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Inhaltsverzeichnis

Vorwort
Wenn ein Finger zum Himmel zeigt
Vision
Ein paar Himmel und Höllen hat jeder
Die Offenbarung und Ajax Amsterdam
Das Jenseits ist der Boden, auf dem das Diesseits wächst
Vernunft und Glaube
Leidenschaften sind Fahrstühle zwischen Himmel und Hölle
Das Glück des Physikers
Das schreit zum Himmel
Brudermord. Oder Barmherzigkeit
Das Blaue vom Himmel
Bilderstürme
Der Himmel geht über allen auf
Unser Produkt ist Service
Ein Stück vom Himmel
Das Wertvollste auf der welt
Himmel und Hölle sind für jeden woanders
Hinter’m Bahndamm
Alles unter dem Himmel gehört allen
Grosszügig sparen
Der geteilte Himmel
Teilen ist das neue Haben
Der Himmel versinkt im Meer
Das Rote Meer vor Lampedusa
Kommt ins Schlaraffenland
Ziemlich naiv
Spätestens im Himmel erwartet uns eine multikulturelle Gesellschaft
Krieg der Kürbiswelten
Im Paradies stehen keine roten Ampeln
Die Auto-Frage
Dass im Himmel der Teufel los ist
Egal welche Scheiße, ich mache alles
Himmel und Hölle, beide fangen mit H an
Leiharbeit
Das stinkt zum Himmel
Mindestlohn
Keiner kommt allein in den Himmel
Miteinander ernten
Den lieben Gott lass ich nur walten
Dieters Tombola
Der Himmel hilft niemals denen, die nicht handeln wollen
Leistung muss sich lohnen
Gott im Himmel hat an allen seine Lust, sein Wohlgefallen
Weißt du, wie viel Sternlein stehen?
So schön wie hier kann's im Himmel gar nicht sein
Emmaus liegt in Berlin
Das Schweigen des Himmels
Karsamstag
Machst du mir die Hölle heiß, wird dein Himmel kalt
Gewalt und Glaube
Soll Feuer vom Himmel fallen?
Krieg und Frieden
Knocking on Heaven’s Door
Das Nelson-Prinzip
Was wirkt, ohne zu handeln, heißt der Himmel
Steh auf, Mädchen!
Himmel un Ääd
Jeder Jeck ist anders
Opa Hoppenstedt kommt in den Himmel. Die Ente bleibt draußen
Weihnachten wird unter'm Baum entschieden
O bitt für uns in dieser Zeit und führe uns zur Seligkeit!
Reibekuchenkirmes
Vom Himmel hoch
Demokratische, hierarchische, charismatische Kirche
Brot vom Himmel
Fronleichnam in der Küche
Imagine there is no heaven
Wie Simon die Mörder entwaffnete
Oh Heiland, reiß die Himmel auf!
Illusion der Unsterblichkeit
Die Autoren
Copyright

DIE AUTOREN

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Franz Meurer, geboren 1951, Studium der katholischen Theologie und Sozialwissenschaften. Seit 1992 arbeitet der streitbare »rheinische Christ«, wie er sich selbst nennt, als Pfarrer in den katholischen Gemeinden – und sozialen Brennpunkten – Höhenberg und Vingst in Köln.

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Peter Otten, geboren 1969, Studium der katholischen Theologie, ist geistlicher Leiter der KjG im Erzbistum Köln, Autor für die WDR 5-Redaktionen »Religion, Kirche und Theologie« und »Gesellschaft aktuell« sowie bei anderen ARD-Hörfunk-Anstalten. Ständiger Mitarbeiter der Redaktion von »Publik-Forum«.

MONSIEUR, WENN EIN FINGER ZUM HIMMEL ZEIGT, SCHAUT NUR DER DUMMKOPF DEN FINGER AN

Amélie in: Die fabelhafte Welt der Amélie, Film, Frankreich 2001

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Die Initiative »Global Marshall Plan« hat eine konkrete Vision für unsere Welt; auch Christen arbeiten an der Verwirklichung mit. Internet: www.globalmarshallplan.org

Aus der Heiligen Schrift:

Der Segen von Aufrichtigen erhöht eine Stadt;
durch die Rede von Ungerechten wird sie dem Erdboden gleichgemacht.

Wer seine Nächsten schlecht macht, hat keinen Verstand;
ein Mensch voller Einsicht schweigt.

Wer mit Klatsch hausieren geht, deckt Vertrauliches auf;
wer vertrauenswürdig ist, behält ein Gespräch für sich.

