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Peter Fuhrmann
Alle Lügen hört man sofort

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Peter Fuhrmann

Alle Lügen hört
man sofort

24 Begegnungen
mit großen Musikern

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ISBN 978-3-943941-45-6

© Dittrich Verlag GmbH, Berlin 2014

www.dittrich-verlag.de

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort

John Eliot Gardiner

Bachs Musik besitzt etwas sehr Gesundes

Dietrich Fischer-Dieskau

Lassen Sie die Musik natürlich fließen

Maurizio Pollini

Nichts auf der Welt darf vollkommen sein

Anne-Sophie Mutter

Mein Ideal ist mein Ideal geblieben

Herbert von Karajan

Man hat nie etwas drauf, man erwirbt es sich

Keith Jarrett

Das Klavier ist ein Ort der Verwandlung

Witold Lutosławski

Ich komponiere Musik, die ich selbst als notwendig erachte

Krystian Zimerman

Musikmachen ist wichtiger als Klavierspielen

Leonard Bernstein

Again and again: ta-ta-ta

Karlheinz Stockhausen

Sind Sie noch bei Troste?

Hagen Quartett

Vier vernünftige Leute

Frank Peter Zimmermann

Ich werde »Weldgeiger«

Maria João Pires

Viele negative Dinge belasten heute das Musikleben

Pierre Boulez

Was nicht klar ist, das ist nicht Französisch

Nathan Milstein

Bachs Glaube an Gott war absolut und umfassend

Heinz Holliger

Alle Lügen hört man sofort

Rolf Liebermann

Sänger können nie etwas vertuschen

Friedrich Gulda

Meditation im Morgenrock

Gidon Kremer

Alle in der Familie waren Geiger

Christian Zacharias

Ein Teufelskreis, in dem wir gefangen sind

Claudio Abbado

Als Musiker wie als Mensch Zeugnis ablegen

Hans Werner Henze

Musik will voll entfaltet sein

Rudolf Serkin

Klarheit und Wahrhaftigkeit

Manfred Gräter

Musik im Fernsehen ist kein Brimborium

Biographische Skizze des Autors

Künstler-Biographien

Quellennachweise

VORWORT

Jeder Mensch wird das Leben auf seine Weise betrachten. Der eine meint, dass alles Zufall ist, der andere, dass gewissermaßen alles mit allem zusammenhängt und man den Zufall nur als Vehikel für rational unfassbare Ereignisse verwendet.

Das Leben, schrieb der große französische Philosoph Montaigne in seinem freimütigen didaktischen Hauptwerk (»Essays«), sei wie die Harmonie der Welt aus lauter verschiedenen Tönen zusammengesetzt: »süßen und rauhen, hohen und tiefen, leichten und schweren.« Damit verknüpfte er die Frage, was ein Musiker, der nur einige davon liebte, uns Menschen zu sagen hätte.

Ob Zufall oder medialer Spürsinn: In den hier vorgelegten Musikerporträts, die fast alle auf Berichten und Gesprächen beruhen, die über drei Jahrzehnte hinweg in der Wochenzeitung DIE ZEIT erschienen sind, spielt womöglich beides eine nicht unbedeutende Rolle. Noch in Nachhinein gewinnen sie in vielen Äußerungen überraschende Aktualität und Dringlichkeit.

Es handelt sich dabei durchweg um musizierende Menschen, Interpreten und Komponisten, an deren Mitteilungsbedürfnis heutzutage kein Mangel herrscht. Dieses reicht auch weit über Montaignes dürftige Attribute des reinen Wohllauts hinaus und dürfte den Anreiz der subjektiven Auswahl erhöhen. Es kommen Künstler zur Sprache, mit denen man ein Zeitlang mehr durch inneres als äußeres Gespür in Berührung trat. Auch zufällig. Wie bei fast allen Zusammenkünften zu erkennen war, sind Musiker in der Neuzeit kooperativer und aufgeschlossener als zuvor. Ihr hermetisch gehütetes Ghettodasein haben viele längst aufgegeben und die wortkarge Scheu vor der Presse überwunden.

Die unstillbare Informationssucht des globalen Mediengeschäfts zwingt sie, oft erbarmungslos, über sich und die Welt beliebig Auskunft zu geben. Auch unwillig.

