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Elfriede Hammerl

Das
muss
gesagt
werden

Kolumnen

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www.kremayr-scheriau.at

eISBN 978-3-218-01247-8

Inhaltsverzeichnis

Ich bin nicht mutig

Erbtante

Gemütsbewegung

Adoptivtochter

What’s New, Pussy?

(Ob)Sorgen

… raus bist du!

Vergeltung

Jugend wünscht

Madame DSK

Rampensau sein

Was uns treibt

Alles prima in Fukushima

Vergleiche

Im Cocktailschürzchen

Was sein wird

Mädchen

Omas Küche

Halbtagsschule

Endlichkeit

Verbotsgesellschaft?

Küchenhilfe gesucht

Europa, gefühlt

Hilferufe

Hilferufe II

Verletzte Gefühle

Frau Ergün bringt sich nicht ein

Omakitsch

Single-Vater

Keine Zeit für so Dinge

Glück und Zufall

Lustzwang

Wer warum regiert

Gewinnmaximierung

Dichtervater

Gut drauf sein

Uterus-Leasing

Burkirndl

Elendsaktionismus

Dad und Donald

Die Überflüssigen

Geld ausgeben

Drahtseilakt

Zwölf Stunden

Haarig

Komplizin

Jetzt solidarisiert euch doch

Fauler Zahn

Gerechtigkeit

Paradies adieu

Im Rentenalter

Noch immer die Klassiker

Freiwillig

Himmelmutter

Digitalissimo

Prinzen heiraten

Triest. Eine Impression

Wer zweimal mit derselben pennt …

Das Kind ist nicht flexibel

Zwangsjacke

Wir können uns das nicht mehr leisten!

An die Kandare

Der tägliche Irrsinn

Große Autos

Kinder haben

Die Tugend der Selbstüberschätzung

Warum die ganze Familie?

Ein Hund für die Omi

Aus Nächstenliebe

Überleben lassen

So still die Heldinnen

Ich widme dieses Buch

meiner Mutter Maria Hammerl-Brünner,

die vielen Widerständen zum Trotz

unbeirrbar dafür gesorgt hat, dass ich mein Leben

nach meinen Vorstellungen gestalten konnte.

Und ich widme es Willi Pellert, den ich

ihr gerne vorgestellt hätte.

Ich bin nicht mutig

Kann es sein, dass das Risiko zivilcouragierten
Auftretens allgemein überschätzt wird?

Manchmal, wenn ich etwas schreibe, was dem angeblichen Meinungsmainstream entschieden widerspricht, kriege ich anerkennende E-Mails, die mich für meinen Mut loben.

Ich gebe zu, dass ich gern gelobt werde. Lob wärmt mein Herz und tut meiner Eitelkeit gut, aber im Hinterkopf sitzt mir gleichzeitig beharrlich das Wissen, dass ich weder Lob noch Dank verdiene. Ich übe ja nur meinen Beruf aus. Er bietet mir die Möglichkeit, mich öffentlich zu Wort zu melden. Ich muss keinerlei Hürden überwinden, um meine Meinung publik zu machen (wenn man von den Mühen des Formulierens – oh ja, die gibt es – absieht). Vor allem aber: Ich begebe mich damit nicht in Gefahr.

In den Zuschriften steht jedoch: Bleiben Sie so mutig! – Bin ich mutig? Ich weiß es nicht. Mein Mut wird nicht wirklich gefordert. Ich muss nicht mutig sein, um – in einem demokratischen Land, das mir Meinungsfreiheit garantiert,– für Menschenrechte einzutreten. Ich hoffe, dass ich mich auch unter schwierigeren Bedingungen dafür einsetzen würde, aber meine Risikobereitschaft wurde bis jetzt nicht hart geprüft.

Ich habe zudem das Glück, für eine Zeitschrift zu schreiben, die mir ebenfalls meine freie Meinung lässt. Was würde ich tun, wenn ich bei einer Zeitung arbeitete, die mich zur Einhaltung einer xenophoben Blattlinie (schwer vorstellbar, ich weiß, aber sowas soll vorkommen) verdonnerte? Lieber die Kündigung riskieren? Freiwillig weggehen? Das heißt, in Zeiten wie diesen einen sicheren Arbeitsplatz aufs Spiel setzen oder gar von selber aufgeben? Die Vorstellung, dass ich bei so einer Zeitung bleiben und dort mit anhaltendem Widerstand dem Herausgeber Paroli bieten könnte, wenn ich ihn nicht gar mental umkrempelte, wäre zwar gut als Ausgangsidee für einen bewegenden Film, entbehrt aber jeder realistischen Grundlage.

Andererseits ist ein Arbeitsplatz natürlich kein Schicksal, das sich der persönlichen Gestaltung entzieht. Kein Journalist, keine Journalistin wird gezwungen, sich dem Boulevard zu verschreiben, und wer eine Karriere wählt, bei der ihm ein flexibles Gewissen mit viel Geld abgegolten wird, soll sich nicht auf existenzielle Notwendigkeiten ausreden. Konsequent bei der eigenen Meinung zu bleiben, bedeutet unter Umständen materielle Einbußen und einen Verzicht auf Machtpositionen, das schon. Aber es lebt sich auch ganz komfortabel, wenn man sich, wie es so schön heißt, morgens in den Spiegel schauen kann.

