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CAY RADEMACHER

MÖRDERISCHER
MISTRAL

Ein Provence-Krimi
mit Capitaine Roger Blanc

Über das Buch:

Von der Frau verlassen und in die Provinz versetzt: Capitaine Roger Blanc steht vor den Trümmern seines Lebens. Immerhin gehört ihm eine alte, von wildem Wein überwucherte Ölmühle im Süden, die er bloß renovieren muss, um sich ein wenig heimisch zu fühlen. Dazu bleibt ihm jedoch kaum Zeit, denn kurz nach seiner Ankunft wird ihm ein Mordfall zugewiesen. Und Blanc muss feststellen, dass in der Provence hinter der Idylle die finstere Gewalt lauert.

Über den Autor:

Cay Rademacher, geboren 1965, ist Redakteur bei GEO Epoche. Im DuMont Buchverlag erschienen seine Kriminalromane um Oberinspektor Frank Stave ›Der Trümmermörder‹ (2011), ›Der Schieber‹ (2012) und ›Der Fälscher‹ (2013). Cay Rademacher lebt mit seiner Familie in der Nähe von Salon-de-Provence in Frankreich.
 
Besuchen Sie den Blog von Cay Rademacher und erfahren Sie mehr über die Provence: http://provencebriefe.blogspot.fr/

 

 

 

 

Ein altes Haus in der Provence

Roger Blanc trat einen Stein weg und erschreckte dadurch einen schwarzen Skorpion. Das Biest war so lang wie sein Daumen und bog den Giftstachel drohend in die Höhe. Eine Sekunde später war es im Gestrüpp verschwunden. Willkommen zu Hause, dachte Blanc.

Er war Capitaine einer Spezialeinheit der Gendarmerie in Paris, ein Mann Anfang vierzig mit blassblauen Augen, in schwarzem T-Shirt, Jeans und ausgelatschten Sportschuhen. Ein Experte, der so viele Fälle gelöst hatte, dass er seinen Kollegen unheimlich war. Bewohner eines Appartements über den Dächern des sechzehnten Arrondissements. Ehegatte einer wundervollen Frau. Zumindest war das alles so gewesen bis zum letzten Freitag um 11.30 Uhr. Jetzt war es 9.00 Uhr am Montag und seine Karriere lag im Altpapiercontainer, Fotos seines Appartements wurden gerade im Schaufenster eines Maklers aufgehängt und seine Frau war zu ihrem Liebhaber gezogen. Er hatte schon Wochen erlebt, die besser begonnen hatten.

Die Sonne schien gnadenlos auf eine Ruine aus braungelben Steinen, mehr als 800 Kilometer südlich von Paris. Der Ort Sainte-Françoise-la-Vallée war so winzig, dass die Navigationsapp seines Nokias beinahe eine Minute gebraucht hatte, um den Weg von der Kapitale bis hierher zu berechnen. Provence. Das klang so lange gut, bis man die Karte nahe heranzoomte. Sainte-Françoise-la-Vallée lag tief im Süden, es grenzte beinahe schon an den Étang de Berre. Waren da nicht irgendwo Raffinerien und Tankerhäfen? Auf jeden Fall war Marseille nicht weit, und das bedeutete Drogen und Korruption und die Verachtung der Pariser Zentrale.

Blanc hatte das heruntergekommene Haus im Midi vor zehn Jahren von einem Onkel geerbt. Ein einziges Mal war er bis heute hier gewesen, da musste er vier oder fünf Jahre alt gewesen sein: Er hatte wenige Bilder im Kopf, ein enges Zimmer, hölzerne Fensterläden, geschlossen gegen die Sommerhitze. Sonnenstrahlen, die durch die Holzlamellen wie ein Fächer aus gelbem Licht über die Fußbodenfliesen krochen. Deutlicher war ihm ein scharfer Geschmack in Erinnerung geblieben: sein Onkel, der ihm lachend ein Glas Rosé einflößte. Er hatte es hinuntergestürzt, gierig vor Durst, und zu spät die Säure des Alkohols bemerkt.

