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Ingeborg Schober

Jim Morrison

Eine Biografie

FUEGO

Über dieses Buch

Jim Morrison (1943-1971), Jugendidol, Sexsymbol, Dichter, Enfant Terrible und Leadsänger der legendären ›Doors‹, wurde durch seine erotische Ausstrahlung, seine zügellose Selbstdarstellung und seine skandalösen Texte über Sex und Tod schon zu Lebzeiten zur Kultfigur. Sein Grab auf dem Pariser Père Lachaise ist zum Wallfahrtsort geworden.

Kenntnis- und faktenreich schildert die Autorin Kindheit und Jugend, Aufstieg und Ausschweifungen, Abstieg und Ausstieg des Dichters, Sexsymbols und Sängers, ohne sich dabei in waghalsige Interpretationen seiner Schattenseiten zu ergehen.

Sowohl für eingefleischte Fans als auch für den interessierten Leser stellt dieses Buch eine Grundlage dar. Mit Bedacht zeichnet die Autorin sein kurzes und bewegtes Leben nach. Dabei zitiert sie aus unterschiedlichsten Quellen, um so ein möglichst realitätsnahes und lebendiges Bild des Jugendidols zu zeichnen.

 

»Jim hat siebzig Lebensjahre in nur sechsundzwanzig gepreßt.«

John Densmore über Jim Morrison

Kindheit und Jugend

James Douglas Morrison wird, wie so viele seines kreativen Jahr­gangs, zu denen Mick Jagger, George Harrison, Paul Simon und Art Garfunkel gehören, 1943 mitten in die Wirren des Zweiten Weltkriegs hineingeboren. Schon vor Kriegsbeginn waren bereits an die 60000 meist führende jüdische Wissenschaftler, Ingenieure, Techniker und Künstler vor dem deutschen Nazi-Regime ins Aus­land geflüchtet - viele davon ins gelobte Land Amerika.

In Deutschland hat die Propaganda-Maschinerie der National­sozialisten das junge Medium Radio als strategisches Mittel ent­deckt, um die Emotionen der Bevölkerung zu manipulieren, die zusehends unter den Kriegsfolgen zu leiden hat. Doch ausländi­sche ›Propaganda-Sender‹ zu hören ist ebenso verboten wie ›nichtarische‹ Musik - dazu zählen Jazz, Rumba, Swing und Hot. Dafür wird der Tonfilm als Valium für die Massen und als Trans­portmittel für Schlager und Durchhalteparolen entdeckt. Wäh­rend die Menschen bei Verdunkelung während der Bombenan­griffe Todesängste ausstehen, werden sie durch zynische Parolen wie »Haben Sie schon mal im Dunklen geküsst?« oder »Mit Musik geht alles besser« abgelenkt. Die größten Film- und Schlagerstars im damaligen Deutschland sind Zarah Leander, Marika Rökk, Ilse Werner, Johannes Heesters und Hans Albers. 1943 feiert die größte deutsche Filmproduktion UFA ihr 25jähriges Bestehen mit der Ur­aufführung von ›Münchhausen‹. Unter einem Pseudonym von Erich Kästner geschrieben, gedreht von Regisseur Josef von Baky mit Hans Albers in der Titelrolle, wird der Film von den Macht­habern gelobt, obwohl alle drei als Regimegegner bekannt sind. Während auf einem zeitgenössischen Nazi-Plakat die Bevölkerung an »harte Zeiten, harte Herzen und harte Pflichten« gemahnt wird, nehmen die alliierten Luftangriffe zu, die Bevölkerung lei­det Hunger, die Wasserversorgung bricht in den Städten zusam­men. Mit der Landung der Alliierten in Italien endet die Diktatur von Mussolini, der am 10. Juli 1943 entmachtet wird. Die Ameri­kaner, die bereits 1942 bis Neuguinea vorgedrungen sind, landen im November 1943 auf den Gilbert-Inseln.