Der Journalist erfährt bei manchen Begegnungen oft sogar mehr als er die breite Öffentlichkeit wissen lässt. Von ihm allein hängt es ab, was er in seiner Berichterstattung davon preisgibt. Etwa nicht, dass ein vereinbartes Interview infolge eines plötzlichen Ehekrachs im Künstlerzimmer platzte; dass die Zumutbarkeit ihre Belastungsgrenze überstieg, weil der Maestro, ein Welt-Star, sich im Hotel nur in Hemd, Slip und Sockenhaltern auf ein Gespräch einließ; oder dass ein fürstlicher Konzertmanager samt Orchesterleiter den Kritiker, der anderer Meinung war, mit geballten Fäusten zu einer jubilierenden Konzertbesprechung drängen wollten. Auch sollte man eher die Gnade der Verschwiegenheit walten lassen, wenn bei einem Topkünstler mehrere Ansätze, Besuche und Versuche vergeblich waren, mit ihm einen druckfähigen Dialog zu führen. Eloquenz ist nun mal nicht jedermanns Sache. Über phänomenales Kunstvermögen befindet sie nicht. Denn Sympathie, Nähe oder Distanz werden im Umgang mit großen Persönlichkeiten von anderen Komponenten bestimmt. In ersten Begegnungen entfalten sie sich zuweilen unmittelbar.

Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgehen, dass Zuneigung und distanzierter Meinungsaustausch in dieser vielschichtigen und locker gebündelten Auslese einander nicht auszuschließen brauchen.

John Eliot Gardiner

BACHS MUSIK BESITZT ETWAS
SEHR
GESUNDES

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Einen Typ wie ihn trifft man in der Branche kaum einmal. Er braucht die Musik, sagt er, ebenso notwendig wie den Bauernhof im Südwesten Englands, auf dem er seit langer Zeit eine Öko-Farm mit einer Menge Vieh und Ackerbau betreibt. Diese Vielfalt bringe ihm die nötige Erfrischung in der Kunst. Er sei kein Hobby-Gärtner, sondern ein richtiger Bauer, betont er nachdrücklich. Und er flunkert nicht, wenn er in einem Fernseh-Gespräch, das ich vor Jahren mit ihm während der Festspiele in Salzburg führte, ausplaudert, dass er vorher bereits mit seinen Leuten vor Ort telefonisch einen langen Austausch über die gerade angelaufene Getreideernte und alltägliche Kälbergeburt gehabt habe. »Ich bin sehr glücklich«, bekräftigt er seine Befindlichkeit in unaufgeregter britischer Gelassenheit: »Ich habe eine wunderbare Familie, meinen Bauernhof und meine Musiker.« Was will man mehr. Lässt sich das alles miteinander vereinbaren?

Sir John Eliot Gardiner vermag es zu arrangieren! Er gilt als Ausnahmeerscheinung. Immer weiß er, wovon er spricht und was er sich zutraut. Halbe Sachen liegen ihm ohnehin nicht. 1943 in der Grafschaft Dorset geboren, ist er bodenständig geblieben und hat die eigene Scholle niemals verlassen – von zweckgebundenen Aufenthalten auf dem europäischen Kontinent abgesehen. Zeitweilig fühlt er sich aber auch in seiner Pariser Unterkunft recht behaglich, wenn er sich von langen Gastspielreisen in alle Welt erholt.

Dirigentische Ambitionen schlummerten schon früh in ihm: »Wenn mein Vater seine Schallplatten auflegte, habe ich schon als Kind mitgefuchtelt – mit einem Bleistift, einem Küchenmesser oder auch nur mit den Händen ... In unserer Familie wurde viel musiziert, wenn auch nicht, wie zu vermuten wäre, auf solide professionelle Weise. Meist sangen wir gemeinsam, wie meine Schwester lernte aber auch ich früh (auf Darmsaiten) Geige spielen, später Viola.«