Danach war Blanc niemals mehr zu jenem Onkel gefahren. Jahre später hatte er anstandslos die Erbschaftssteuer bezahlt, weil es ihm zu mühselig gewesen war, sich um den Verkauf eines Hauses zu kümmern, das ihm nichts bedeutete. Außerdem hatte er zu viel zu tun. Er hatte immer zu viel zu tun. Aber auch das würde sich vielleicht nun ändern. Das Anwesen war viel kleiner, als er gedacht hatte. Und viel verfallener.

Es war eine Ölmühle aus dem 18. Jahrhundert im Tal der Touloubre: ein zweigeschossiges Haus, das sich wie ein müder Wanderer an eine etwa zwanzig Meter aufragende Felswand lehnte. Wände aus grob zurechtgehauenen Steinen, so dick wie die Mauern einer Burg. Ockerrote Dachziegel, an manchen Stellen verrutscht oder gebrochen. Wilder Wein wucherte über die Mauern, das schmiedeeiserne Gitter vor den Fenstern und der Eingangstür. Deren Holz war einstmals blau gestrichen gewesen, doch die Farbe war aufgeplatzt und zu einem blassen Grau verwittert. Die Fensterläden hingen wie zerfetzte Segel in den verrosteten Angeln. Im Fluss, der um das Grundstück herumströmte, quoll flaschengrünes Wasser über bemooste Steine, Libellen huschten durch die Lichtreflexe wie winzige Hubschrauber. Vor dem Gebäude blühten Disteln und dornige Sträucher, deren Namen Blanc nicht kannte. An der hinteren Ecke wuchs ein uralter Oleander bis an die Dachkante hoch, eine betäubend duftende Wolke aus grünen Blättern und blutroten Blüten. Es war schon so heiß, dass die Zikaden in den Bäumen sägten.

Blanc fingerte einen geschmiedeten Schlüssel hervor, schwer wie ein Hammer, ein Stück, das jedes Heimatmuseum in einer Vitrine präsentiert hätte. Mit seinem Opinel-Messer kappte er die Weinranken rund um das Schloss und steckte ihn in die Öffnung. Er brauchte ein paar Minuten und all seine Kraft, bis er den verrosteten Mechanismus bezwungen hatte. Immerhin hat es niemand aufgebrochen, dachte er, atmete noch einmal die würzige Luft ein und zwängte sich danach ins dämmrige Innere.

Die Kühle eines alten Gemäuers. Der Geruch nach Staub, ein Duft wie altes Papier und Sand. Niemand hatte das Haus je leer geräumt. Blanc trat in eine Zeitkapsel ein: eine Küche mit Arbeitsplatten aus gelbem Marmor, einer uralten Keramikspüle, der Wasserhahn aus stumpf gewordenem Messing. Um einen großen Esstisch aus Holz, früher weiß lackiert, nun verwittert, standen fünf unterschiedlich geformte Stühle. Blanc betrat ein Wohnzimmer mit einem niedrigen Tisch aus den Sechzigerjahren, einem Sofa, auf dem der mumifizierte Körper einer Fledermaus lag, einem Kamin aus rußüberzogenen Steinen. Im Schlafzimmer stieß er auf einen Kleiderschrank aus Mahagoni, Empire, ein Stück, das in Paris ein Vermögen kosten würde. Daneben ein eisernes Doppelbett ohne Matratzen. (Sein Onkel war, wie sich Blanc jetzt erinnerte, dort gestorben.) Im Bad eine riesige Wanne, die auf gusseisernen Füßen in Form von grimmigen Löwen stand, dreckverkrustet, mit drei offenen Weinflaschen darin, deren Inhalt längst verdunstet war.

Blanc verzichtete darauf, die steinerne Treppe ins Obergeschoss hochzugehen. Er ging in den Flur zurück, wo auf einer kleinen Anrichte ein graues Telefon mit Wählscheibe stand. Er hob den Hörer ab. Tot. Was hatte er gehofft? Er öffnete den Sicherungskasten daneben, zögerte kurz, legte den Hauptschalter um. Er erwartete, ein Knallen der antiquierten Sicherungen zu hören, Funkenschlag zu sehen, den Gestank von durchgeschmorten Kabeln zu atmen. Stattdessen flackerte eine alte Wohnzimmerlampe auf und brannte dann gelblich unter der Staubschicht, die sich auf der Birne angesammelt hatte. Immerhin also Strom. Ihm fiel plötzlich wieder ein, dass es da seit Jahren im September eine Rechnung von EDF gab, die er nie verstanden, aber stets bezahlt hatte. Nun wusste er, wofür. Blanc zog sein Nokia hervor. Kein Empfang, das musste der Felsen sein, der die Rückwand des Hauses stützte. Hat auch seine Vorteile, dachte er.

