SARA WOODS

 

 

Lady im Kreuzverhör

 

Roman

 

 

 

 

Apex Crime, Band 166

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

 

LADY IM KREUZVERHÖR 

Prolog 

Teil I 

Teil II 

Die Verteidigung 

 

 

Das Buch

 

Als zwei Polizeibeamte das Zimmer von Alan Kirby durchsuchen, ziehen sie aus dem Kleiderschrank eine unscheinbare Leinwandrolle. Sie entpuppt sich als ein echter Rubens, der aus einer Galerie gestohlen wurde. Obwohl alle Indizien gegen Kirby sprechen, ist der Londoner Anwalt Antony Maitland bereit, den undankbaren Fall zu übernehmen. Doch dazu kommt es nicht mehr: Kirby wird erschossen aufgefunden...

 

Sara Woods (eigtl. Lana Hutton Bowen-Judd, * 7. März 1922 Bradford, Yorkshire, England; † 5. November 1985 Toronto, Ontario, Kanada) war eine britische Kriminal-Schriftstellerin.

Der Roman Lady im Kreuzverhör erschien erstmals im Jahr 1982; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1987.  

Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur in seiner Reihe APEX CRIME.

   LADY IM KREUZVERHÖR

 

 

 

 

 

 

 

»Wenn Ihr erröten 

und schuldig rufen könnt,

Herr Kardinal,

zeigt Ihr ein wenig Ehrlichkeit.« 

 

- König Heinrich VIII.,

1. Akt, 2. Szene

 

 

 

Jede Erzählung, deren handelnde Figuren alle gleich vortrefflich wären, würde schon allein aus diesem Grund als unfassbar langweilig verdammt werden. Deshalb kann keine Entschuldigung für die Niederträchtigkeit oder Torheit der in diesem Buch vorkommenden Menschen notwendig sein. Es dürfte überaus unwahrscheinlich sein, dass irgendeiner von ihnen Ähnlichkeit mit einer echten Person besitzt, sei sie tot oder lebendig. Jede solche Ähnlichkeit ist völlig unbeabsichtigt und ohne jede böse Absicht zustande gekommen.

- Sara Woods 

  Prolog

 

 

»Ich habe einen Mandanten«, erklärte Kevin O’Brien, Kronanwalt, so, als sei damit alles gesagt. Er sah seine Gastgeber der Reihe nach an, um ihre Reaktion auf diese Bemerkung zu registrieren. Er hatte sich bei den Maitlands zu einem Plausch nach dem Abendessen mehr oder weniger selbst eingeladen, und die Beiläufigkeit, mit der das geschehen war, hatte schon genügt, um Antony zu warnen. Jenny dagegen, die, eben aus dem gemeinsamen Sommerurlaub zurück, gerade das Auspacken hinter sich hatte, war vollkommen arglos.

»Wenn man bedenkt, dass die Sitzungsperiode nach dem Michaelstag anfängt, also schon recht bald, hoffe ich das für dich auch«, meinte sie.

Kevin belächelte die Art, wie sie ihn wörtlich nahm. Er war, ein hagerer Mann mit schmalen Schultern, Spezialist für aussichtslose Fälle.

»Ich meine einen, der für Antony von besonderem Interesse sein müsste«, sagte er zu ihr. »Louise Chorley.«

Antony Maitland stellte den Kognakschwenker, den er in der Hand hatte, hin und lehnte sich im Sessel zurück.

»Von Interesse natürlich«, sagte er, »aber mich geht die Sache doch wohl nichts an.«

»Vielleicht doch«, gab O’Brien zurück.

»Wenn du vorhast, mich als Mitverteidiger einzusetzen...«

»Keine Spur.«

»...sage ich dir ganz offen, dass sie für mich keine Chance hat.« Maitland war ebenfalls Kronanwalt, ungefähr ebenso lange wie O’Brien.

»Sogar für den Schlechtesten von uns lässt sich etwas vorbringen«, betonte Kevin ernster, als man es bei ihm gewöhnt war. »Aber das klingt, als ob du mit dem Fall etwas besser vertraut bist als die Öffentlichkeit.«

»Ja, natürlich interessiere ich mich besonders dafür«, gab Antony zu. »Ich begreife nur nicht, woher du das weißt.«

»Ich weiß so gut wie nichts. Erzähl schon.«

»Ihr Ehemann sollte soeben wegen Mordes verhaftet werden, als sie ihn erschoss. Du wirst nun vermutlich sagen, dass das zum Teil an mir lag«, meinte Maitland widerstrebend. »Die Verhaftung, meine ich, nicht die Tötung.«

»Ist das alles, was du weißt?«

»Hm, nein. Sie legte ein Geständnis ab. Ich glaube, sie rief sogar selbst die Polizei.«

»Und...«

»Ich kannte vertrauliche Einzelheiten einer Darstellung, die sie an den Courier verkauft hat. Der darf sie natürlich nicht bringen, ehe das Urteil gefällt ist... falls du vorhast, auf Nicht schuldig zu plädieren, meine ich.«

»Aber gewiss habe ich das.«

»Verstehe.« Sein zweifelnder Tonfall strafte das Wort Lügen. »Du brauchst dir jedenfalls keine Sorgen zu machen, Kevin. Die Anklage hat keinerlei Aussicht, damit vor Gericht durchzukommen.«

»Ich mache mir keine Sorgen«, erwiderte Kevin gelassen. »Ich werde das auf jeden Fall schon selbst vorbringen.«

Maitland legte eine Pause ein, um darüber nachzudenken. Jenny kannte den Fall so gut wie er, und da es den Anschein hatte, dass auch Kevin O’Brien eingeweiht war, hinderte ihn nichts daran, laut zu denken.