Daher: Anstand erfordert, jedenfalls hier und heute, keinen besonderen Mut. Wir sind nicht gleich an Leib und Leben bedroht, wenn wir nicht mit den Wölfen heulen. Wir müssen nicht unter die Brücke ziehen, betteln gehen, auswandern, nur weil wir uns auf die Seite von jemand Schwächerem gestellt, missachtete Rechte eingemahnt, nicht blindlings vor den Einflussreichen gekuscht haben. Kann es sein, dass das Risiko zivilcouragierten Auftretens ganz allgemein ein wenig überschätzt wird?

Ich habe viel Verständnis für das Bedürfnis nach Harmonie. Ich habe wenig übrig für die Konfliktsuchenden, die ständig kampfbereit sind, um sich zu profilieren. Ich reiße mich nicht darum, mich unbeliebt zu machen. Aber, so viel zur Beruhigung aller ähnlichen Gemüter: Gelegentliches Unbeliebtsein aus ehrbaren Gründen ist aushaltbar.

Januar

18

2010

Erbtante

Alt. Frau. Alleinstehend. Hat sich nicht fortgepflanzt. Eine Witzfigur. Oder?

„Wenn dann noch die Erbtante zu Besuch kommt, muss es daheim eben was gleichschauen, ganz gleich, wie verdient die Feiertagsruhe der Mistkübler sein mag. Man stelle sich nur vor: Die Pensionssicherung ist im Anmarsch, während ihre originellen Gaben (…) mit unübersehbarer Koketterie aus dem Container schauen.“ Dieser launige Text erschien kürzlich auf Seite eins einer österreichischen Tageszeitung.1 Unter dem Titel „Müll und Erbe“ wurde darin erklärt, warum das Funktionieren der Müllabfuhr zu den Weihnachtsfeiertagen so wichtig ist: damit die Erbtante nicht merkt, wo ihre Geschenke gelandet sind.

Der Autor hat sich sicherlich nichts dabei gedacht. Außer vielleicht das: Erbtanten sind keine Menschen, sondern eine wandelnde Pensionssicherung, deren Geschenke in den Mist gehören. Schließlich kommen sie von einer, die – hätte sie nichts zum Vererben – ebenfalls entsorgt werden müsste (emotional ist sie offenbar eh schon abgeschrieben).

Mit einem solchen Gedankengang stünde er jedenfalls nicht allein da. Alte Tanten (und Erbtanten sind alt, weil man sonst nicht damit rechnen könnte, dass man sie überlebt und beerbt) sind traditionell eine Zielscheibe für grausamen Spott.

Erbtanten sind Witzfiguren. Sie sind lächerlich. Sie sind verachtenswert. Verachtet werden sie aus folgenden Gründen: Sie sind alt. Sie sind Frauen. Sie sind alleinstehend. Sie haben sich nicht fortgepflanzt. Alle diese Merkmale sind, scheint’s, bis heute Grund genug, sie als Missgriff der Natur zu betrachten. Missgriff auch deswegen, weil sie ärgerlicherweise über Geld verfügen, das alten, allein lebenden Frauen eigentlich nicht zusteht, sondern bei feschen, jungen, fortpflanzungswilligen Menschen viel besser aufgehoben wäre. (Na ja, vielleicht nicht aufgehoben. Sondern von feschen etc. Menschen besser ausgegeben. Wie auch immer.) Die Verachtung, die man Erbtanten entgegenbringt, ist also zum Teil auch vom Ärger darüber diktiert, dass sie Geld haben, das erst nach ihrem Ableben verfügbar sein wird, vom Ärger darüber, dass es dereinst vielleicht doch nicht geerbt wird, wenn man der Erbtante die Verachtung zeigt, die man für sie empfindet, und vom Ärger darüber, dass die Alte nicht und nicht abkratzen will. So schaut das Verhältnis zur Erbtante aus.

Und weil sie so verachtenswert und ärgererregend ist, die Erbtante, ist es moralisch nicht nur zulässig, sondern geradezu geboten, ihr gegenüber zu heucheln und zu lügen, ihr eine Wertschätzung vorzuspielen, an die niemand glaubt (vermutlich nicht einmal sie selber), und sie dadurch noch einmal zum Gespött der Umgebung zu machen, weil sie in dem heuchlerischen Schauspiel die Rolle der ahnungslosen Idiotin zu spielen hat, auch wenn sie es durchschaut.

Zugegeben: Die Karikatur der Erbtante, so wie man sie automatisch vor Augen hat, wenn das Stichwort fällt – eine lächerlich gewandete Schabracke mit gebieterischem Auftreten –, ist vielleicht ein wenig unzeitgemäß, aber im moderneren Styling gibt es sie nach wie vor, die gut verdienende Junggesellin mittleren Alters beispielsweise, deren Neffen und Nichten erwarten, dass Tantchen die Spendierhosen anhat, wenn man sie kontaktiert, und die durchaus damit spekulieren, dass sie ihr Gerschtl, Gott behüte, nicht unnötig mit flotten Liebhabern verjuxt, ehe sie den Löffel abgibt.