Blanc trat wieder ins Freie, erschöpft vom letzten Streit mit Geneviève, von der langen nächtlichen Fahrt aus Paris, von der Hitze, von der Arbeit, die ihm bevorstand, um aus dieser Ruine wieder ein bewohnbares Haus zu machen. In seinem alten grünen Renault Espace befanden sich alle seine Besitztümer. Den Wagen hatten Geneviève und er angeschafft, als die Kinder noch klein gewesen waren: geräumig, aber leider so streikfreudig wie ein Gewerkschaftsfunktionär der CGT. Seine Frau – seine Exfrau – hatte ihm das Auto vorgestern überlassen. Was ihr neuer Kerl wohl für einen Wagen fuhr? Mach dich nicht zum Narren, ermahnte sich Blanc.

»He!« Eine aggressive Stimme, jenseits der Touloubre. »Diese cabane ist nicht zu verkaufen. Die gehört einem Idioten aus Paris!«

»Ich bin der Idiot aus Paris!«, schrie Blanc zurück. Er erkannte am anderen Ufer einen weißhaarigen, dabei gar nicht so alten Mann, der auf einem verbeulten grünen Traktor saß und ihn misstrauisch musterte. Hinter ihm ein weiß verputztes, schmutziges Haus undefinierbarer Form, umstellt von einem verrosteten Baugerüst ohne Holzbretter. Von irgendwoher erklang Ziegenmeckern. Muss ein Bauernhof sein, dachte Blanc. »Ich bin der neue Bewohner«, setzte er freundlicher hinzu. Das Letzte, was er jetzt brauchen konnte, war ein Nachbarschaftsstreit.

Der Mann auf dem Traktor war klein und drahtig wie ein Bantamgewichtler. »Sie dürfen bei der Renovierung das Haus nicht vergrößern«, brüllte er. »Das erlaubt die Gemeinde nicht.« Seine Stimme war von Gitanes gegerbt. Er nahm die gelbe Zigarette nicht aus dem Mund, während er redete.

»Ich baue hier kein Hotel«, versicherte Blanc. »Connard«, setzte er flüsternd hinzu, »Idiot«.

Der Nachbar rief irgendetwas Unverständliches zu seinem Haus hin, wo sich offenbar jemand verborgen hielt. Dann gab er Gas und röhrte mit seinem Traktor davon.

Blanc faltete seinen fast zwei Meter langen Körper zusammen, tauchte in den Espace und kramte im Durcheinander auf dem Beifahrersitz herum. Eine Sporttasche fiel in den Fußraum, Notizhefte und CDs quollen heraus. Er war nicht besonders geschickt, seine Arme und Beine waren zu lang und irgendwie immer im Weg. Endlich fand er seine verblichene blaue Baseballcap mit dem Aufdruck Nova Scotia. Er war geboren im Norden – dort, wo die Leute sich ungefragt bei Fremden entschuldigen, wenn es einmal zwei Tage hintereinander nicht regnet. Er hatte keine Lust, seine neuen Kollegen mit abpellendem Nasenrücken zu begrüßen.

Neue Kollegen … Es war der 1. Juli und jeder anständige Franzose faulenzte längst im endlosen Sommerurlaub. Er aber musste sich auf einer neuen Dienststelle melden. »Merde!«, fluchte Blanc und schlug auf das Lenkrad, »merde, merde, merde!«

Am Freitag um 11.30 Uhr war er in die Zentrale der Gendarmerie einbestellt worden, einem kalten neuen Zweckbau in der Rue Claude Bernard in Issy-les-Moulineaux jenseits des Périphérique von Paris. Monsieur Jean-Charles Vialaron-Allègre hatte ihn herbeordert, Enarch, Abgeordneter, Staatssekretär im Innenministerium und einer jener Männer in der Regierungspartei, deren unermesslicher Ehrgeiz erst mit dem Einzug in den Élysée gesättigt wäre. Sein Büro war im gleichen abwaschbaren Luxus eingerichtet wie die Erste-Klasse-Lounge der Air France in Roissy. Der Staatssekretär war etwa fünfzig Jahre alt, dünn, die gelichteten grauen Haare klebten mit Pomade an seinem hohen Schädel, sein Maßanzug war von der Sorte, die besonders teuer und unauffällig ist. Er hatte eine de-Gaulle-Nase, und da beim Gehen sein Kopf auf dem mageren Hals stets etwas vor- und zurückzuckte, wirkte er auf den Capitaine wie ein gravitätischer Reiher.

