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Näpflis abenteuerliche Reise durch den menschlichen Körper

 

 

Erzählt von Hans-Wilhelm Smolik

Gezeichnet von Wilhelm Hartung

Wissenschaftlich aktualisiert von Sabine Smolik-Pfeifer

 

 

 

 

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© HörGut! Verlag, 2014

Vorwort von Professor Dr. rer. nat. Birgit Liss (Universität Ulm)

 

Näpfli – ein kleines rotes Blutkörperchen entdeckt das Wunderwerk des menschlichen Körpers. Als ich gefragt wurde, ob ich ein kurzes Vorwort für die nunmehr 14. Auflage des Näpfli-Büchleins schreiben könnte, habe ich mit Freude zugesagt, denn der kleine Bursche erscheint mir wie ein lieber Freund aus Kindertagen, der durchaus auch heute noch eine Rolle in meinem Leben spielt, wie ich hier kurz erzählen möchte.

 

Ich erinnere mich noch recht genau an meine erste Begegnung mit Näpfli, die schon um die 30 Jahre her ist. Mein großer Bruder brachte das Büchlein aus der Schule mit – und ich habe es von da an wieder und wieder verschlungen und so die Abenteuer des kleinen Blutkörperchens - und damit die Funktionsweise des menschlichen Körpers – mehr und mehr verstanden. Wobei das Sauerstoffmännlein, der Wassertropfen Plink sowie die kleine Schallwelle mir zu lieben Kameraden wurden, während ich die Professoren „Fachberater Erfahrung, Wissen und Gedächtnis“ mit Ehrfurcht – und nur vagem Verständnis – bestaunte.

 

So spannend und teilweise unglaublich erschienen mir die vielen Abenteuer, die Näpfli im menschlichen Körper erlebte, dass ich immer mehr über diese Vorgänge wissen wollte, die uns ermöglichen zu atmen, zu sehen, zu hören, zu fühlen, zu denken und noch so vieles mehr. Die Vorgänge also, die die „Physiologie des Menschen“ beschreiben.

 

Und heute bin ich selbst der Professor für Physiologie, der „Fachberater“ meiner Studenten für „Erfahrung, Wissen und Gedächtnis“. Wie Näpfli erforsche ich das Wunderwerk des Gehirns mit seinen unzähligen Nervenzellen und gebe mein Wissen und meine Begeisterung über die Funktionsweise des menschlichen Körpers, welche das kleine Näpfli einst bei mir geweckt hat, tagtäglich an Studierende und auch Schüler weiter. In diesem Sinne wünsche ich Näpfli, dem „kleinen Physiologen“, auch weiterhin eine große Leser- und Zuhörerschaft – mit ebensoviel Spaß und Freude an diesem Büchlein, wie ich sie selbst erleben durfte.

 

 

Birgit Liss, Jahrgang 1971, wuchs in Schafflund in Schleswig-Holstein auf. Sie studierte an der Universität Hamburg Biochemie/ Molekularbiologie und legte 1995 ihr Diplom ab. 1999 folgte die Promotion am Zentrum für Molekulare Neurobiologie, Hamburg, danach folgten mehrere Stipendien an der Universität Oxford und ab 2002 eine Juniorprofessur an der Universität Marburg. 2002 erhielt sie die Auszeichnung „Frau des Jahres“, 2006 den deutschen Hirnligapreis. Seit 2007 ist Birgit Liss Professorin für Allgemeine Physiologie an der Universität Ulm. Im selben Jahr wurde sie mit dem mit einer Million Euro dotierten Alfried-Krupp-Förderpreis für junge Hochschullehrer ausgezeichnet.