Mit dieser amateurhaften Ausstattung suchte er während der Zeit an der Universität Cambridge, wo er Geschichte und Arabisch studierte, denn auch seinen musikalischen Weg als Autodidakt. Das änderte sich jedoch rasch und in steilem Aufstieg. Gleichsam über Nacht legte er mit der Gründung des Monteverdi-Chores, »einem der technisch und stilistisch besten Kammerchöre Englands« (The Times), und dem 1964 unter dem gleichen Schutzpatron angegliederten Orchester die Wurzeln für den sich international einstellenden triumphalen Erfolg. Das war noch nicht genug: 1978 gründete er das Ensemble English Baroque Soloists und obendrein 1990 das Orchestre Révolutionnaire et Romantique, mit dem er das klassisch-romantische Idiom auf seine Kernideen zurückführt, entschlackt und in Besetzung und Klangbild neustrukturiert aufmischt. Seither hat Gardiner ungeachtet der Gastspiele, die er da und dort mit anderen Formationen bestreitet, für seine eigenen Aktivitäten instrumental und vokal das ideale Umsetzungspotenzial zur Verfügung, das ihm lange vorschwebte und das er für sein ambitiöses musikalisches Wirken zwingend benötigt, um das weitreichende Spektrum zwischen franko-flämischer Vokalpolyphonie und klassischer Moderne abzudecken. In Kirche, Oper und Konzert.

Gleichwohl hat sich der auch mit scharfem Intellekt ausgestattete Pultstratege nie als fortschrittsbesessener Revoluzzer, erst recht nicht als nostalgisch bemühter Archivar verstanden. Die Auseinandersetzung um die auch wissenschaftlich fundierte Exegese und Sichtweise bedeutet ihm hingegen viel. Gerade die Alte Musik, mit der seine Karriere ihren Anlauf nahm, gab ihm für spätere Epochen, selbst für gelegentlich aufgegriffene moderne Werke, dankbar übernommene interpretatorische Mittel in die Hand. Das bekundet sowohl sein akribisches Korrekturvermögen in Partitur und Orchesterstimmen, wie auch seine nicht weniger exakte Kenntnis in Stilfragen, Klangzusammensetzung, Spielart, Artikulation und Rhythmik. Ohne die Pionierleistungen des Begründers der »Originalklang-Praxis« Nikolaus Harnoncourt auch nur annähernd schmälern zu wollen, hat Gardiner nicht nur damit einen der eigenwilligsten Umdenkungsprozesse im aktuellen Musikbetrieb angestoßen. Dabei käme er niemals auf die Idee, zu behaupten, man müsse etwa Bach heutzutage so interpretieren, wie dieser damals seine Werke gehört hat oder hätte hören wollen. Eine solche Denkweise, meint Gardiner, führe zu purem Nonsens. »Die Musik aus langer Vergangenheit müssen wir nicht spekulativ, vielmehr aus der Fülle zeitnaher Forschungen, Erfahrungen und Emotionalität ins aktuelle Klangbild setzen. Aus der Sicht eines Menschen in seinem eigenen Jahrhundert.«

Schon früh hat der ungemein beflissene Engländer vor allem mit seinen zahlreichen Schallplattenaufnahmen auch hierzulande auf sich aufmerksam gemacht und schnell Fuß gefasst. Am Beginn stand sein sensationelles Debüt bei den Göttinger Händel-Festspielen, deren Leitung ihm bereits 1981 übertragen wurde. »Noch ist Händel nicht rehabilitiert«, hatte John Eliot Gardiner damals den Zuhörern in seiner programmatischen Antrittsrede mit dem Mut eines Bekenners zugerufen und schonungslos angeprangert, um was nicht nur sie im Laufe der Zeit fatalerweise betrogen wurden. »Ich möchte mit meinen Interpretationen Missverständnisse ausräumen«, prophezeite er lautstark. »Mein verdienstvoller Vorgänger hat Händel nicht anders als Beethoven musiziert.« Erst vor wenigen Monaten, äußerte er damals, habe er mit der Dresdner Staatskapelle Werke von Hasse und Gluck dirigiert: »Das Bruckner-Strauss-Syndrom war nicht herauszuschlagen.« Überdies tadelte er auch Karl Böhms Mozartbild. Es sei »eine arge Verfälschung und klinge wie Bruckner. Als schwer korrigierbare Bürde habe es einer ganzen Epoche seinen Stempel aufgeprägt. »Die Orchesterfarben unterscheiden sich in nichts. Böhm ist noch mit dem romantischen Stil des 19. Jahrhunderts aufgewachsen, ich hingegen habe die Musik chronologisch studiert und sehe Mozart auf dem Gipfel einer langen Entwicklung. Ich möchte auf ihn ein absolutes neues Licht werfen.«

Es war also nur eine Frage der Zeit, wann er dieses Vorhaben in die Praxis umsetzen würde. Ein waghalsiges Unterfangen allemal, das ihn die Hamburger »Archiv-Produktion« gleichwohl mit dem Auftrag der Einspielung sämtlicher Klavierkonzerte mit den English Baroque Soloists und Malcolm Bilson (an einem 1977 in den USA nachgebauten Hammerklavier) um die Mitte der 1980-er Jahre mutig und tatkräftig realisieren ließ.