Ja, schon klar, es gibt auch (Erb-)Tanten, die geliebt und geschätzt werden. Und natürlich spricht im Prinzip nichts dagegen, liebenswerten Nichten und Neffen finanziell unter die Arme zu greifen, wenn man dazu in der Lage ist. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der jüngere Menschen oft das physische Ablaufdatum älterer Angehöriger in ihre ökonomischen Überlegungen einbeziehen, die irritiert.

„Wenn das Haus von der Tante Rosa einmal uns gehört …“ Leuchtenden Blicks dahingesagt, zukunftsfroh.

Wenn das Haus von der Tante Rosa einmal euch gehört, liebe Leute, dann ist die Tante Rosa tot. Te-o-te. Ist euch das bewusst? Und falls ja, ist es euch wurscht? Und falls ja, warum? Weil die Tante Rosa bloß eine potenzielle Geldquelle auf zwei Haxen ist, die erst genützt werden kann, sobald sie die Haxen streckt?

Ach, ihr Erbtanten alle, überlegt euch gut, wofür ihr euch entscheidet, fürs Vererben oder fürs Verjuxen! Verjuxen ist nicht die übelste Option, eine schlechte Nachred’ habt ihr sowieso.

1Der Standard, 28.12.2009

Januar

25

2010

Gemütsbewegung

Scheidungsabsichten sind halt riskant. Vor allem, wenn der Mann Ausländer ist. Sagt das Gericht.

Jüngst passiert: Ein Mann greift zum Messer, weil sich seine Frau von ihm scheiden lassen will. Er sticht sie mehrmals in Kopf, Brust und Hals. Danach attackiert er die lebensgefährlich Verletzte mit einem Stahlrohr, ehe sich einer seiner Söhne schützend vor die Mutter wirft. Der Mann kommt vor Gericht. Angeklagt wird er nicht wegen Mordversuchs, sondern wegen Totschlags. Er habe, befindet der Staatsanwalt, in einer „allgemein begreiflichen, heftigen Gemütsbewegung gehandelt“.

Das allein wäre zwar einerseits empörend, aber andererseits so verblüffend auch wiederum nicht. Gewalttäter können hierzulande mit einem gewissen Verständnis rechnen, wenn sie Trennungsabsichten der von ihnen terrorisierten Ehefrau mit Attacken auf Leib und Leben der Unbotmäßigen quittieren. Der Mann habe die Frau eben abgöttisch geliebt, heißt es dann in den Medien, und darum die Vorstellung nicht ertragen, ohne sie weiterzuleben. (Dass er erst recht ohne sie weiterleben muss, nachdem er sie umgebracht hat, steht erstaunlicherweise nicht zur Debatte, ebenso wenig wie die Frage, warum er ihr das Leben nimmt, wenn doch angeblich seins nicht mehr erträglich für ihn ist.)

Allgemein begreifliche Gemütsbewegung also. Wird zwar allgemein begriffen, fließt aber vielleicht nicht so offenkundig in Urteilsbegründungen ein, normalerweise.

Doch in diesem jüngsten Fall ist der Täter, ach so, zwar österreichischer Staatsbürger, jedoch türkischer Herkunft. Und deshalb begründet der Staatsanwalt dessen allgemein begreifliche Erregung mit dem Migrationshintergrund des Mannes. Wörtlich: „Gerade Ausländer oder Personen mit Migrationshintergrund befinden sich häufig in besonders schwierigen Lebenssituationen, die sich, auch begünstigt durch die Art ihrer Herkunft, in einem Affekt entladen können. Obwohl Affekte von Ausländern in Sittenvorstellungen wurzeln können, die österreichischen Staatsbürgern mit längerem Aufenthalt fremd sind, können sie noch allgemein begreiflich sein.“

Ja dann. Eh klar. Andere Sittenvorstellungen. Schwierige Lebenssituation des Migranten. Spielt zwar bei Eigentumsdelikten keine Rolle (Recht muss Recht bleiben), wird aber berücksichtigt, wenn einer seine Frau absticht.

Was letztlich ausschlaggebend war für dieses Urteil, das derzeit für heftige Debatten sorgt – der Sexismus der Urteilenden oder ihre Einschätzung von Ausländern als Menschenschlag mit speziellen Sittenvorstellungen –, wird nicht geklärt werden können. Vielleicht sind sie ja grundsätzlich der Ansicht, dass eine, die sich scheiden lassen will, zu Recht ein hohes Risiko eingeht, und haben mit klammheimlicher Befriedigung eine Gelegenheit gesehen, ihrer Auffassung wenigstens über den Umweg der kulturellen Rücksichtnahme zu Rechtsgültigkeit zu verhelfen. Grob gesagt: Vielleicht war der Verweis auf die Ethnie des Täters ja nur eine faule Ausred’ dafür, dass es nach Ansicht der Richtenden grundsätzlich eine Provokation ist, wenn eine Frau sich scheiden lassen will.

Oder aber es steht hinter dem Urteil vor allem eine massive Verachtung ausländischen Menschen gegenüber, derzufolge einzukalkulieren und zu billigen sei, dass in diesen Kreisen ein Frauenleben nicht viel wert ist.

Wie auch immer, die Wirkung dieses Urteils ist fatal, weil es genau das alles signalisiert: Frauen, die sich von Männern trennen, müssen wissen, dass sie sich in Gefahr begeben. Männer aus dem Ausland sind gefährlich. Und: Deren Frauen sollen sich besser damit abfinden, dass der österreichische Staat im Zweifelsfall auf der Seite ihrer Männer steht.

