Geheimnisse des Weltalls erforschen, hatte Jon sich vorgenommen. Wie fantastisch musste es sein, in einem Raumschiff zu fremden Planeten zu fliegen!

„Hey, du Spinner, meditierst du hier wieder?! Mama sagt, du könntest langsam mal ins Bett gehen.“

„Das gilt natürlich auch für dich, Jenny!“ Ihre Mutter streckte den Kopf nach draußen und sah die beiden Vierzehnjährigen mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Also los, morgen ist der letzte Schultag, ab dann ist mir egal, wie lange ihr aufbleibt!“

Jenny drehte sich um. „Wieso muss ich denn auch ins Bett, immerhin bin ich älter als Jonnyboy!“

Frau Kolla verdrehte die Augen. „Du bist genau fünf Minuten älter als dein Bruder. Also sagen wir, du darfst fünf Minuten länger aufbleiben. Was hältst du davon?“

Als Jon zu einem Protest ansetzen wollte und Jenny über den Vorschlag nachzudenken schien, stieß ihre Mutter einen Seufzer aus. „Ihr wisst genau, dass das nicht ernst gemeint war.“

Ein Blick auf die Uhr vertrieb den Rest von Frau Kollas Verhandlungsbereitschaft. „So spät schon! Wirklich, jetzt aber ab ins Bett! Schlimmer als ein Sack Zirkusflöhe – ihr könntet eine ganze Armee auf Trab halten ...“

*

1

„Jennifer, ich hatte dir doch vorhin schon gesagt, kein Kaugummi im … ach was soll’s. Und zum werten Herrn Bruder: Denk bloß nicht, dass ich nicht sehen würde, dass du wieder über deinen Programmen brütest! Ich dulde das heute nur, weil es die letzte Stunde vor den Ferien ...“

„Ferien! Endlich Ferien!“ Jenny reckte ihre Faust in die Höhe.

Jon nickte nur, ohne von seinen Notizen aufzusehen. Frau Heisterkamp ging auf die Reaktionen des Zwillingspaares nicht weiter ein. Bis zuletzt hatte sie versucht, den Schülern die Charakteristika diverser Menschenaffengattungen zu erläutern. Ob etwas davon hängen geblieben war, würde sich erst im nächsten Schuljahr zeigen.

Offensichtlich war dagegen, dass sich auch Frau Heisterkamp die Sommerferien herbeisehnte. Es war kein Geheimnis, dass diese Klasse, allen voran Jenny, an ihren Nerven gezehrt hatte. Sie musterte die brünetten Zwillinge kurz. Beide galten als Herausforderung: Jenny ungeduldig, immer in Bewegung. Und Jon zwar hochintelligent, aber nur mit seinen eigenen Projekten beschäftigt. Ihre Streitereien hielten sie nicht davon ab, den Großteil des Tages zusammen zu verbringen. „Entweder ihr stürzt gemeinsam ab oder ihr beflügelt euch – die Entscheidung trefft ihr selbst!“, hatte die Lehrerin sie ermahnt. Denn einzeln waren sie schon kaum zu bändigen, aber in der Kombination regelrecht explosiv ...

Als es klingelte, quollen die Schüler der 8a dröhnend aus dem Klassenzimmer. Mit einer hechtsprungähnlichen Bewegung gelang es Frau Heisterkamp, Jon aufzuhalten. Darauf blieb auch Jenny stehen. Die Lehrerin fokussierte Jon aus zusammengekniffenen Augenlidern. „Einen Moment noch, Jonas.“

Jon verdrehte die Augen. „Nennen Sie mich doch einfach Jon. Das ist kürzer. Effizienter.“

Frau Heisterkamp sah ihn ausdruckslos an. „Wie auch immer. Du weißt genauso gut wie ich, dass es so nicht weitergehen kann. Dieses Jahr hat es geradeso gereicht, aber für die Zukunft sehe ich schwarz. Arbeite bitte ein bisschen mehr mit. Vielleicht solltest du doch über das Hochbegabtenprogramm nachdenken. Womöglich wärst du da besser aufgehoben.“

Jon winkte ab. „Zeitverschwendung. Ich habe Wichtigeres zu tun.“

Frau Heisterkamp seufzte. „Wäre auch zu schön gewesen … Also pass auf, Jonas: So ein Fiasko wie in der letzten Arbeit will ich nicht noch mal erleben. Das muss dir doch selbst gegen den Strich gehen, eine Fünf in Bio! In einem naturwissenschaftlichen Fach!“

„Ich fand die Arbeit gut!“, verteidigte Jon sich.

Frau Heisterkamp schnaubte. „Das war sie ja auch, gut geschrieben – nur fast völlig am Thema vorbei!“

Jon schüttelte den Kopf. „Das sehe ich nicht so. Außerdem war alles richtig, es ist genau so gewesen.“

„Aber in der Aufgabenstellung ging es um die Evolutionslehre! Das Fach hier heißt Biologie!“

„Meine Thesen und Beobachtungen bezogen sich ja auch darauf, dass ...“, hob Jon etwas leiser an.

Jenny kam dazu. „Bei der nächsten Arbeit weiß er bestimmt, worum es geht – und wir müssen dann los!“ Sie zog ihren Bruder von Frau Heisterkamp weg.

„Wartet“, rief die Lehrerin. „Ich habe noch was für dich, Jonas. Die Evolution wird uns auch zu Beginn des nächsten Schuljahres beschäftigen, bis zur ersten Arbeit. Und damit du die nicht verhaust, habe ich dir ein interaktives Lernprogramm mitgebracht. Das kannst du auf dein kleines Gerät laden und dich in den Ferien schon mal schlaumachen. Vielleicht hilft es ja.“ Sie gab Jon eine Disc.

Der murmelte nach kurzem Zögern: „Danke. Solange der Inhalt nicht so veraltet ist wie der Datenträger ...“

„War’s das jetzt?“, fragte Jenny.

Als Frau Heisterkamp nickte, nahm sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. „Was ist denn das?“

Jon folgte ihrem Blick und sagte: „Kakerlaken. Zwei Stück.“

Frau Heisterkamp trat einen Schritt zurück. „Also das ist doch ...“

„Und da in der Ecke, da sind noch mehr!“, ergänzte Jenny. „Da müssen Sie wohl dem Hausmeister Bescheid geben – wir haben jetzt Ferien!“ Und damit zog sie ihren Bruder zur Tür hinaus.