Fehlen die Visionen, fällt das Volk; Rettung naht, wenn viele Rat geben.

Aus dem Buch der Sprichwörter 11,11-14

VISION

»Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen«, dieses Bonmot des Altbundeskanzlers Helmut Schmidt ist inzwischen zur Volksweisheit geworden. Schmidt meinte wohl, dass sich die Politik an Realien orientieren soll, nicht an Träumen. Anders das biblische Buch der Sprichwörter: »Ohne Visionen verkommt das Volk.« Also ohne Hoffnung auf eine bessere Zukunft. In der Nachkriegszeit war in vielen Familien der Satz zu hören: »Wir machen uns krumm, damit unsere Kinder es einmal besser haben.« Zur Vision gerann dieser Wunsch in der Politik dann mit Ludwig Erhard, dem Wirtschaftsminister mit der dicken Zigarre: »Wohlstand für alle!«

Die gemeinsame Anstrengung formuliert auch das Buch der Sprichwörter: »Rettung ist dort, wo viele Ratgeber sind.« Es geht also nicht um die Vision eines Einzelnen, sondern um die Formulierung gemeinsamer Ziele, um einen demokratischen Prozess unter Beteiligung vieler.

Dabei gilt: Die Hoffnung stirbt zuletzt! Vaclav Havel drückt es so aus: »Hoffnung ist nicht die Sicherheit, dass es gut ausgeht, aber die Gewissheit, dass es Sinn macht.«

Die Vision der Christen ist das Reich Gottes. Dies ist nicht ein Gottesreich in dieser Welt, in dem wie im Mittelalter die Fürstbischöfe herrschen. Es ist die Hoffnung auf Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung.

»Think global, act local!« Wenn viele kleine Menschen an vielen kleinen Orten viele kleine Dinge tun, dann kann geschehen, was das Buch der Sprichwörter meint: »Eine Stadt kommt hoch durch den Segen der Redlichen.«

Dann sollte es weiterhin Ärzte geben, aber nicht, um Visionen zu behandeln.

Franz Meurer

EIN PAAR HIMMEL UND HÖLLEN HAT JEDER

Manfred Hinrich

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Quelle: Twitter.com, 11.10.2013

Aus der Heiligen Schrift:

Danach sah ich: Da! Eine große Menge, unzählbar, aus allen Völkern, Stämmen, Völkerschaften und Sprachgemeinschaften, stand vor dem Thron und vor dem Lamm, in weiße Kleidung gekleidet und mit Palmzweigen in den Händen. Sie riefen mit lauter Stimme: »Die Rettung ist bei unserem Gott, der auf dem Thron sitzt, und dem Lamm!«

Rings um den Thron standen alle Boten, die Ältesten und die vier Lebewesen, fielen vor dem Thron auf ihre Gesichter und huldigten Gott: »Amen, Segen und Ruhm, Weisheit und Dank, Ehre, Macht und Kraft unserem Gott in alle Ewigkeiten!«

Aus der Reihe der Ältesten begann jemand zu reden und sagte zu mir: »Die Weißgekleideten – wer sind sie und woher sind sie gekommen?« Ich sagte ihm: »Mein Herr, du weißt es.« »Er sagte zu mir: »Das sind die, die aus der großen Bedrängnis gekommen sind. Sie haben ihre Gewänder gewaschen und im Blut des Lammes weiß gemacht. Deshalb sind sie vor dem Thron Gottes. Sie feiern für Gott Tag und Nacht im Tempel Gottesdienst, und die Person, die auf dem Thron sitzt, wohnt über ihnen. Sie werden weder Hunger noch Durst haben, weder Sonnenglut noch Hitze wird auf sie fallen, denn das Lamm mitten auf dem Thron wird sie weiden und den Weg zu den Lebenswasserquellen führen, und Gott wird jede Träne von ihren Augen abwischen.«

Aus der Offenbarung des Johannes 7,9-17

DIE OFFENBARUNG UND AJAX AMSTERDAM

Mal ehrlich: Es gibt Sachen, die bleiben mir vollkommen unzugänglich. Zum Beispiel Kaffee mit Unmengen Zucker zu trinken. Da schüttelt es mich schon beim bloßen Gedanken daran. Die einzige Ausnahme, die mein Koffeinuniversum diesbezüglich zulässt, ist ein ordentlich gesüßter Espresso. Doch ansonsten frage ich Sie: Sie würden doch auch keine warme Cola trinken? Eben. Was gehört noch dazu? Cluburlaub zum Beispiel. Für mich völlig unverständlich, genauso wie Kreuzfahrten. Eine große Blechbüchse, in der die Einkaufshölle der Hohen Straße in Köln nachgebaut wurde, vermischt mit dem Bling-Bling der Bars und Clubs auf den Kölner Ringen, und von der Theaterbühne aus schreien einen am Abend noch Kölner Stimmungssänger an, während man links und rechts von Kölner Schnauzbartträgern eingerahmt ist – und man kann nicht mal abhauen! Hölle, oder? Für mich jedenfalls. Aber ich muss auch damit leben, dass das für andere der Himmel ist.

