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Andrea Camilleri

Die Ermittlungen des
Commissario Collura

Deutsche Erstausgabe

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn

Verlag Klaus Wagenbach     Berlin

Die italienische Originalausgabe erschien 2002 unter dem Titel

E-Book-Ausgabe 2014

© 2002 libreria dell’ Orso srl, Pistoia

Covergestaltung Birgit Thiel unter Verwendung eines Photos © Hulton Getty.

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978 3 8031 4155 2

Inhalt

Das Mysterium des falschen Sängers

Das Gespenst in der Kabine

Die Liebesfalle in der ersten Klasse

Eine Frau, schön, jung, nackt, fast schon ermordet

Ein Stapel Frauen für den Ölmulti Bill

Die Juwelen auf dem Meeresgrund

Was geschah mit der kleinen Irene?

Das Verschwinden der untröstlichen Witwe

Gespräch über den Commissario Collura mit Andrea Camilleri

Das Mysterium des falschen Sängers

Der Commissario di bordo, der Zahlmeister, hieß mit Vornamen Vincenzo (für seine Freunde »Cecè«) und mit Nachnamen Collura. Eigentlich war Cecè Collura bisher nie Zahlmeister gewesen, und noch eigentlicher hatte er noch nie einen Fuß auf ein Kreuzfahrtschiff gesetzt. Auch auf keinen Frachter, um ganz genau zu sein. Wenn man die etwa dreißig Überfahrten auf der Meerenge zwischen Messina und dem Festland nicht als »Seereisen« bezeichnen will, konnte er als Passagier ein paar Hin- und Rückreisen mit dem Fährschiff zwischen Neapel und Palermo zu seinen Gunsten verbuchen. Das war aber auch schon alles.

Er war kein Mann des Wassers, sondern des festen Bodens. Und wenn er wirklich verreisen mußte, nahm er immer den Zug. Allein schon der Anblick stillstehender Flugzeuge am Flughafen versetzte ihn in Angst. Vor einigen Monaten noch war er Commissario gewesen, allerdings bei der Polizei, bis er sich bei einer Schießerei mit Bankräubern einen sauberen Leberdurchschuß eingehandelt hatte. Nach dem Krankenhaus und der Genesungszeit hatte man ihm sechs Monate Ruhepause gewährt. Einer seiner Verwandten, der Anteile an der Reedereigruppe besaß, hatte die brillante Idee, ihm vorzuschlagen, einen Teil dieser Ruhezeit als Zahlmeister zu verwenden. Und weil er keiner Ehefrau Rede und Antwort stehen mußte und in diesem Augenblick auch keine Beziehung mit einer Frau hatte, hatte er sich einem Crash-Kurs unterzogen, um wenigstens eine gewisse Vorstellung von dem zu bekommen, was seine Aufgaben sein sollten, und heuerte an.

Allerdings hatte er darum gebeten, einen Stellvertreter mit langjähriger Erfahrung zur Seite gestellt zu bekommen, und dies wurde ihm auch gewährt. Wie er gleich feststellen konnte, verstand sich dieser Stellvertreter, ein vierzigjähriger Triestiner, auf seinen Beruf. Wenn er eine Lösung für das Problem eines Passagiers gefunden hatte, wandte er sich in aller Regel an Collura mit den Worten: »Sie sind doch einverstanden, Commissario, oder?« Und nachdem Cecè ihm fest in die Augen geblickt hatte, um festzustellen, ob auch nur ein Anflug von Ironie in ihnen zu erkennen war, senkte er den Kopf zum Zeichen seines Einverständnisses. Sehr rasch lernte er von dem Triestiner die beste Art des Umgangs mit den Passagieren. Als Commissario bei der Polizei konnte er sich hin und wieder einen brüsken, ausweichenden, distanzierten Ton erlauben, doch hier war ihm diese Bandbreite versagt, er stand völlig im Dienste derer, die die Schiffskarten bezahlt hatten. Sie hatten bezahlt und stellten Ansprüche. Innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden besänftigte sein Stellvertreter gekonnt schlechte Launen, hörte sich Beschwerden an und versprach umgehende Lösungen. Doch dann steckte die lange Reise auf spiegelglattem Meer alle an, jede Art von Auseinandersetzungen und Reibereien legte sich, und man machte neue Bekanntschaften.

Und genau so eine neue Bekanntschaft, Signora Agata Masseroni, verheiratete McGivern, war es, die Cecè in eine, gelinde gesagt, merkwürdige Lage brachte.