»Es ging da um einen Ring von Kunstdieben, in den ihr Mann aufgenommen worden war. Nach ihren Worten ist der Drahtzieher, also der Anstifter des Ganzen oder wie man ihn nennen will, seit Jahren ihr Liebhaber gewesen. Sie habe befürchten müssen, dass ihr Mann plaudern und diesen Mann bloßstellen werde. Deshalb habe sie ihn erschossen.« Er verstummte und sah den Besucher zweifelnd an. »Glaubst du wirklich, dass Geschworene oder Richter Mrs. Chorley deswegen mehr Verständnis entgegenbringen werden?«, fragte er.

»Nicht nach deiner Schilderung. Wir werden behaupten, dass sie völlig den Verstand verloren habe und die ganze Geschichte eine reine Erfindung von ihr sei. Nicht schuldig, weil nicht zurechnungsfähig.«

»Ja-a«, sagte Maitland gedehnt. »Ich sehe ein, dass das der einzige Weg für euch ist.«

»Der wäre dir auch aufgegangen, wenn du mit ihr als Mandantin geschlagen wärst«, sagte Kevin wohlwollend. »Und für den Fall, dass dich das bedrückt, Jenny: Ihre Geschichte ist so, wie sie sie erzählt, einfach nicht glaubwürdig, und bei unseren Gesprächen mit ihr hat sie nie erkennen lassen, dass sie bei Verstand wäre. Nicht dass sie etwa tobte... Aber das ist nicht der Punkt, über den ich mit Antony reden wollte.«

»Du willst doch nicht, dass ich aussage?«, fragte Antony erschrocken.

»Keineswegs. Es scheint keinen Anlass zu geben, weshalb Anklage oder Verteidigung sich überhaupt mit David Chorleys Straftaten befassen sollten, sieht man von einer knappen Mitteilung der Polizei ab, dass eine Festnahme unmittelbar bevorstand. Als meine Mandantin davon erfuhr, verlor sie gänzlich den schon sehr dürftigen Kontakt zur Wirklichkeit«, sagte O’Brien so feierlich, dass Antony sofort begriff, woher die Worte stammten: aus dem Schriftsatz des beauftragenden Solicitors.

»Wenigstens das bleibt mir erspart. Von meiner Verbindung mit dem Fall Seiden weiß niemand, und ich möchte, dass es auch dabei bleibt.«

»Falls du jetzt von der Angelegenheit mit der Spiritistin sprichst, die wegen Betrugs verklagt wurde...«

»Man stellte damals sehr hohe Schadensersatzansprüche, weil eine Frau namens Emily Walpole Selbstmord begangen hatte, angeblich wegen einer Mitteilung bei einer Séance«, sagte Antony. »Dann kam jedoch heraus, dass Mrs. Walpole vielmehr ermordet worden war.«

»Schon, aber das war ein Fall von Sir Nicholas«, wandte O’Brien ein.

»Ich hatte mich auch damit zu befassen.«

»Das hätte ich mir denken können.« Es klang vor allem resigniert. »Mit der Sache Seiden hat das jedenfalls gar nichts zu tun. Ich höre gerüchteweise, dass du auch einen Mandanten hast.«

»Wie du wohl auch; sogar mehrere. Aber du denkst doch an einen ganz bestimmten, oder? An wen denn?«

»Einen jungen Mann namens Alan Kirby.« Er sah Maitlands verständnislosen Blick und fügte ein wenig ungeduldig hinzu: »Bist du denn seit der Rückkehr aus dem Urlaub noch nicht einmal in der Kanzlei gewesen?«

»Doch, natürlich. Ich wollte unbedingt sehen, was für Gräuel Mallory während unserer Abwesenheit in meinem Namen angenommen hat. Aber Alan Kirby... soweit ich mich entsinne, war das nichts sonderlich Bedeutsames. Anklage wegen Hehlerei.«

»Hast du mit deinem Klienten gesprochen?«

»Nein, ich habe nur den Schriftsatz von Geoffrey Horton gesehen. Die Polizei war offensichtlich nicht der Meinung, auch Diebstahl beweisen zu können.«

»Also«, sagte O’Brien so geduldig, als spreche er mit einem Kind, »was für gestohlene Ware soll er in Empfang genommen haben?«

»Ein Gemälde, glaube ich, das aus der Galerie Sefton gestohlen worden war. Ich habe mich mit der Sache noch nicht näher befasst. Soviel ich sehe, steht die Verhandlung noch lange nicht an. Und Kirby ist gegen Kaution freigelassen worden. Dafür hat Geoffrey gesorgt.«

»Du gebrauchst dein Gehirn nicht, Antony.« Maitland war während des Gesprächs, von Unrast getrieben, aufgestanden und hatte sich mit dem Rücken an den offenen Kamin gestellt. Scheite waren auf dem Rost aufgehäuft, aber nicht angezündet worden. Wie O’Brien war er ein hochgewachsener Mann, dunkelhaarig, mit schmalem, intelligentem Gesicht. Der humorvolle Ausdruck darin war in der Regel sehr ausgeprägt. Bei offiziellen Anlässen hielt er es allerdings für klüger, ihn zu unterdrücken. »Ein Kunstdiebstahl«, erklärte O’Brien mit Nachdruck. »Hast du denn keine Verbindung hergestellt, da du schon so viel über die Vorgänge im vergangenen März weißt?«

»Du hast eben gesagt...«

»Vergiss die Seldens und die Walpoles und den ganzen Verein bis auf die Chorleys. Und geh davon aus, dass eine Bande am Werk ist, die sich auf Kunstdiebstähle spezialisiert hat.«

»Willst du mir einreden, Kirby könnte der unbekannte Liebhaber sein? Ich muss darauf hinweisen, dass er erst Mitte Zwanzig ist und Historiker, soviel ich weiß, nicht Kunstexperte«, sagte Maitland, dessen oberflächliche Lektüre der Akten offenbar doch nachhaltiger gewirkt hatte, als er zugeben wollte.