Einige wichtige Rockmusiker der ›Kriegsgeneration‹:

Eric Clapton (geb. 30.3.1945)

Joe Cocker (geb. 20.5.1944)

Bob Dylan (geb. 24.5.1941)

Keith Emerson (geb. 2.11.1944)

Art Garfunkel (geb. 5.10.1941)

George Harrison (25.2.1943-29.11.2001)

Jimi Hendrix (27.11.1942-18.9.1970)

Mick Jagger (geb. 26.7.1943)

Janis Joplin (19.1.1943-4.10.1970)

John Lennon (9.10.1940-8.12.1980)

Bob Marley (6.2.1945-11.5.1981)

Paul McCartney (geb. 18.6.1942)

Jim Morrison (8.12.1943-3.7.1971)

Paul Simon (geb. 13.11.1941)

Neil Young (geb. 12.11.1945)

Frank Zappa (21.12.1940-4.12.1993)

Kurz darauf, am 8. Dezember 1943, kommt James Douglas Mor­rison, in Melbourne, Florida, in der Nähe des heutigen Cape Ca­naveral, auf die Welt. Sein Vater George ›Steve‹ Morrison ist in Leesburg, Florida, mit seinen beiden Schwestern in einem erzkon­servativen, methodistischen Haushalt groß geworden. Der Vater war Wäschereibesitzer, die Mutter Hausfrau. Der dunkelhaarige Steve trieb an der High-School Leichtathletik, weil er für die Foot­ballmannschaft zu klein war. Er hatte gute Noten und war ein Gentleman. »Wir haben nichts getan, was wir nicht tun sollten«, erklärte sein Mitschüler Fran Warfield. »Wir haben uns gut betra­gen. So war Steve sein Leben lang. Er war ein Anführer, aber er war durch und durch militärisch und tanzte nie aus der Reihe.«

Im Februar 1941 machte Steve seinen Abschluss an der U.S. Naval Academy, vier Monate früher als geplant, denn die jungen Of­fiziere wurden bereits für ihren Kriegseinsatz ausgebildet. Er lernte seine Frau Clara Clarke 1941 in Honolulu kennen, kurz bevor die Japaner Pearl Harbor bombardierten. Sie ist die lebensfrohe Toch­ter eines Anwalts, der in der McCarthy-Ära_1 in Ungnade gefallen war, nachdem er sich bei den Kommunisten um ein politisches Amt beworben hatte. Clara war noch ein Teenager, als ihre Mutter starb, ihr Vater zog mit den fünf Kindern nach Alaska, um als Zimmermann zu arbeiten. Mit 21 besuchte die blonde Clara eine Schwester auf Hawaii und begegnete Steve auf einem Militärball. Freunden nach amüsierte sich Clara gerne und besuchte mit Vor­liebe Parties. Kurz bevor Steve mit einem Minenkreuzer in den Nordpazifik ausrückte, heirateten sie im April 1942. Im Jahr dar­auf absolvierte Steve einen Fliegerlehrgang in Pensacola, Florida.

Sechs Monate nach Jims Geburt läuft er mit einem Flugzeugträ­ger abermals in den Pazifik aus. Bis zum Kriegsende lebt der kleine Jimmy, wie ihn seine Eltern anfangs nennen, mit seiner Mutter bei den Eltern seines Vaters in Clearwater, Florida, direkt am Golf von Mexiko. Ganz bestimmt ist das keine einfache Zeit für die junge, lebenslustige und liberale Clara. Die Schwiegereltern Paul und Caroline Morrison aus Georgia sind strenggläubige Kirch­gänger, die nach viktorianischen Prinzipien leben und den Alkoholgenuss strikt ablehnen. Unangenehme Dinge werden ver­drängt, Kinder haben nichts zu melden.

Am 6. Juni 1944 landen die Alliierten in der Normandie, Dresden und Berlin liegen bereits in Schutt und Asche. Am 20.April 1945 marschieren die Russen in Berlin ein. Zehn Tage später begeht Hit­ler Selbstmord, woraufhin die deutschen Truppen am 8. Mai 1945 kapitulieren. Für Deutschland endet tags darauf die Nazi-Diktatur. Doch für die Welt ist der Horror längst nicht vorbei, denn die Amerikaner begehen eine weitere Todsünde des Zweiten Welt­kriegs, als sie am 6. August 1945 die erste Atombombe auf Hiroshima abwerfen. Zwei Tage später tritt die UdSSR in den Krieg ge­gen Japan ein, und am 9. August 1945 fällt die zweite amerikanische Atombombe auf Nagasaki. Mit der Kapitulation Japans am 2. Sep­tember 1945 endet der schrecklichste Krieg des 20. Jahrhunderts.