Das Ehepaar McGivern, das Ehepaar Donandoni und das Ehepaar Distefano hatten ihren Platz im luxuriösesten der drei Restaurants am Tisch des Commissario, der während des Essens die Gäste angenehm unterhalten sollte. Cecè machte zwar den Versuch, sich vertreten zu lassen, doch sein Stellvertreter wies ihn darauf hin, daß diese Aufgabe von Rechts wegen dem Commissario zufiel, weil ansonsten eine ganze Kreuzfahrttradition heillos auf den Kopf gestellt würde, wenn plötzlich an seiner Stelle nur sein Stellvertreter auftauche.

Mister McGivern, der ein paar Ölquellen in Texas besaß, ging Punkt neun Uhr schlafen, bald darauf folgte ihm das Ehepaar Donandoni (er war neunzig, sie achtzig), während das Ehepaar Distefano, beide um die fünfzig, leidenschaftlich gerne tanzte, weshalb sie eilig aßen, um anschließend zu verschwinden und sich ihrem liebsten Laster hinzugeben. So saßen sich Signora Agata Masseroni, die niemals Schlaf verspürte, und Cecè gegenüber. Am zweiten Abend fragte Signora Agata den Commissario: »Begleiten Sie mich? Ich möchte mir gerne Joe Bolton anhören.«

Und wer sollte das sein? Cecè überlegte angestrengt und erinnerte sich dann, daß Joe Bolton ein Sänger war, der die Passagiere unterhalten sollte.

An Bord gab es vier Sänger, zwei Magier, acht Animateure, dazu ein ganzes Heer von Orchestermusikern.

»Ist er gut?«

Signora Agata rollte ihre Augen zum Himmel.

»Göttlich. Heute morgen hat jeder nur von ihm geredet. Also, was ist, Commissario, begleiten Sie mich?«

Sie kamen an, als Joe Bolton sich vor einem nicht mehr ganz jungen Publikum produzierte. Das Durchschnittsalter dürfte um die fünfzig gewesen sein. Da konnte man verstehen, daß er Lieder aus den Sechzigern sang. Sang? Nachdem Cecè ihm eine gute halbe Stunde zugehört hatte, stellte er sich diese Frage. Von Stimme konnte bei Joe Bolton keine Rede mehr sein, soviel war sicher, und es war nicht einmal störend. Er tat so als ob, irgendwie verstand er es, alle zu überzeugen, daß er, wenn er nur wollte, jederzeit ein hohes C schmettern könnte, das einen Kristallkronleuchter zerspringen lassen würde. Doch das tue ich nicht, schien er zu sagen, aus Zurückhaltung und der Eleganz wegen. Und alle vertrauten ihm und klatschten frenetisch Beifall, vor allem die Frauen, mit Tränen in den Augen.

»Der ist doch ein Blender«, sagte sich Cecè schließlich, »wenn der sich nur ein bißchen Mühe gibt, ist der in der Lage, uns davon zu überzeugen, daß der Mond viereckig ist.«

Einige Stunden später, als er in seiner Kabine fast eingeschlafen war, kehrte der Sänger wieder in sein Gedächtnis zurück. Er stellte ihn sich vor: Bolton mußte um die sechzig sein, hatte sich gut gehalten, war nicht groß, wirkte distinguiert, seine Augen waren von intensivem Blau, er hatte dichtes rötliches Haar mit weißen Streifen und ein dünnes Oberlippenbärtchen.

Halt. Oberlippenbärtchen. Was hat Joe Bolton denn mit seinem Oberlippenbärtchen gemacht? Die an sich selbst gerichtete Frage beantwortete Cecè auch gleich selbst: »Was soll er schon damit getan haben? Zwischen einem Lied und dem nächsten hat er sich darübergestreichelt, so wie alle.«

Oh nein, sagte der andere Cecè, der sich mit ihm unterhielt, er hat es nicht gestreichelt, er hat es an die Oberlippe gedrückt. »Und was heißt das schon?«, fragte sich Cecè. »Er hat es sich eben so gestreichelt.« Also, Cecè, jetzt hör mir mal zu, antwortete ihm der andere Cecè. Wäre die Bewegung normal gewesen, hättest du sie gar nicht bemerkt. Los, nimm’ deinen Mut zusammen und blick’ der Wahrheit ins Gesicht: Dieser Mann hatte ein falsches Bärtchen, und es war schlecht angeklebt. Und willst du jetzt alles wissen, Cecè? Dein Schnüfflerblick hat dich nicht getäuscht: Er trug ein Toupet und Kontaktlinsen. Man braucht nur wenig, um ein Gesicht zu verändern.