Auch in der Bibel gibt es Texte, ja ganze Bücher, um die habe ich immer einen großen Bogen gemacht. Zum Beispiel um das rätselhafte Buch mit dem einigermaßen geheimniskrämerischen Namen »Offenbarung des Johannes«. Daraus stammt auch diese Passage hier. Einmal im Jahr komme ich nicht drum herum, sie zu hören. Am 1. November, am Allerheiligenfest. Der Tag lief in meiner Kindheit immer gleich ab. Jedes Jahr ging ich mit meinen Eltern in den immer gleichen Gottesdienst in der Nachbarpfarrei, Startzeit: unverschämte acht Uhr morgens. Jedes Jahr trat der gleiche Lektor nach vorne und las immer diesen Text vor von Johannes, der eine große Menschenmenge sieht. Das Buch ist das allerletzte Buch in der Bibel und ist insofern leicht zu finden. Danach kommt nichts mehr. Das ist kein Zufall, denn das Buch nennt man umgangssprachlich auch »Apokalypse«, was nichts weiter bedeutet als Entschleierung, Enthüllung. Und damit wird auch die Absicht des Buches deutlich: So könnte es sein, wenn am Ende dessen, was ist, alles klar wird und das Reich Gottes kommt.

Aber das weiß ich jetzt, nachdem ich Theologie studiert habe. Damals, als dreizehn- oder vierzehnjähriger Junge dachte ich nur: Hä? Weißgekleidete Menschen? Im Blut des Lammes weiß gemacht? Was hat der denn geraucht? Und überhaupt: Tag und Nacht Gottesdienst feiern! Geht’s noch? Mir hat damals schon die Frühmesse gereicht.

Heute weiß ich: Der Autor des Textes schreibt unter dem Eindruck einer gewaltgesättigten Welt. Das war die Welt des römischen Weltreiches im 1. Jahrhundert n. Chr. mit all seiner strukturellen und wirtschaftlichen Gewalt. Mit Sklaverei, Ausbeutung von Menschen und Ressourcen. Mit allen schlimmen, von den Gewalttätern zu verantwortenden Folgen. Und die Hoffnung von Johannes ist, dass Gott für den völligen Zusammenbruch derartiger Gewaltverhältnisse sorgen wird. Dass dann was Neues kommt. Eine Neuschöpfung jenseits aller Gewalt, aller Unterdrückung, allen Unrechtes. Und dieses Neue wird nicht nur neu sein, sondern – überwältigend neu.

So eindrucksvoll und, ja, gewaltig, dass es die Gewalt seiner Zeit als das zeigt, was sie ist: erbärmlich. Dafür braucht Johannes eine Sprache, die überwältigt; Bilder und Beschreibungen, die seine Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sprachlos machen. Und weil es in der Zeit des Johannes noch keine Kreuzfahrtschiffe gab mit Bling-Bling und Stimmungssängern, hat er eben eine andere Symbolik gewählt, um deutlich zu machen, wie er sich diese überwältigende neue Welt vorstellt. Er nimmt als Grundierung ein Bild, mit dem er sich auskennt: Gottesdienst feiern – rund um die Uhr. Die Bilder, von denen Johannes erzählt, sind schwer zu verstehen. Vor allem wegen eines kniffligen Umstandes: Weil sie etwas erzählen, was niemand bisher gesehen hat. Daher schreibt Johannes auch keine Reportage. Mir gefällt der Ausdruck »sich etwas ausmalen« ganz gut. Darum geht’s ihm wohl: Er malt den LeserInnen aus, wie das sein könnte, wenn das Reich Gottes da ist. Also das, was wir nicht schon längst haben, worauf wir aber mit Recht hoffen dürfen, weil wir Bruchstücke des Reiches Gottes schon kennen, nämlich Momente, Zeiten und Orte, wo es bereits begonnen hat: Wenn zwei Menschen sich versöhnen. Wenn eine gute Idee Früchte trägt. Wenn eine Gemeinschaft ein wirkliches Netzwerk ist, das Menschen trägt. Diese Orte und Zeiten sind wie der Krümel von einem Kuchen: Man ahnt, wie die ganze Torte aussehen wird, wir wissen es aber noch nicht. Und wir dürfen darauf hoffen, dass wir irgendwann mal von der fertigen zehnstöckigen Torte essen dürfen.