*

2

Vor dem Haupteingang der Lessing-Gesamtschule wartete Adam auf die Zwillinge. „Da seid ihr ja endlich! Mann, Hagen von Jonje, du hast ja einen finsteren Blick drauf!“

„Adam! Mein Name ist Jon! Also eigentlich natürlich Jonas, aber Jon ist nun mal kürzer! Effizienter! Und viel besser als deine ständigen Quatschnamen!“

Jenny rollte mit den Augen. „Mein superschlaues Bruderherz hat eine Vier in Bio bekommen, das hat seine Laune ein klein wenig gesenkt.“ Dabei hielt sie Daumen und Zeigefinger ihrer rechten Hand erst nah beieinander und streckte sie dann so weit es ging auseinander.

Adam kratzte sich am Kopf. „Ist ja echt unglaublich. Wie kam es dazu?“

Jon winkte ab. „Hatte in der letzten Arbeit eine Fünf. Was soll’s. Wir könnten jetzt auch mal ...“

„Was? Niemals, das glaub ich nicht. Ihr erzählt Blödsinn.“

„Warum sollten wir das tun? Jedenfalls könnten wir jetzt wirklich ...“

„Kannst du sie mir mal zeigen? Die Arbeit? Sonst glaube ich das nicht.“

Jon seufzte. „Ich zeige sie dir meinetwegen direkt, wenn wir dann endlich nach Hause gehen können. Sie ist auf dem Minilab gespeichert, samt Benotung.“

Adam sah mit großen Augen auf das Gerät, das Jon aus seiner seitlichen Hosentasche holte, ein mehrfach aufklappbarer Computer, den Jons Vater ihm geschenkt hatte und den er immer bei sich trug. „Wieso ist die Arbeit denn da drauf? Schreibt ihr eure Klassenarbeiten nicht auf Papier?“

„Doch, aber ich digitalisiere alle meine Schriftstücke. So sind sie leichter verwertbar.“

„Dass ich dich so Sachen überhaupt noch frage ... Könntest du sie mir auch kopieren?“

Jon zog die Augenbrauen zusammen. „Klar, ich kann sie direkt auf dein Handy rüberschieben. Aber wieso?“

Adam wich seinem Blick aus. „Ich würde sie mir halt gerne durchlesen, um zu verstehen, warum ... in Bezug auf ... Okay, nein, das stimmt nicht. Ich will sie meinen Eltern zeigen. Die sagen immer, dass ich mir ein bisschen was von dir abgucken soll. Und die Arbeit wäre der Beweis, dass du in der Schule auch mal danebenhaust.“

Jon nickte langsam. „Du musst den Datentransfer jetzt autorisieren.“

„Ich muss was?!“

„Auf Akzeptieren klicken, damit die Datei übertragen wird!“

„Das mach ich!“ Adam tippte auf sein Handy.

„Und die kannst du auch haben.“ Jon gab seinem Freund die Disc von Frau Heisterkamp. „Macht vielleicht einen guten Eindruck.“

„Nehme ich, besten Dank, Sankt Jonolaus. Wir könnten übrigens endlich mal abhauen. Unglaublich, dass ihr bis zum Ende bleiben musstet. Wir durften zehn Minuten früher raus.“

„Na, ist ja toll“, antwortete Jenny, „und was machst du dann noch hier?“

Der dunkelblonde Junge überlegte einen Moment und verlagerte seinen Schulranzen dabei von einer Schulter auf die andere. „Ja, also, wir gehen doch immer zusammen nach Hause! Und ich könnte mit zu euch kommen, damit wir über die Ferien reden können. Gibt bestimmt noch einige Klarheiten zu killen!“ Er zwinkerte ihr zu, und als Jenny es nicht zu bemerken schien, wiederholte er es mit Nachdruck.

„Adam, versuchst du etwa, mit meiner Schwester zu flirten? Oder leidest du unter nervösen Zuckungen?“ Jon sah seinen Freund, den er seit der ersten Klasse kannte, mit hochgezogener Augenbraue an.

Jenny schüttelte den Kopf. „Ach Quatsch, der will doch bloß wieder ein Mittagessen abstauben!“

Adam folgte den Zwillingen, als sie loszogen. „Stimmt nicht. In unserem Kühlschrank steht was für mich. Obwohl, das könnte ich natürlich auch später noch essen. Was gibt’s denn bei euch?“

Als die drei in die Max-Frisch-Allee bogen, hörte eine etwas über anderthalb Meter große Gestalt mit käferbeinlangen Haaren augenblicklich auf, mit ihrem Ball zu spielen, und rannte auf sie zu.

„Tja Leute, da kommt unser Empfangskomitee.“ Jenny verdrehte die Augen. „Wir haben zwar keinen Hund, aber der ist ja fast genauso gut. Gibt mir jemand ein Stöckchen? Vielleicht wird man ihn so wieder los.“

Jon knuffte sie in die Seite. „Sei nicht so gemein zu dem kleinen Kerl. Eigentlich ist er in Ordnung.“

„Was heißt überhaupt klein“, fragte Adam, „Tim ist doch nur anderthalb Jahre jünger als wir!“

„Eben!“, versetzte Jenny. „Er ist grad dreizehn geworden und hängt –oder eher hüpft – ständig bei uns rum. Außerdem spielt er immer noch mit diesen Actionfiguren, die so lächerlich ...“ Sie verkniff sich den Rest, als Tim die Gruppe erreichte.

„Da seid ihr ja endlich! Ratet mal, was ich für Neuigkeiten habe! Ratet mal! Na los! Das erratet ihr nie!“ Tim hüpfte von einem Bein auf das andere und versuchte dabei, zu Atem zu kommen.

„Wozu sollten wir es dann überhaupt versuchen?“, fragte Jenny und verzog den Mund zu einer Schnute. Die Gruppe setzte sich wieder in Bewegung, während Tim sie umkreiste wie ein Satellit die Erde.

