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Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe

© 2014 Wörterseh Verlag, Gockhausen

Lektorat: Franziska Schläpfer, Zollikon

Print ISBN 978-3-03763-041-9

www.woerterseh.ch

Gabriella Loser Friedli

Oh, Gott!

Kreuzweg Zölibat

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Wenn einer allein träumt, ist es nur ein Traum.
Wenn viele gemeinsam träumen,
ist das der Anfang einer neuen Wirklichkeit
.

Dom Hélder Câmara

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil I: Meine Geschichte

Teil II: Zeugnisse

Teil III: Analysen und Kommentare

Teil IV: Hintergründe

Teil V: Die ZöFra

Nachwort

Dank

Anhang

Quellennachweis

Vorwort

Sie heißen Anna, Fabienne, Franziska, Marielle, Ruth, Sarah und lieben Männer wie Anton, Bernard, Eusebius, José, Max, Simon. Es sind Paare, deren Liebe einen hohen Preis hat: Die Männer sind Weltpriester oder Ordensmänner; außer Gott und der Kirche sollten sie niemanden konkret lieben. Tun sie es doch, dann mit unabsehbaren Konsequenzen für ihr Leben.

Von diesen Frauen, Männern und ihren Kindern erfährt die Öffentlichkeit kaum etwas, außer ein Fall wird aufgedeckt. Oft reißerisch, was den Betroffenen und der Gewalt der Strukturen nicht gerecht wird. Oder der Pflichtzölibat macht Schlagzeilen, wenn ein Priester1 öffentlich bekennt, dass er damit Schwierigkeiten hat. Zum Beispiel im Februar 2011, als Pius Blättler seiner Pfarrgemeinde in Affoltern am Albis mitteilte, er könne seine heimliche Beziehung und seine Vaterschaft nicht länger verstecken, ihm bleibe nur das Ausscheiden aus dem Amt. Einen Monat später informierte Pfarrer Niklaus Popp in Gossau seine Pfarrei über seine langjährige Partnerschaft und die bevorstehende Geburt seines Kindes. Im März 2012 gab Jean-Noël Theurillat über die Medien bekannt, er könne den Pflichtzölibat nicht mehr leben.

Solch mutige Schritte sind selten. Die Amtskirche belohnt Ehrlichkeit nicht – im Gegenteil. Die kirchliche Hierarchie scheint bis heute nicht begriffen zu haben, dass »der Sabbat für den Menschen ist und nicht der Mensch für den Sabbat« (Mk 2,27).

Scheidung. Todesfall. Krankheit. Verlust der Arbeit. Der Keim einer Priesterbeziehung liegt oft in einer Krisensituation. In der Hoffnung auf Hilfe wenden Frauen sich an einen Priester – empfänglich für Zuwendung, für ein freundliches Wort. Ein Muster ist wiederkehrend: der Rollentausch. Der Priester, anfänglich Ratgeber, wird zum Hilfesucher, die Frau in Not zur Zuhörerin, Beraterin. Der Schritt zur Liebesbeziehung ist klein.

Andere sitzen in den gleichen Gremien, lernen sich bei der Arbeit kennen und schätzen – und mehr. Manche begegnen sich in völlig anderem Umfeld: in den Skiferien, auf einer Studienreise. Der Priester gibt sich nicht als solcher zu erkennen. Mann und Frau kommen sich näher, verlieben sich. Irgendwann das Geständnis, dass eine Liebesbeziehung im Priesterleben nicht vorgesehen ist.

Es passiert auch, dass eine Frau nach einer Vergewaltigung Rat sucht und der Priester sich nicht scheut, mit seinem »heiligen« Körper das Unrecht »auszulöschen«, indem er mit der Frau schläft. Das gehört zwar in den Bereich Übergriffe und Missbräuche, doch es gibt Fälle, da sind aus solchen Situationen lebenslange Beziehungen entstanden, einige davon mit Kindern.

Anfang der Neunzigerjahre gründete ich zusammen mit Katharina Thomas-Kanka und ein paar weiteren Frauen die Spurgruppe für Betroffene. Daraus entstand mit der Zeit ein immer größer werdendes Netzwerk und im Jahr 2000 die ZöFra Schweiz, der Verein der vom Zölibat betroffenen Frauen, dem ich als Präsidentin vorstehe. Die beratenden Frauen der ZöFra kennen Thematik, Hintergründe und Diskussionen aus eigener Erfahrung und sind daher kompetente Begleiterinnen von Betroffenen.

Hauptmerkmal der Lebensgeschichten, die ich in diesem Buch veröffentliche, ist die Heimlichkeit. Diese schwierigen und leidvollen Biografien müssten nicht sein, würde die römisch-katholische Kirche die Realität akzeptieren und die Menschen ebenso ernst nehmen wie die Tradition. So wie der Pflichtzölibat im 11. Jahrhundert aufgrund bestimmter Umstände eingeführt worden ist,2 könnte er auch wieder abgeschafft werden.