In der kleinen Londoner St. John’s Kirche am Smith Square war ich öfter als Beobachter dabei und hatte Gelegenheit, ihn bei Proben und Einspielungen in seinen Auffassungen und Absichten aufmerksam ins Visier nehmen zu können. Die Zielvorgabe hatte er zuvor ja mit äußerster Dringlichkeit markiert. Auf der Grundlage des originalgetreuen Instrumentariums ging es dabei um die systematische Wiedergewinnung der klassischen Farben und Artikulation, bei der in Gardiners arbeitsintensiver klanglicher Durchsetzung, wie mir vor Ort erschien, offenkundig auch frappierende Ergebnisse ins elektroakustische Medium transferiert wurden. Im Pausengespräch räumte er ein, dass es ihm ohne die beharrliche Vorarbeit mit Händel schwerlich gelingen könne, eine so zwingende Balance zwischen dem unsanft scheppernden Pianoforte, den klappenlosen Holzbläsern, Naturhörnern (ohne Ventile) und Streichern (mit Darmsaiten plus alten Bögen) zu garantieren. In mancherlei Hinsicht befand man sich schließlich damals noch in grauer Pionierzeit.

Über Purcell, Händel, Gluck und andere Vorläufer hinaus also nun auch Gardiners Mozart: neugetönt, von nahezu apollinischer Klarheit und eminenter Differenzierungskunst, die man vorher so nicht kannte. Eine auch in unmittelbarer Nähe gewonnene Neuerfahrung, die das konventionelle Produkt weitgehend verwarf und seine mangelhafte, verfälschende romantische Hülle abgestreift hatte. Es war sozusagen die »Innenseite der Außenseite«, die Gardiner hervorkehrte, die Schwerelosigkeit und Reinheit der Figuren, Stimmenverläufe und Harmonien (vor allem in langsamen Sätzen). Überraschende Aufschlüsse ergab dabei nicht zuletzt die unsentimentale, straffe und leichtfüßige Gangart Mozartscher Musik, wie sie wohl der damaligen Zeit – erst recht der Gegenwart – eher zu entsprechen schien. Die in allem waltende philologische Sorgfalt, sich auf teils neuentdeckte oder allgemein verfügbare Autographe stützend und gängige Ausgaben revidierend, war in so enger Kooperation ebenso vorteilhaft wie last, but not least Gardiners hellwaches Musikantentum und minuziöse Detailbesessenheit. Eine bahnbrechende Neuerung mit Folgen. Der überlieferte Zuschnitt der Musik Mozarts »à la Böhm« war damit zwar nicht restlos außer Kurs gesetzt, das Alte sah aber nun wirklich alt aus. Und mancher Künstler, der gängige Abziehbilder produzierte, musste nun gewaltig umlernen.

Doch nicht Mozart, dessen Standardopern John Eliot Gardiner in Kombination von Theater-Gastspielen und Schallplattenproduktion als letztes Großprojekt bei der Deutschen Grammophongesellschaft erfolgreich realisierte, und auch nicht Beethoven, Schumann, Brahms, Debussy, bis hin zu Operetten stehen im Mittelpunkt von Gardiners künstlerischen Leidenschaften, sondern letztlich, geistig wie religiös betrachtet, auch in tiefster Überzeugung das kompositorische Oeuvre von Johann Sebastian Bach. Seinetwegen nahm er die schwere Bürde auf sich, innerhalb eines Jahres (1999-2000) auf einer Pilgerfahrt zu Bachs (und anderen) Wirkungsstätten (von Weimar bis New York) in 78 Konzerten alle Kantaten aufzuführen. Und da ihm die Hamburger Plattenfirma für die geplanten riskanten Live-Mitschnitte kurzfristig die Beihilfe entzog, sah er sich gezwungen, für deren unfreiwillig lange verzögerte Veröffentlichung eine eigene Firma zu gründen (»Soli Deo Gloria« – SDG), um das fulminante Paket schließlich in eigener Regie herauszubringen. Trotz größter Herausforderungen hat er es nicht bereut. Der Absatz floriert.