»Ich will genau das Gegenteil. Er könnte völlig unschuldig sein. Was weißt du sonst noch über ihn?«

»Er hat einen guten Leumund, heißt es. Nie in Schwierigkeiten gewesen. Nein, im Ernst, Kevin, ich hatte noch keine Zeit, mich einzuarbeiten. Und wenn du denkst, ich nähme die Sache zu leicht«, fuhr er ein wenig steif fort, »ich bin mir völlig im Klaren darüber, was eine Verurteilung für ihn bedeuten könnte, wenn er wirklich unschuldig ist.«

»Ich habe nie etwas anderes angenommen«, gab Kevin beschwichtigend zurück.

»Und wie kommst du darauf, dass er unschuldig ist?«, fragte Antony scharf.

»Durch eine Äußerung von Louise Chorley.«

»Da du dich heute Abend praktisch selbst eingeladen hast«, sagte Maitland unliebenswürdig, »wirst du mir vermutlich anvertrauen, worum es sich handelt.«

»Ganz gewiss. Sie hatte von der Anschuldigung gehört und hielt sie für reinen Unsinn; Alan würde so etwas niemals tun. Das gehörte zu den wenigen vernünftigen Worten, die sie im ganzen Gespräch von sich gegeben hat, kann ich dir verraten. Aber angesichts ihrer Behauptung vermutete ich, sie könnte wirklich informiert sein, und zog ein paar Erkundigungen ein.«

»Und was haben deine Erkundigungen ergeben?«

»Alan Kirby hat einen Onkel Daniel Kirby, der angeblich die beste Kunstsammlung in England besitzt, wenn man die königliche Sammlung ausnimmt.«

»Steht er mit seinem Neffen auf gutem Fuß?« Maitlands Tonfall war schärfer geworden.

»Ja, ich glaube schon.«

»Du lässt durchblicken, dass Daniel Kirby Mrs. Chorleys Liebhaber sein könnte. Spräche dann nicht mehr als weniger dafür, dass sein Neffe einer seiner Helfershelfer sein könnte?«

»Ich kann dir nur mitteilen, was sie gesagt hat. Ich hatte in diesem Augenblick sehr stark den Eindruck, dass sie die Wahrheit sagte, wie sie sie sah. Dann verstummte sie und wollte kein Wort mehr hinzufügen. Aber ich war der Meinung, dass du das wissen solltest.«

»Die Frau ist deine Mandantin, O’Brien.«

»Der Haken bei dir ist, dass du moralisch einfach unantastbar bist, Maitland«, antwortete Kevin ebenso förmlich.

»Das mag sein, auch wenn dir da wohl nicht alle recht geben würden. Aber du erklärst mir, dass du ihre Geschichte glaubst - eine Geschichte, die sie gegen Bares an den Courier verkauft hat - und nicht an ihre Unschuld wegen Unzurechnungsfähigkeit?«

»Ich glaube an deine Diskretion, Antony.« O’Brien sah Jenny an, und sein Gesichtsausdruck wurde etwas milder. »Es gibt Leute, die ich umsonst verteidigen würde«, sagte er, »aber Louise Chorley gehört nicht dazu.«

Antony kam der Gedanke, dass auf der ganzen Welt Jenny vielleicht die einzige Person war, deren Meinung dem anderen genug bedeutete, um sich zu dieser Bemerkung veranlasst zu sehen. »Trotzdem werde ich mich an die Anweisungen von Bellerby halten«, fuhr Kevin fort. »Sie lauten so, wie ich schon sagte, und damit ist der Fall erledigt.« (Bellerby war ein Solicitor - Maitland kannte ihn gut -, dessen gütige Einstellung gegenüber Mandanten bei seinen Kollegen wohlbekannt war und sie oft verärgerte.)

»Aber wenn du recht hast... wenn Louise Chorley dir wirklich die Wahrheit gesagt hat, wie ist dann das Riesengemälde in Alan Kirbys Besitz gelangt?«

»Das ist deine Sache. Es könnte ihn ja zum Beispiel jemand gebeten haben, es für ihn aufzubewahren«, meinte Kevin vage.

»Ich denke, Geoffrey Horton hätte davon gehört, wenn es so gewesen wäre.«

»Es sei denn, dass Familienloyalität eine Rolle gespielt hat«, betonte O’Brien. »Es ist deine Sache, was du daraus machst, Antony«, fuhr er fort; dabei wusste er, wie Jenny etwas wehmütig dachte, sehr wohl, wie das ausgehen würde. »Aber an deiner Stelle würde ich vor der Verhandlung wenigstens ein Gespräch mit ihm führen.«

»Das habe ich auch vor«, sagte Antony und fröstelte plötzlich. »Mich fröstelt«, entschuldigte er sich mit einem Blick auf seine Frau. »Was hältst du davon, das Feuer anzuzünden, Schatz?«

»Wenn du möchtest.« Jenny hatte sich nicht bewegt und wirkte durchaus ruhig, aber er bemerkte auf einmal eine gewisse Verkrampfung. Erst später, als das Feuer loderte, als eine zweite Runde von dem eigentlich für Sir Nicholas reservierten Kognak getrunken war und O’Brien sich verabschiedet hatte, sprach sie aus, was in ihr vorging. »Ich weiß, du hast gesagt, niemand wüsste von deiner Verbindung mit dem Fall Seiden, Antony, aber glaubst du nicht, dass Louise Chorley ihrem Liebhaber von den Fragen berichtet haben wird, die du gestellt hast?«

»Kevin sagt, es gibt ihn nicht«, erwiderte Antony so gelassen, wie es ihm möglich war.