Wäre Johannes ein Konditor gewesen, dann hätte er vielleicht dieses Bild von der Torte gewählt. Aber weil er wohl ein Gottesdienst-Fan war, ist sein Paradies-Favorit ein gewaltiger Gottesdienst.

Wir leben nicht mehr im 1. Jahrhundert im römischen Weltreich, das die Menschen bedrängt und die ersten Christen gequält hat, indem es plötzlich den Kaiserkult betonte und die Gemeinden unterdrückte. Weil es Sklavendienste und andere Verbrechen in Gesetzen zur legalen Norm erklärte. Trotzdem dürfen wir den Apokalypse-Text hören, als sei er in unsere Zeit hineingeschrieben. Denn auch unsere Zeit kennt zu viel, das bedrängt. Das können Ereignisse im persönlichen Leben sein: Freundschaften, die scheitern; Aufgaben, die überfordern; Erwartungen, die unerfüllbar sind, oder Krankheiten, die wie aus dem Nichts auftauchen. Das können aber auch apokalyptische Nachrichten einer verrückten Welt sein: Hunger und Ungerechtigkeit, Klimakollaps und Überbevölkerung, Kriege und Naturkatastrophen.

Was jedenfalls wichtig ist: Auch wir sind gemeint, wenn die Bibel von den Bedrängten erzählt. Auch wir mischen uns unter die Völkerstämme, von denen Johannes sagt, dass sie von überall her kommen. Auch wir haben die weißen Gewänder übergezogen und wedeln mit Palmzweigen, Zeichen des Sieges. Und dann wird das Bild bei Johannes handfest und konkret: Keinen Hunger und keinen Durst mehr für niemanden, keine Hitze und Sonnenglut – und Gott wird alle zu den Lebenswasserquellen führen, an denen alle ausruhen dürfen. Jetzt mal ehrlich: Ist das nicht wirklich das Paradies? Und, mal ehrlich, wenn Gott ein gerechter Gott ist: Muss es dann nicht irgendwann auch so kommen? Dass der, der Zeit seines Lebens Hunger hatte, satt wird? Ohne zu betteln? Und dass die, die immer einsam war, einen Haufen Freunde hat? Ohne Flirten und Chatten und Speeddating?

Ich kannte mal einen holländischen Pfarrer, der war davon überzeugt, dass im Himmel Fußball gespielt würde. Denn im Himmel, sagte er, würde es das Gute im Überfluss geben, und Fußball sei etwas außerordentlich Gutes. Daher wollte er im Falle seines Todes im Trikot von Ajax Amsterdam beerdigt werden, seinem Lieblingsverein, damit er im Himmel sofort auf dem Rasen auflaufen könne. Davon war er überzeugt. So hat er sich das Reich Gottes »ausgemalt«: als ein endloses Fußballturnier in Orange. Das war sein Offenbarungsbild.

Warum nicht?

Besser als eine endlose Kreuzfahrt ist es allemal.

Peter Otten

DAS JENSEITS IST DER BODEN, AUF DEM DAS DIESSEITS WÄCHST

Adolf Faut

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Jürgen Habermas, Quelle: Wikipedia, Nikolas Becker

Aus der Heiligen Schrift:

Prüft alles und behaltet das Gute. Von jeder Gestalt des Bösen haltet euch fern. Gott selbst ist der Frieden und möge euch durch und durch heiligen, und ihr sollt an Geist, Seele und Körper unverletzt bewahrt bleiben, so dass nichts an euch auszusetzen ist bei der Ankunft Jesu Christi, dem wir gehören. Gott hat euch berufen, ist treu und wird dies tun.

Erster Brief des Apostels Paulus an die Gemeinde in Thessaloniki 5,21-24

VERNUNFT UND GLAUBE

Im Alter von 84 Jahren hat Jürgen Habermas 2013 den, wie er schreibt, »voraussichtlich letzten Band« seiner »Kleinen Politischen Schriften« veröffentlicht. Es ist eine Sammlung von Reden und Aufsätzen.