Dieses Buch gibt teils umfassend, teils fragmentarisch Einblick in unterschiedlichste Schicksale. Eine kleine Auswahl aus einer Vielzahl von Lebensgeschichten. Ich dachte oft, jetzt habe ich alles gehört, alles gesehen. Doch noch heute bin ich immer wieder erschüttert und sprachlos.

Die nachfolgenden Lebensgeschichten stehen für sich, ohne Interpretation, ohne Analyse. Es gibt Zeugnisse, die Betroffene selber geschrieben haben, aufgezeichnete Interviews und von mir nacherzählte Lebensgeschichten. Texte von französisch- und italienischsprachigen Frauen wurden übersetzt. Die verschiedenen Stile und Formen ergeben eine Art Patchwork zum immer gleichen Thema – uneinheitlich, aber nahe an den Beteiligten. Manche stehen mit eigenem Namen zu ihrer Geschichte. Andere tragen fiktive Namen, und es wurde auf alles verzichtet, was konkret auf sie und Mitbetroffene hinweisen würde.

Einige Texte lagen mehrere Jahre in Schubladen. Beim Einholen der Erlaubnis, die Lebensgeschichten in dieses Buch aufnehmen zu dürfen, hatte sich die eine und andere Situation verändert, wollte der Text nochmals überarbeitet und ergänzt sein. In den »nachgebesserten« Texten gab es beträchtliche Unterschiede in den Darstellungen und Gewichtungen. Je nachdem, wo die Betroffenen gerade stehen, werten sie die gleichen Tatsachen anders. Wendet sich die Geschichte zum Besseren, liegt über allem eine positivere Einfärbung, wendet sie sich zum Schlechteren, wird, was war, verteufelt oder auch verklärt, damit es nur annähernd erträglich bleibt. Jede Lebensgeschichte ist eine subjektive Momentaufnahme.

Ein Letztes: Hier ist nicht von Priestern die Rede, die kein Problem mit dem Pflichtzölibat haben. Es gibt sie.

Gabriella Loser Friedli, im Frühling 2014

1 Der Begriff »Priester« wäre bibelwissenschaftlich und theologisch zu differenzieren. Gemäß Evangeliumsberichten gehört Jesus nicht zum jüdischen Stamm der (Hohen-)Priester (wie zum Beispiel Melchisedech), sondern zum (Laien-)Volk. Im Folgenden halte ich mich an das umgangssprachliche Wort »Priester«.

2 Im Rahmen der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts ging die Westkirche vom Enthaltsamkeitszölibat zum allgemein verbindlichen Ehelosigkeitszölibat der Priester über. Anlässlich der Synode von Pavia im Jahr 1022 entschied Papst Benedikt VIII., dass Geistliche nicht mehr heiraten durften. Einerseits erforderte die tägliche Feier der Heiligen Messe kultische Reinheit, andererseits sollte verhindert werden, dass Kirchenbesitz an Priesterkinder vererbt werden konnte. Nicht nur die Kirche, sondern auch das Volk forderte vorbildliche, unverheiratete Priester, in der Hoffnung, dass Missstände wie Machtmissbrauch, Ämterkauf und Vetternwirtschaft aufhörten. Bis 1139 gab es verheiratete und unverheiratete Priester. Das Zweite Laterankonzil verbot dann verheiratete oder in Konkubinat lebende höhere Kleriker. Ihnen wurde Amt und Besitztum entzogen.

TEIL I

MEINE GESCHICHTE

»Der Kummer, der nicht spricht, nagt leise an dem Herzen, bis es bricht.«

William Shakespeare

Der Weg war dornenreich

Mein Mann Richard und ich lebten unsere Liebe zwanzig Jahre heimlich. Seit siebzehn Jahren sind wir verheiratet. Ohne meine ganz persönliche Geschichte hätte ich nie so lange ausgehalten, hätte mich früher gewehrt. Und ohne unsere Geschichte wäre ich heute nicht dort, wo ich bin.

Die Zeit war verdammt lang, verdammt hart und streckenweise mehr als kompliziert. Über achtzehn Jahre, bis es zum großen Knall – oder zur Erlösung – kam. Fast zwanzig Jahre Einsamkeit. Vertuschen, verheimlichen. Ständig auf der Hut sein, kein Wort zu keinem Menschen. Wir sind zuweilen durch die Hölle gegangen. Immer wieder halten wir heute inne und staunen, was Liebe alles erträgt.