Das alles arbeitet jenen in die Hände, die nicht nur immer schon gewusst haben und predigen, dass alle Fremden (potenzielle) Verbrecher sind, sondern die auch gern behaupten, dass unser Rechtssystem in Gefahr ist, den Sittenvorstellungen der Zuwandernden geopfert zu werden. Diese These verliert durch das genannte Urteil leider ein wenig von ihrem paranoiden Charakter, denn tatsächlich könnte man es als Initiierung eines Parallelrechts für bestimmte Bevölkerungsgruppen sehen. Und natürlich stellte sich angesichts eines solchen Parallelrechts die Frage, ob und wie schnell es sich auf die übrige Bevölkerung erstreckt.

Von der Justizministerin verlautet in diesem Zusammenhang wenig Beruhigendes. Sie ließ über eine Sprecherin ausrichten, dass es ein Skandal wäre, in die unabhängige Justiz einzugreifen. Im Übrigen gebe es keine Bevorzugung von Frauen. Und es gebe auch Gewalt gegen Männer.

Wie bitte? Ein Mann sticht seine Frau fast ab, weil sie sich (wegen seiner Gewalttätigkeit) von ihm trennen will, findet vor Gericht Verständnis, weil er als gebürtiger Türke andere Sittenvorstellungen habe, und alles, was der Frau Justizministerin dazu einfällt, ist, dass man Frauen nicht bevorzugen dürfe und dass es auch Gewalt gegen Männer gebe?

Na servas. Das schafft Vertrauen. Sie möchten nicht bedroht, nicht attackiert, nicht getötet werden? Als Frau? Woher nehmen Sie die Chuzpe, solche Ansprüche zu stellen? Halten Sie sich für was Besseres? Ein Messer zwischen den Rippen, ach was. Glauben Sie, das passiert nur Ihnen?

April

12

2010

Adoptivtochter

Sexuelle Grenzüberschreitungen bewunderter Männer gelten nach wie vor nicht als Unrecht.

Woody Allen war vor Kurzem in Wien. Mit Ehefrau Soon-Yi. Die Zeitungen schrieben: „Woody Allen mit Ehefrau Soon-Yi, der Adoptivtochter seiner Ex-Frau Mia Farrow.“ So lautet die Sprachregelung: Woody Allen hat eine junge Frau, die hat eine Adoptivmutter, die war einmal Woody Allens Frau. Es klingt, als habe Mia Farrows Leben mit Soon-Yi auf einem anderen Planeten stattgefunden als Mia Farrows Leben mit Woody Allen.

Man darf sich das so ausmalen: Woody Allen trifft ein junges Mädchen, findet es sexy, beginnt ein Verhältnis mit ihr, und dann stellt sich – na sowas aber auch – heraus, dass sie zufällig die Adoptivtochter seiner Frau ist! Überraschung!

War es so? Keineswegs. Unabhängig davon, wer welche Papiere für wen unterschrieben hat, haben Woody Allen und Mia Farrow einstens als glückliche Familie mit einem Schüppel Adoptivkinder in den Medien posiert. Eines dieser Kinder war Soon-Yi, von der heute so getan wird, als habe Woody Allen rein gar nichts mit ihr zu tun gehabt, ehe er sie entdeckte und erweckte und was weiß ich noch alles, die Klischees, aus denen man in so einem Fall – dem Fall der sexuellen Initiation eines jungen Mädchens durch einen älteren Mann – wählen kann, sind ja zahlreich.

Rein formal wurde das koreanische Straßenkind Soon-Yi achtjährig tatsächlich nicht von Allen adoptiert, sondern von Mia Farrow und ihrem damaligen Ehemann André Previn. Aber bereits zwei Jahre später war Allen der Mann an Farrows Seite und damit auch Soon-Yis Stiefvater. Soziale Vaterschaft heißt sowas. Woody Allen mag in dieser Rolle seine Defizite gehabt haben (eigennützig, unzuverlässig und unsensibel sei er als Elternteil gewesen, urteilte der Richter in dem Sorgerechtsprozess, den Allen um seinen leiblichen Sohn und zwei weitere Adoptivkinder führte), aber auch Vätern mit Mängeln wird von ihren (Stief-)Kindern zunächst Vertrauen entgegengebracht. Das liegt in der Natur der Kinder, sofern sie psychisch einigermaßen intakt und nicht bereits auf Misstrauen, Furcht und neurotische Distanz programmiert sind.

Woody Allen hat dieses Vertrauen seiner (Stief-)Kinder seinerzeit mit Füßen getreten, als er eine – moralisch gesehen – inzestuöse Beziehung mit einem – oder besser einer – von ihnen begann. Sein leiblicher Sohn Satchel drückte das Presseberichten zufolge damals so aus: „Man schläft nicht mit der Schwester seines Sohnes.“ Das heißt, Allen hat nicht nur Soon-Yis Zutrauen missbraucht, indem er von der Rolle ihres Vaters zu der des Liebhabers wechselte (und niemand soll bitte sagen, dass eine Halbwüchsige sich autonom dafür entscheidet, vom Mann ihrer Mutter in die Sexualität eingeführt zu werden), er hat mit diesem Rollenwechsel auch ihre (Adoptiv-)Geschwister verstört, deren familiäre Wahrnehmung plötzlich nicht mehr stimmte.