»Ja, schon, aber er glaubt nicht daran, und du bestimmt auch nicht. Wenn er weiß - wer er auch sein mag, und es kann durchaus sein, dass er dieser Daniel Kirby ist, von dem Kevin sprach -, wenn er weiß, dass du dich für seine Angelegenheiten noch stärker interessierst, glaubst du nicht, dass ihn das dann stören würde?«

Antony, wieder an seinem Lieblingsplatz auf dem Kaminvorleger, blickte voll Zuneigung zu ihr hinüber. Jenny hatte sich von dem Tag an, als das Zimmer eingerichtet worden war, eine bestimmte Sofaecke ausgesucht. Eine eitlere Person hätte in den Verdacht geraten können, dass sie bewusst dort sitzen wollte, wo der Lampenschein auf ihre braunen Locken fiel und sie auf eine sehr kleidsame Weise vergoldete. Niemand, der Jenny kannte, wäre aber jemals auf diesen Gedanken verfallen; sie war so unbefangen, wie man das als menschliches Wesen nur sein konnte.

»Ich habe nur gesagt, dass ich mit meinem Mandanten reden würde«, antwortete Antony sanft.

»Ja, schon, aber... Ich glaube nicht, dass Onkel Nick das gutheißen würde«, sagte Jenny und legte ihre Trumpfkarte auf den Tisch. Sir Nicholas Harding war Antonys Onkel, der Chef der Anwaltskanzlei im Inner Temple, der Maitland angehörte, und Besitzer des Hauses am Kempenfield Square, wo Antony und Jenny in einer durchaus nicht abgeschlossenen Wohnung die beiden oberen Stockwerke zur Verfügung hatten. Seitdem Sir Nicholas nach einem Leben als Junggeselle die Rechtsanwältin und Strafverteidigerin Miss Vera Langhorne geheiratet hatte, war nicht viel mehr als ein Jahr vergangen. Antony, der dazu neigte, Schwierigkeiten zu sehen, wo es keine gab - das hätten die meisten seiner Freunde jedenfalls behauptet -, war der Ansicht gewesen, es sei vielleicht die Zeit gekommen, dass ihre Wege sich trennten. Zum Glück für die Gemütsruhe aller Beteiligten hatten die Umstände ihn aber eines Besseren belehrt, bevor er etwas Unwiderrufliches hatte tun können; falls Sir Nicholas, kaum einer der Gleichmütigsten, nicht eine seiner Launen hatte, war im Haus stets bestes Einvernehmen vorherrschend gewesen, und daran änderte sich durch Veras Einzug nichts. Jenny hätte sogar behauptet, dass die neue Lady Harding einen Einfluss auf das zahlenmäßig kleine Hauspersonal ausübte, den vorher auszuüben niemand versucht hatte, und dass es deshalb viel behaglicher geworden sei...

»Onkel Nick würde es billigen, dass ich meine Berufspflichten ausübe, so gut ich kann«, erklärte Antony entschieden.

»Selbst wenn sich daraus Schwierigkeiten ergeben?«, fragte Jenny.

»Weißt du«, antwortete Antony nach einer kurzen Überlegungspause, »ich glaube, sogar dann, wenn man es ihm richtig klarmachte. Er würde sich natürlich schrecklich aufregen, aber das sind wir ja gewohnt, nicht?« Er wandte sich ab und blickte kurz ins Feuer, als könne er dort eine Botschaft lesen. »Ich glaube, du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen, Liebes«, sagte er schließlich. »Kevins Idee ist doch Unsinn. Jedenfalls gibt es keinen Grund, weshalb Onkel Nick je ein Wort davon erfahren sollte.«

»Onkel Nick erfährt alles«, sagte Jenny entschieden.

Er drehte sich wieder um und sah sie an.

»Ja, das weiß ich. Sein Freund Bruce Halloran hat den besten Nachrichtendienst von allen Kollegen. Aber das spielt gar keine Rolle. Worauf es ankommt, ist, dass du dir Sorgen machst, Jenny, und das macht mir Sorgen. Ich glaube aber, dass dazu überhaupt kein Anlass besteht.«

»Mag sein«, bestätigte Jenny fügsam. Sie erwähnte das Thema an diesem Abend nicht mehr, aber ihr Mann machte sich keine Illusionen darüber, dass es aus ihren Gedanken völlig verbannt sein konnte.

 

 

 

 

  Teil I

 

 

Sitzungsperiode Herbst 1972

 

 

Freitag, 29. September

 

Als Maitland um ein Gespräch mit seinem Mandanten Alan Kirby bat, reagierte Geoffrey Horton ein wenig gereizt.

»Wenn du nur die Akten lesen würdest«, wandte er ein.

»Das habe ich getan«, sagte Antony. Zur Abwechslung einmal entsprach das sogar der Wahrheit.

»Ich weiß, du hast eine Schwäche dafür, alles aus erster Hand zu hören«, fuhr Geoffrey fort, ohne auf die Bemerkung einzugehen, »aber in diesem Fall kann es nichts helfen. Die ganze Verteidigung ist keinen Pfifferling wert.«

»Du meinst, wir sind schuldig?«

»Das sind nicht meine Informationen«, stellte Horton pedantisch fest. »Ich meine, es gibt nichts, was wir für ihn vor Gericht vorbringen können. Wenn man einen Diebstahl hätte nachweisen wollen, sähe die Sache anders aus, dann hätten wir etwas in der Hand, aber Hehlerei... das Bild befand sich in seinem Zimmer, es war ganz gewiss gestohlen - und was sollen wir da tun?«

»Ich möchte ihn trotzdem sprechen«, sagte Antony hartnäckig.

»Ach, meinetwegen! Ich werde tun, was ich kann«, gab Geoffrey mürrisch zurück. Maitland wunderte sich aber nicht, als sein Freund im Verlauf des Tages anrief, um mitzuteilen, dass für den folgenden Vormittag ein Termin vereinbart sei.