„Och bitte, ratet mal! Es ist total super!“

Jon kramte in seinen Taschen. „Ist deine Star Warrior-Sammlung endlich komplett? Das letzte Mal, als ich sie gesehen habe, waren es ...“ Er schloss die Augen. „29 Figuren. Es fehlte also nur eine. Nach aktuellem Stand der Veröffentlichung jedenfalls.“

Tims Mundwinkel sackten ab. „Erinnere mich nicht daran. Ich spare immer noch, damit ich mir Major Pryme kaufen ...“

„Tim!“ Jenny zog den Namen wie einen ihrer Kaugummis in die Länge. „Hör auf, uns mit diesen Actionfiguren zu nerven. Rück lieber mal mit den tollen Nachrichten raus.“

Adam stimmte ihr zu. „Also so langsam will ich es auch wissen.“

Sie hatten die Tür der Kollas fast erreicht, aber Tim blieb stehen und nahm die Haltung eines Festtagredners ein. „Okay, ich werde es euch sagen. Es ist nämlich so, dass ...“

„Nimmst du das auf?“ Adam deutete auf das Minilab, das Jon aus seiner Jackentasche gefischt hatte.

Jon nickte. „Es empfiehlt sich, möglichst viele Phänomene möglichst genau zu dokumentieren. Nur mit einer breiten Datenbasis lassen sich haltbare Erkenntnisse gewinnen. Das ist ein Grundsatz jeder seriösen Wissenschaft. Und es gibt ja zahlreiche wissenschaftliche Disziplinen.“

Adam kratzte sich am Kopf und blähte seine Wangen auf. „Phänomene, schon klar ... Und das, obwohl du so ein fotogenes Gedächtnis hast oder wie das heißt ... ach egal. Wenn es witzig ist, könnte man es auch ins Internet stellen.“

„Womit habe ich das verdient?“, seufzte Jenny. „Ich bin von Schwachsinnigen und Verrückten umgeben.“ Sie öffnete die Tür zu dem Haus, das ihr Bruder und sie mit ihrer Mutter bewohnten.

„Halt! Ich habe ja noch gar nicht meine Neuigkeiten erzählt! Jetzt hört mir doch mal zu“, rief Tim und knackte mit ein paar Fingern. Die drei blieben wieder stehen und wandten sich ihm zu. Jon aktivierte das Minilab.

Plötzlich stieß Jenny einen Schrei aus. Der Grund dafür war allen klar: Aus Tims Jackentasche lugte der Kopf einer noch nicht ausgewachsenen Ringelnatter hervor. Tim besaß eine Menge Schlangen, Käfer und anderer Tiere, die entweder mit keinen oder mehr als vier Beinen ausgestattet waren. Diese Leidenschaft lag in seiner Familie, das Haus der Fröhlichs glich einer Zoohandlung. Auch wenn sie kaum darüber redete, war es ein offenes Geheimnis, dass Jenny eine Heidenangst vor jeglichen Insekten und Amphibien hatte.

Tim beeilte sich, die Schlange in seine Jackentasche zurückzudirigieren. „Keine Sorge, die bringe ich gleich in ihr Terrarium“, versicherte er. „Aber ich glaube, sie ist gerne draußen. Es macht ihr auch gar nichts, wenn ich mit ihr herumspringe und spiele! Okay, okay, jetzt verrate ich es euch wirklich“, beteuerte er zwischen zwei Hüpfern, als Jenny sich abwenden wollte. Sie stieß die Luft aus und blieb stehen. „Das sind nämlich echt tolle Neuigkeiten.“ Tim imitierte einen Trommelwirbel. „Ich werde auch mitkommen!“

Auf den Gesichtern von Jenny, Jon und Adam spiegelte sich Ahnungslosigkeit, bis sie bei den Zwillingen in Misstrauen umschlug. Nach ein paar Sekunden Stille fragte Jon: „Wohin mitkommen?“

Tim strahlte von einem Ohr zum anderen. „Nach Amerika natürlich!“ Er hüpfte vor den Geschwistern auf und ab. „Ich darf auch mit in dieses Camp von eurem Vater!“

Jon hielt beim Essen inne, um zu beobachten, wie Adam die dritte Portion des Puddings, den es zum Nachtisch gegeben hatte, verdrückte. Jenny spielte mit ihrem Löffel, ohne darauf zu achten. Tim hatte nicht bei ihnen gegessen, aber er würde gleich rüberkommen. Ein weiter Weg war das nicht, da die Fröhlichs direkt neben den Kollas wohnten.

Tims Familie war mit Jons Eltern befreundet, mit Jons Mutter genau genommen. Sein Vater verbrachte schließlich die meiste Zeit in den USA. Zu Hause war er fast nur im seltenen Urlaub. Jon fragte sich manchmal, ob es jemals wieder so wie früher werden würde. Seine Eltern stritten zwar weniger. Aber sie sahen sich ja auch kaum mehr. Jon war sich nicht sicher, ob sie überhaupt noch richtig zusammenleben wollten. Etwas Schweres bildete sich in seinem Bauch bei diesen Gedanken. Er rieb sich die Schläfen. Wer konnte schon sagen, was in deren Köpfen vorging. Lieber dachte er an die vor ihm liegenden Ferien. Es würden die großartigsten aller Zeiten werden! Jons Vater, Edgar Kolla, war Wissenschaftler, eine Koryphäe auf seinem Gebiet. Er entwickelte für die GOSA, die Global Organization for Space and Aeronautics, Raumfahrt-Technologien. Momentan war er in den Laboren in Nevada beschäftigt. Diese Forschungseinrichtungen waren in ein Camp integriert, in dem Forscher ausgebildet wurden. Und Edgar Kolla hatte seinem Sohn dort einen Platz in einem Sommerpraktikum für begabte Schüler vermittelt. Jon konnte es noch immer kaum glauben! Er liebte Raumfahrt, Technik, Mathematik und Physik.

Der Gedanke an all die Sachen, mit denen er sich in den kommenden Wochen beschäftigen würde, beflügelte Jons Fantasie, sodass es eine Weile dauerte, bis Jennys Stimme zu ihm durchdrang: „Erde an Eierkopf – auf welchem Planeten treibst du dich wieder rum?“

„Von wegen Eierkopf, du, du ...“ Ihm fiel keine passende Erwiderung ein.

