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Impressum
© 1976/2020 Pabel-Moewig Verlag KG,
Pabel ebook, Rastatt.
eISBN: 978-3-96688-046-6
Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Sean Beaufort

Die Skelett-Galeone auf dem Riff

Wahnsinn und Seuche auf dem Eiland – die Schebecke wird gekapert

Die Welle hob sich, wurde schneller, bildete einen breiten, dreieckigen Schaumstreifen und überschlug sich mit gefährlich zischendem Rauschen.

Etwas war anders an diesem Geräusch. Mit hastigen Flügelschlägen brachten sich die fischejagenden Vögel in Sicherheit. Sie flatterten in die Mitte der kleinen Insel und duckten sich in ihre Nester.

Das Knarren und Rascheln der Palmwedel hatte aufgehört. Weit im Westen färbte sich über der Kimm ein giftgelber Streifen. Die Farbe sah man sonst selten.

Ein alter Indianer mit krummem Rücken und weißem Haar drehte sich am Strand um, starrte das Schauspiel an und raffte das leere Wurfnetz zusammen.

So schnell er konnte, hastete er auf die Fischerhütten zu. Als er die ersten Pfähle und die schrägen Leitern erreichte, fing er zu schreien an.

„Hunraken!“ zeterte er. „Der Einbein-Riese rennt heran! Versteckt euch!“

Die Hauptpersonen des Romans:

Hasard und Philip Killigrew junior – die beiden Söhne des Seewolfs unternehmen eine Erkundung und entdecken etwas Grausiges.

Gallows Walsh – ist mit seiner Galeone auf einer Cayman-Insel gestrandet und kennt keine Skrupel, um zu überleben.

Delaney – der Profos von Walsh betätigt sich als Bootsdieb, aber das nutzt ihm nicht viel.

Edwin Carberry – der Profos der Arwenacks erhält Gelegenheit, seinen gefürchteten Profoshammer einzusetzen.

Philip Hasard Killigrew – wird bitter enttäuscht, nachdem er zu einer Hilfeleistung gezwungen wurde.

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

1.

Kapitän Philip Hasard Killigrew befand sich unter Deck, döste oder arbeitete zusammen mit Dan O’Flynn an den Karten. Edwin Carberry reckte sein kantiges Kinn in die Höhe und warf zum drittenmal einen langen, von tiefem Mißbehagen erfüllten Blick nach Westen. Ihm gefielen mindestens drei verschiedene Beobachtungen ganz oder gar nicht.

„Merkwürdige Farbe. Kann nichts Gutes bedeuten“, brummte er und schnupperte, als könne er die Gefahr schon riechen.

Die Schaumkämme waren von den Wellen verschwunden. Die Farbe des Wassers schien sich geändert zu haben. Aber eins war sicher: der Himmel begann sich zu verfärben. Die weißen Wolken hatten seltsame graugelbe Ränder.

Ein paar Wassertropfen trafen Carberrys narbiges Gesicht. Der Profos stand freiwillig am Ruder und dachte in längeren Abständen immer wieder an die vielen, wohlgefüllten Rumfässer. Die Cayman-Inseln lagen recht voraus, aber von ihrer Position zeugte nur ein schräger Wolkenturm, der über den Eilands schwebte und nach Osten driftete.

Carberry griff sich ein Ende und schlang einen doppelten Pahlstek. Er sicherte zunächst die Pinne, dann sich selbst. Sein Instinkt sagte ihm, daß der schöne Tag keineswegs friedlich enden würde.

Plötzlich fröstelte er. Ein kalter Windstoß schien über das Meer zu wirbeln, aber kaum stellten sich dem Profos die Härchen auf seinen muskelbepackten Unterarmen auf, löste der übliche warme Sommerwind die kalte Bö ab. Das seltsame Kräuseln auf den Wellen verriet dem erfahrenen Seemann, daß sich das Wetter ändern würde. Daß es Wolken oder Sturm statt kräftigem Wind und Sonnenschein gab, gehörte zum täglichen Einerlei der Seefahrt. Aber dadurch war das Unbehagen Carberrys noch lange nicht erklärt und schon gar nicht beseitigt.

„Verdammt gelb“, sagte er zu sich und schrie dann: „He, Admiral! Was hältst du von der Sache?“

Old Donegal hangelte sich entlang des Schanzkleides zum Grätingsdeck und plierte schweigend nach Westen.

„Sieht nicht nach ruhigem Schippern aus, Söhnchen“, meinte er schließlich bedrückt. „Da scheint ein solider, häßlicher Sturm aufzuziehen, wie?“

Carberry nickte beeindruckt. Noch hatte sich an Bord nichts geändert. Die Schebecke kreuzte in langen Schlägen nach Westnordwest, denn die Caymans lagen als Ziel an. Der Wind wehte aus dem westlichen Quadranten, und ein milder Geruch nach edlem Rum drang von Zeit zu Zeit unter Deck hervor.