Maitlands Büro in der Kanzlei war lang und schmal und selbst an sonnigen Tagen düster. Jenny hatte sich bei seinem Einzug erboten, die Wände heller zu streichen und vielleicht auch neue Vorhänge anzubringen, aber Sir Nicholas hatte entschieden sein Veto eingelegt. Sogar Antony hätte als erster zugegeben, dass es bei Gelegenheit von Vorteil war, wenn die Umgebung nicht ablenkte. Es fiel ohnehin schwer genug, sich zu konzentrieren. An diesem Freitagmorgen, als Willett, der jetzt nur noch den alten Mallory über sich hatte, die beiden Besucher hereinführte, wünschte Antony sich von ganzem Herzen, nie zugelassen zu haben, dass Kevin O’Brien ihm diese Verrücktheit einredete. Er sah lediglich nichts Gescheites dabei herauskommen; die Verunsicherung, die sein Gespräch mit Kevin bewirkt hatte, war inzwischen längst verflogen.

Geoffrey Horton hatte rote Haare, die im Lauf der Jahre durch Pomade, eingesetzt bei dem vergeblichen Versuch, die Wellen zu glätten, dunkler geworden waren. Er war eigentlich von heiterer Gemütsverfassung, beruflich aber sehr pedantisch, und niemand konnte bestreiten, dass Maitlands unorthodoxes Vorgehen manchmal eine harte Prüfung für ihn gewesen war. Allerdings wäre es vielleicht eine Übertreibung gewesen, zu behaupten, das hätte ihre langjährige Freundschaft belastet. An jenem Morgen wirkte er vielleicht ein wenig zu herzlich; er war viel zu erfahren, um durch irgendetwas, das sein Mandant getan haben mochte oder nicht, aus der Fassung gebracht zu werden. Er sah jedoch nichts, was man für ihn hätte tun können, und wollte seine Hoffnungen durch dieses Gespräch nicht über Gebühr fördern.

Während man sich vorstellte, nahm Antony den Mann in Augenschein, dessen Aussichten auf Freispruch sein Solicitor so pessimistisch beurteilte. Alan Kirby war, wie er sich schon vergewissert hatte, fünfundzwanzig Jahre alt, mittelgroß, braunhaarig, braunäugig, sonnengebräunt. Dazu trug er noch einen braunen Anzug und hatte eine Krawatte ausgesucht, bei der Herbstfarben vorherrschten. Im Ganzen genommen ein bisschen zu gepflegt, zu geschniegelt. Antony fragte sich, ob dem immer so war, oder ob er damit seinen Verteidiger beeindrucken wollte.

Die Stühle für die Besucher waren nicht sehr bequem. Geoffrey zog den seinen ein wenig näher ans Fenster, so, als wolle er sich von der ganzen Affäre distanzieren, aber da der Mandant deshalb näher am Schreibtisch saß, wo das Lampenlicht auf sein Gesicht fiel, hatte Antony nichts einzuwenden. Er war sich vielmehr völlig im Klaren darüber, dass Geoffrey es eigens so eingerichtet hatte.

»Es tut mir leid, dass Sie die Mühe hatten, hierherzukommen, Mr. Kirby«, sagte er, als sie alle saßen, »aber als Mr. Horton und ich die Sache besprachen, kamen wir zu dem Schluss, dass es ganz gut wäre, wenn ich selbst mit Ihnen sprechen könnte.«

»Ich verstehe nicht viel davon, wie das alles gehandhabt wird«, erklärte Kirby. »Mir ist so etwas noch nie zugestoßen, wissen Sie.« Er hatte eine sympathische Art, und wenn er sich hier ganz besonders bemühte, einen guten Eindruck zu erwecken, nahm man ihm das durchaus ab.

»In einem Fall wie diesem, wo alles ziemlich klar zu sein scheint...«, sagte Antony vage und versuchte nicht, den Satz zu Ende zu führen. Dann lächelte er. »Aber Mr. Horton kann Ihnen ein Lied davon singen, was für eine schwere Prüfung ich für ihn bin. Ich habe eine Schwäche dafür, alles mit eigenen Ohren hören zu wollen.«

»Aber das ist es ja gerade.« Alan Kirbys Tonfall klang jetzt eifriger. Er schien seine Verlegenheit abgestreift zu haben. »Es ist durchaus nichts klar! Ich meine, ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie das Ding in mein Zimmer gekommen ist.«

»Darauf kommen wir gleich. Zuerst möchte ich, dass Sie mir etwas über sich selbst erzählen.«

»Da gibt es nichts Interessantes zu berichten«, warnte Kirby. »Ich bin kein sehr praktisch denkender Mensch, deshalb halte ich an der Universität Vorlesungen über Geschichte. Ich möchte selbst gern schreiben, aber für die Forschungsarbeiten braucht man Zeit, und inzwischen muss ja Geld heran. Ich arbeite deshalb für die Holiday Press, für einen der Redakteure.«

»Holiday Press?«, sagte Antony mit einem fragenden Blick auf Horton. Er konnte erkennen, dass dem Solicitor die Worte Steht alles in den Akten auf der Zunge lagen.

»Das ist kein Buchverlag«, erklärte Geoffrey. »Ich denke in dem Zusammenhang eigentlich an Glückwunschkarten.«

»Sie schreiben doch wohl nicht die kleinen Verse dafür?«, sagte Antony und war erleichtert, als Kirby sein Lächeln, das ganz unfreiwillig zustande gekommen war, erwiderte, ohne beleidigt zu sein.

»Nein, ich fürchte, dazu könnte ich mich denn doch nicht aufschwingen. Mr. Horton hat ein paar Dinge vergessen. Man verlegt dort auch Kochbücher, Bücher über Gärtnerei und Themen der Lokalgeschichte. Da trete ich auf den Plan. Ich meine lokal natürlich nicht nur in Bezug auf London; in Frage kommen da alle möglichen Bezirke, und dort werden meine Aufsätze auch herausgestellt und verkauft.«

»Sehr interessant«, sagte Antony ernsthaft. Kirby warf ihm einen raschen, ziemlich argwöhnischen Blick zu, bevor ihm aufging, dass sein Verteidiger es wirklich ernst gemeint hatte.