Schnee von gestern? Ja, der seinerzeitige Skandal, der Allen schon damals mindestens so viel Applaus wie Kritik einbrachte, ist lange her. Allen und Soon-Yi sind inzwischen seit mehreren Jahren verheiratet und haben ihrerseits zwei Kinder adoptiert. Geblieben ist jedoch der Hinweis: „… die Adoptivtochter seiner Ex“.

Was steckt dahinter? Neid der Hinweisenden, weil es Woody Allen gelungen ist, die alternde Mutter rechtzeitig gegen die Tochter auszutauschen? Nie nachlassende Häme gegen Mia Farrow, deren plakatives Regenbogen-Familienkonzept durch Allen so grandios zum Scheitern gebracht wurde? Oder geht es nur darum, Allens Rechtschaffenheit zu betonen, die sich eben daraus ableitet, dass er juristisch gesehen nie der Adoptivvater seiner Ehefrau war?

Wie gesagt: interessante Sprachregelung, weil sie wieder einmal zeigt, welche Rolle gesellschaftliches Ansehen spielt, wenn es um die Bewertung von grenzüberschreitendem (Sexual-)Verhalten geht. Woody Allen: reingewaschen von jeglichen Vorwürfen. Roman Polanski: nach allgemeinem Dafürhalten ein Opfer der kunstunverständigen Schweizer Justiz, die nicht begreift, dass man einen großen Regisseur nicht wegen etwas so Nebensächlichem wie der Vergewaltigung einer 13-Jährigen (noch dazu vor 30 Jahren!) festnehmen kann.

Sexuelle Verfügungsgewalt über Abhängige gehört seit Langem zu den Boni, die einen gehobenen Status auszeichnen, die Varianten reichen vom ius primae noctis der feudalen Grundherren bis zur Besetzungscouch von Theaterdirektoren. Diese Verfügungsgewalt ist gesellschaftlich akzeptiert, teils stillschweigend, teils explizit, man denke beispielsweise an die lange Liste renommierter Persönlichkeiten, die voll tiefer Empörung gegen Polanskis Verhaftung protestierten.

Auch die Fälle von sexueller Misshandlung durch katholische Geistliche haben, ebenso wie ihre jahrzehntelange Vertuschung, mit Machtmissbrauch und einem anmaßenden Selbstverständnis zu tun. Darüber wird endlich nicht mehr geschwiegen. Gut so. Dass diese Verfehlungen endlich öffentlich angeklagt werden, hängt allerdings nicht zuletzt mit dem Bedeutungsverlust der Institution Kirche in eben jenen Ländern zusammen, in denen das Schweigen aufbricht. Das gesellschaftliche Unrechtsbewusstsein bleibt dennoch reformbedürftig. Der vorauseilende Eifer, mit dem einschlägige Vergehen ausreichend bewunderter Promi-Figuren mit mehr oder weniger fadenscheinigen Entschuldigungen retuschiert werden, lässt für potenzielle Opfer solcher Männer nach wie vor Schlimmes befürchten.

Juni

7

2010

What’s New, Pussy?

Verdienen Frauen, dass sie nix verdienen, weil sie so häufig Teilzeit arbeiten?

Also. Der Frauenbericht.2 Überrascht er uns? Eigentlich nicht. Das ist, zugegeben, auch nicht seine Aufgabe. Er sollte Fakten sammeln. Jetzt liegen sie auf dem Tisch. Frauen, besagen sie, sind besser ausgebildet als je zuvor. (Haben wir gewusst.) Sie sind erwerbstätiger als je zuvor, soll heißen, sie gehen in größerer Zahl der Erwerbsarbeit nach als zu früheren Zeiten. (Haben wir vermutet.) Sie machen nach wie vor zwei Drittel der unbezahlten Arbeit, Kinderbetreuung, Haushalt und Altenpflege sind anhaltend Frauensache. (Verblüfft uns nicht wirklich.) Und sie verdienen immer noch weniger als die Männer. Nein, nicht immer noch, sondern immer weniger, denn die Einkommensschere geht weiter auf. Das finden wir dann doch einigermaßen befremdlich.

Obwohl, die Gründe, die dafür ins Treffen geführt wurden – nicht vom Frauenbericht, sondern in diversen Kommentaren aus Medien und Politik –, sind auch nicht neu: Frauen arbeiten in großer Zahl Teilzeit. (Eh klar, sie müssen ja auch noch, siehe oben, Kinder, Haushalt und Altvordere schupfen.) Sie kaprizieren sich auf sogenannte Frauenberufe, die schlechter bezahlt werden als sogenannte Männerberufe. Statt gesellschaftlich wichtige Arbeit in technischen Branchen zu leisten, interessieren sie sich fürs unwichtige Soziale. Und sie sind Weicheier bei Gehaltsverhandlungen – geben sich viel zu früh zufrieden und neigen dazu, den Sinn einer Tätigkeit wichtiger zu nehmen als das, was sie einbringt. Ja dann. Und was weiter?

Na, einfach weiter so, befanden manche (männliche) Auskenner. Weil jetzt haben wir die Bestätigung: Frauen wollen halt nur Teilzeitjobs. Frauen wollen sich mehr um Kinder und Haushalt kümmern als Männer. Frauen möchten, dass die Männer die Hauptverdiener bleiben. Ist doch wurscht, wer mehr verdient, am Ende kommt alles in einen Haushaltstopf, und beide nehmen sich heraus, was sie brauchen.