Jims Leben wird von Geburt an auch zu Hause von Krieg und Militär beherrscht. Damit lässt sich seine tiefe Abscheu sowohl dem Krieg als auch dem Vater gegenüber, der als hoher Offizier den Krieg symbolisiert, erklären, die sich später in seinen Songs so vehement entladen sollte. Sein Vater kehrt ein Jahr nach Kriegs­ende im Sommer 1946 aus dem Pazifik zurück. Bedingt durch die .militärische Laufbahn des Vaters zieht die Familie ständig um. Zuerst wird er nach Washington D.C., sechs Monate später bereits nach Albuquerque versetzt, wo er am Militärprogramm für Atom­waffen arbeitet 1947 wird Jims Schwester Anne geboren. Mit vier Jahren hat Jim ein spirituelles Erlebnis, das ihn seine ganze Kar­riere begleiten sollte und das er immer wieder als »den wichtig­sten Augenblick meines Lebens« bezeichnet. Bei einer Autofahrt mit seinen Eltern nach Santa F6 kommen sie an einem umgestürzten Lastwagen vorbei, neben dem schwerverletzte, sterbende Pueblo-Indianer liegen. Der Vater ruft Hilfe herbei und fährt dann weiter, muss aber seinen Sohn beruhigen, der völlig hysterisch ist. »Es ist in Ordnung, Jimmy, wirklich.« »Sie sterben! Sie sterben!« »Es war ein Traum, Jimmy, nichts Wirkliches, ein Traum.« Später erzählt Jim Freunden, dort sei die Seele eines toten Indianers in ihn gefahren. Diese tiefgreifende Erfahrung drückt er später in Texten und Gedichten aus. Bei seinen Konzerten tanzt er gar auf einem Fuß balancierend eine Art rituellen Indianertanz, worauf­hin die Presse ihn als ›Schamanen der Hippies‹ bezeichnet. 1989 verwendet der Regisseur Oliver Stone diese Szene als Eröffnungssequenz für seinen ›Doors‹-Film.

Im Februar 1948 sticht Jims Vater für einen weiteren Militärauf­trag in See, und die Familie zieht zum fünften Mal um. In Los Altos, Nordkalifornien, wird Jims Bruder Andy geboren, und Jim wird eingeschult. Doch bereits 1951 kehren die Morrisons wie­der nach Washington zurück.

Als im Jahr darauf Jims Vater die Luftangriffe in Korea koor­diniert, siedelt die Familie nach Claremont bei Los Angeles über. Man kann sich vorstellen, welche negativen Folgen diese permanenten Umzüge auf ein sensibles und offenbar ohnehin labiles Kind wie Jim hatten. Es muss eine seltsame, zerrissene Ehe und auch eine schwierige Familie gewesen sein, obwohl Jims Mutter Clara mit diesem Zigeunerleben offenbar perfekt zurechtkommt, als Mustergat­tin gilt und alle gesellschaftli­chen Verpflichtungen mit Bra­vour meistert. Sie geht nach wie vor gern auf Parties, und da ihr Mann nur das Militär kennt, gewinnt sie während seiner langen Absenzen zu Hause die Oberhand. Jims Freunde haben sie später als dominante Person und Übermutter beschrieben, die al­les unter Kontrolle haben wollte und sofort laut wurde, wenn man ihr nicht gehorchte. Jims Eltern haben ihre Kinder nie ge­schlagen, sondern mit psychischem Druck zur Raison gebracht, was bei Jim zu einer inneren Emigration führte, zumal der Vater für ihn ohnehin ein Fremder blieb. Entweder seien sie durch Schweigen bestraft worden, er­klärte sein Bruder Andy später, oder sie wurden wie auf »dem Exerzierplatz heruntergeputzt. Sie haben uns lang und breit unsere Fehler vorgehalten, bis wir in Tränen ausgebrochen sind. Irgendwann hat Jim es ge­schafft, seine Tränen zu unter­drücken, mir ist das nicht ge­lungen.«

Kinder soll man sehen, aber nicht hören ... sieht man über Unangenehmes hinweg, vergeht es ... Reinlichkeit kommt Gött­lichkeit nahe.