Als ich 1974 meinen jetzigen Mann kennen lernte, war ich 22, hatte eben die Lehre als Hochbauzeichnerin mit eidgenössischem Diplom abgeschlossen und hätte eigentlich glücklich sein müssen. War ich aber nicht, im Gegenteil. Der erlernte Beruf gefiel mir nicht. Ich litt an Magersucht. Steckte in einer Sinnkrise, wusste nicht, wohin mit mir.

Mein Taufpate und dessen Frau kümmerten sich um mich. Sie engagierten sich in ihrer Freizeit in einem Frauenkloster in der Innerschweiz. Sie arbeitete im Büro und servierte im Speisesaal, er packte überall an, wo es fachkundige Männerhände brauchte: Schwimmbad putzen, schwere Gartenarbeiten, allerlei Reparaturen. Sie baten die Oberin, mich ins Kloster einzuladen, damit ich mich erholen konnte. Da ich kein Geld hatte, war die Einladung ein willkommenes Geschenk.

Mein Zustand entging den Schwestern nicht, und die Gästeverantwortliche schlug mir vor, das Gespräch mit einem Priester zu suchen, der gerade für Weiterbildungskurse im Haus war. Wenig später stand ich vor Richard, einem attraktiven, unverkrampften Mann mit gewinnendem Wesen. Der Priester war ihm nicht anzumerken. Er war fünfzehn Jahre älter als ich, seit kurzem Prior im Ausbildungshaus einer Gemeinschaft von dreißig Brüdern und Universitätsprofessor.

Nach kurzer Zeit hatte ich Vertrauen gewonnen, aber nur, weil ich mich vor ihm als Mann absolut sicher fühlte. Sein Zölibatsversprechen war für mich eine Art Garantie, als Frau nichts befürchten zu müssen. Sein geduldiges Zuhören ließ in mir alle Dämme brechen. In einem Zug erzählte ich meine Lebensgeschichte mit allen Tief- und Tiefstpunkten, meinen Zweifeln, Qualen. Beeindruckt von meiner Leidensfähigkeit, redete er gegen meine Hoffnungslosigkeit an, überzeugt, dass es für mich einen Weg geben müsse, wieder heil zu werden. Er sprach von Trotzmacht, von Glückskette, wo einer für den anderen einsteht, vielleicht auch vorübergehend glaubt für denjenigen, der nicht mehr glauben kann. Jemand, der so stark sei wie ich, könne noch ganz anderes schaffen. Ich zweifelte, dachte aber doch, es könnte sich lohnen, mindestens mal abzuwarten, wie ernst es diesem Menschen war, ob mehr dahintersteckte als aufmunternde Worte.

Nach wenigen Tagen trennten sich unsere Wege. Er hatte mehrere Wochen im Mittelmeer-Raum zu tun, ich flog nach Israel, wo ich mich für sechs Monate in einem Kibbuz verpflichtet hatte. Richard war gegen dieses Projekt, das ich eingefädelt hatte, bevor ich ihm begegnet war. Ich war so untergewichtig und instabil, dass ihn allein der Gedanke, mich fahren zu lassen, in Aufruhr versetzte. Sein Bitten half nichts. War es ein Test, um herauszufinden, ob er nur verständnisvoll ist, wenn ich tue, was er wünscht? Ich werde es nie wissen. Sicher aber ist, dass Richard mich richtig eingeschätzt hatte. Ich hielt mich und die anderen nicht aus und nahm regelmäßig an Pillenpartys und Trinkgelagen der internationalen Jugend teil.

Es ging mir schlecht, trotzdem wagte ich nach der Rückkehr einen Einstieg in den erlernten Beruf – damals noch eine Männerdomäne. Auf dem Bauamt einer Schweizer Großstadt war ich die einzige Frau, sexuelle Belästigungen gehörten bald zum Alltag. Auf meinem Arbeitstisch fand ich mehrmals pro Woche Bilder von nackten Frauen, eindeutige Sprüche oder Zeichnungen, in einer Schublade auch mal Kondome oder Reizwäsche. Auf Baustellen oder im Erholungsraum überboten sich die Kollegen mit Wetten, wer als Erster zwischen meinen Beinen Platz finden würde. Damals war sexuelle Belästigung noch kein Thema in der Öffentlichkeit. Schüchtern und unsicher, wie ich war, wehrte ich mich nicht.

Ich sah Richard regelmäßig, wir lernten uns immer besser kennen. Von Liebe war noch keine Rede. Als sich erste Gefühle bemerkbar machten, schaltete sich mein Kopf dazwischen: Sünde! Anfänglich als eine starke Betreuerbeziehung, half Richard mir, wieder Boden unter die Füße zu bekommen, mich beruflich neu zu orientieren. Sobald es mir jedoch besser ging, begann er von sich zu erzählen, von seiner Einsamkeit, seiner Überlastung, seiner Unsicherheit. Er war noch jung, musste aber schon viel Verantwortung tragen. Pflichten, für die er nicht ausgebildet war: Führungsaufgaben, Personal- und Finanzverwaltung bis zur Alters- und Krankenbetreuung.