„Sumpfhexe?“, fragte Adam, während er den letzten Rest Pudding zusammenkratzte. „Ich würde dich natürlich nie so nennen!“, fügte er mit vollem Mund hinzu, als er Jennys Gesichtsausdruck bemerkte.

„Ja, klar ... aber ist mir auch egal“, sagte Jenny. „Lasst uns lieber darüber nachdenken, was es für unsere Ferien bedeutet, dass der kleine Insektenfan von nebenan mitkommt. Mama, musste das denn sein?“, rief sie ihrer Mutter zu, die im vorderen Teil des Wohnzimmers, der sich zur Küche hin öffnete, ein paar Unterlagen sortierte.

„Na, es passt doch so schön! Ein Platz war noch frei, Tims Familie fährt dieses Jahr nicht in Urlaub, ihr seid befreundet ... das passt doch so gut!“ Schon waren ihr die Argumente ausgegangen.

Jon war genau wie seiner Schwester klar, dass vor allem die Freundschaft ihrer Mutter zu Tims Eltern eine Rolle bei der Entscheidung gespielt hatte. Ihm machte es allerdings nichts aus, dass Tim sie begleitete. Es gab schlimmere Zeitgenossen als den kleinen Kerl. Wichtiger waren Jon eh die Aufgaben der Wissenschaft, die auf ihn warteten. Vier Wochen lang im Herzen der Weltraum-Forschung! Was Jenny und Adam, der auch mitkommen durfte, anging – hoffentlich würde ihnen im Camp nicht langweilig werden. Sie wollten schließlich bloß Urlaub machen ...

*

3

Der Wecker klingelte. Nicht zum ersten, sondern schon zum dritten Mal heute. Um halb sieben hatte er Jon aus dem Schlaf gerissen. Um zwanzig vor endgültig aus dem Bett gescheucht. Nun war es zehn nach und Jon hätte laut Plan fertig sein müssen: mit Zähneputzen, Waschen, Anziehen, Nachrichten der vergangenen Nacht überfliegen und der Generalkontrolle.

Doch an solchen Plänen scheiterte er regelmäßig. Dann waren ausgefeilte Lösungsstrategien notwendig. An diesem Tag hatte er die Zahnreinigung mit dem Ankleiden und dem Nachrichtenlesen kombiniert, um verlorene Zeit zu kompensieren, und den daraus resultierenden Sturz als negativen Ausgang eines Experiments gewertet.

Acht Minuten später eilte Jon mit dem Koffer die Treppe hinunter. Immerhin war er endlich am Frühstückstisch angekommen. Seine Mutter und seine Schwester blickten zur Wanduhr.

„Du wirst es wirklich nie schaffen, pünktlich zu sein. Und weil ich das weiß, habe ich extra einen Puffer eingeplant.“

Jons Antwort ging auf dem Weg durch einen mit Marmeladenbrot vollgestopften Mund verloren. Frau Kolla schüttelte den Kopf. „Versuch nicht, Zeit wieder gutzumachen, indem du riskierst, an deinem Frühstück zu ersticken.“

Jenny gähnte. „Genau. Wehe, ich muss mit Adam und Tim alleine nach Amerika. Das würde ich dir wirklich übel nehmen, Joni.“

„Fang bitte nicht auch damit an“, knurrte ihr Bruder. „Ich heiße Jonas und nenne mich Jon, ist doch ganz einfach. Eins von beiden. Jon ist die kürzeste Variante, also empfehle ich die. Nach wie vor.“

„Und es klingt so cool“, säuselte Jenny, „richtig international.“ Sie sprach das Wort englisch aus. „Der berühmte Scientist Dr. Jon Kolla ...“

Ihre Mutter sah wieder zur Uhr. „Jenny, wie wär’s, wenn du rüber zu Tim gehst. Ihr könnt ja schon mal seine Sachen ins Auto laden.“

Jenny zögerte nicht lange. Bewegung zog sie dem Warten immer vor. Sie sprang auf und lief zu den Fröhlichs.

Auch im Nachbarhaus musste man die Treppe hinaufgehen, um ins Kinderzimmer zu gelangen. Tims Gepäck stand zwar bereits im Flur, er selbst war aber noch einmal hochgelaufen, wie seine Eltern Jenny mitgeteilt hatten.

Sie klopfte an die Tür. „Tim? Ich bin’s, Jenny. Ich soll dich abholen.“

Sofort flog die Tür auf. „Ja, ich bin fertig, endlich geht’s los!“ Er stockte. „Es ist nur ... ich muss mich noch verabschieden ...“ Tim deutete ins Innere des Zimmers und knackte mit einem Finger.

Jenny konnte ein Schaudern kaum unterdrücken. Dieses Terrarium dort ... gegen ein Aquarium mit Fischen war ja nichts einzuwenden, aber der Gedanke an Spinnen, Kakerlaken und ähnliches Getier ließ sie äußerst unruhig werden. Neben dem sarggroßen Glaskasten standen noch ein paar Boxen, in denen weitere Insekten herumwuselten. Jenny machte einen Schritt zurück. „Okay, jetzt hast du dich verabschiedet. Also komm schon, wir fahren gleich“, presste sie hervor. „Und gnade dir Gott, wenn sich irgendeins dieser Viecher in dein Gepäck geschlichen hat!“

*

4

Endlich saßen sie im Flieger. Nach der Fahrt zum Flughafen, den Umarmungen für die Eltern, den Kontrollen und dem Warten setzte die Maschine sich in Bewegung. Jon starrte aus dem Fenster, nahm alle Details in sich auf. Es war nicht das erste Mal, dass er flog, aber er war wie jedes Mal völlig fasziniert. Nach der letzten Biegung beschleunigte das Flugzeug, immer mehr und mehr, bis es plötzlich abhob.

Sofort klebte Jons Blick an dem sich entfernenden Boden. Autos wurden zu Punkten, die wie aufgezogen gleichmäßig einer Linie folgten, links und rechts von rechteckig grünen und braunen Feldern gesäumt. Ringsum gab es noch einige Waldstücke und etwas entfernt einen See. Nachdem die schrumpfende Landschaft schließlich von der ersten Schicht dünner weißer Wolken verdeckt worden war, richtete Jon seine Konzentration nach oben.