»Für einen Außenstehenden mag es den Anschein haben«, sagte Alan, »aber ich kann Ihnen versichern, dass ich mir als Erwerbstätigkeit etwas Schöneres vorstellen kann.«

»Ja, kein Zweifel. Und Ihre Familie, wie steht es damit?«

»Meine Eltern sind vor Jahren gestorben, irgendein Krankheitserreger, den sie im Ausland aufgeschnappt haben. Ich bin von meinem Onkel aufgezogen worden. Er und seine Frau sind die einzigen Verwandten, die ich habe, bis auf eine Cousine von Tante Hilda, also eine angeheiratete Verwandte.«

»Ich habe auch einen Onkel«, sagte Antony in der Hoffnung, ihn zu weiteren Vertraulichkeiten anregen zu können. »Gelegentlich ist er zwar nicht ganz so angenehm zu ertragen, aber im Großen und Ganzen bin ich sehr froh um ihn.«

»Ich habe von Sir Nicholas Harding gehört«, sagte Alan und grinste ebenfalls. »Ich hänge natürlich an meinem Onkel und meiner Tante, sie waren sehr gut zu mir, aber eigentlich ist es wohl Tante Hilda, der ich näherstehe. Sie hat eine mütterliche Art und keine eigenen Kinder.«

»Das muss Ihnen alles sehr banal erscheinen, Mr. Kirby, aber ich möchte gern wissen, wovon Ihr Onkel beispielsweise seinen Lebensunterhalt bestreitet.«

»Ach, er ist im Ruhestand. Nicht, dass er das nötig gehabt hätte, er ist nämlich bei weitem noch nicht in dem Alter, bei dem Männer zu arbeiten aufhören, aber durch Großvater ist er finanziell sehr gut gestellt, sodass er nicht weiterzumachen brauchte.«

»Ihr Vater selbst wurde vom Testament Ihres Großvaters nicht begünstigt?«

»Nein. Es war ziemlich sonderbar abgefasst. Alles fiel an den überlebenden Bruder. Tante Hilda sagt immer, Großvater hätte es ändern wollen, nachdem mein Vater gestorben war. Ich weiß nicht, ob das stimmt oder nicht. Jedenfalls habe ich keinen Penny, abgesehen von dem, was ich verdiene.«

»Hat Sie das empört?«

»Nein, ich glaube nicht.«

»Dann sind Sie ja ein musterhafter Mensch, nicht? Mir kommt das sehr ungerecht vor.«

Kirbys Aufmerksamkeit galt ganz seinem Verteidiger, sonst hätte er den raschen, fragenden Blick gesehen, den Horton Maitland zuwarf.

»Wenn ich Geld hätte, würde ich tun, was mir Spaß macht, statt den Schreiberling zu machen«, sagte Alan ruhig, »und das Leben würde mir vermutlich besser gefallen. Aber es sollte eben anders kommen, und ich habe trotzdem allen Anlass, Onkel Dan dankbar zu sein.«

»Sehr lobenswert«, sagte Maitland mitfühlend. »Haben Sie Ihre Liebe zur Kunst von ihm?«

»Ich bekam jedenfalls jede Gelegenheit geboten.« Alan schien die Frage nicht merkwürdig zu finden. »Leider kann ich damit gar nichts anfangen. Tante Hilda und ich passen da gut zusammen. Wir sind für Onkel Dan eine große Enttäuschung.«

»Aha. Ich hoffe, Sie können, wenn wir vor Gericht stehen, den Geschworenen Ihre mangelnde Empörung so deutlich vermitteln wie mir.« Geoffrey Horton schien ein wenig verwirrt zu sein, aber Alan Kirby wurde bei diesem Gesprächsverlauf sichtlich beruhigter. »Leben Sie immer noch bei Mr. und Mrs. Kirby?«

»Nicht mehr, seit ich hierherkam. Und als ich in Oxford war, bin ich natürlich nur in den Ferien zu Hause gewesen. Ich glaube, Tante Hilda war ein bisschen betroffen, als ich fortging, aber ich hielt es wirklich für das Beste.«

»Ihr Onkel empfand also nicht wie sie?«

»Ich glaube, es war ihm so oder so nicht wichtig.«

»Wo wohnen Sie jetzt?«

»In einer Pension. Ein riesiges Haus in Earls Court, geführt von einer Mrs. Campbell. Sie macht uns Frühstück und, wenn wir wollen, Abendessen, und die Zimmer sind wirklich nicht schlecht.«

»Wo liegt Ihr Zimmer dort?«

»Vorne im ersten Stock. Es hat den Vorteil, nah beim Badezimmer zu sein. Es ist als Wohnschlafzimmer eingerichtet, wirklich recht bequem«, wiederholte er, so als wolle er jeden Zweifel darüber zerstreuen.

»Dann sind wir, glaube ich, an dem Punkt angelangt, wo ich Sie bitten muss, mir genau zu schildern, was sich zugetragen hat, als das Gemälde in Ihrem Zimmer gefunden wurde. Ihnen wird klar sein, dass wir der Jury unter anderem erklären müssen, wie es dazu kam, dass Sie es nicht bemerkt haben, wenn Sie in der Tat nicht dafür verantwortlich waren, dass es sich dort befand.«

»Das war ich nicht. Ich sagte es Mr. Horton bereits.«

»Dann versuchen Sie es mit Ihrer Erklärung bei mir«, schlug Maitland vor.

»Es war kein gerahmtes Bild, wissen Sie, sondern eine große Leinwand, zusammengerollt und am Boden meines Schrankes ganz nach hinten geschoben. Ich habe dort einen riesengroßen Kleiderschrank, wissen Sie, und ich schaufle da alles Mögliche hinein, damit es weg ist. Eigentlich kein Wunder, dass mir in dem Durcheinander nichts aufgefallen ist.«

»Erzählen Sie mir, was geschehen ist«, wiederholte Antony.