Nach einem guten Jahr hielt ich es auf dem Hochbauamt nicht mehr aus. Richard hatte mir im Sekretariat seines Lehrstuhls eine Teilzeitstelle angeboten – und ich zog um. Wir sahen uns jetzt täglich bei der Arbeit und in der Freizeit. Stand erst meine Gesundung im Zentrum, die viele Jahre dauerte, verbanden uns bald auch gemeinsame Interessen. Religionen, Kulturen, fremde Länder, Menschen und Sprachen faszinierten mich. Einen großen Teil meiner Freizeit verbrachte ich lesend. Ich verschlang Buch um Buch, lernte schnell, wollte alles wissen, alles verstehen. Wir diskutierten viel. Ich entwickelte mich zu einer valablen Gesprächspartnerin und konnte Richard in seiner Arbeit an der Universität immer besser unterstützen. Er hatte viele Ideen und eine unglaubliche Schaffenskraft, schwamm oft gegen den Strom, was viel Energie kostete.

Alles hat sich sachte und langsam entwickelt. Und immer mehr verdichtet, bis die Gefühle eine solche Dimension bekamen, dass sich nichts mehr zurück- oder verdrängen ließ. Im Moment, wo wir ein Paar wurden, war für mich klar, entweder er entscheidet sich für mich, oder ich gehe. Wobei das nur im Kopf klar war, der Bauch sagte anderes, und der Kopf ließ sich von hundert Argumenten hinhalten. Richard entschied sich nicht ganz für mich – und ich ging nicht.

Wir haben uns mehrmals getrennt, weil ich keine gemeinsame Zukunft sah. Alles war gegen uns: Seine Eltern und Geschwister hätten es nie akzeptiert. Die Gemeinschaft baute auf ihn, vertraute ihm. Auch an der Universität war er glücklich, zufrieden und gefordert. Mit enormem Einsatz baute Richard das neue Fach Vergleichende Religionswissenschaft auf, mehr und mehr Studierende saßen in seinen Vorlesungen.

Gleichzeitig war da die Nähe, das Vertrauen, die Zärtlichkeit, der Austausch. Wir genossen die Zweisamkeit so oft wie möglich. Für diese Liebe konnte ich keine Schuldgefühle entwickeln; schuldig hingegen fühlte ich mich gegenüber Eltern, Geschwistern, der Gemeinschaft, Universität und Kirche. Wir sahen keinen Ausweg. Es gab nur diese Heimlichkeit, für mich auch Isolation. Alles, was in meinem Alter dazugehörte, konnten wir nicht: ausgehen, tanzen, Freunde besuchen oder einladen, mit anderen über unsere Beziehung reden. Nicht nur in diesen Jahren habe ich viel gewartet. Ich hatte jede Menge Freizeit, unsere gemeinsame Zeit aber war spärlich und kaum berechenbar, außer im Urlaub, den wir ausnahmslos im Ausland verbrachten, an Orten, wo uns niemand Bekannter begegnen konnte.

Richard entschied, wann und wie lange wir zusammen sein konnten. Meistens kam ich damit zurecht, manchmal rebellierte ich. Dann gab Richard sich wieder mehr Mühe. Dies war der Preis für die verbotene Liebe. Er war mit Leib und Seele Priester. Öfter gab es heftige Diskussionen, aber ans Aufgeben dachten wir nie.

Wie wenig Selbstwertgefühl ich hatte, erklärt sich aus meiner Geschichte. Meine Mutter war dreißig, attraktiv und arbeitete in einem Restaurant in Grenznähe zu Deutschland. Von einem französischen Besatzungssoldaten wurde sie schwanger, zu einer Zeit, als dies noch ein Skandal war. Mein Vater machte sich aus dem Staub, meine Mutter musste die Verantwortung allein tragen. Ich war so klein, dass man ihr nichts ansah. Zwei Tage vor der Geburt sagte sie ihrem Vorgesetzten, sie müsse jetzt gehen… Man könne doch über alles reden, meinte dieser, wenn es so weit wäre, fände sich sicher eine Lösung. Zwei Tage später wurde ich geboren; es war der Tag vor Weihnachten 1952.