Der ersten folgten weitere Schichten, bis nur strahlend blauer Himmel über und um sie herum war. Er liebte diesen Anblick. Als Jons Nacken zu schmerzen begann, drehte er sich zu seiner Schwester. Jenny hatte ihrem Bruder den Fensterplatz überlassen, da sie natürlich wusste, wie viel ihm daran lag. Jon überlegte, ob er ihr helfen könnte. Denn es war Jenny schon jetzt anzusehen: Sie langweilte sich. Ihre Finger tippten rhythmusfrei auf die Armlehne. Wahrscheinlich wäre sie am liebsten aufgestanden und ein paar Runden durchs Flugzeug gelaufen. Es würde ein langer Aufenthalt für sie werden.

Jon bekam einen Stoß in den Rücken. Direkt hinter ihm saß Tim, der mit dem Kopf gegen den Sitz vor sich drückte, um besser an seinen Rucksack zu gelangen, den er zuvor ordentlich unter dem Platz verstaut hatte. Als Nächstes raschelte etwas, das Jon als Comic identifizierte. Nachdem er den Start mit geschlossenen Augen versucht hatte zu ignorieren, wollte Tim sich wohl ablenken.

Aus dem Augenwinkel sah Jon, wie sich ein Gesicht schräg hinter ihm nach vorne quetschte. Die Lücke zwischen den Rückenlehnen war schmal, aber Adam setzte alles daran, die Zwillinge zu sehen, ohne dafür aufstehen zu müssen. Mit den Händen versuchte er vergeblich, sich etwas Platz zu verschaffen.

Als seine Ohren dem Vorrücken des Kopfes schließlich ein Ende bereiteten, huschte Adams Blick zwischen den Geschwistern hin und her. „Na? Was geht bei euch ab da vorne?“

Jenny rutschte ein wenig nach links und antwortete: „Tja, wir sind, seit du uns das das letzte Mal gefragt hast, von Außerirdischen entführt worden, haben gefährliche Abenteuer im Weltraum erlebt und sind gerade erst wieder heil hier auf unseren Sitzen angekommen, aber ansonsten ist alles bestens, danke der Nachfrage!“

Adam nickte interessiert und wandte sich Jon zu. „Schau an. Und wie sieht’s bei dir aus, Johnny-Boy?“

Jon seufzte. Seit er angefangen hatte, sich Jon zu nennen, hatte Adam ihm Kosenamen gegeben. Er versuchte es dennoch erneut. „Jon. Einfach nur Jon. Aber egal, früher oder später gehen dir eh die Variationen aus.“

„Die Wette nehme ich an“, nickte Adam wieder. „Also, wie ist bei dir die Lage, Jon-San?“

Jon unterband einen weiteren Seufzer. Er sagte: „Ich würde die Zeit eigentlich gern nutzen, um etwas an meinem Programm zu arbeiten – du weißt doch, das, womit man ...“

„Schon gut, schon gut.“ Adam drehte sich zurück zu Jenny. „Hey, soll ich dir ein paar Witze erzählen? Die kennst du bestimmt noch nicht! Sind echt unglaublich!“

In Jennys Miene zeichnete sich Skepsis ab, sie zuckte aber mit den Schultern und meinte: „Okay, ich habe ja vorerst eh nix Besseres zu tun. Schieß los.“

„Alles klar!“ Adam rieb sich die Hände. „Wie wär’s mit diesem: Fritzchen geht mit seiner Oma ...“

Jon seufzte nun doch noch einmal und verschob sein Vorhaben, an dem Programm zu arbeiten, auf später. Stattdessen sah er wieder in die blaue Weite, die sich vor dem Fenster erstreckte und Gedanken an zerstrittene Eltern, mäßige Schulnoten und eigene Erwartungen einfach verschluckte.

*

5

Sie landeten in Carson City, der Hauptstadt von Nevada. Ihr erster Halt hatte in New York City stattgefunden, wo sie aber nur in eine andere Maschine umgestiegen waren, um von dort quer über die USA zu fliegen.

Der Flughafen von Carson City war passend zur Stadt recht überschaubar. Es dauerte nicht annähernd so lang wie in New York, bis Jenny, Jon, Adam und Tim alle Kontrollen und Formalitäten hinter sich lassen konnten.

Nachdem sie sich ihr Gepäck vom Rollband geangelt hatten, marschierten sie zum Ausgang. Jon schwang den Rollkoffer in seiner Hand, was ihn angesichts des Gewichts beinah stolpern ließ, und sagte: „Ich merk jetzt erst so richtig, wie ich mich freue, Papa zu sehen.“

Jenny nickte zwar, in ihrem Gesicht spiegelte sich aber nicht Jons Euphorie. Adam schnaufte unter der Last seines kleinkindgroßen Rucksacks. „Kann ich gut verstehen. Ihr trefft euch ja echt selten. Kein Wunder bei der Entfernung. Dabei fällt mir wieder ein, wie froh ich bin, dass wir endlich da sind!“

„Wissen wir, wissen wir“, stichelte Jenny, „allerdings sind wir noch nicht ganz da. Das Camp ist, glaub ich, eine Autostunde von hier entfernt.“

Adam ächzte. „Au Mann, erst eine Stunde rumgurken? Da werde ich aber ’ne Runde pennen. Tim, ich brauche dich als Kopfkissen!“

Tim deutete mit einer Geste an, dass Adam nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte, und ging in Deckung, als dieser träge mit dem Arm nach ihm schwang und dabei gegen Jon stieß, der wenige Meter hinter dem Ausgang stehen geblieben war.

Eine Handvoll Leute wartete hier und hielt nach den Gelandeten Ausschau. Ein älteres Paar umarmte eine junge Frau, zwei Anzugträger wurden von einem Chauffeur in Uniform in Empfang genommen und ein leicht untersetzter Mann küsste sichtlich aufgeregt die Stirn seiner dunkelrothaarigen Liebsten. Die restlichen Passagiere strömten zu den Türen, die ins Freie hinausführten, bis nur noch die vier Freunde übrig blieben. Der Vater der Zwillinge war nicht zu sehen.