Jims Großeltern väterlicherseits über ihre Prinzipien

Dafür rächt sich Jim an sei­nen jüngeren Geschwistern und allen Schwächeren durch aggressives und sadistisches Verhalten. Andy hat nachts oft Atembeschwerden, da er an Asthma leidet. Weil Jim die Atemgeräusche seines Bruders stören, klebt er ihm den Mund mit Tesafilm zu. Mit zehn Jahren ist Jim wegen seines guten Beneh­mens noch der Liebling aller Lehrer und sogar Klassensprecher. Gleichzeitig aber schockiert er seine Umgebung mit unflätigen Ausdrücken und fliegt deshalb auch bei den Pfadfindern raus. 1955 kehren die Morrisons für zwei Jahre nach Albuquerque, New Mexico, zurück, wo Clara eine Halbtagsstelle als Sekretärin an­nimmt. Bis dahin haben die drei Kinder eine ›Notgemeinschaft‹ gebildet, um die ständigen Umzüge zu verkraften. Doch selbst Jims Eltern fällt auf, dass Jim sich zusehends vom Familienleben zurückzieht, das Interesse am Musikunterricht verliert, dafür wie besessen liest und bewusst die Gefahr sucht. So setzt er bei einer wahnwitzigen Schlittenfahrt das Leben seiner Geschwister und sein eigenes aufs Spiel. Mit Andy und Anne vor sich im Schlitten rast er einen steilen Abhang hinab und direkt auf eine Hütte zu. Die Geschwister sind starr vor Angst und können nicht abspringen. Der Schlitten rast unter einer Schranke durch und wird zwei Meter vor der Hütte vom Vater gestoppt. Während Anne und Andy weinen, steht Jim lächelnd daneben und meint: »Wir haben viel­leicht Spaß gehabt!«

Er hob einen Stein auf und sagte: »Ich zähle bis zehn.« Ich sagte: »Nein, warte ...« Er begann: »Eins ...«, und ich fing an zu rennen. Dann zählte er ganz schnell »vierfünfsechssiebenachtneunzehn!« und schlug mich zusammen. Wenn wir zusammen mit einem anderen Jungen ... gingen, packte er über mich hinweg den anderen an der Schulter und sagte: »He ... mein Bruder will dich verhauen. Was sagst du dazu?« Er drehte einem das Wort im Mund herum, so dass man dumm da stand ... Wenn man bei Jim in die De­fensive geriet, war man erledigt.

Andy Morrison über seinen Bruder

Natürlich sind die Nachkriegsjahre in den USA für einen Her­anwachsenden längst nicht so hart wie in Europa, aber auch dort ist das Klima - vor allem das kulturelle - restriktiv. Die ameri­kanische Unterhaltungsmusik wird bis 1955 von den Textern und Komponisten der Tin Pan Alley, einem Bezirk der Musikverleger in der 28th Street von New York zwischen der Fifth und Sixth Ave­nue, und ihren ewigen Wiederholungen regiert. Die Charts sind zu jener Zeit ausschließlich weißen Sängern Vorbehalten. 1954 nimmt der weiße Country-Sänger Bill Haley ›Shake, Rattle & Roll‹, einen Rhythm 'n' Blues-Hit des schwarzen Sängers Joe Turner auf. Daraufhin entsteht der Begriff Rockabilly, womit eine Kreuzung aus der weißen Country 'n' Western und schwarzer Musik, ge­mischt mit Elementen aus dem Tanz Jump und Shuffle-Rhythmen, bezeichnet wird. Noch im selben Jahr landet Bill Haley mit dem heutigen Klassiker ›Rock Around The Clock‹ einen großen Hit, der acht Wochen auf Platz 1 der US-Charts steht. Damit ist der Rock 'n' Roll geboren und mit ihm die erste rebellische Ju­gendbewegung.

Im Jahr 1955 führt der Kinofilm ›Saat der Gewalt‹ (›The Blackboard Jungle‹) über eine aufsässige Schulklasse zu Vandalismus in den Kinos. Es folgt eine Serie von ähnlichen Filmen, und damit ist die Bewegung der jugendlichen Rowdies, Teddy Boys, Teds - später Rocker und in Deutschland Halbstarke genannt - geboren. Bill Haley ist der Auslöser, doch erst mit Elvis Presley kommt das Idol, das 1956 mit ›Heartbreak Hotel‹ die Hitparaden erobert. Rückblickend fällt auf, dass Jim Morrison auf seine Weise erstaunlich viel mit ihm gemeinsam hatte. Und tatsächlich wird Elvis bald darauf zu seinem ersten musikalischen Idol.

Angeblich erfindet der Radio-DJ Alan Freed den Begriff ›Rock 'n' Roll‹, un­ter dem in Amerika heute noch ein Großteil der Musik rangiert, die man in Europa als ›Rock‹ bezeichnet. Weil der Begriff ›Rock‹ in den Texten der Schwarzen für »Sex« steht, wurden in ganz Amerika Warnungen vor soge­nannten ›Negro Records‹ verbreitet.

Als im Sommer 1957 die Familie Morrison auf die Insel Alameda, einem Militärstützpunkt in der Bucht von San Francisco, zieht, steht Elvis Presley mit ›All Shook Up‹ erstmals auf Platz 1 der Hitparade. Der Star absolviert seinen Militärdienst und dreht sei­nen ersten Film ›King Creole‹. Ansonsten werden die amerikani­schen Charts nach wie vor von Nat ›King‹ Cole, Frank Sinatra, Bing Crosby und Harry Belafonte dominiert. Schwarze Stars wie Fats Domino, Little Richard oder Chuck Berry haben keinen Zu­gang. Doch der Rock 'n' Roll hat bereits den ersten Anstoß für Rassenintegration und Bürgerrechte gegeben.