Ich hörte später, ich hätte Mutter in Schwierigkeiten gebracht, weil sie ihrer verwitweten Mutter nicht erklären konnte, weshalb die Tochter an Weihnachten nicht zu Hause war. Das erste Lebensjahr verbrachte ich in einem Kinderheim, wo Ordensfrauen sich um den Nachwuchs »gefallener Mädchen« kümmerten. Bereits im ersten Lebensjahr habe ich meine Mutter oft enttäuscht. Sie musste ziemlich weit reisen, um mich zu besuchen. Nach den ersten Besuchen kroch ich jeweils von ihr weg in die am weitesten entfernte Ecke. Nur wenige Monate alt, wollte ich mich wohl bereits vor Abschiedsschmerz schützen, indem ich mich gar nicht erst auf eine Begegnung einließ. Mutter schloss daraus, fälschlicherweise, dass ich sie nicht mehr sehen wollte.

Weitere vier Jahre verbrachte ich in einer Pflegefamilie mit vier Knaben, die einiges älter waren und viel Zeit in der Schule verbrachten, während ich mit meiner neuen Tante und deren Freundinnen täglich hübsch gekleidet in einem Café saß, wo Süßigkeiten gegessen, Neuigkeiten ausgetauscht und über ihre Männer gesprochen wurde. Ich fand das furchtbar langweilig und benahm mich entsprechend. Lob gab es dafür natürlich keines.

Ich war fünfjährig, als meine Mutter mich aus der Pflegefamilie holte. Sie hatte einen Mann geheiratet, den ich kaum kannte. Kurz darauf wurde meine Halbschwester geboren. Sie war süß, der Liebesbeweis des neuen Paares, der Anfang für ein gemeinsames Leben. Ich fühlte mich fehl am Platz, gab mir aber Mühe, liebenswert zu sein – schwierig, bei meiner Eifersucht auf das Baby. Mich fröstelt noch heute, wenn ich daran denke, wie ich meiner wenige Wochen alten Schwester Erdnüsse in die Nase stopfte, in der Hoffnung, dass dieses geliebte Kind endlich nicht mehr da wäre und ich diesen Platz einnehmen könnte.

Achtung konnte ich mir als »kleines Mütterchen« verschaffen; dazu hatte ich reichlich Gelegenheit, weitere vier Brüder erweiterten innerhalb weniger Jahre die Familie. Ich half meiner Mutter, wo immer ich konnte. Heute ist meine Wertschätzung groß; Mutter hat enorm viel gearbeitet, um Haus, Garten und Kinder in Ordnung zu halten und ihrem Mann eine gute Ehefrau zu sein.

Mit meiner Arbeit machte ich mich unentbehrlich und litt gleichzeitig darunter, nicht bedingungslos geliebt zu werden. Für viele meiner Wünsche gab es keine Zeit, keinen Platz, kein Verständnis. Immer öfter taten sich schwarze Löcher auf; ich liebte zwar meine Geschwister, ein Lebensfundament waren sie mir nicht. Gewiss, ich war ein schwieriges Kind. Meine Eltern wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten; sie hatten das auch nicht gelernt oder erlebt in ihren eigenen schwierigen Kinder- und Jugendjahren. Meine Mutter hatte ihren Vater verloren, als sie ganz klein war. Damals gab es keine Sozialversicherungen, meine Großmutter arbeitete bis zum Umfallen – während der ganzen Kinder- und Jugendjahre meiner Mutter und ihres Bruders, meines Götti. Die Kinder waren oft sich selbst überlassen. Mein Stiefvater wiederum war das jüngste Kind einer Großfamilie, von einem autoritären Vater in Schach gehalten. Gespräche waren selten, Züchtigungen an der Tagesordnung.

Mit knapp zehn Jahren erfuhr ich bei einem heftigen Streit mit einer Mitschülerin auf dem Pausenhof, dass ich nicht das Kind des Ehemanns meiner Mutter war, dessen Nachnamen ich trug. Die Tochter des Gemeindeschreibers wusste mehr als ich, ihr Vater hatte offenbar noch nie etwas von Amtsgeheimnis gehört. Diese Eröffnung trieb mir die Scham in Körper und Seele. Gleichzeitig bestätigte es mein Gefühl, weniger wert, nicht wirklich geliebt zu sein. Den Moment der Erklärungen hat meine Mutter verpasst. Meine Geschwister erfuhren erst im Erwachsenenalter von ihrer Halbschwester.

Zurück zu Richard und mir: Immer im Urlaub sprach er von einer Lösung; er wolle alles machen, um sich eine neue Existenz aufzubauen, um unser gemeinsames Leben auch im Alltag leben zu können. Jedes Mal schöpfte ich Hoffnung und bedauerte gleichzeitig, dass ich keine Lösung anbieten konnte. Unmöglich, mit meiner Ausbildung so viel Geld zu verdienen, dass ich Richard eine Aus- oder Weiterbildung hätte ermöglichen können. Ich träumte manchmal davon, Anwältin, Ärztin oder Gymnasiallehrerin zu sein, ein Gehalt zu haben, das für uns beide gereicht hätte. Keine Ahnung, ob das auch geklappt hätte. Sobald er nämlich wieder unter seinen Mitbrüdern im Konvent war, kam die alte Litanei, weshalb ein Ausstieg nicht möglich sei.