Nach zehn Minuten näherte sich ihnen ein hagerer Mann. Er war vielleicht Anfang dreißig. Die Schweißflecken auf dem gestreiften Hemd und die rötliche Gesichtsfarbe mochten von der Hitze rühren, die draußen wohl herrschte. Zusätzlich hatte er aber ein Zucken im Gesicht, das Jon sofort auffiel.

Einen Meter vor ihnen blieb der Mann stehen und musterte sie. „Ihr seid sicher die Kinder von Doktor Kolla, nicht wahr?“ Ohne eine Bestätigung abzuwarten, fuhr er fort: „Ich bin Leroy Grant. Ich arbeite für Doktor Kolla. Es tut ihm sehr leid, er hat es nicht geschafft, euch persönlich abzuholen, denn er musste auf eine wichtige Konferenz. Aber davon kann ich gleich im Wagen noch erzählen. Kommt, fahren wir zum Camp.“

Mr Grant fuhr einen Mittelklasse-Geländewagen. Da Adam der Größte der vier Reisenden aus Deutschland war, saß er auf dem Beifahrersitz. Jenny, Jon und Tim teilten sich die Rückbank, ihr Gepäck war im Kofferraum verstaut.

So bretterten sie durch die trockenheiße Landschaft von Nevada. Jon versuchte, am Kopf von Mr Grant vorbei auf den Tachometer zu gucken, aber es gelang ihm nicht. Sie fuhren bestimmt viel zu schnell. Mr Grant musste sich dessen bewusst sein, denn er starrte regungslos nach vorne und hatte bis jetzt noch keinen Ton gesagt.

Was mochte das für eine Konferenz sein, an der ihr Vater so unerwartet hatte teilnehmen müssen? Jon überlegte, wie er seine Frage an Mr Grant formulieren sollte – sein Englisch war schließlich nicht das allerbeste – da lehnte sich Jenny ein wenig vor und sprach den Amerikaner an: „Entschuldigung, Sie wollten uns doch sagen, was unser Vater gerade zu tun hat, oder? Worum geht es denn da bei dieser Konferenz?“, fragte sie in ganz passablem Englisch.

Mr Grant zuckte mit dem Kopf zur Seite, bevor er sich wieder auf die leere Straße konzentrierte. Er antwortete nicht gleich, sondern wischte sich erst mit dem rechten Handrücken Schweiß von der Stirn. Schließlich deutete er ein Nicken an. „Jaja, richtig, so ist es. Er musste auf eine Konferenz. Die konnte nicht ohne ihn stattfinden.“ Er strich sich mit einer fahrigen Bewegung durch das dünne Haar.

Jon beobachtete Mr Grant im Rückspiegel. Da war ein Funkeln in dessen Augen, das ihn auf seltsame Art irritierte.

Der Amerikaner fuhr fort: „Es geht da um eine wichtige Entdeckung, etwas ganz Großes. Ich kann euch das jetzt nicht näher erklären. Es handelt sich um eine Beobachtung, die mit dem Super-Teleskop gemacht wurde, das wir in Camp Odyssee seit diesem Jahr haben.“

Jons Interesse war mit jedem Wort gestiegen, aber Adam reagierte schneller. Allerdings auf andere Art, als es Jon im Sinn hatte. „Wo Sie gerade davon sprechen, wann sind wir denn da, also in Camp Odyssee. Ich habe echt Hunger.“

Jon ließ die Spannung aus seinem Körper entweichen. Da war die Rede von den unglaublichsten technischen Geräten und von irgendwelchen wichtigen Entdeckungen, die anscheinend entweder geheim oder hochkompliziert waren, und woran dachte Adam? Ans Essen. Tim dagegen verweigerte sich dem Gespräch einfach, indem er leise schlief. Sein Kopf lehnte an die Scheibe.

Jenny war anzusehen, dass sie mit der Antwort von Mr Grant nicht zufrieden war. Bevor sie nachsetzen konnte, wandte dieser sich Adam zu. „Keine Sorge, wir kommen gleich an. Zum Glück sind die Straßen hier immer recht leer.“

„Nicht zu vergessen die viel zu hohe Geschwindigkeit“, dachte Jon, behielt es aber für sich.

„Seht ihr die Berge da hinten?“, fragte Mr Grant. „Kurz davor liegt das Camp. Sobald ich euch hingebracht habe, werde ich weiterfahren, um Dr. Kolla abzuholen. Jenny, Jonas, wie wär’s, wenn ihr mitkommt, nachdem wir eure Freunde und das Gepäck im Camp abgesetzt haben. Dann könnt ihr euren Vater direkt sehen. Für alle ist kein Platz, denn Dr. Kolla muss ja noch ins Auto passen.“

Jon und Jenny tauschten kurz Blicke. Auch Jenny schien irgendetwas komisch vorzukommen. Vielleicht waren sie aber bloß müde und deswegen misstrauisch. Sie hatten einen langen Flug hinter sich, es war heiß und sie saßen zu fünft in einem Auto, das über eine staubige Wüstenstraße donnerte. Da konnte man durchaus etwas paranoid werden. Jedenfalls wollte Jon endlich seinen Vater wiedersehen. Und Jenny ging es vielleicht genauso – oder sie war einfach nicht scharf darauf, mit Adam und Tim warten zu müssen. Gleichzeitig antworteten sie also schlicht: „Okay.“

Zwanzig Minuten später kam Jon die Situation jedoch noch immer komisch vor, sehr sogar. Im Camp hatten sie nur das Gepäck aus dem Kofferraum geholt, während Mr Grant mit einer älteren Frau aus einem Büro zurückgekommen war. Diese hatte Adam und Tim in Empfang genommen und sie zu ihrem Zimmer geführt.

Schon war die Fahrt weitergegangen, da die Konferenz bald zu Ende sei und sie ihren Vater doch nicht warten lassen wollten.