Der Titel zeigt treffend den Inhalt an: »Im Sog der Technokratie«.

Für Deutschland wie für Europa wünscht sich Habermas eine Entwicklung zu mehr Demokratie und vor allem zu mehr solidarischem Bewusstsein.

Schon seit Jahren stellt der Philosoph im Blick auf die Gesellschaft einen Rückzug ins Private fest, begleitet von Entsolidarisierung und Phänomenen der Verwahrlosung. Die Vernunft allein, so Habermas, kriegt das schwerlich ins Gleichgewicht von individueller Freiheit und solidarischer Gesellschaft. Für eine Vernunftmoral sieht er motivationale Schwächen.

»Dieser Kognitivismus richtet sich an die Einsicht von Individuen und erzeugt keine Antriebe für ein solidarisches, d.h. ein moralisch angeleitetes kollektives Handeln«, schrieb Habermas schon früher (in: Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, hrsg. von Michael Reder und Josef Schmidt, edition suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, S. 97). Eine Ergänzung der Vernunft erhofft sich Habermas von gläubigen Menschen: »Die säkulare Moral ist nicht von Haus aus in gemeinsame Praktiken eingebettet. Demgegenüber bleibt das religiöse Bewusstsein wesentlich mit der fortdauernden Praxis des Lebens in einer Gemeinde verbunden und im Falle der Weltreligionen mit der im Ritus vereinigten globalen Gemeinde aller Glaubensgenossen. Aus diesem universalistisch angelegten Kommunitarismus kann das religiöse Bewusstsein des einzelnen auch in rein moralischer Hinsicht stärkere Antriebe zu solidarischem Handeln beziehen. Ob das heute noch der Fall ist, lasse ich dahingestellt« (a.a.O, S. 97f).

»Ob das heute noch der Fall ist« – diese Frage gilt es in der von Habermas skizzierten Gemeindepraxis zu beantworten. In Übereinstimmung mit dem Papst anerkennt Habermas die Vernünftigkeit religiöser Äußerungen. Ihre Nützlichkeit erweist sich dann in der Solidarität und der praktizierten Nächstenliebe in den Gemeinden.

Ein vernünftiger Glaube ist immer praktisch und solidarisch.

Franz Meurer

LEIDENSCHAFTEN SIND FAHRSTÜHLE ZWISCHEN HIMMEL UND HÖLLE

Andreas Tenzer

 

In Australien ist mit 79 Jahren der Physiker John Mainstone gestorben, der mehr als ein halbes Jahrhundert lang den langwierigsten Labortest der Welt betreut hat. Das sogenannte »Pechtropfenexperiment« war 1927 von Thomas Parnell gestartet worden. Er wollte nachweisen, dass Pech sich zwar wie ein Feststoff anfühlt, der sich bei Raumtemperatur mit einem Hammer entzwei schlagen lässt, sich aber trotzdem wie eine Flüssigkeit verhält. Dazu füllte er Pech in einen Glastrichter. Es dauerte allerdings allein drei Jahre, bis sich das Pech, ein Derivat aus Teer, gesetzt hatte. Daraufhin wurde der Trichter geöffnet, damit das Pech ausfließen könne. In den seitdem vergangenen 83 Jahren seien nur acht Tropfen Pech nach unten getropft. Dies habe allerdings nie jemand – auch nicht der nun verstorbene Leiter des Experiments – beobachtet, teilte die Universität mit. Drei Webkameras sollen nun wenigstens den nächsten Tropfen filmen.

Quelle: Nachrichtentext mit Material aus dem Kölner Stadt-Anzeiger vom 26. August 2013

Interview mit John Mainstone auf Zeit-online: http://www.zeit.de/wissen/2013-07/pechtropfenexperiment-mainstone-interview/komplettansicht

Live-Kamera des Experiments: http://smp.uq.edu.au/content/pitch-drop-experiment

Zeitrafferfilm des Baus der Waldschlösschenbrücke in Dresden: http://www.youtube.com/watch?feature=player_embedded&v=_jCUOPh7nGw

Aus der Heiligen Schrift:

Jesus erzählte: Dann wird es mit dem Himmelreich sein wie mit zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nahmen und dem Bräutigam entgegengingen. Fünf von ihnen waren töricht und fünf waren klug.