Im Oktober 1977 war ich schwanger. Unsere Panik war total. Hatten die Ärzte nicht versichert, ich könne meiner Anorexie wegen gar nicht schwanger werden? Deshalb hatten wir nicht verhütet. Während ich vor Angst erstarrte, verfiel Richard in Hektik. Er sah seine ganze Welt zusammenbrechen, verlangte, dass ich wegziehen müsse, sollte ich die Schwangerschaft nicht abbrechen. Worauf meine Welt zerfiel. Er liebte mich doch. Er konnte doch keinen Abbruch erwarten. Oder doch? Ich konnte mich niemandem anvertrauen, niemanden um Hilfe bitten – ohne uns zu verraten. Richard argumentierte mit meinem Gesundheitszustand: viel zu dünn, zu leicht, zu labil… Schwangerschaft würde ich nicht überstehen…Seine Gedanken nisteten sich ein. Ich konnte mir nicht vorstellen, fern von Richard ein Kind auf die Welt zu bringen, allein für dieses zu sorgen. Ich saß in der Falle. Richards Überredenskunst, mit der er mir normalerweise Lebensmut zu vermitteln suchte, setzte er jetzt ein, um werdendes Leben zu verhindern. Es gab kein Entweder-oder, es gab nur eine Lösung, wollten wir unsere Beziehung weiterleben.

Ich vertraute mich dann doch einer reformierten Pastorin an, die ich wenige Monate zuvor an einer Hochzeit kennen gelernt hatte. Sie sprach Richard jede Liebe zu mir ab, leitete aber alles Notwendige für einen Abbruch in die Wege. Sie begleitete mich während Monaten, kündigte mir ihre Freundschaft aber auf, als sie merkte, dass ich mit Richard »weiterwurstelte«, wie sie das nannte. Der Tag des Abbruchs ist tief in mir eingeritzt. Bis ans Ende meines Lebens werde ich jeden Jahrestag an mein ungeborenes Mädchen denken. Ich habe Jahre gebraucht und mehr als eine Therapie, bis ich Richard verstehen, später ihm und auch mir verzeihen konnte.

Unsicher, ob Richard mich wirklich liebte, versuchte ich, innerlich auf Distanz zu gehen, mir ein Leben ohne ihn vorzustellen, obwohl ich täglich mit ihm zusammenarbeitete, die Festtage in seiner Gemeinschaft verbrachte und jeden Sonntag zur Messe in sein Kloster ging. Ich fürchtete weitere Verletzungen, war aber unfähig, mich gegen ihn zu entscheiden.

Drei Jahre später hatte ich im Zusammenhang mit Vorbereitungen für eine Studienreise nach Lateinamerika mit einem Studenten besonders viel zu tun. Er kam öfter vorbei als notwendig, schenkte mir Blumen, lud mich erst zum Kaffee, dann zum Essen ein. Er war nett, unverkrampft, spontan. Ich gefiel ihm und er mir. Bald gingen wir ins Kino, Leute besuchen, machten all die Dinge zusammen, die ich mit Richard nicht tun konnte. Erste neue Gedanken tauchten auf: Wenn der Mann, den ich liebe, sich nicht definitiv für mich entscheiden kann, öffne ich mich für den, der mich wirklich liebt. Dann halt den Zweitliebsten auf Erden, der auch öffentlich zu mir stehen will und kann.

Richard und der neue Mann an meiner Seite waren Freunde. Wir verbrachten unsere Freizeit zusammen, gingen gar gemeinsam in den Urlaub, wobei der Freund nicht wusste, welche Gefühle ich für Richard immer noch hegte. Richard seinerseits begleitete uns wohlwollend. Wahrscheinlich aus Schuldgefühlen nahm er den Zustand hin. Er konnte mir nicht bieten, was er sich für uns gewünscht hätte – gefangen in seinem Orden und den Erwartungen der Gemeinde, seinen Erwartungen an sich selbst. Er schaute zu. Manchmal provozierte ich ihn, wollte ihm wehtun, weil er mir wehgetan hatte.