Jim besucht in Alameda für etwa eineinhalb Jahre die High-School. Sein Klassenkamerad Fud Ford und er werden unzer­trennliche Freunde. Fud bringt ihm bei, dass es dort nicht cool ist, mit dem Fahrrad und sauberen Jeans in der Schule aufzutauchen. Jim hält sich daran, denn offenbar sucht er nach Anerkennung und möchte dazugehören. Er stellt die verrücktesten Dinge an, um Aufmerksamkeit zu erregen, spielt den Klassenclown, hat die phantastischsten Ausreden parat, wenn er zu spät zur Schule kommt, und beginnt, sich gegen Autoritäten aufzulehnen. Die bei­den probieren zum ersten Mal Alkohol, beobachten heimlich nackte Frauen und erschrecken sie, lesen, wie viele andere in ihrem Alter, mit Begeisterung das Comic-Magazin ›Mad‹. Jim und Fud verbringen ganze Nachmittage damit, sexuell anzügliche Ra­diowerbespots über Masturbation und Defäkation zu schreiben, erotische Comics zu zeichnen oder perverse Collagen aus Zeitschriftenbildern zu basteln.

Üblicherweise tritt die Masturbation zwischen dem zwölften und acht­zehnten Jahr auf, obschon auch Fälle bekannt geworden sind, in denen bis zum dreiundneunzigsten Jahr damit fortgefahren wurde ...

Jim und Fud in einem selbstgeschriebenen ›Radio-Essay‹

Jim ist schon zu jener Zeit sehr un­ausgeglichen, unberechenbar und in manchen Situationen bis zum Übergeschnapptsein neu­rotisch.

Mit 14 liest er bereits den le­gendären Beatnik-Roman ›Un­terwegs‹ (›On The Road‹) von Jack Kerouac_2, der im Septem­ber 1957 erscheint und jahre­lang sein Kultbuch bleibt. Das Zentrum der Beatnik_3-Bewegung in North Beach, einem Stadt­viertel von San Francisco, liegt nur 45 Busminuten entfernt. Der Buchladen des Autors Lawrence Ferlinghetti mit der Auslage ›verbotener Bücher‹ wird zum Wallfahrtsort für Jim. Begierig verschlingt er sie alle - Kenneth Rexroth, Allen Ginsberg, Kenneth Patchen, Michael McClure, Gregory Corso - und hört dazu die Schallplatten von Oscar Brand und Tom Lehrer. Mit 15 malt der Frühreife Akte im Stil von Willem de Kooning und impressionistische Bilder. Bereits zu die­ser Zeit beginnt er, das erste seiner Notizbücher anzulegen, die er immer bei sich trägt und in die er seine Ideen und Gedichte krit­zelt, Fotos und Zeitungsausschnitte einklebt. Vieles davon sollte Jahre später in den Songs der Doors und den Gedichten von Jim Morrison wieder auftauchen.

Im Dezember 1958 ziehen die Morrisons nach Alexandria, Virgi­nia, um, und Jim besucht die George Washington High School. Die Familie mietet ein luxuriöses Haus in den noblen Beverly Hills, wo Diplomaten, hohe Militäroffiziere, Senatoren und erfolgreiche Akademiker residieren. Einer von Clara Morrisons Brüdern ist An­tiquitätenhändler und stattet das Haus entsprechend aus. Dort lernt Jim seine erste feste Freundin Tandy Martin kennen, die seine seltsamen Allüren faszinierend, andererseits aber abstoßend fin­det. Er macht sich über Behinderte lustig, schockiert sie mit thea­tralischen Szenen und Lügen, bringt sie zum Heulen, aber auch zum Lachen und stellt sie permanent auf die Probe: »Ich habe ihn gefragt, warum er ständig diese Spielchen spielt«, erzählt sie heute. »Er meinte, »sonst hättest du bald kein Interesse mehr an mir‹.« Aber sie ist nicht das einzige Testobjekt von Jim. Lehrer, Schüler, Passanten - sie alle werden seine Opfer, wenn er einen seiner An­fälle bekommt und sich aufspielt. Mal erzählt er, er hätte einen Gehirntumor, dann wieder balanciert er auf schmalem Grad über gefährliche Abgründe und Wasser oder turnt auf Balkons herum - eine Angewohnheit, die er das ganze Leben beibehält. Er belästigt Fahrgäste im Bus mit peinlichen Geschichten, bis man ihn an die Luft setzt. Und er macht grundsätzlich das Gegenteil von dem, was man von ihm erwartet. Während sich seine Freunde oftmals für ihn schämen, scheint er selbst keine Schamgrenze zu kennen.