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Vorwort von Professor Dr. rer. nat. Birgit Liss (Universität Ulm) 3

Näpfli – das rote Blutkörperchen 5

Näpfli und der Zellstaat Mensch 7

Näpfli auf abenteuerlicher Tunnelfahrt 10

Näpfli lernt das Herz kennen 13

Alarm, Alarm, der Mensch hat sich verletzt! 15

Das Klagelied der Zähne 18

Die Klagen aus der Mundhöhle 21

Näpfli und das Sauerstoffmännlein 23

Der rebellische Apfelkern 28

Neue Abenteuer des rebellischen Apfelkerns 31

Der wandelnde Wasserturm 33

Plink und Näpfli besuchen die Niere 38

Näpfli begegnet im Auge dem Sonnenstrahl 40

Eine kleine Schallwelle erzählt vom Ohr 45

Die Haut ist mehr als ein Sack 50

Näpfli erforscht das Gehirn 55

Der winzigste Baustein der Welt 61

Aus Billionen Zwergen wird ein Riese 65

Näpfli erzählt von den Zellverbänden 69

Das große knöcherne Baugerüst 72

Gelenkiger als ein Hampelmann 77

Mehr vom HörGut! Verlag 82

 

 

Näpfli – das rote Blutkörperchen

 

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Ich heiße Näpfli und bin ein rotes Blutkörperchen. Ihr glaubt nicht, wie froh ich bin, dass ich zu euch sprechen kann. Ich bin nämlich bis zum Platzen gefüllt mit Neuigkeiten und habe euch viel zu erzählen. Leider habe ich nur eine sehr leise Stimme.

Ihr müsst wissen, dass ich ein winziges Kerlchen bin, so klein, dass ihr mich mit bloßem Auge nicht sehen könnt.

Mit 10 meiner Geschwister habe ich auf einer Stecknadelspitze gut Platz, unserer 15 könnten wir nebeneinander durch ein Haar von euch schwimmen.

Könnt ihr euch das vorstellen? Kaum, nicht wahr! Es ist auch schwierig. Aber es lässt sich nicht ändern. Ich muss so klein sein.

So, und nun will ich anfangen und euch von dem wunderbaren Land berichten, in dem ich geboren wurde!

Es war heute vor 29 Tagen, als ich zur Welt kam. Ich erwachte in einem winzigen roten Kämmerchen und sah mich staunend um. Ich war damals schon genauso groß wie heute, trug dasselbe gelbliche Gewand, hatte aber noch einen Kern in mir.

„Wo bin ich?“, flüsterte ich.

„In einem Land, in dem weder Sonne noch Mond scheinen“, antwortete sofort eine tiefe Stimme, ohne dass ich sehen konnte, wer da eigentlich sprach.

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„Es ist ein Land voller Wunder und Geheimnisse, und du darfst dich glücklich preisen, es kennen zu lernen.“

„Und wer bist du?“

„Ich bin eine Knochenzelle, eine Verwandte von dir. Ich lebe in der Wand des Kämmerchens, das dich umgibt.“

„Eine Knochenzelle? Bist du ein lebendiges Ding? Zeig dich doch einmal!“

„Das ist nicht möglich, Näpfli. Mit Hunderttausenden von meinen Brüdern habe ich mich fest verbunden, um diesen Knochen zu bilden. Und selbstverständlich bin ich lebendig! Wir Zellen sind die lebendigen Bausteine der Natur. Bausteine, die sich biegen und dehnen, recken und strecken, die sich so zusammenfügen, wie die Natur es will, die sich teilen und vermehren und jegliche Gestalt annehmen. Wir Knochenzellen schwitzen einen Leim aus, aus dem später der harte Knochen entsteht.“

„Dann ist also jede Zelle ein lebendiges Geschöpf?“, fragte ich.

„Wir Zellen sind überhaupt die ersten Geschöpfe dieser Erde, Näpfli! Wir stehen am Anfang aller Lebewesen. Du selbst bist ja auch eine Zelle!“

„Eine Zelle? Aber ich habe doch eine andere Gestalt und auch eine andere Farbe als du“, antwortete ich.

„Ich sagte dir schon, Näpfli, dass wir jede Gestalt annehmen können. Es kommt ganz darauf an, welche Aufgaben wir zu erfüllen haben“, belehrte mich die Knochenzelle. „Wir Zellen sind ein großes Volk, das sich aus vielen Stämmen zusammensetzt. Da gibt es die roten Blutzellen, zu denen du gehörst und die einem kleinen Napf gleichen. Da gibt es die Knochenzellen, die so aussehen wie ich, also einen Leib mit vielen kleinen Armen besitzen. Dann gibt es noch die Fettzellen, die rund und kugelig sind. Und die Muskelzellen, die einer dünnen Spindel ähneln. Ach, und noch viele, viele andere Zellstämme! Du wirst sie bald kennenlernen.“

„Ja, ja!“, sagte ich, und dann musste ich erst einmal über all das nachdenken, was mir die Knochenzelle erzählt hatte.