Ein Jahr nach der Studienreise beschlossen mein neuer Freund und ich zusammenzuziehen. Als Erstes kauften wir ein Doppelbett, das wir an einem Samstagnachmittag in meiner Wohnung aufbauten. Da kam Richard auf ein Bier vorbei. Die Tür stand halb offen, der Blick ins Schlafzimmer war frei. Mein Geliebter musste nochmals weg, Richard blieb sitzen. »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er. Ich erklärte ihm, wir hätten uns ein Doppelbett gekauft. Seinen Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. Erst schluckte er leer, dann begann er zu schreien: »Ich liebe dich! Ohne dich kann und will ich nicht leben, wir gehören doch zusammen!« Bücher, Vasen, Gläser flogen durchs Wohnzimmer. Jetzt war ich sprachlos. Es war das erste Mal in sieben Jahren, dass Richard »ich liebe dich« sagte. Das Äußerste bis dahin war: »I ha di gärn.« Hätte er sich vorher jemals so klar geäußert, dieses Doppelbett hätte es nie gegeben. Wir heulten, lagen uns in den Armen, und ich wusste, dass Richard immer an erster Stelle gestanden hatte und er seinen Platz nie wieder verlieren würde, wer immer mir im Leben noch über den Weg laufen würde.

Ich fühlte mich elend und glücklich zugleich. Glücklich, dass Richard wieder ganz da war, elend, meinen neuen Freund in eine so unmögliche Situation gebracht zu haben. Um diese zu klären, fuhr ich mit Richard nach Holland zum Velofahren. Die ersten zwei Tage schwiegen wir uns an. Die Kilometer in den Beinen machten uns weicher und öffneten die Herzen, meine Wut verflog. Wir konnten wieder miteinander reden, und mir wurde klar, dass ich meinen Weg mit Richard weitergehen würde.

Wie das meinem Freund beibringen, ohne von Richard zu reden? Er hatte sich mir gegenüber nicht das Geringste zuschulden kommen lassen. Ich wusste nicht, wie ich mich von ihm trennen sollte. In der Nacht nach meiner Rückkehr aus Holland schlief ich ein letztes Mal mit ihm. Beim Frühstück gestand ich, dass ich mich von ihm trennen werde; dass es nicht seine Schuld sei, ich aber nicht anders könne. Er verstand nichts. Unendlich traurig, versprach er, auf mich zu warten.

Einen Monat später stellte ich fest, ich war schwanger. Anders als das erste Mal spürte ich – trotz der Umstände – tiefe Freude. Zuerst sagte ich es Richard. Sein Kommentar war unbeholfen: »Wie habt ihr denn das gemacht?« – »Na, wie wohl?« Ich versuchte zu erklären, wie schwierig die Situation für mich gewesen ist. Er meinte, er sei bereit, jeden Entscheid, den ich fällen würde, mitzutragen. Dieser war längst gefallen, und ich war dankbar, auf Richards Unterstützung zählen zu dürfen. Der zukünftige Kindsvater hingegen litt entsetzlich und hoffte auf meine Rückkehr.

Ich verbündete mich mit meinem Kind, lebte bewusst, ernährte mich gesund – was ich plötzlich ohne Problem konnte. Ich war dreißig, das Bewusstsein, eine begehrenswerte Frau zu sein, gab mir viel Kraft. Ich erlebte eine glückliche Schwangerschaft mit genügend Abstand zu beiden Männern.

Richard war nach wie vor Ordensmann, umsichtiger Prior, engagierter Professor, begnadeter Prediger, gesuchter Exerzitienmeister und Referent, aber auch Mitglied unzähliger Kommissionen und Arbeitsgruppen. An unserem Leben hatte sich äußerlich nichts verändert.

An einem strahlend heißen Julitag im Sommer 1982 brachte ich einen gesunden Buben zur Welt. Ich war überglücklich, alles andere würde sich fügen, davon war ich überzeugt. Das Kind hat mich im Leben verankert. Als Priester, der sich rührend um die alleinstehende junge Mutter kümmerte, konnte Richard im Spital ein und aus gehen. Alle bewunderten sein Engagement, ich allein kannte den wahren Grund.

Richard wollte sein Leben nicht gleichzeitig mit Jonathans Ankunft verändern. Wir müssten uns erst ans Familienleben gewöhnen. Prioritär seien jetzt Stabilität und Sicherheit. So begann unser Leben zu dritt.

Jonathans biologischer Vater hatte eine problemlose Beziehung zu seinem Sohn. Er konnte ihn sehen, wann immer er wollte. Später, nach der Adoption durch Richard, der Taufpate war, tauschte er die Rolle und wurde Jonathans Firmpate. In allen wichtigen Momenten des Lebens war er anwesend. Er nahm Jonathan auch ohne Zögern in seine Familie auf, die er später gründete. Mit seinen Halbgeschwistern versteht Jonathan sich gut. Doch ich greife vor.

Etwa ein Jahr nach der Geburt begann Richard, Arbeit außerhalb der theologischen Fakultät zu suchen, bewarb sich an anderen Universitäten, bei Hilfswerken, NGOs im In- und Ausland. Zu alt, hieß es, zu qualifiziert, zu teuer, zu einseitig, zu stark, keine Frau in Zeiten der Frauenpromotion. Die Absagen häuften sich, ich wurde kleinlaut.