Vielleicht durch den Namen seines Wohnorts angeregt, wird Plutarchs Biografie über Alexander den Großen Jims Lieblings­lektüre. Auch sie scheint ihn nachhaltig zu beeinflussen, wenn man an das Image denkt, das er anfangs bei den Doors bewusst pflegt. Die Kopfhaltung und die lockige Haarpracht auf den er­sten Fotos aus den Doors-Zeiten erinnern stark an einen grie­chisch-römischen Adonis. Jims Lehrer erzählen, dass er bereits da­mals Werke der Weltliteratur von Balzac, Rimbaud_4, Molière, Joyce, Camus, Cocteau und Baudelaire las. Mit den Symbolisten ist er ebenso vertraut wie mit den Existenzialisten. Für seine Schulaufsätze wählt er die ausgefallensten Themen - die Dämo­nologie des 16. und 17. Jahrhunderts in England oder eine Studie von Burton über die Sexualität der Araber, was einen Lehrer dazu veranlasste, in der Kongressbibliothek in Washington nachzufor­schen, ob diese Publikationen überhaupt existieren: »Keiner mei­ner Schüler hat so viel gelesen wie Jim. Aber alles, was er las, war so ausgefallen, dass ich vermutet habe, er hätte diese Buchtitel ein­fach erfunden, was aber nicht der Fall war.« Damals beginnt Jim seine ersten Gedichte zu schreiben, die wie das überlieferte ›Horse Latitudes‹ meist vom Wasser und dem Tod handeln. Obwohl Jim ein guter Schwimmer ist, hat er angeblich entsetzliche Angst vor dem Wasser.

Tandy berichtet, dass er schon damals sein Äußeres vernachläs­sigte, wochenlang mit demselben Hemd herumlief und sich die Haare nicht schneiden lassen wollte. Wenn ihm seine Mutter Geld für Klamotten gibt, kauft er sie bei der Heilsarmee, um den Rest für Bücher auszugeben. Immer wieder gelingt es ihm, den Fami­lienfrieden zu stören und selbst seine Eltern zu Hause in Verlegen­heit zu bringen, indem er ihnen etwa vorwirft, wie die Schweine zu schmatzen. Wie so viele überdurchschnittlich intelligente Schü­ler - Jim hatte einen IQ von 149 - bringt er nur durchschnittliche Noten nach Hause, weil er nicht lernen will. »Du willst ja nur mit meinen Noten in deinem Bridge-Club angeben«, wirft er seiner Mutter vor. Ohne Erklärung fährt er immer öfter nach Washing­ton, wenn ihn Freunde oder Nachbarn im Auto mitnehmen, und verschwindet dort wortlos. Tandy vermutet, dass er damals durch die Bars zog, um sich Bluesmusiker anzuhören. Daheim zieht er sich in sein Parterrezimmer zurück, hört sich Blues- und Gospel­platten aus der Nationalbibliothek an und liest. Wenn er ausgeht, treibt er sich an den Piers von Alexandria bei den Schwarzen her­um. Von all diesen Aktivitäten scheinen seine Eltern keine Ah­nung zu haben. Sein Vater hält sich meist im Pentagon auf, seine Mutter ist mit ihren Gesellschaftsverpflichtungen vollauf beschäf­tigt. Jims High-School-Abschluss rückt näher, doch er kann sich für kein College entscheiden. Deshalb schreibt ihn sein Vater am St. Petersburg Junior College in Florida ein und ordnet an, dass Jim bei den Großeltern im nahegelegenen Clearwater wohnen soll. Als er sich weigert, der Abschlussfeier seiner Klasse beizuwohnen, sind seine Eltern überaus erbost.

Wir waren so verdammt korrekt, dass wir in gewisser Weise froh waren, wenn einer sich tatsächlich die Unverschämtheiten erlaubte, die wir uns gerne erlaubt hätten. Deshalb richteten wir uns nach ihm. Er war für uns der Mittelpunkt.