Hat auf den ersten Blick was für sich. Vielleicht signalisiert es ja tatsächlich ein Beharren auf alten Rollenmustern, wenn der Anstieg der weiblichen Erwerbsquote vor allem auf einen Anstieg der Teilzeitjobs für Frauen zurückzuführen ist. Fragt sich nur, wer beharrt.

Das alte Lied: Reißen Frauen Haushalt und Kinder genital programmiert an sich, oder machen sie, was gemacht werden muss, weil die Männer zu wenig machen?

Irgendwie neige ich nach wie vor dazu, mir nicht vorstellen zu können, dass – noch dazu gut ausgebildete – Frauen lieber unbezahlt hinter Mann und Kindern herräumen, statt ihre Ausbildung in anständig entlohnten Jobs anwenden zu wollen. Und wenn man überdies in Betracht zieht, dass der gemeinsame Haushaltstopf im Fall einer Scheidung (für den statistisch inzwischen eine mehr als 30-prozentige Wahrscheinlichkeit spricht) ganz schnell in zwei sehr ungleiche Teile zerfallen kann, haut die Interpretation, das berufliche Fortkommen zugunsten häuslicher Dienstleistungen zurückzustellen entspreche einem urweiblichen Bedürfnis, nicht ganz hin.

Jede vierte teilzeitbeschäftigte Frau sagt denn laut Frauenbericht auch, dass sie lieber Vollzeit arbeiten würde, jede zweite gibt als Grund für ihr berufliches Leisertreten Betreuungspflichten an. Was eben nicht bedeutet, dass es sich beim Spagat zwischen limitierter Berufstätigkeit und der Hauptverantwortung für Kinder (und möglicherweise Alte) um eine absolut frei gewählte Lebensform handelt.

Bleiben die anderen Begründungen, die das Einkommensgefälle rechtfertigen sollen. Und die sind ja nun überhaupt, wie man früher so schön sagte, starker Tobak.

Wieso werden Männerberufe stets mit größter Selbstverständlichkeit über Frauenbranchen gestellt, ohne dass die Berechtigung dieses Rankings auch nur im Geringsten angezweifelt wird? Was macht Tätigkeiten, die überwiegend von Männern ausgeführt werden, grundsätzlich wertvoller als Tätigkeiten, denen überwiegend Frauen nachgehen? Kein Wunder, dass Frauen nix verdienen, wenn sie sich für Schönheit, Menschen, Kunst und Sprachen interessieren statt für Motoren und Bilanzen? Warum kein Wunder? Wollten wir in einer Welt leben, in der es nur noch um Technik und Kapitalflüsse geht? Können wir auf soziale Kompetenz verzichten?

Dass die schlechte Bezahlung in sogenannten Frauenberufen nicht notwendigerweise von der relativen Überflüssigkeit dieser Tätigkeiten diktiert wird, zeigt sich immer dann, wenn sich Männerdomänen in gemischt frequentiertes Territorium verwandeln. Dann sinken nämlich die vordem höheren Löhne, was demonstriert, wem die Geringschätzung gilt: nicht der Branche, sondern den Frauen, die sich darin ausbreiten.

Verwunderlich auch der Vorwurf, Frauen seien schlechte Verhandlerinnen, weil es ihnen mehr als aufs Geld darauf ankomme, sich an ihrem Arbeitsplatz wohlzufühlen und einer in ihren Augen sinnvollen Aufgabe nachzugehen.

Jetzt einmal ehrlich: Wenn unsere Arbeitswelt Menschen dafür bestraft, dass sie sinnstiftenden, befriedigenden Tätigkeiten nachgehen, statt bloß möglichst viel Geld cashen zu wollen, – stimmt dann was mit diesen Menschen nicht, oder sollten wir uns vielleicht fragen, was in unserer Arbeitswelt nicht stimmt?

Im Übrigen und jedenfalls ein Ja zur angestrebten Einkommenstransparenz. Vergleichsmöglichkeiten nützen beim Verhandeln.

2Frauenbericht 2010. Bericht betreffend die Situation von Frauen von Österreich im Zeitraum 1998 bis 2008, hg. vom Bundesministerin für Frauen und Öffentlichen Dienst im Bundeskanzleramt Österreich. Wien, 2010.

Juli

5

2010

(Ob)Sorgen

Kann man erwarten, dass zwei kooperieren, weil es das Gesetz so anschafft?

Kann man Liebe, Zuwendung, Fürsorge und Kooperation per gesetzlicher Anordnung erzwingen? Kinder hätten von Natur aus ein Recht auf beide Eltern, so begründet die Justizministerin ihr Eintreten für die automatische gemeinsame Obsorge nach Scheidungen. Das klingt, als handle es sich dabei um ein Zaubermittel. Man installiere die gemeinsame Obsorge, und schon haben auch die Kinder getrennter Paare, Simsalabim, ein harmonisches Elternhaus, wo sich Vater wie Mutter zu gleichen Teilen um ihr Wohlergehen kümmern.