Schon in seiner Kindheit hatte er mit Bachs Musik regen Umgang. Zuhause sei er einfach daran gewöhnt gewesen, dessen Motetten, die er bis heute zum Größten seiner Kompositionsfülle hält, zu singen. »Bachs Musik besitzt etwas sehr Gesundes, sie hat einen außergewöhnlichen, einen heilenden Effekt, mehr als die Musik jedes anderen Komponisten.« Wegen dieser »heilenden« Qualität allein habe er es wagen können, ein ganzes Jahr nur mit Bach zu verbringen. »Bach,« sagte er in einem sehr bemerkenswerten Interview der FAZ, »ist sicherlich der komplexeste Musiker, der je lebte, und zwar durch die schiere Dichte seines musikalischen Denkens und durch die musikalischen Mittel, die ihm zur Verfügung standen, um jede Art von mathematischen und philosophischen Verhältnissen, religiösen, theologischen Untermauerungen des Evangeliums zu erzielen. Aber es geschieht bei ihm nicht als Einschüchterung des Hörers. Er fordert den Interpreten heraus, aber schüchtert ihn nicht ein ... Ich sehe Bach als jenen Komponisten an, der am erfolgreichsten die vertikale und horizontale Struktur verbunden hat, stimulierender als jeder andere große Komponist«. Das ist eine kompetente, zutiefst geläuterte und durch langen Umgang mit dem Objekt genährte Definition des universalen Genius Bach. Keiner hat die Musikgeschichte so geprägt, was alle wissen, die seither diese Kunst betreiben. Insbesondere einer seiner besten Kenner, dem inzwischen zu Recht die neu geschaffene Position eines Stiftungspräsidenten des Leipziger Bach-Archivs übertragen worden ist.

Denn Sir John Eliot Gardiner hat mit unbeirrtem Streben sein Scherflein dazu beigetragen, dass es in der interpretatorischen Umsetzung heute entschieden klarere Vorstellungen über diese und weitere Perioden der Musik gibt. Nicht nur mit seinem Stammpersonal aus der britischen Hauptstadt ist er den dornigen Weg reformerischer Denkmalpflege gegangen – von 1983 bis 1988 auf fremdem Gehege an der Opéra de Lyon und kurze Zeit (1991-94) als Chef des renommierten NDR-Sinfonieorchesters in Hamburg. Vielmehr hat er sein Ideal im Nachhinein auch bei Ensembles der höchsten Kategorie (Wiener und Berliner Philharmoniker) versucht, ohne hinterlassene Spuren freilich. Denn selbst beim vertrauteren London Symphony Orchestra, mit dem er unlängst Beethoven-Sinfonien und auf einer Gastspielreise 2013 Strawinskys Oedipus Rex und Apollon musagète brillant und zeitkonform musizierte, lässt sich auf Dauer sein rebellisch-drängendes Umformen nicht konservieren. Vielleicht im Verlauf längerer Zeit, wenn sich ihr Geist wandelt. Mit solcherart Überschneidungen muss Sir John einstweilen wohl noch leben, und sei es mit Mozarts Le nozze di Figaro in der üblichen Hausbesetzung am Londoner Opernhaus Covent Garden. »Horses for courses« nennt er das – das passende Pferd für jede Gelegenheit.

Ohne Umschweife bleibt die Europareise 2012 mit Beethovens Missa solemnis indes allen Menschen, die sie hörten, in tiefster Erinnerung. Als erfahrener und geläuterter Kenner dieses singulären Meisterwerks, das der Komponist seiner nahezu unmenschlich hohen Anforderungen wegen selbst als »l’oeuvre le plus accompli« bezeichnete, neigt man zu der Ansicht, dass es selbst unter den größten Interpreten dazu Vergleichbares bislang nicht gegeben hat. Eine darauf eingeschworenere Gemeinschaft der 40 hochgeschulten Sänger des Monteverdi-Chores und des im authentischen Klang auftrumpfenden Orchestre Révolutionnaire et Romantique nebst Solisten kann man sich danach kaum vorstellen. Dazu entwickelte Gardiner, Anglikaner, schon seit den 1980-er Jahren ein überkonfessionelles eigenes Konzept. Ein kühnes Unterfangen, wenn man bedenkt, dass die Texte, oft in Mittelstimmen und Extremlagen der Soprane, adäquat hörbar gemacht werden müssen, ohne dass sie an Schlagkraft im gesamtdramatischen Duktus einbüßen. »Das sind ganz grundlegende Interpretationsprobleme, die so furchteinflößend bleiben wie eh und je.«