„Wann, Admiral?“ fragte Carberry halblaut.

„Keine Ahnung, Eddylein“, erwiderte Old Donegal bekümmert. „Das kann Stunden dauern. Oder der Sturm geht hoch im Norden vorbei.“

„Ich habe ein schlechtes Gefühl“, sagte der Profos nach einer Weile. „Wir sollten es den anderen verklickern, was, wie?“

„Sollten wir. Dann müssen wir wieder den Papagei anbinden.“

Carberry lachte laut.

„Um die Lärmtaube ist es nicht schade. Uns müssen wir anbändseln. Und natürlich die Rumfässer noch besser verschalken.“

Wenn Old Donegal ausgeruht war, sah niemand, daß er ein Holzbein hatte. Er verließ das Grätingsdeck und enterte den Niedergang ab. Auf der Kuhl blieb er stehen und redete eifrig auf die Seewölfe ein, die im Schatten des Großsegels dösten und auf die nächsten Befehle warteten. Sie verloren sehr schnell ihre Schläfrigkeit, hoben die Köpfe und schauten nach Westen. Jetzt erkannte auch der Profos den giftiggelben Streifen über der Kimm.

Er stieß einen langen Fluch aus und fügte hinzu: „Wenn einmal keine Dons auf See sind und uns ans Leder wollen, dann muß es natürlich prompt einen Sturm geben. Schweinerei, verdammte!“

Er vergaß völlig, wie viele sonnige, heitere, entspannte Tage schon jetzt hinter der Crew lagen. Die Arwenacks hatten eine gute Zeit gehabt. Und in Wirklichkeit fühlte sich jeder, als wäre er zehn Jahre jünger. Vom Bugdeck ertönte das aufgeregte Schnattern des Schimpansen, der mit Batuti zu scherzen versuchte.

„Sturm.“

Immer dann, wenn der Wind eine Wolkenfront vor der Sonne vorbeitrieb, schienen sich Kälte, Dunkelheit und schneidende Böen rund um das Schiff einzustellen. Die Zeichen waren unübersehbar deutlich.

„Schwerer Sturm, höchstwahrscheinlich“, wiederholte Edwin Carberry und hielt weiter ohne Schwierigkeiten die Schebecke auf Kurs. Die Kompaßnadel war viel ruhiger als er selbst. Mittlerweile war Old Donegal bei mehr als zwanzig Seewölfen seine Nachricht losgeworden. Der gelbe Streifen war dicker geworden, und auch die Sonne leuchtete in einem gefährlichen Schimmer. Es war, als brenne sie durch eine dicke Glasschicht.

Ben Brighton enterte den Niedergang auf, blickte sich um und beschattete die Augen mit der flachen Hand.

Er nickte, schwang sich hinauf zum Rudergänger und musterte den Dunst, der sich im Westen ausbreitete und über See herankroch, in die Höhe wuchs und nach der Sonne griff.

„Das wird wohl ein schwerer Nachmittag“, sagte er. „Ich glaube, wir wecken die Freiwache und zurren alles doppelt fest.“

„Du solltest zuerst den Seewolf wecken.“

„Was denkst du, was ich gleich unternehme, Profos?“ antwortete der Erste und grinste kalt.

Er turnte über das schrägliegende Deck, steckte seinen Kopf unter den Niedergang und schrie nach Hasard. Mitten im Satz hörte er auf, denn Hasard war längst wach und erschien aus seiner Kammer. Er wischte den Schweiß von seiner Stirn und blickte den Ersten unruhig an.

„Was gibt es?“ fragte er.

„Sir, wir sollten unter Deck alles Bewegliche festzurren und uns auf einen schlimmen Sturm vorbereiten. Durchaus möglich, daß wir außerhalb seiner Bahn segeln, aber das kann niemand vorhersehen.“

Hasard war mit wenigen, weit ausholenden Schritten an einer Stelle, von der aus er, ohne durch Segel oder Masten behindert zu sein, frei den Horizont sehen konnte. Er bemerkte zuerst, daß die Schärfe der Schatten abgenommen hatte, und als er den Kopf hob, mußte er feststellen, daß die Sonne nicht mehr als ein heller Punkt hinter einem hochliegenden Nebel war.