„Ich bin also Näpfli, die rote Blutzelle, das rote Blutkörperchen?“, begann ich dann wieder.

„So ist es!“, bestätigte die Knochenzelle.

„Und wir Zellen sind die lebendigen Bausteine der Natur?“

„Ja! Aus uns Zellen bestehen alle Geschöpfe der Erde!“, antwortete die Knochenzelle.

„Wie ist das zu verstehen?“

„Jedes Geschöpf dieser Erde ist nichts anderes als ein Zellstaat. Indem wir Zellen uns vereinigten und zusammenschlossen, entstanden die Pflanzen, die Tiere und die Menschen“, erklärte die Knochenzelle. „Eine Mücke, das ist ein Zellstaat von Tausenden von Zellen. Ein Elefant, das ist ein Zellstaat von vielen Billionen Zellen.“

„Und warum vereinigen wir Zellen uns zu solch großen Staatsgebilden?“

„Weil es sich in der Gemeinschaft leichter leben lässt, als wenn man allein durchs Leben geht, Näpfli! Überlege doch, wie schwer ich es hätte, wenn ich heute noch als winziges Geschöpf im Wasser lebte! Dann müsste ich selbst für meine Nahrung und für meine Sicherheit sorgen, müsste auf die Jagd gehen, müsste mich vor meinen Feinden hüten, müsste schwimmen und umherziehen und wäre ein armes, schwaches Ding.“

„Das stimmt!“, nickte ich.

„So aber, in der Gemeinschaft der vielen Brüder“, fuhr die Knochenzelle fort, „brauche ich nichts anderes zu tun, als Knochenleim auszuschwitzen. Sicher und geborgen sitze ich hier, werde jeden Tag gefüttert und muss mich weder um meine Feinde noch um sonst etwas kümmern. Ich sorge mit meinen Brüdern, den vielen Millionen Knochenzellen, dafür, dass dieser Zellstaat aufrecht stehen kann und die große Gemeinschaft zu tragen vermag. Die Muskelzellen sorgen dafür, dass sich dieser Zellstaat bewegen kann. Die Hautzellen sorgen dafür, dass der Zellstaat durch eine dreifache Hülle umfasst und geschützt wird. Und ihr roten Blutzellen sorgt dafür, dass wir alle genügend Sauerstoff bekommen. Wir konnten wirklich nichts Klügeres tun, als uns zu vereinigen und die großen Lebensaufgaben untereinander aufzuteilen.“

„Das sehe ich ein, liebe Knochenzelle. Wahrhaftig, jetzt verstehe ich dich schon besser. Und auch ich bin also ein Mitglied eines solchen großen Zellstaates?“

„Das bist du, Näpfli! Und zwar bist du ein Mitglied des großartigsten Staates, den wir Zellen jemals gebildet haben.“

Und wissbegierig fragte ich: „Doch wie heißt nun dieser so wunderbare, so vollkommene und einzigartige Zellstaat?“

Die Knochenzelle machte eine gewichtige Pause, dann sagte sie: „Der menschliche Körper! Oder kurz: der Mensch!“

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Näpfli und der Zellstaat Mensch

Ich habe den Zellstaat Mensch, also den menschlichen Körper, in vielen Fahrten bereist und bis in seine geheimsten Schlupfwinkel durchforscht. Und ich muss sagen: Er ist ein Land der größten Wunder! Doch vielleicht habt ihr mich noch nicht so recht verstanden? Also passt auf!

Ihr müsst euch euren Körper wie eine Stadt vorstellen. Da gibt es Zellen, die wie eine Stadtmauer das ganze Gebilde schützend umgeben. Das sind die Hautzellen. In der Mauer aber, sozusagen in Nischen, stehen viele Wächter, die jede Gefahr und jeden Feind melden. Das sind die Meldestellen der Nervenzellen. Dann gibt es Zellen, die wie große Wirtshäuser und Garküchen für die Ernährung der Bevölkerung sorgen. Sie wirken in Magen und Darm; aber auch das Blut hilft dabei mit.