Ein Mitschüler über Jim

Tandy hat sich inzwischen auf den Rat ihrer Mutter hin von Jim zurückgezogen. Ihrer Meinung nach hat Jim in den zweieinhalb Jahren ihrer Freundschaft eine außerordentliche Persönlichkeits­veränderung durchgemacht. Erst am Abend vor seiner Abreise erzählt ihr Jim, dass er nach Florida gehen wird, was zu einem hef­tigen Streit zwischen den beiden führt, bei dem Jim sie sogar mit einem Messer bedroht. Tags darauf entschuldigt er sich am Tele­fon, taucht nachts vor ihrem Haus auf und verlangt unter lauts­tarkem Gegröle die Notizbücher mit seinen Gedichten zurück, die er ihr zum Lesen gegeben hat.

Student am College

Als Jim Morrison Ende 1960 zu seinen Großeltern Caroline und Paul Morrison nach Clearwater, Florida, kommt, um am St. Petersburg Junior College zu studieren, ist John F. Kennedy bereits als neuer Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt. Und auch musikalisch gibt es eine kleine Revolution. Am 31. Dezember steigt das schwarze Plattenlabel Tamla Motown_5 mit dem Song ›Stop Around‹ von den Miracles in die Top 40 der USA ein, der zum er­sten Millionenseller der Plattenfirma wird. Damit wird die unum­strittene Vorherrschaft weißer Künstler erstmals durchbrochen.

Es sieht ganz so aus, als ob in Clearwater die Wurzeln von Jims unmäßigem Alkoholkonsum und seiner späteren Drogenkarriere zu finden sind. Jim kommt mit den strenggläubigen Großeltern nicht zurecht, die überzeugte Antialkoholiker sind und ihren rebellischen Enkel mit Disziplin und Ordnung nerven. Die­ser reagiert mit Protest - und dazu gehört auch das provo­kante Verhalten, wenn es um den Streitpunkt Alkohol und Sauberkeit geht. Demonstrativ lässt er leere Weinflaschen in seinem Zimmer herumliegen, läuft verwahrlost herum, ra­siert sich nicht, wechselt nicht die Wäsche und denkt gar nicht daran, sich die Haare schneiden zu lassen oder gar mit den Großeltern die Kirche zu besuchen. Manchmal liest er den Großeltern aus seinen Notiz­büchern vor, aber nur, um sie mit seinen Gedichten zu schockie­ren. Seine Großmutter meint später, er hätte sie aus seinem Leben komplett ausgeschlossen: »Er wollte uns mit Absicht schockieren. Wir haben ihn einfach nicht verstanden, keiner von uns. Jimmy hatte so viele Seiten. Man sah die eine und spürte die andere; was in ihm vorging, wußte man nie.«

Auf dem College fällt der durchschnittliche Student nicht sonder­lich auf. Nach einem Persönlichkeitstest, dem alle neuen Studenten unterzogen werden, wird er einerseits als Frohnatur, impulsiv, abenteuerlustig, undiszipliniert, unkontrolliert beschrieben, ande­rerseits als scheu, nachdenklich, hyperkritisch gegenüber allen ge­sellschaftlichen Institutionen, mit einem Hang zum Selbstmitleid und Machoverhalten. Kommilitonen, denen er großzügig bei ihren Aufsatzthemen hilft, sind von seinen intellektuellen Fähig­keiten beeindruckt - so auch sein Bruder Andy, dem er in den Osterferien beim Schreiben eines Vortrags über ›Moralische Inte­grität - eine Voraussetzung unseres Überlebens‹ zur Seite steht, für die er ein ›Sehr gut‹ bekommt. Auf seine Belesenheit und seine umfangreiche Bibliothek ist Jim so stolz, dass er sich von seinen Mitstudenten gerne testen lässt Sie dürfen ein beliebiges Buch aus dem Regal ziehen und etwas daraus vorlesen. Und er nennt auf Anhieb den Buchtitel und Autor. Er schließt sich einer Gruppe äl­terer Studenten an, mit denen er manchmal auf Sauftour geht.

Ich wußte nicht einmal, was damit gemeint war. Schließlich nahm es mir Jim ab, schrieb das Ganze für mich neu und packte eine Menge eigener Ideen hinein. Der Vortrag war prima. Sein Schlusssatz lautete: »Wir trei­ben blind auf irgendwelchen Bahnen, ohne Hilfe, allein.«