Als Jonathan zu sprechen begann, isolierten wir uns noch mehr. Die tiefe Liebe zwischen Richard und dem Buben war nicht länger zu verbergen. Wir versuchten, unsere Leben äußerlich zu trennen, uns so zu organisieren, dass es möglichst wenige Schnittpunkte gab. In der Stadt das berufliche Leben, in der Vorstadt das Leben zu dritt. Hier wurde ich zwar als alleinerziehende Mutter wahrgenommen, aber wir waren möglichst oft zu dritt. Noch war Jonathan zu klein, um genau zu verstehen, doch sein Instinkt war bemerkenswert. Wir wussten, unsere Liaison hätte jederzeit auffliegen können. Ein Damoklesschwert. Das ständige Gefühl der Bedrohung lässt sich mit Alkohol betäuben. Je weniger Richard einen Weg sah, umso größer wurde seine Abhängigkeit. Streckenweise war das Leben nur noch unerträglich. Rückblickend frage ich mich, wie wir das ausgehalten haben.

Trotz der Bedrohung und Angst hatten wir nicht den Mut, öffentlich zu unserer Liebe zu stehen und die Konsequenzen zu tragen. Wir »wurstelten« weiter. Neue Schuldgefühle schlichen sich ein, gegenüber Freunden, Bekannten, Verwandten. Wir fürchteten, sie alle zu verlieren, wenn sie erfahren würden, dass wir ein Liebespaar und eine Familie sind. Schuldgefühle hatte ich vor allem Jonathan gegenüber. Hatte ich ein Recht, ihm ein solches Leben zuzumuten? Andererseits hatte ich ihm seinen biologischen Vater weggenommen und konnte ihm nicht auch noch seinen sozialen Vater nehmen. Das Dilemma fraß meine ganze Energie, ich war immer häufiger krank, eine Infektion löste die andere ab.

1986, kurz nachdem Richard sein Amt als Prior abgegeben hatte, kam es klosterintern zu einem Konflikt. Ein Konvertit war damals Richards Student an der Universität und Mitbruder im Kloster. In einer obligatorischen Vorlesung für alle Theologen lehrte Richard, der Religionswissenschaftler, die Gleichwertigkeit aller Weltreligionen. Der junge Mann, verletzt, dass das »wahre Christentum« in diesem Unterricht keine Sonderstellung bekam, trug sein Missfallen ins Kloster, worauf Richard unbeherrscht aggressiv reagierte. Der Student schrieb einen öffentlichen Brief, er könne Richard nicht mehr als Mitbruder bezeichnen, und forderte die Mitbrüder auf, es ihm gleichzutun. Der neue Prior konnte mit der Situation nicht umgehen und bat Richard, außerhalb des Klosters eine Wohnung zu nehmen. Diese haben wir zwar möbliert und als Richards offiziellen Wohnsitz deklariert, aber außer wenigen Nächten war sie in den folgenden Jahren unbewohnt. Wie wir beide diese Zeit überlebt haben, wissen wir nicht mehr genau, Richard wohl mit viel Arbeit am Lehrstuhl – und mit Ferien. Diese Inseln gaben uns Kraft. Doch das Alkoholproblem war allgegenwärtig. Jonathan wuchs und begann zu verstehen.

Richards panische Angst, sein Leben würde in einem Scherbenhaufen enden, sobald unsere Beziehung ans Licht käme, lähmte uns zunehmend. »Angst fressen Seele auf« – der Titel von Rainer Werner Fassbinders Melodrama – war ein Gedanke, der immer wieder aufblitzte. Doch das Jahr der Wende lag noch weit entfernt.

Als wäre unser Leben nicht schon schwierig genug, geschah etwas, das unsere Partnerschaft zusätzlich belastete. Im Herbst 1988, eineinhalb Jahre nach dem Auszug aus dem Kloster, kehrten wir aus den Ferien zurück. Am folgenden Tag wurde Jonathan eingeschult. Richard vergewisserte sich, dass ich mich gut und stark fühle, er wolle mir etwas anvertrauen. Ich dachte, es gibt nichts, was mich noch aus den Schuhen hauen könnte. Was dann kam, war kaum zu ertragen. Richard gestand, er sei seit einem halben Jahr Vater eines Jungen – und wolle eine »lebbare« Lösung für alle Beteiligten finden. Als ob es das gäbe! Ich vermochte es nicht einzuordnen, nicht zu begreifen. Da war nur Schmerz und Chaos. Wir brauchten Monate, Jahre, bis wir diese Tatsache in unser Leben integrieren konnten. Eine lebbare Lösung für alle gab es nicht. Vielleicht heilt die Zeit tatsächlich Wunden, vielleicht auch nicht.