Und alle diese Zellen haben sich, genauso wie die Handwerker der richtigen Städte, zu Innungen und Gilden zusammengeschlossen.

Da gibt es die Innung Auge, die Innung Ohr, die Innung Gehirn, die Innung Herz, die Innung Lunge und so weiter. Jede Innung hat eine ganz bestimmte Aufgabe übernommen. Die Innung Auge das Sehen, die Innung Ohr das Hören, die Innung Haut das Fühlen, die Innung Nase das Riechen, die Innung Lunge des Atmen und die Innung Magen und Darm das Verdauen. Selbstverständlich haben auch alle Innungen ihre besonderen Trachten und ihr besonderes Aussehen. So wie ihr bei den großen Festumzügen gleich erkennt, jetzt kommen die Schmiede und jetzt die Schneider, so unterscheiden sich etwa die kräftigen Muskelzellen von den zarten Nervenzellen. Meist ist schon an der Zellgestalt zu erkennen, welche Aufgaben die einzelnen Zellinnungen haben.

Die Knochenzellen sind fest und hart und wie ein Baugerüst zusammengefügt. Die Nervenzellen sind dagegen feingliedrig wie die Schreiber und sehen wie kleine Spinnen aus.

Doch lasst mich nun weiter von meiner Unterhaltung mit der Knochenzelle berichten! Was ihr jetzt noch nicht ganz verstanden habt, das wird euch später klarwerden. Auch mir wirbelte das Neue damals tüchtig im Kopf herum.

„So bin ich also im Knochen eines Menschen zur Weit gekommen?“, fragte ich die Knochenzelle noch einmal.

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„Freilich, Näpfli“, versicherte mir die Knochenzelle. „Das rote Knochenmark der Rippen, der Wirbelsäule und des Schädeldaches ist der Geburtsort aller roten Blutkörperchen.“

„Und ich befinde mich jetzt im roten Knochenmark eines Wirbelsäulenknochens?“

„Es ist, wie du sagst“, bestätigte die Knochenzelle geduldig. Und sie fügte hinzu:
„In jeder Sekunde werden im roten Knochenmark des menschlichen Körpers 3 Millionen rote Blutkörperchen geboren.“

„3 Millionen?“, rief ich staunend und zweifelnd.

„In jeder Sekunde!“, bekräftigte die Knochenzelle.

„Aber das ist doch nicht möglich!“, rief ich. „Da müsste es ja ungezählte Millionen von roten Blutkörperchen geben!“

„Genau 25 Billionen“, bemerkte die Knochenzelle gelassen.

„25 Billionen? Eine Billion, das sind ja schon 1.000 Milliarden! Das wäre ja eine Zahl mit 12 Nullen! Das wären ja eine Million Millionen! Und so viele Blutkörperchen sollen sich in einem einzigen Menschen befinden?“

„Stimmt ganz genau“, nickte die Knochenzelle. „Doch das ist das Wunderbarste noch lange nicht, mein Freund. Das wirkliche Wunder besteht darin, dass ihr roten Blutkörperchen alle nur 120 Tage alt werdet und der menschliche Körper also alle 4 Monate 25 Billionen rote Blutkörperchen erzeugt.“

„Aber wie ist es denn möglich“,  fragte ich, „dass alle die unzähligen Zellen genau wissen, was sie zu tun und zu lassen haben?“

 „Keine dumme Frage“, meinte die Knochenzelle. „Und so will ich dir noch kurz verraten, dass jede einzelne Zelle des großen Staates an eine Telefonleitung angeschlossen ist. Wenn sich die kleinste Zelle verletzt, wenn sie krank wird oder ihr sonst etwas zustößt, so erfahren dies in Bruchteilen einer Sekunde eine Vielzahl anderer Zellen des ganzen Staates. Dieses Telefonnetz bedienen die Nervenzellen. Sie sind es auch, die alle Befehle des Gehirns übertragen und vermitteln. Doch was weißt du vom Gehirn? Das alles wirst du erst viel später begreifen, Näpfli. Das eine aber kannst du dir schon heute merken: Wir sind kein regelloser und wilder Haufen von Zellen, sondern sind zu einem sinnvoll geordneten großen Ganzen zusammengefügt! Aus Billionen Zwergen wurde ein einziger Riese!“