»Eines Abends kamen zwei Kriminalbeamte in Zivil. Wollen Sie Daten hören?«

»Sie sind im Augenblick nicht wichtig.« Er lächelte Geoffrey an. »Außerdem hat Mr. Horton sie mir schon geliefert.«

»Tja, ich war natürlich ganz verblüfft. Mrs. Campbell rief mich in die Halle hinunter, damit ich mit ihnen reden sollte. Sie ging zwar in ihr eigenes Zimmer zurück, aber ich bin ganz sicher, dass sie die Tür nicht geschlossen hat. Man sagte mir, dass man einen Hinweis bekommen habe und deshalb hier sei. Als ich Genaueres wissen wollte, wurde das abgelehnt. Man hatte auch keinen Hausdurchsuchungsbefehl, aber die beiden sagten, es wäre für alle Seiten leichter, wenn ich die Erlaubnis geben würde, dass man sich mein Zimmer ansieht. Und dumm wie ich war, stimmte ich zu.«

»Von deren Standpunkt aus war das in der Tat einsichtig. Sie hätten nämlich ohne konkretere Indizien ohnehin keinen Hausdurchsuchungsbefehl bekommen. Wenn sie mehr Beweismaterial gehabt hätten, wäre Mr. Horton nach Ihrer Festnahme davon unterrichtet worden, aber offenbar hatten sie nur einen anonymen Anruf erhalten. Und da Sie so entgegenkommend waren, sparten sie sich natürlich viel Mühe.«

»Ich hatte keinen Anlass, es nicht zu sein, das versichere ich Ihnen. Trotzdem kann ich mir vorstellen, dass ich genauso gehandelt hätte, wenn ich schuldig gewesen wäre«, fügte er hinzu. »Im anderen Fall hätten sie ja argwöhnisch werden müssen.«

»Dasselbe dachte ich eben auch«, sagte Maitland verbindlich. »Egal, was Sie taten, die Anklage hätte es als verdächtig hingestellt. Es wäre also nur übrig geblieben, es darauf ankommen zu lassen. Sie gingen also hinauf, von Ihnen begleitet, nehme ich an, man durchsuchte Ihr Zimmer und kam endlich zum Kleiderschrank.«

»Damit fingen sie sogar an. Sie waren sehr höflich, wissen Sie. Und als sie das große, lange Ding herauszogen - es sah wie eine Röhre aus-, traute ich meinen Augen nicht. Ich wusste, dass ich so etwas niemals hineingesteckt hatte.«

»Wie ging es dann weiter?«

»Sie rollten die Leinwand auf und zeigten sie mir. Ob ich das Bild erkennen würde? Ich überraschte natürlich niemanden, als ich antwortete, dass das nicht der Fall war. Die einzigen Gemälde, von denen ich etwas weiß, sind Porträts, historische Bilder von Personen, und zwar nicht wegen ihres künstlerischen Werts, sondern weil ich sehen wollte, wie die Leute aussahen, von denen ich las.«

»Und was stellte das Bild nun dar?«

»Ich erinnere mich nicht so genau. Drei nackte Frauen, sehr üppig. Die eine steckte die Zehe in einen Teich und machte ein Gesicht, als sei es ihr zu kalt. Ich sah nichts Besonderes darin, aber Onkel Dan sagte...«

»Wir eilen der Entwicklung voraus. Was geschah als nächstes?«

»Sie nahmen das Bild mit. Dann kamen sie zurück und sagten, das Gemälde sei vom Besitzer der Galerie Sefton als ein Rubens erkannt worden, den man ihm vor drei Monaten gestohlen hatte.«

»Und Sie wurden festgenommen?«

»Ja. Ich kannte keinen Rechtsanwalt. Es war Tante Hilda, die mir Mr. Horton empfahl.« Er drehte sich ein wenig zu Geoffrey herum. »Sie schien von Ihnen gehört zu haben«, sagte er ergänzend.

»Ich bedanke mich für ihre Empfehlung«, sagte Geoffrey förmlich.

»Wie haben Ihr Onkel und Ihre Tante es aufgenommen, Mr. Kirby?«, fragte O’Brien.

»Ich darf zum Glück sagen, dass sie nicht glauben, ich hätte etwas Böses getan. Tante Hilda würde das ohnehin nicht tun, und Onkel Dan meint nur, ich hätte gar nicht den guten Geschmack, ein solches Gemälde auszusuchen.« Zum ersten Mal wirkte er beinahe belustigt. »Das ist nicht einmal so falsch. Es wäre das letzte Bild, das ich mir aufhängen würde.«

»Mein Eindruck ist der«, sagte Geoffrey, zu Maitland gewandt, »dass die Polizei glaubt, Mr. Kirby hätte auch den Diebstahl begangen, nur besitzt sie keinerlei Beweise, sodass man ihm das nicht angelastet hat.«

»Von ihrem Standpunkt aus wohl sinnvoll. Und damit kommen wir zum schwierigsten Punkt, Mr. Kirby. Wenn Sie das Gemälde nicht entwendet oder es illegal erhalten haben, wie ist es dann in Ihren Kleiderschrank gekommen?«

»Darauf gibt es nur eine Antwort: Ich habe nicht die geringste Ahnung.«

»Sie haben es nicht selbst hineingetan, um es etwa für einen Freund aufzubewahren, der Ihnen mit Scheingründen klargemacht hat, warum er es im Augenblick nicht selbst behalten konnte?«

»Keine Spur. Ich bin nicht ganz sicher... Mr. Maitland, soll das heißen, dass ich vor Gericht etwas Derartiges angeben soll?«

»Nur, wenn es wahr ist. Sie stehen dann unter Eid, wissen Sie. Aber wenn es nicht so gewesen ist, bleibt uns nur die unbehagliche Tatsache, dass jemand Sie ganz bewusst belastet hat. Kennen Sie irgendjemanden, der Ihnen nicht wohlwill?«

»Keinen Menschen.«

»Oder der irgendeinen anderen Grund gehabt haben könnte, das Gemälde gerade an diesem Ort unterzubringen?«