Mr Grant hatte es definitiv eilig. Er raste mit ihnen durch die sich rasch verdunkelnde Wüstenlandschaft, ohne einen Ton zu sagen. Stattdessen war da wieder dieses Zucken in seinem Gesicht, das Jon nun noch mehr irritierte. Vorsichtig fragte er: „Müssen wir so schnell fahren?“

Aber Mr Grant ignorierte ihn einfach. Er kniff die Augen zusammen, als hielte er nach etwas Ausschau. Nach weiteren fünf Minuten verlangsamte er die Geschwindigkeit und bog auf einen Rastplatz ab, der von Staub und Sand bedeckt war. Außer ihnen war niemand dort. Man konnte hier kurz Pause machen, aber abgesehen von zwei Tischen aus massivem Holz und dazugehörigen Bänken bot der Ort keinerlei Annehmlichkeiten. Allmählich entfachten die Sterne ihr anmutiges Leuchten.

Jon spürte, wie Jenny unruhig wurde. Auch er wusste nicht, weshalb sie anhielten. Es gab keine Tankstelle, und warum sollten sie eine Pause einlegen, wenn doch die Zeit drängte?

Adam und Tim hatten gerade ihre Koffer in dem ihnen zugewiesenen Zimmer abgestellt, als ein Mann an die offene Tür klopfte und gleichzeitig eintrat. „Ah, ihr müsst Dr. Kollas Söhne sein. Freut mich, euch kennenzulernen. Ich bin Bryan Daley, ein Assistent von Dr. Kolla.“

Tim schüttelte energisch den Kopf und antwortete: „Wir sind nicht die Söhne von Dr. Kolla. Ich bin Tim und das ist Adam!“

„Wir sind Freunde von Dr. Kollas Kindern“, ergänzte Adam. „Er hat eine Tochter und einen Sohn, Jenny und Jonas.“

Daley nickte. „Ja, stimmt, daran erinnere ich mich jetzt auch. Tut mir leid, da war ich grad durcheinander, als ich euch gesehen habe. Wo stecken die Zwillinge denn? Dr. Kolla hat eben angerufen und gesagt, dass er gleich hier sein wird.“

Adam runzelte die Stirn. Tim sagte auf Deutsch zu ihm: „Ich dachte, die holen ihn ab? Dann fahren sie ja aneinander vorbei!“

Adam erklärte Mr Daley die Situation. Als dieser den Namen Grant hörte, riss er die Augen auf. „Da stimmt etwas nicht. Dr. Kolla ist mit seinem eigenen Wagen zu der Konferenz gefahren. So wie immer. Außerdem konnte Grant unmöglich wissen, wann das Meeting genau zu Ende sein würde ...“

Der Boden des Rastplatzes knirschte unter den Reifen. Warum war Mr Grant so still? Was wollte er hier? Vorerst konnten die Zwillinge nur abwarten. Kaum war der Wagen zum Stillstand gekommen, sprang der hagere Wissenschaftler heraus und glitt wie ein langer Schatten vor die hintere Tür. Jon und Jenny erstarrten. Grant hielt eine Pistole in der Hand. Er zielte damit direkt auf Jon. Dessen Mund war schlagartig ausgetrocknet. Er schluckte mühsam. Kalter Schweiß rann ihm von den Schläfen über die Wangen den Hals hinunter. Sein Herz klopfte lauter als jemals zuvor in seinem Leben.

„Was wollen Sie?“ Jenny hatte ihre Sprache wiedergefunden, auch wenn ihr Klang wegen des Zitterns darin ungewohnt war.

Mr Grant schien zu überlegen, ob er etwas sagen sollte. Schließlich holte er aus seiner Jackentasche ein Klebeband und warf es Jenny zu. Dabei knurrte er: „Verbinde deinem Bruder den Mund.“

Als Jenny zögerte, rief er: „Mach schon! Und dann die Hände fesseln! Na los!“ Die Ader auf seiner Stirn zeichnete sich deutlich ab. Als unmissverständliche Drohung hob er die Pistole noch ein Stück höher und zielte Jon dadurch genau zwischen die Augen. Jenny atmete ein paar Mal tief durch und tat, was Mr Grant verlangte.

„Und wehe, er kann sich bewegen! Versuche nicht, mich auszutricksen!“

Jenny fesselte ihren Bruder, der seine Fäuste hinter dem Rücken verkreuzt hatte. Anschließend forderte Grant Jon auf, zur anderen Seite des Wagens zu rutschen. Jenny musste sich umdrehen, damit sie von Grant selbst gefesselt werden konnte. Auch ihr verband er den Mund. Als die beiden so geknebelt waren, schien er allmählich in Redelaune zu kommen. „Denkt nicht, dass ich das gerne machen würde, aber ich habe keine Wahl. Daran ist nur euer Vater schuld!“ Grant sprach mehr zu sich selbst: „Wenn er sich besser verhalten hätte ...“ Der Amerikaner brach ab und schien seinen Gedanken in die Vergangenheit zu folgen. Das Flackern kehrte in Grants Augen zurück. Er verengte sie zu Schlitzen und fixierte die Zwillinge. „Er behandelt mich wie einen gewöhnlichen Assistenten, obwohl ich viel mehr bin! Ich allein bin für die große Entdeckung verantwortlich! Und er will den ganzen Ruhm einheimsen!“ Wort für Wort senkte er die Lautstärke. „Das kann ich nicht zulassen. Ich habe zu hart dafür gearbeitet, immer schon. Ich verdiene es, mehr als ein Assistent zu sein. Ich sollte das Labor führen, nicht euer überheblicher Vater! Aber er wird noch sehen, was er davon hat ...“ Jons Blick traf den von Jenny. Er sah darin so viel Angst, wie er selbst hatte.

Bryan Daley machte mit Adam und Tim einen Rundgang durch das Hauptgebäude. Der Forscher wirkte unruhig: Dauernd sah er nach draußen. Die Frage, was genau los sei mit Mr Grant und den Zwillingen, hatte er mit einem „Nichts, nichts, keine Sorge“ abgetan. Als Daley erneut aus einem Fenster spähte, hielt er mitten im Satz inne, entschuldigte sich mit ein paar dahingeworfenen Worten, die Adam nicht verstand, und eilte zum Ausgang. „Da ist Dr. Kolla“, rief Tim und deutete nach draußen. Ohne zu zögern, liefen sie Daley hinterher. Als sie die beiden erreichten, beendete Daley gerade seine Erklärung mit: „... sind sie zu dritt weitergefahren!“

Dr. Kolla fuhr sich durch das ergraute Haar und zog die Augenbrauen hoch. „Was? Wieso das? Was sollte das für einen Sinn ergeben? Und ausgerechnet Grant ...“ Er brach ab, wurde bleich. Sein Mund öffnete sich, aber anstatt noch etwas zu sagen, sah er Daley nur mit aufgerissenen Augen an.