Blanc stand in Vialaron-Allègres Büro und schwankte vor Müdigkeit. Er hatte in den letzten beiden Monaten keinen freien Tag gehabt. Die wenigen Stunden Schlaf hatte er oft genug in der Gendarmeriestation verbracht, die gummierte Schreibtischunterlage vor dem Monitor war sein Kissen gewesen. Das war der Preis, den er zahlen musste (der einzige, wie er da noch dachte), um einen ehemaligen Handelsminister zu überführen, bevor der alle belastenden Unterlagen verschwinden lassen konnte. Eine alte Geschichte, aber noch nicht verjährt: Frankreich hatte in den Neunzigerjahren Kraftwerksturbinen an die Elfenbeinküste geliefert. Die afrikanische Regierung hatte Millionen Francs dafür bezahlt – und einige dieser Millionen waren weder in der Staatskasse noch beim Kraftwerksbauer gelandet, sondern auf Konten in Liechtenstein. Mit dieser netten Summe war später der Wahlkampf eben jenes Ministers bezahlt worden, als der sich zum Bürgermeister von Bordeaux aufschwingen wollte, um sich einen gut dotierten Alterssitz zu verschaffen.

Kein Politiker liebt einen Flic, der Korruption aufdeckt, denn mit jedem Skandal hat er das Gefühl, dass die Einschläge näher kommen. Andererseits war der ehemalige Minister ein Schwergewicht der konkurrierenden Partei des Staatssekretärs und schon drohten wieder Wahlen am Horizont. Da war es doppelt ratsam, unbestechlich zu erscheinen. Blanc hoffte deshalb, dass er befördert werden würde: Commandant der Gendarmerie. In seinem Alter. Nicht schlecht.

»Gratuliere. Sie werden versetzt.« Die Stimme von Vialaron-Allègre klang wie Kreide auf einer Schultafel.

Blanc, erwartungsvoll und erschöpft, brauchte ein paar Sekunden, bis die Bedeutung dieser Worte in seinem Hirn explodierte. »Wohin?« Er bemerkte selbst, dass er keuchte, als hätte man ihm einen Leberhaken versetzt. Paris war das Zentrum der Welt – für einen Gendarmen, wenn er Karriere machen wollte. Und für einen Nordfranzosen, der nie, nie wieder an seine muffig-feuchte Herkunft erinnert werden wollte. Der bloß fortwollte von verfallenen Reihenhäusern und stillgelegten Stahlwerken. Fort von Orten, in denen die Einzigen, die noch Arbeit hatten, die Beamten des Arbeitsamtes waren. Fort von einer Welt, in der Bier und Zigaretten zum Lebensinhalt geworden waren.

»In den Süden.«

Blancs Gedanken tanzten. Der Midi. Mafia. Provinz. Arsch der Welt. Die Müllkippe jeder Karriere. »Sie stellen mich kalt?«

Der Staatssekretär hob die Hände. »Kaltstellen? In der heißesten Region Frankreichs? Ich bitte Sie!«

Was hast du zu verbergen?, dachte Blanc. Ob Vialaron-Allègre in die Durchstecherei mit den Turbinen verwickelt war? Was hatte er damals für einen Posten? Schon Abgeordneter? In welchem Ausschuss? Zu spät: Für Millionen Franzosen war der Süden ein Traum. Jeder Wähler würde, sofern er sich für ein derartiges Detail überhaupt interessierte, die Versetzung des Korruptionsermittlers Roger Blanc als Belohnung für geleistete Dienste verstehen – und nicht als Strafe. Sehr subtil. »Wann?«, fragte er und bemühte sich, seine Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten.

mon Capitaine