„Selbst wenn wir nicht vom Sturm gepackt werden“, rief er in die Runde, „wird es hart, Arwenacks! Los! Alle Mann unter Deck. Zurrt fest, was sich losreißen kann! Weckt jeden auf!“

„Aye, Sir.“

Hasard verschwand wieder unter den Decksplanken und sah nach einigen Schritten im Halbdunkel Plymmie liegen. Die Wolfshündin hob ihren Kopf und warf ihm einen sonderbaren Blick zu. Dann schob die Hündin wieder die Pfoten zusammen, kniff den Schwanz ein und stieß ein kurzes, leises Jaulen aus.

„Aha. Ein weiteres Zeichen“, sagte der Seewolf zu sich selbst und gab seine Anordnungen.

„Verstanden, Sir“, murmelten der Kutscher und Mac Pellew. „In einer halben Stunden haben wir’s.“

Die Seewölfe handelten augenblicklich. Der Ernst in der Stimme des Kapitäns war unüberhörbar. Sie packten ihre Seekisten um, zurrten alles Erreichbare fest, suchten nach losen Gegenständen. Für die Ausrüstung wurden Unmengen Enden und Leinen verwendet, um die Teile zu belegen und festzuzurren. Auch unter Deck herrschte nach einer halben Stunde Klarschiff.

Arwenack, der Schimpanse, kauerte in einer Ecke und zitterte. Niemand konnte ihn beruhigen. Das Tier erhielt auch einen fingerdicken Tampen um den Bauch geknotet und wurde auf der Matratze ruhiggestellt.

„Gut so“, brummte der Seewolf und schnappte sich eine Muck, als er bei den Köchen wieder vorbeieilte. Schritte polterten über Deck.

Auch Dan O’Flynn hatte seine Karten und das Schreibwerkzeug aufgeklart und verstaut. Er zog den Gurt fest, hakte die Schnalle fest und sagte: „Der Aufwand ist beachtlich. Wie sieht es aus, Sir?“

Hasard deutete nach oben und antwortete: „Geh an Deck. Es kann nur noch schlimmer werden. Bereit sein, ist bekanntlich die bessere Hälfte der Seefahrt.“

„Die Stürme der Karibik sind auch nicht besser als auf anderen Meeren“, meinte Dan und enterte hinter Hasard den Niedergang auf.

An Deck blieben sie stehen, hielten sich an den Stagen fest und versuchten, die Lage ringsum richtig zu erkennen und zu deuten.

Es gab keine Schatten mehr. Die Sonne versteckte sich hinter einem gelben Dunst, der nicht sonderlich dicht war. Die ungehinderte Sicht betrug etwa fünf Seemeilen in alle Richtungen der Windrose, und noch immer wehte der Wind gleichmäßig und nicht sonderlich stark.

„Alles noch in Ordnung? Liegt das Schiff richtig?“ erkundigte sich der Seewolf bei Carberry und betrachtete prüfend die prall gespannten Dreieckssegel.

Carberry nickte nur. „Alles klar, Sir.“

Der Profos hatte schweigend zugesehen, wie die Arwenacks das Deck aufklarten, Manntaue spannten, das Beiboot verzurrten und sich zu kleinen Gruppen zusammenfanden, die, wenn es nötig wurde, die Segel streichen und die Rahruten belegen würden.

Die See zeigte wenig Veränderung, nur mehr Schaum auf den Wellen, die in schnellerer Folge sich hoben und senkten. Die Stimmung vor dem Sturm war den Seewölfen vertraut. Sie kannten Stürme in der Karibik, und sie wußten auch, wie verheerend sie sein konnten. Wind und Wasser waren unverändert warm.

Hasard packte Pete Ballie, den einstigen Gefechtsrudergänger des verblichenen Sir Francis Drake, an der Schulter.

„Du fühlst dich ausgeruht, kräftig und guter Laune, hoffe ich?“ erkundigte er sich und blitzte Pete mit eisblauen Augen an.

„Ich bin in bester Verfassung, Sir. So wie wir alle“, antwortete Pete und bewies durch sein breites Lächeln, daß er redete, wie er sich fühlte.

„Wenn es uns tatsächlich trifft“, Hasard deutete zu dem Profos an der Pinne, „dann löst du Ed ab. Achte auf die Windstille.“

Pete richtete seine Blicke auf die herangischtenden Wellen und erwiderte halblaut: „Aye, Sir. Befehl ist klar.“

„Ich möchte, daß wir die Caymans heil erreichen. Sollte der Sturm wirklich das halten, was er in unseren Vorstellungen verspricht, finden wir auf den Inseln einen Unterschlupf. Aber es muß ja nicht immer so hart werden, wie man denkt.“

„Ist klar, Sir, ich übernehme dann das Ruder“, versicherte Pete Ballie und verschwand unter Deck, um sich auf seinen Einsatz vorzubereiten.