Die törichten nahmen ihre Lampen mit, aber kein Öl, die klugen aber nahmen außer den Lampen noch Öl in Krügen mit. Als nun der Bräutigam lange nicht kam, wurden sie alle müde und schliefen ein. Mitten in der Nacht aber hörte man plötzlich laute Rufe: Der Bräutigam kommt! Geht ihm entgegen! Da standen die Jungfrauen alle auf und machten ihre Lampen zurecht. Die törichten aber sagten zu den klugen: Gebt uns von eurem Öl, sonst gehen unsere Lampen aus. Die klugen erwiderten ihnen: Dann reicht es weder für uns noch für euch; geht doch zu den Händlern und kauft, was ihr braucht. Während sie noch unterwegs waren, um das Öl zu kaufen, kam der Bräutigam; die Jungfrauen, die bereit waren, gingen mit ihm in den Hochzeitssaal und die Tür wurde zugeschlossen.  Später kamen auch die anderen Jungfrauen und riefen: Herr, Herr, mach uns auf! Er aber antwortete ihnen: Amen, ich sage euch: Ich kenne euch nicht.

Seid also wachsam! Denn ihr wisst weder den Tag noch die Stunde.

Matthäusevangelium 25,1-13

DAS GLÜCK DES PHYSIKERS

An dem Tag, an dem der Tod von Professor John Mainstone gemeldet wird, hat der VFB Stuttgart nach drei Jahren Amtszeit seinen Trainer Bruno Labbadia entlassen. Drei Jahre, das werten manche Sportjournalisten schon als Erfolg eines Mannes, der im Bundesligageschäft mitunter auch als schwierig erlebt wird. Am selben Tag wird über die Eröffnung der umstrittenen Waldschlösschenbrücke in Dresden berichtet, deren Bau im Jahr 2009 begann. Im Internet kann man in einem Zeitrafferfilm den Verlauf der Bauarbeiten vom ersten bis zum letzten Tag verfolgen. Vier Jahre Bauzeit rauschen in einer halben Stunde Mittagspause vorbei.

Drei Jahre Fußballtrainer. Vier Jahre Brückenbau. Das ist nichts gegen das Pechtropfen-Experiment von John Mainstone. Oder gegen das Musikstück von John Cage, das in Halberstadt zu hören ist. Cage verband mit seiner durch einen Zufallsgenerator erzeugten Komposition die Anweisung, sie »as slow as possible« – so langsam wie möglich – zu spielen. 639 Jahre soll es dauern, bis das Orgelwerk verklingt. Seit seinem Start im Jahr 2001 gab es überhaupt erst 13 Tonwechsel.

Man kann in derlei Geschichten berechtigterweise einen Anlass sehen, über das Vergehen und Verfließen von Zeit nachzudenken. Im Erklingen einer Komposition über mehrere hundert Jahre hinweg liegt natürlich auch eine Provokation: Welchen Sinn soll das haben? Niemand wird je in der Lage sein, das Stück in seiner Gesamtheit zu hören. Aber ist das andererseits nicht ein schönes Bild für ein grundsätzliches Phänomen menschlichen Erkennens: nämlich nie in der Lage zu sein, sämtliche Zusammenhänge der Welt zu durchschauen?

In den Nachrufen auf John Mainstone wiesen einige auf die besondere Tragik seines Schaffens hin: Er selbst habe nie das Fallen eines Tropfens gesehen. Einmal habe ihn Durst überkommen und der Gang zum Getränkeautomaten ließ ihn das Fallen des Tropfens verpassen. Einmal tropfte es, als er sich frei nahm, um mit seiner Familie Zeit zu verbringen. Und einmal habe die Kamera versagt und die entscheidenden Bilder nicht geliefert. Mainstone selbst hielt es für wenig wahrscheinlich, dass überhaupt irgendein Mensch jemals live das nächste Tropfen würde beobachten können. Denn selbst wenn ein Mensch niemals den Versuchsaufbau aus den Augen lassen würde, wäre es wahrscheinlich, dass er durch einen Lidschlag den Moment doch verpassen würde. Denn den Augenblick zwischen dem Abreißen des Tropfens und seinem Aufsetzen im Becherglas schätzte der Physiker lediglich auf etwa 0,1 Sekunden. Daher gibt’s nun drei Kameras für den Moment der Momente. Falls eine ausfällt. Oder zwei.

Würde Jesus heute vom Himmelreich predigen, würde er vermutlich nicht mehr von Jungfrauen berichten. Sondern vielleicht vom Physiker John Mainstone erzählen, der mit großer Neugier und beruflicher Profession ein Becherglas beobachtet. Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit der Physik: Es braucht Leidenschaft, Ausdauer und vor allem eine nicht versiegende Neugier auf die Welt.

Peter Otten