Bei der Einsicht in diesen kirchenmusikalischen Kosmos kommt dem Chor- und Orchestererzieher zugute, dass er in der bewährten puritanischen Knabenchortradition von Cambridge erzogen wurde. So kannte er bereits die weitreichenden vorbarocken Gesangsrevolutionen, was den vorangegangenen Stardirigenten durch ihr Festhalten an der spätromantischen Überlieferung einfach fehlte. Das in langatmigem Training entwickelte, vokal wie instrumental hochkarätige Ensemble Gardiners trägt mit Beethovens Missa solemnis indessen, auch weit über die sensationellen Interpretationen der Bachschen Motetten, Kantaten, Passionen und der h-Moll- Messe hinaus, schon seit über einem Vierteljahrhundert reifste Früchte. Der Hörer sollte, falls er damit zurechtkommt, die Partitur zur Hand nehmen, um nachvollziehen zu können, wie akribisch jede Note im Ausdruck erarbeitet ist. Allein die fulminante Exaktheit in Rhythmus, Akzent, Intonation und Dynamik lässt da alles Herkömmliche weit hinter sich: von den penibel ausbalancierten Pianissimo-Abstufungen sowie der geradezu tänzerisch leichten Stimmenfortschreitung ganz zu schweigen. Proto-Beispiele wären da die immense Schlussfuge des Credo, die in der Konsequenz von thematischer und kontrapunktischer Artikulation, selbst in extremer Diskantlage, insbesondere in der Verkürzung (Allegro con moto) den Gipfel vokaler Ausführbarkeit erreicht; oder die entsprechende Gloria-Fuge, die für Beethoven-Experten als magische Größe zwischen der zuvor komponierten Hammerklaviersonate und der späteren Großen Fuge rangiert. Sind derlei »mörderische« Partien jemals zuvor elastischer und schlackenloser zu Gehör gebracht worden? Kommen in anderen Aufführungen oder Einspielungen die horizontalen wie vertikalen Klangsubstanzen so exorbitant zur Wirkung wie in Gardiners rundum faszinierender Neuerschließung?

Als er das Werk zum ersten Mal für die Schallplatte produzierte, spielte der Zufall Geschichte. Das Datum des Live-Mitschnitts in einer Londoner Kirche hat für alle Zeiten Symbolgehalt: 9. November 1989, die Nacht, in der in Berlin die Mauer fiel.

Dietrich Fischer-Dieskau

LASSEN SIE DIE MUSIK
NATÜRLICH FLIESSEN

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So ganz unrecht hatte Max Frisch nicht, als er Mitte der 1960-er Jahre bei der Schallplattenaufnahme von Mozarts Don Giovanni unter Karl Böhm im Prager Ständetheater, dem Uraufführungsort, als Zuhörer dabei war und anschließend geäußert haben soll, der Interpret der Titelfigur habe gar nicht wie ein Sänger ausgesehen. Selbst derjenige, dem diese gewiss nicht abwertende Bemerkung galt und der sie prompt der Nachwelt überlieferte, schien amüsiert und konnte über die ungewöhnliche Charakterisierung nur schmunzeln. Ohne Frage hatte den bekannten schweizerischen Schriftsteller das studiotechnisch nüchterne Erlebnis dennoch so hingerissen, dass er entgegen seiner sonstigen Beherrschtheit ins Schwärmen geriet. Was Dietrich Fischer-Dieskau ihm in Prag an sängerischer Darstellung und Gestalt vermittelt hatte, übertraf alles, was er erfahrungsgemäß im Operngenre bis dahin für möglich gehalten hatte.

In der Tat war Dietrich Fischer-Dieskau ein Sänger, wie es ihn in der Vergangenheit nicht gegeben hatte. Seine Einmaligkeit ist ebenso unstreitig wie seine Leistungsbilanz. Bis heute suchen sie ihresgleichen. Im Zeitraum von über 40 Jahren hat er lyrisch und dramatisch nahezu alles berücksichtigt, was der Werkkatalog seiner Baritonstimme zur Verfügung stellte. Schon allein mit dem von ihm ehrgeizig und hartnäckig beackerten Spezialgebiet, dem Liedgesang, hätten andere in ihrer Laufbahn mehr als genug zu tun gehabt. Oratorien und Kantaten kamen in Fülle hinzu. Zweifellos zählt er zu den berühmtesten Sängern unserer Zeit. Als Darsteller markanter Opernrollen bleibt er vielen unvergesslich, als Inbegriff eines deutschen Liedersängers hingegen verehrt ihn die ganze Welt.