Andy über einen Vortrag, den sein Bruder Jim für ihn verfasste

»Anscheinend hat er nur dann gesoffen, wenn er sich volllaufen lassen wollte. Ansonsten hat ihn Alkohol nicht interessiert«, meint einer seiner damaligen Kommilitonen. Doch auf diese Weise schlit­tert Jim ganz allmählich in seine lebenslange Alkoholabhängigkeit hinein. An seinem 18. Geburtstag muss er sich bei der Musterungs­behörde melden. 1961 gibt es noch keine Bewegung wie die der Kriegsdienstverweigerer. Jim, der das Militär abgrundtief hasst, wird als tauglich eingestuft und betrinkt sich danach sinnlos. An­geblich muss ihn ein ebenfalls in Clearwater lebender Onkel aus einer so hochnotpeinlichen Lage befreien, dass sich selbst 20 Jahre später die Familienmitglieder weigern, darüber zu sprechen. Jims Stammlokal wird das ›Renaissance Gallery and Coffeehouse‹ in einem heruntergekommenen Bohème-Hotel, das auf der ›schwar­zen Liste‹ von Jims College steht. Dort finden Dichterlesungen und Wettbewerbe für Folksänger statt. Der homosexuelle Besitzer erklärt Jim, dass er wie Elvis, der gerade mit seinem Album ›Blue Hawaii‹ in den Charts steht, das ›gewisse Etwas‹ besitzen würde. Und er solle niemals Unterwäsche tragen, sondern seinen Körper zur Schau stellen. Obwohl sich die eigentliche musikalische Revo­lution in England anbahnt, ist auch die Musikszene in Amerika in Bewegung. Am 28. August erobern The Marvelettes_6 mit ›Please Mr. Postman‹ als erste schwarze Gruppe Platz 1 der amerikani­schen Hitparade.

Nach einem Besuch bei sei­ner Familie, die mittlerweile in San Diego wohnt, lernt Jim auf einer Party in Clearwater die stille Mary Frances Werbelow kennen. Die 16jährige hat einen Schönheitswettbewerb gewon­nen, möchte Tänzerin beim Film werden und liebt wie er Lyrik. Sie verspricht, ihn in Tallahassee zu besuchen, wo Jim Ende September 1961 sein Studium (Hauptfach Theater) an der Florida State University beginnt. Man kann sich vorstel­len, wie erleichtert seine Großeltern über diese Entscheidung waren. Dort teilt er sich anfangs mit fünf Studenten ein Dreizimmer-Haus in der Nähe des Cam­pus. Er wiegt 60 Kilo, ist 1,73 m groß und macht täglich Streckübungen im Glauben, dadurch zu wachsen. Auch hier beginnt er, seine Mitbewohner zu schikanieren, und führt wie ein Anthroposoph penibel Buch über ihre Reaktionen. Als ihm seine Großeltern eine Heizdecke schicken, weigert er sich, seinen Anteil an den Heizkosten zu bezahlen. Er fährt den geliehenen Thunderbird ei­nes Zimmergenossen an den Laternenpfahl, trägt ungefragt die Klamotten der anderen und belästigt Mädchen. Inzwischen ist Jim ein überzeugter Elvis-Presley-Fan und dreht jedes mal das Ra­dio bis zum Anschlag, wenn dessen Songs gespielt werden. Am Ende des Trimesters im Dezember setzen ihn die anderen schließ­lich vor die Tür. Daraufhin zieht er in einen Wohnwagen, der hin­ter einem Mädchenwohnheim steht. Die Miete beträgt 50 Dollar, etwa die Hälfte dessen, was ihm seine Großeltern monatlich schicken. Wenn Jim Geld braucht, wendet er sich an seine Eltern. »Um einen Scheck zu bekommen, musste er einmal im Monat ei­nen Brief schreiben«, erinnert sich sein Bruder Andy, in diesen Briefen teilt er nichts Privates mit, sondern schildert die wahnwit­zigsten Räuberpistolen, die er sich ausdenkt, um als Superman und Held dazustehen und bei denen seine blühende Phantasie mit ihm durchgeht. »Es musste eine Geschichte sein. Etwa, wie er im Kino war, Feuer ausbrach, jedermann in Panik geriet, zu den Türen drängte und nur er die Ruhe bewahrte. Er ging auf die Bühne, setzte sich ans Klavier, sang ein Lied und beruhigte so die Leute, die daraufhin sicher aus dem Kino gelangten, in einem an­deren Brief schilderte er in allen Einzelheiten, wie er einen Bur­schen in einem Moor absaufen sah.«

Im zweiten Trimester besucht Jim zwei Kurse, die ihn nachhal­tig beeinflussen. Im ersten geht es um die sogenannten kritischen und skeptischen Denker, die gegen die traditionelle Philosophie protestierten, um Montaigne, Rousseau, Sartre, Heidegger. Viel­leicht wird Friedrich Nietzsche_7