Grant schien unsicher zu sein, wie er weiter vorgehen sollte. Er saß im Wagen, überlegte es sich jedoch anders, stieg aus und öffnete die hintere Tür zum zweiten Mal. „Los, raus mit euch, los, los!“

Jenny und Jon kletterten hinaus, was mit gefesselten Händen nicht so einfach war. Jon verlor sein Gleichgewicht und stolperte gegen Grant. Dieser wich zurück, fluchte und stieß den schlanken Jungen von sich, sodass er mit Jenny zusammenprallte. Sie halfen sich mühsam gegenseitig auf.

Grant hatte derweil den Kofferraum geöffnet. Er schnauzte die Zwillinge an: „Klettert da rein. Und keinen Ärger machen, sonst ...“ Er ließ die Pistole aus seiner Tasche blitzen.

Langsam gingen die Geschwister hinter den Wagen. Jenny hielt für einen Augenblick inne. Mit einer kaum wahrnehmbaren Kopfbewegung machte sie Jon auf etwas aufmerksam. Da sah er es auch. Ein Auto fuhr auf der ansonsten völlig leeren Straße in ihre Richtung. Noch war es weit entfernt. Wenn sie sich irgendwie bemerkbar machen könnten ...

Viel Zeit blieb nicht. Eingesperrt im Kofferraum, gefesselt und geknebelt, waren sie Grant ausgeliefert. Leider hatte dieser den Wagen auch bemerkt. Er stieß Jon den Revolverlauf in den Rücken. „Los jetzt, sofort. Sonst werdet ihr diesen Ort nicht mehr lebend verlassen!“

Jon versuchte, sich zu konzentrieren, aber der Schlag seines Herzens übertönte jeden Gedanken. Jons Atmung wurde flacher, er kämpfte gegen die von der drohenden Sauerstoffknappheit angefachte Panik.

Sie hatten keine Chance. Grant war unberechenbar. Vielleicht sogar völlig verrückt. Wieder stieß er Jon die Pistole in den Rücken, diesmal noch heftiger. Als er anfing, Jenny mit Gewalt in den Kofferraum zu bugsieren, kletterte sie hinein. Jon folgte ihr. Bevor der Verschluss einrastete, gelang es ihm, einen letzten Blick auf den herannahenden Wagen zu werfen. Wer auch immer darin saß, wäre fast Zeuge ihrer Gefangennahme geworden. Und konnte jetzt nicht mehr helfen.

*

6

Dunkelheit. Absolute Dunkelheit. Jenny atmete heftig durch die Nase. Ihr Mund war vom Klebeband verschlossen, was zusammen mit der Schwärze und Enge hier drin in ihr nahezu Platzangst auslöste. Sie musste raus! Wütend rüttelte sie mit den Händen hinter ihrem Rücken. Dabei stieß sie jedoch bloß gegen Jons Schulter.

Was war das? Jon gab Laute von sich, die sie zwar unmöglich als Worte identifizieren konnte, die ihr aber irgendetwas mitteilen sollten. Sie senkte ihre Atemfrequenz und konzentrierte sich auf ihren Bruder. Auch er bewegte seine Hände, allerdings langsamer. Gleichzeitig bekamen seine unter dem Knebel hervorgepressten Laute einen auffordernden Ton. Jenny drehte sich, so weit es ging, um und versuchte, mit ihren Fingern an seine zu kommen.

Was hatte ihr Bruder vor? Probierte er, die Fesseln abzustreifen? Das würde Jahre dauern. Da verstand sie plötzlich: das Minilab! Jon wollte es aus seiner Tasche hieven. Was das bringen sollte, wusste Jenny zwar nicht, aber sie half ihm.

Wenige Augenblicke später lag das Minilab offen im Kofferraum. Das Bildschirmleuchten minderte die Dunkelheit. Gleichzeitig strömte ein leicht miefiger Geruch in Jennys Nase – Jon musste es irgendwie geschafft haben, einen seiner labbrigen Turnschuhe abzustreifen. Und tatsächlich sah sie aus dem Augenwinkel, wie Jon mit seinem großen Zeh an dem Gerät herumfummelte. Er kannte das Ding in- und auswendig, wenn einer damit auf diese Art umgehen konnte, dann er.

Jetzt hörte Jenny etwas: Stimmen. Draußen war jemand. Aber leider nicht direkt am Wagen, dazu klang das Gesprochene zu leise. Sie mussten sich bemerkbar machen! Leichter gedacht als getan – sie waren kaum in der Lage, auch nur ihre Hände zu bewegen. Jenny zog die Beine noch weiter an, um irgendwo gegen zu treten, vielleicht konnte man das ja hören. Aber der Platz reichte einfach nicht. Sie biss die Zähne aufeinander.

Im nächsten Moment spürte sie ein Klopfen von Jon und im übernächsten wäre sie vor Schreck fast gestorben: Ein Schrei drohte ihr Trommelfell zu zerfetzen. Kaum war er verklungen, ertönte er erneut. Und immer so weiter. Es dauerte Sekunden, bis Jenny erkannte, dass es sich dabei um ihren eigenen Aufschrei handelte. Den, den sie vor einigen Tagen ausgestoßen hatte, als Tim vor der Haustür der Kollas unfreiwillig sein neues Haustier präsentiert hatte.

Richtig! Jon hatte das ja alles aufgenommen – und nun den Abschnitt mit dem Schrei offensichtlich in eine Endlosschleife gelegt und auf maximale Lautstärke gestellt. Es war kaum zum Aushalten. In Wahrheit fühlte sich ihr Kopf sogar an, als müsse er gleich explodieren. Und für den Bruchteil einer Sekunde glaubte Jenny auch, dass genau dies geschehen wäre. Weißes Licht erfüllte den Kofferraum und blendete sie. Es war der Lichtkegel einer Taschenlampe, die in der Hand eines Polizisten lag.

„Und euch zwei geht es wirklich gut?“