Wie viel Nähe sich ein Journalist bei einem Künstler solchen Kalibers leisten kann, ist eine delikate, meist sogar höchst diffizile Angelegenheit und schon gar nicht zu verallgemeinern. Jede Künstlerin und jeder Künstler ist anders. Ob man an sie herankommt, hängt von mancherlei Imponderabilien ab. Die einen verhalten sich im Umgang mit der Presse eher zögerlich, abweisend, auch überheblich, bisweilen feindselig; die andern können gar nicht genug davon haben, sie gerieren sich durchweg als publicity-süchtig, leiden zwar nicht gerade an Selbstüberschätzung und Eitelkeit, sind aber geradezu krankhaft darauf versessen, wann und wo auch immer gelesen, gesehen und gehört zu werden.

Den Medienleuten, die diese Spezies möglicherweise nicht sonderlich schätzen, jagen sie regelrecht nach. Dieses Geltungsbedürfnis und Gehabe konnte Dietrich Fischer-Dieskau mit seinem stattlichen Gardemaß als Mensch und Künstler niemals anfechten. Er war aus anderem Holz geschnitzt, wirkte eher diskret und scheu im Verkehr mit der Umwelt. Selbstbeweihräucherung wie dünkelhafte Ehrsucht waren ihm fremd. Schon bald nach Karrierebeginn hatte er erkannt und bekundet, dass er von wenigen wohltuenden Ausnahmen abgesehen, nicht gut in die Menschenart passte, mit der er hauptsächlich arbeiten müsste. Also hatte Max Frischs flüchtige Begegnung, ohne nähere Umstände zu kennen, den Kern der Sache ziemlich genau erfasst und korrekt beschrieben. Auf Abstand und Diskretion hat der ruhmreiche, zu recht erfolgsverwöhnte Sänger immer bestanden. Diesen strengstens auferlegten Selbstschutz hatte er mit Herbert von Karajan gemeinsam, an den sich ohne ausdrückliches Plazet ebenfalls niemand heranwagen durfte. Mit unwiderstehlicher Gewissheit hätte ihn sonst der Blitzstrahl Jupiters getroffen!

Wie viel Taktgefühl und psychologisches Geschick es erfordert, einem Künstler wie diesem genuinen Träger der vox humana zu begegnen, erlebte ich zum ersten Mal mit ihm und seiner Ehefrau Julia Varady nach einer Neuinszenierung von Verdis Spätwerk Falstaff an der Bayerischen Staatsoper. Das altersweise, komödiantisch brillante, aber mit »harten Nüssen« vollgepackte summum opus hatte der legendäre Altmeister Günther Rennert zum Abschied von seiner wohl einflussreichsten Wirkungsstätte ausgewählt und mit Dietrich Fischer-Dieskau als Protagonisten optimal in Szene gesetzt. Nach Carl Ebert und Luchino Visconti (Berlin und Wien) war es für ihn die dritte Einstudierung, über die er in einer sich unmittelbar an die Aufführung anschließenden privaten Nachfeier in einem nahe gelegenem Restaurant sich überschwänglich äußerte. Mit dem Kollegen und Freund Karl Heinz Ruppel, der die noble Zusammenkunft arrangiert hatte, fühlten wir uns im fast leeren Raum putzmunter und behaglich, so dass wir ganz ohne Bedenken und Bedrängnis, vom Furor des Augenblicks mächtig angetrieben, offen unsere Begeisterung und möglichen Einwände austauschen konnten.

So viel Witz, Charme, Unbefangenheit und Lockerheit hatte ich nach einer so aufreibenden, kräfteverzehrenden Anstrengung nicht erwartet, zumal die allerseits bekannten Tätigkeiten in Oper und Konzert, überdies die unzähligen Vermächtnisse im Schallplattenmedium mir einen tiefgründigen Respekt vor dieser singulären Künstler-Persönlichkeit eingeflößt hatten. Ein Riesenhorizont tat sich in mir auf, der die Beschlagenheit des Musikers und Menschen Fischer-Dieskau über gängige Maßstäbe und Themenkomplexe weit hinaushob. Politik und Zeitgeschehen berührten ihn nicht weniger als das forschende Nachdenken über Wissenschaft und Philosophie.