Schön wär’s. Oder vielmehr: Schön ist es, dort, wo es funktioniert, und es funktioniert in vielen Fällen durchaus. Denn die gemeinsame Obsorge ist ja schon jetzt keineswegs verboten. Sie setzt lediglich voraus, dass beide Elternteile damit einverstanden sind, während eine Automatisierung bedeuten würde, dass dieses Einverständnis von Gesetzes wegen angenommen beziehungsweise verordnet wird, egal, wie zerrüttet die Beziehungen zwischen Mutter, Vater und den Kindern auch sein mögen. Das erscheint mir riskant. Wenn Eltern sich nicht auf eine gemeinsame Obsorge einigen können, dann hat das Gründe, die man nicht mit der schlichten Anordnung „Vertragts euch, Leute!“ einfach übergehen kann.

Natürlich ist zu wünschen, dass Eltern ihren persönlichen Zwist, ihre Kränkungen, Frustrationen und Verletzungen beiseitelassen, wenn es um das Wohl ihrer Kinder geht. Die Praxis zeigt nur leider, dass es ihnen nicht immer gelingt. Hinzu kommt, dass nicht unbedingt überall Obsorge drin ist, wo Obsorge draufsteht. Soll heißen: Häufig wird mit dem Begriff Obsorge argumentiert, wenn es in Wirklichkeit um Machtausübung geht.

Was meint die Justizministerin, wenn sie vom Recht des Kindes auf beide Eltern spricht? Ein Anrecht darauf, dass Vater wie Mutter im gleichen Ausmaß verfügbar, einsatzbereit und liebevoll um das Kind besorgt sind? All das garantiert die gemeinsame Obsorge nicht. Kein Gesetz, keine Justizministerin und kein Familiengericht kann einem Kind die Zuwendung verschaffen, nach der es sich sehnt, wenn Vater oder Mutter sie ihm verweigern. Auch bei gemeinsamer Obsorge muss der nicht mehr im gemeinsamen Haushalt lebende Elternteil mit dem Kind weder Mathematik lernen noch beim Zahnarzt seine Hand halten. Aber er kann fordern, dass das Kind in die Handelsschule geht, auch wenn es kaufmännisch desinteressiert und musisch begabt ist.

Wird schon nicht vorkommen? Doch, kommt vor. Genau darüber wird gestritten: Wer schafft an? Wer ist wichtiger? Wer setzt sich durch? Und, nicht zuletzt: Wer erspart sich was? Denn häufig hat der Wunsch nach mehr Mitspracherecht auch einen finanziellen Hintergrund. Eine kürzere Ausbildung kostet weniger lang Unterhalt. Also plädiert der unterhaltspflichtige Elternteil zum Beispiel für Lehre statt Studium. Es geht nämlich auffallend oft ums Geld, wenn – vordergründig – über gemeinschaftliches (Ob-)Sorgen diskutiert wird. Wer sich die Internetplattformen und -foren zum Thema anschaut, stößt immer wieder auf die gleiche Klage angeblich entrechteter Väter (bekanntlich stellen sie die Mehrzahl nicht obsorgeberechtigter Elternteile): Ich darf zahlen, aber nicht bestimmen, was mit MEINEM Geld geschieht.

Juristisch umfasst die Obsorge sowohl Rechte als auch Pflichten, der oder die Obsorgeberechtigte ist zuständig für Pflege, Erziehung, Vermögensverwaltung und die gesetzliche Vertretung des Kindes. Praktisch wird selten um die Pflege gekämpft, aber oft darum, Erziehungsrichtlinien vorgeben zu dürfen und das Vermögen des Kindes, sprich Unterhaltszahlungen, nicht in charakterverderblichen Reichtum ausarten zu lassen.

Noch einmal: Geschiedene Eltern müssen nicht streiten. Doch wenn sie es tun, dann genügt es nicht, ihnen Kooperation zu verordnen. Die beschwörende Annahme, dass zwei sich einigen werden, wenn ihnen nichts anderes übrig bleibt, ist Realitätsverweigerung. Ja, sie raufen sich vielleicht zusammen, aber mit der Konsequenz, die ein Raufhandel mit sich bringt: Es gibt einen Sieger, und es gibt Verlierer. Ob das dem Kindeswohl dient, ist mehr als fraglich.

Automatische gemeinsame Obsorge heißt im Grunde, die Familien mit ihren Konflikten allein zu lassen. Derzeit muss jeder Fall, in dem es kein Einvernehmen gibt, gerichtlich geprüft werden, ehe eine Obsorgeentscheidung fällt. Wird hingegen die gemeinsame Obsorge zur Regel, signalisiert das, dass Eltern sich’s gefälligst untereinander ausschnapsen sollen, wie sie nach der Trennung mit der Kinderbetreuung zurechtkommen. Das würde die Familiengerichte möglicherweise entlasten und der Justizministerin Geld sparen. Dass es den Kindern nützt, ist allerdings nicht gesagt.

Man habe mit der gemeinsamen Obsorge gute Erfahrungen gemacht, heißt es. Das verwundert nicht. Diejenigen, die sich dafür entscheiden, sind ja auch entschlossen, es gut zu machen. Sie sind willens, zusammenzuarbeiten. Ihnen Steine in den Weg zu legen, wäre absurd. Problematisch sind die Unwilligen. Weil nämlich ihre Ausstattung mit mehr Rechten nicht automatisch bedeutet, dass sie auch mehr Pflichten wahrnehmen.