»Ich sage doch - nein!«

»Dann könnte es noch eine Frage der Zweckdienlichkeit gewesen sein«, sagte Maitland nachdenklich. »Obwohl das nicht sehr wahrscheinlich wirkt, angesichts der Tatsache, dass jemand offenbar die Polizei auf den Fundort hingewiesen hat. Hast du eine Ahnung, warum das getan worden ist, Geoffrey?«

»Nicht die geringste.«

»Eben! Das ist ein Punkt, mit dem man sich befassen kann, das Motiv. Der andere ist noch augenscheinlicher... die Tatgelegenheit.«

»Sie meinen wohl, wer alles hätte es dort hineintun können? Die Haustür ist von ungefähr acht Uhr morgens bis nach dem Abendessen, wenn Mrs. Campbell sich zum Fernsehen zurückzieht, offen.«

»Soll das heißen, dass jeder Mensch ins Haus konnte?«

»Augenblick«, warf Geoffrey ein. »Mr. Kirby wurde bei dem Telefongespräch namentlich erwähnt. Das Gemälde kann also nur von jemandem hineingeschmuggelt worden sein, der wusste, wo sein Zimmer lag.«

»Auf jeden Fall wäre das schwierig gewesen«, sagte Alan zögernd. »Mrs. Campbell leidet an Arthritis und verlässt kaum das Haus. Sie hat ein Mädchen als Hilfe, eine Nichte glaube ich, die alle Einkäufe macht. Und sie will gern wissen, was vorgeht - ich meine jetzt wieder Mrs. Campbell sodass sie sehr oft in die Halle hinausschießt, wenn die Haustür geht. Es wäre natürlich möglich, einen Augenblick abzupassen, zu dem sie nicht in Hörweite wäre, aber jeder, der mich je besucht hat, muss ihr praktisch begegnet sein.«

»Ja, und man käme sich doch ein wenig seltsam vor, wenn man mit einer großen, zusammengerollten Leinwand unter dem Arm hereinkäme«, bestätigte Maitland. »Aber noch etwas anderes, bevor wir weitergehen. Das Gemälde wurde drei Monate vor dem Fund in Ihrer Unterkunft gestohlen; kann es die ganze Zeit über dort gewesen sein?«

»Nein, ausgeschlossen. Ich habe natürlich viel darüber nachgedacht. Ich suchte ein Buch von mir über alte Gasthöfe in der Grafschaft Sussex; jemand hatte über dasselbe Thema geschrieben und es der Holiday Press eingereicht, sodass ich es für nützlich hielt, festzustellen, was schon vorlag, ob sich das überschnitt. Ich muss, keine Woche, bevor die Polizei kam, unten im Schrank herumgestöbert haben. Das genaue Datum weiß ich nicht mehr. Ich hätte die Leinwand dabei auf jeden Fall entdecken müssen.«

»Dann befassen wir uns jetzt wohl besser mit Daten.«

Die Antwort übernahm Geoffrey Horton.

»Offenbar erfolgte der Anruf am Morgen des 05. September. Das war ein Dienstag, falls das überhaupt von Belang ist. Ich glaube - und das ist nur eine Vermutung, Antony -, dass man ihn ernster genommen hat, weil Mr. Daniel Kirby ein so berühmter Sammler ist.«

»Und natürlich wegen der Reihe von Kunstdiebstählen, mit denen man sich in letzter Zeit beschäftigt hatte«, fügte Maitland hinzu.

»Ja, richtig. Jedenfalls fuhren sie noch am selben Abend zu unserem Mandanten.«

»Danke, das ist sehr nützlich, selbst wenn wir beide uns nur auf Vermutungen verlassen. Dann haben Sie in der letzten Augustwoche nach diesem Buch gesucht, Mr. Kirby?«

»Das genaue Datum weiß ich nicht mehr, aber es war ganz gewiss in dieser Woche.«

»Vielleicht zu Wochenanfang?«

»Nein, jetzt fällt es mir wieder ein, es war am Freitag, weil ich das Buch fand und es interessanter war, als ich gedacht hatte. Ich las es an diesem Abend im Bett, bis spät in die Nacht hinein. Ich weiß noch, dass ich mir sagte, das mache nichts, weil der nächste Tag ein Samstag war.«

Geoffrey zog einen Taschenkalender heraus und reichte ihn Maitland wortlos.

»Das wäre dann der erste September gewesen«, sagte dieser. »Glauben Sie, das könnte stimmen?«

»Ja, ich bin mir jetzt ganz sicher«, sagte Alan entschieden.

»Sind Sie an diesem Wochenende zu Hause gewesen?«

»Da muss ich erst nachdenken. Insofern, als ich dort geschlafen habe, ja, gewiss. Aber es ist nicht gerade ein Aufenthaltsort... na ja, es gibt keine große Verlockung, im Haus zu bleiben, zumal dann, wenn das Wetter schön ist. Wäre ich im Zimmer geblieben, dann nur, um... Warten Sie! Am Samstag rief mich Ray an. Das Telefon weckte mich sogar.«

»Sie müssen erst erklären, wer Ray ist.«

»Raymond Shields, mein Arbeitgeber. Ihm gehört die Holiday Press

»Und sein Anruf hilft Ihnen, sich zu erinnern...?«

»Ja, dadurch wird mir alles wieder klar. Er nimmt nicht viel Rücksicht auf Wochenenden. Er hatte es mit dem Manuskript, von dem ich sprach, eilig, und wollte wissen, ob ich dafür sei, es zu nehmen. Normalerweise hätte ich ihm ein klares Ja oder Nein sagen können, und das Buch über dasselbe Thema, das ich schon besaß, hätte den Ausschlag geben müssen. Es gab aber ein paar neue Ansatzpunkte. Das Thema war sehr interessant dargestellt. Wir sprachen eine Weile darüber, und er beschloss dann, zu mir zu kommen.«

»Sie sind also zumindest so lange im Haus geblieben, bis er kam?«