Die Fragen, die Cecè sich in dieser Nacht noch stellte, waren zahlreich, doch eine hämmerte immer wieder in seinem Kopf: Warum läßt einer, der sein Gesicht verändern will, sich kein Bärtchen wachsen, sondern greift zu einem falschen? Die Antwort konnte nur lauten: Joe Bolton hatte keine Zeit, sich eines wachsen zu lassen, oder er konnte sich mit diesem veränderten Aussehen nicht blikken lassen, bevor er an Bord ging.

Kaum hatte er am nächsten Morgen seinen Fuß ins Büro gesetzt, fragte er den Triestiner:

»Joe Bolton ist ein Künstlername, oder? Wie heißt er in Wirklichkeit?«

Es war ihm so vorgekommen, aber sicher täuschte er sich da, daß sein Vize eine überraschte Bewegung machte. Der Triestiner schaltete den Computer ein, mit dem Cecè nur wenig vertraut war. Das Bild des Sängers erschien auf dem Bildschirm, identisch mit Joe Bolton in Fleisch und Blut. Der Unterschied war nur, daß er Paolo Brambilla hieß, 1939 in Mailand geboren und von Beruf Sänger war. Dann folgte seine Anschrift. Cecè bemerkte, daß seine Kabinennummer nicht angegeben war.

»Wo schläft er?«

»Na ja, vermutlich in einer Viererkabine, zusammen mit den anderen Sängern.«

Irgend etwas stimmte da nicht. Vor allem stimmte in dieser Sache das Verhalten seines Vize nicht, halb ausweichend, halb verlegen.

Cecè beschloß, mit dem Triestiner nicht über seine Zweifel zu sprechen. Abends nach dem Abendessen war er es, der Signora Agata vorschlug, doch noch einmal den Sänger anzuhören. Er tat sich Boltons gesamtes Repertoire bis nach Mitternacht an, als Signora Masseroni, verheiratete McGivern, schon lange das erdölbefrachtete Ehebett aufgesucht hatte.

Er folgte Joe Bolton diskret zur Bar, wo der Sänger sich zwei schlafbringende Whiskys hinunterkippte, er folgte ihm auch, als er in den Flur mit den Kabinen der Extraluxusklasse einbog. Er sah, wie Bolton die Tür mit dem Schlüssel öffnete, die Kabine betrat und die Tür wieder schloß. Cecè war baff.

War es möglich, daß Bolton Geld genug hatte, um sich eine Kabine dieser Klasse zu leisten? Nein, es gab eine andere Erklärung: Bestimmt logierte dort eine reiche Dame, der der Sänger seine Gunst erwies. Am nächsten Tag früh morgens ging Collura ins Büro, sein Stellvertreter war noch nicht da; er fragte den diensthabenden Angestellten:

»Wer logiert in Kabine 10?«

Der Angestellte schaute im Computer nach.

»Niemand. Sie ist als unbewohnt gemeldet.«

Oh nein. Hier wurde offensichtlich versucht, ihm Schwachsinn zu erzählen. Und jetzt zeigte es sich, daß Joe Bolton auf Schutz und Komplizenschaft zählen konnte. In diesem Augenblick kam der Triestiner ins Büro.

»Ich muß mit Ihnen sprechen. Allein«, sagte Cecè harsch.

Sie gingen in das Hinterzimmer des Büros.

»Jetzt erzählen Sie mir mal alles über Joe Bolton. Und versuchen Sie ja nicht, mich auf den Arm zu nehmen, das haben Sie schon ausreichend getan.«

Sein Stellvertreter wurde rot.

»Entschuldigung, Commissario, Sie haben recht. Aber ich hatte genaue Anweisungen erhalten. Keiner konnte ahnen, daß Ihr polizeilicher Spürsinn Sie dazu bringen könnte, Verdacht zu schöpfen.«

»Verdacht worüber?«

»Sprechen Sie mit dem Kommandanten darüber, wenn Sie meinen, daß Sie das tun sollten.«

»Und ob ich das tue!« antwortete Cecè wütend und griff zum Hörer des Bordtelefons.

Kaum hörte der Kommandant den Namen Joe Bolton, sagte er Cecè, er solle unverzüglich auf die Brücke kommen.

»Dieser Bolton, der in Wirklichkeit Brambilla heißt...«, hob Cecè blind vor Wut an.

»Brambilla zu heißen, ist kein Verbrechen, oder sehen Sie das anders?« sagte der Kommandant ruhig und nahm ihm damit den Wind aus den Segeln.