Januar

31

2011

… raus bist du!

Die Schule wird sich der Aufgabe stellen müssen, erzieherische Defizite zu kompensieren.

Also. Die Hauptschule heißt jetzt Neue Mittelschule, hurra. Das Gymnasium gibt es weiterhin, halleluja. Wer ins Gymnasium möchte, muss sich schon in der Volksschule dafür qualifizieren. Wer mit 14 im Gymnasium bleiben oder nach der Neuen Mittelschule ins Gymnasium übertreten will, muss erst mal seine mittlere Reife nachweisen. (Wetten, dass Gymnasiasten dabei bessere Chancen haben werden als neue Mittelschüler? Weil ja, wie der Vizekanzler so schön sagte, die Langform des Gymnasiums ganz andere Schwerpunkte setzen und von Anfang an auf eine längere Bildungskarriere vorbereiten kann.) Und, nicht vergessen: Eltern sind verpflichtet, ihren Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen.

So schaut eine Bildungsreform in Österreich aus. Dahinter steht offenbar die alte Auffassung: Bildung ist ein kostbarer Schatz, auf den nur Auserwählte Zugriff haben dürfen.

Es geht nach diesem Verständnis nicht darum, möglichst vielen Kindern möglichst viel beizubringen, sondern darum, immer wieder diejenigen herauszufiltern, die für würdig erachtet werden, noch mehr lernen zu dürfen.

Aussieben statt fördern. Unfähigkeit nachweisen statt befähigen. Ent- statt ermutigen. Die positive Verstärkung, deren segensreiche Wirkung sich sogar bis in die Hundeerziehung durchgesprochen hat, ist in der schulischen Menschenerziehung hierzulande wenig verbreitet. Sparsames Lob, reichlich Tadel. Schwachstellen entdecken. Nicht, um zu helfen, sondern um Blödheit zu diagnostizieren.

Weil: Wo kommen wir denn hin, wenn alle! Es kann doch nicht jeder! Wer ungebildete Eltern hat, die mangels Kenntnissen nicht in der Lage sind, bei den Hausaufgaben zu helfen, gehört halt nicht ins Gymnasium. Wer gebildete Eltern hat, die mangels didaktischer Ausbildung nicht in der Lage sind, den Schulstoff zu erklären, gehört halt nicht ins Gymnasium. Kinder berufstätiger Mütter gehören nicht ins Gymnasium. Wer kein Genie ist, das nie Hilfe oder Unterstützung braucht, gehört nicht ins Gymnasium. Wessen Eltern keine Nachhilfestunden zahlen können, der oder die soll halt nicht in eine höhere Schule gehen.

Denn: Die Eltern sollen ihre Aufgaben gefälligst nicht an die Schule delegieren. Die Aufgabe der Eltern ist es, gebildet und wohlhabend zu sein, über didaktische Kenntnisse zu verfügen und ein unbegrenztes Zeitbudget zur Verfügung zu haben. Sind sie nicht willens und fähig, dieser ihrer Aufgabe nachzukommen, sollen sie sich nicht wundern, wenn aus ihren Kindern nix wird.

Exzellenzen sind gefragt! Eliten! High Potentials! Die bezieht man am besten aus Elternhäusern, die traditionell mit der Herstellung von Führungspersönlichkeiten betraut sind. Nur keine Experimente!

Im Ernst: Da wird angeblich über mehr Chancengleichheit nachgedacht, und alles, was herauskommt, ist eine großspurig mittlere Reife genannte (Knock-out-)Prüfung auf dem Weg zur Matura. Fühlt sich dabei irgendwer gepflanzt? Nein? Warum nicht?

Oh ja, Leistung muss sein. Aber die ständige Drohung, Kindern schon noch zu zeigen, dass sie ja doch nicht in eine höhere Schule gehören, ist weniger Leistungsansporn als vielmehr eine Methode der Demoralisierung. Übrig bleiben nicht unbedingt die Klügsten, sondern vor allem Robuste, die wenig Selbstzweifel kennen.

Die Einstellung, dass beim Gros der Kinder wahrscheinlich eh Hopfen und Malz verloren ist, findet sich nicht nur in explizit konservativen Kreisen. Auch Aufsteiger, die offiziell Lippenbekenntnisse zu einem egalitären Bildungszugang ablegen, sind als Eltern in privaten Gesprächen besorgt, dass es ihren Kindern schadet, wenn die Schule dem Nachwuchs aus bildungsfernen Schichten zu viel Aufmerksamkeit schenkt. Und LehrerInnen aller politischen Lager werden nicht müde, auf Begabungsdifferenzen hinzuweisen, die nun einmal nicht aus der Welt zu schaffen wären.

Tatsächlich ist unbestreitbar, dass Kinder unterschiedlich talentiert und von unterschiedlich schneller Auffassung sind. Die Frage ist nur, welche Konsequenzen man daraus zieht. Ein gutes Bildungssystem gibt sich nicht damit zufrieden, die Unterschiede zu konstatieren und mangelnde Begabungen abzustrafen, sondern es bemüht sich, auch nicht offensichtliche Stärken von Kindern zu entdecken und zu fördern. Nicht alle können alles (werden), aber in vielen steckt mehr drin, als man fürs Erste vermutet.