An Freiwache dachte in dieser Stunde niemand. Jede Handbreite der Schebecke wurde inspiziert, obwohl die Seewölfe ihr Schiff wirklich genau kannten. Al Conroy, der befürchtete, eine seiner geliebten und zuverlässigen Culverinen könnte sich losreißen, Teile des Schanzkleides und der Decksplanken beschädigen und über Bord gehen, untersuchte jedes einzelne Tau, jeden Block, die Persenninge und die Geschütztaljen.

Es wunderte weder ihn noch die Zwillinge oder Ben Brighton, daß jedes Rohr und jede Lafette praktisch unverrückbar mit der Schebecke verbunden waren. Eher brachen die Spanten in Stücke.

„Beruhigt, Al?“ fragte der Erste, als sie nach ihrem Rundgang wieder am Achterdeck standen.

„Beruhigt bin ich erst, wenn der Sturm vorbei ist“, erwiderte der Stückmeister. „Aber wir können nicht mehr tun. Die Geschütze sind festgezurrt.“

„Also dann“, der Erste sah zu den Wellen und nickte, als sich eine Woge am nähergerückten Horizont höher als alle anderen abhob, in Schaum zu verwandeln schien und dann aufgischtend brach, „können wir beruhigt ins Auge des Hurrikans blicken.“

„Und heute nacht wird sich’s zeigen, daß alles umsonst gewesen ist“, orakelte Old Donegal und setzte sich an Lee aufs Deck. Er schob sein Holzbein nach rechts und lehnte sich ans Schanzkleid.

Brach der Sturm los, oder verschonte er diesmal die Schebecke?

Fast unmerklich, in quälender Langsamkeit, verschwand der Dunst. Der Wind flaute ab, und für kurze Zeit lag die Oberfläche des Meeres schwer wie flüssiges Blei da. Ein unsichtbarer, riesiger Schlund schien den trüben Nebel lautlos in sich hineinzuschlürfen. Die Seewölfe standen schweigend an Deck und warteten. Fasziniert beobachteten sie die seltsamen Vorgänge.

Zwar konnte sich die Sonne nicht aus dem Hochnebel befreien, aber die Windstille wurde offensichtlich. Schlaff hing die Leinwand herunter. Sie wirkte, als sei sie feucht, aber das schien nur so. Nur die Dünung des Ozeans hob und senkte das Schiff, hinter dessen Heck gurgelnd Luftblasen aufstiegen und mit seltsamen Lauten platzten. Fische stiegen an die Wasseroberfläche und schnappten nach Luft.

Hasard stand hinter dem Rudergänger auf dem Grätingsdeck, hielt sich am Spanntau fest und sah zu, wie sich Luft und See veränderten.

„Mein Gefühl sagt mir“, erklärte er der kleinen Crew, die sich auf dem Achterdeck versammelt hatte, „daß wir bald einen schauerlichen Hurrikan miterleben.“

Smoky, der Decksälteste auf Drakes wilden Fahrten, konnte auch nur nicken und erwiderte mit sorgenvollen Stirnfalten: „Das spüre ich bis hinunter in die Zehen, Sir.“

„Dann bereitet euch darauf vor“, ordnete der Seewolf an, „das Großsegel und das Besansegel zu streichen und sturmsicher aufzutuchen. Wir werden wenig Leinwand brauchen, wenn es losgeht.“

„Verstanden, Sir“, sagte der Erste.

Aber bald zeigte sich, daß alle Vorbereitungen sinnvoll und notwendig gewesen waren. Gerade, als die Köche ihre leeren Becher in einer Kiste verstauten und den Deckel festbändselten, herrschte plötzlich keine Windstille mehr. Die Kalme verwandelte sich binnen zwei Dutzend Atemzüge in einen heißen, heranstürmenden Wind, der zu schralen schien und schließlich aus Norden blies.

Ebenso schnell raste die nächste Wellenfront heran und verwandelte den dunkelgrauen Spiegel der See in ein aufgeregtes Muster aus dreieckigen Wellen, von denen der Wind ein wenig später die weiße Gischt wegriß und in Sprühregen verwandelte.

„Es geht los! An die Groß, Kerle!“ schrie Ben Brighton über Deck.

Die Seewölfe sprangen auf die Füße und packten die Schoten.

„Klar bei Ablösung Rudergänger!“ rief Pete Ballie, enterte auf das Grätingsdeck und schlug Carberry auf die Schulter.

Der Profos grinste unbehaglich und schien dann doch froh darüber zu sein, daß ein geübter Rudergänger die geschwungene Pinne packte.

Brummelnd verzog er sich bugwärts und wich den Männern aus, die am Großsegel arbeiteten.