Ich aber konnte ihr jetzt nicht mehr folgen. „Entschuldige, liebe Knochenzelle“, stammelte ich verlegen. „Ich bin dir wirklich dankbar, dass du mir alles erzählt hast. Aber es ist eben einfach zuviel, weißt du. Nur das eine hätte ich gern noch gewusst: Wo sind denn meine 25 Billionen Geschwister?“

 

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„Das wirst du bald erfahren, Näpfli. Es wird nicht mehr lange dauern, und sie rufen dich. Sobald der Zellkern in dir geschrumpft ist, werden sie sich melden. Und nun denke in Ruhe über alles nach, was du heute gehört hast! Vielleicht sehen wir uns später noch einmal!“

Aber es blieb mir nicht viel Zeit zum Nachdenken. Der Kern in meinem Leib schrumpfte sehr schnell ein, und plötzlich wurde ich von feinen Stimmchen gerufen...

 

Näpfli auf abenteuerlicher Tunnelfahrt

 

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In dieses Abenteuer wurde ich hineingerissen, ehe ich wusste, wie mir geschah. Die feinen Stimmchen, die mich riefen, das waren meine Geschwister, die gleichzeitig mit mir im roten Knochenmark der Wirbelsäule auf die Welt gekommen waren.

„Auf, Näpfli!“, riefen sie. „Wir müssen uns auf die Suche nach dem großen roten Strom begeben. Es ist keine Zeit zu verlieren! Wir werden gebraucht! Wir sollen Lastkahn spielen!“  

„Was sollen wir?“, fragte ich. „Einen Strom suchen? Lastkahn spielen?“

„Ja, ja, komm nur komm! Wir müssen uns sofort auf den Weg machen! Siehst du das winzige Löchlein dort? Das ist der Eingang zu einem haardünnen Schlauch, der uns zum großen Blutstrom führt. Es soll ein Riesenstrom mit roten, warmen, dampfenden Wellen sein. Ein Riesenstrom von 100.000 Kilometer Länge!“

„Aber das ist doch Unsinn“, antwortete ich. „So groß ist doch der Mensch unmöglich.“

„Doch, doch, es soll wahr sein!“, riefen meine Geschwister. „Der Strom soll sich so vielfach verzweigen und so fein verästeln, dass wir, wenn wir alle seine Bahnen durchschwimmen würden, 100.000 Kilometer zurücklegen müssten.“

„Und außerdem sind wir ja viel zu dick, um in dieses Löchlein schlüpfen zu können“, gab ich zu bedenken.

„Weißt du denn nicht, dass wir uns lang und schmal machen können?“, lachten meine Geschwister und waren - schwuppdiwupp - schon alle verschwunden. Und wenn ich nicht allein zurückbleiben wollte, musste ich ihnen wohl oder übel folgen. Also zwängte ich mich durch das Löchlein und wunderte mich, wie gut das ging. Mit der Zeit wurde der Schlauch auch etwas breiter. Es ließ sich bald recht gemütlich in ihm dahintreiben. Plötzlich aber mündete er in einen kleinen Kanal ein, in dem meine Geschwister und viele andere, mir unbekannte Blutkörperchen mitschwammen. Diese anderen Blutkörperchen sahen alt und sehr müde aus.

„Wo bin ich jetzt eigentlich?“, wagte ich endlich eines der alten und müden Blutkörperchen zu fragen.

„Wo du bist? In einer Vene!“

Da war ich freilich nicht klüger als vorher. Aber das alte Blutkörperchen erklärte mir auch schon: „Eine Vene, das ist eine Blutader. Die Blutader aber gehört zum großen Blutkreislauf, der das verbrauchte Blut zum Herzen zurückbringt. Du befindest dich also mitten im großen unterirdischen Strom, der von nun an deine Heimat sein wird.“

„Und warum siehst du eigentlich so müde, so matt und so grau aus?“, fragte ich das Blutkörperchen. „Ist dir nicht wohl?“