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Inhaltsverzeichnis

ÜBER DIE AUTORIN
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Copyright

DIE AUTORIN

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Monika Feth wurde 1951 in Hagen geboren. Nach ihrem literaturwissenschaftlichen Studium arbeitete sie zunächst als Journalistin und begann dann, Bücher zu verfassen.

Heute lebt sie in einem kleinen Ort in der Nähe von Köln, wo sie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene schreibt. Ihre Bücher wurden vielfach ausgezeichnet und in 15 Sprachen übersetzt.

 

 

 

 

 

 

 

 

»Eine verrückte Geschichte, spannend und witzig.« Sender Freies Berlin

»Ein Buch, das Mut macht für den Sprung in die Eigenständigkeit.« Darmstädter Echo

1

Sie waren immer noch nicht da. Still und irgendwie feierlich lag die Straße im Nachmittagslicht. Die Kelche der Tulpen in den Vorgärten waren weit geöffnet, Ginster und Rhododendron standen in voller Blüte, Vergissmeinnicht wuchs in dichten Büscheln. In den Gärten krakeelten die Vögel, im Blau darüber bauschten sich Wolken, alles war für Omas Ankunft bereit. Evi schloss die Haustür. Sie schlenderte ins Wohnzimmer zurück, ließ sich in einen Sessel fallen und stöhnte vor sich hin.

Vera sah von ihrem Tagebuch auf und stieß gereizt den Atem aus. »Bitte, Evi! Schneid dir die Fingernägel, wasch dir die Haare, mach Kopfstand, geh spazieren oder rüber zu Tom. Tu irgendwas! Aber hör auf mit diesem nervenden Herumgetigere und Gestöhne. Wie soll man sich denn da konzentrieren?«

Evi stöhnte noch einmal, jetzt erst recht. Dieses blöde Tagebuch! Vera war regelrecht süchtig danach. In jeder freien Minute kritzelte sie darin herum. Wenn sie ausnahmsweise mal nicht damit beschäftigt war, lag es unter ihrer Wäsche in der Kommode versteckt. Als wäre das noch für irgendwen ein Geheimnis! Wahrscheinlich stand auch eine Menge über Oma darin. Vera hatte sich bis zuletzt erbittert dagegen gewehrt, sie aufzunehmen. Die Vorstellung, ihr Leben umkrempeln zu müssen, um mit einer alten, dazu noch verwirrten Frau zusammenzuleben, war ein Horror für sie. Aber die Eltern hatten sich durchgesetzt.

Evi stöhnte ein letztes Mal laut und vernehmlich, stand auf und ging in die Küche. Diese Warterei machte sie fertig.

»Wo ist Vera?«, fragte die Mutter. Sie schüttete Kirschen aus einem Einweckglas in ein Sieb, um sie abtropfen zu lassen.

»Im Wohnzimmer«, sagte Evi. »Sie schreibt mal wieder.«

»Sag ihr, sie soll den Tisch decken.« Die Mutter steckte sich eine Kirsche in den Mund und leckte den Saft von den Fingern. »Und du könntest die Sahne schlagen.« Sie öffnete die Kühlschranktür, zog einen Sahnebecher heraus und drückte ihn Evi in die Hand. Er war eiskalt. Die Härchen an Evis Armen richteten sich auf.

»Tischdecken!«, brüllte sie und begann nach dem Rührgerät zu suchen. Nichts in diesem Haushalt war da, wo es hingehörte. Die Eltern verbrachten zu wenig Zeit zu Hause, um auch nur eine Stunde davon an so unwesentliche Dinge wie Ordnung zu verschwenden.

Veras Gesicht zeigte deutlich, dass sie die Aufforderung, den Tisch zu decken, für eine Zumutung hielt. Sie wollte Schriftstellerin werden und hatte Besseres zu tun. »Das gute Geschirr?«, fragte sie lahm.

»Natürlich.« Die Mutter nahm sich noch eine Kirsche. »Heute ist doch ein besonderer Tag.«

Wortlos hob Vera das Blümchengeschirr aus dem Schrank. Evi hatte das Rührgerät inzwischen im Vorratsschrank entdeckt, wo es zwischen leeren Eierkartons und dem Bügeleisen ein ziemlich ereignisloses Leben fristete. Sie schlug die Sahne, füllte sie in eine Schale und steckte einen Löffel hinein. Im Wohnzimmer schepperte es.

»Vera! Sei doch vorsichtig!« Die Mutter streifte die Topflappenhandschuhe über, öffnete den Backofen und zog den duftenden, dampfenden Tortenboden heraus.

Evi trug die Sahneschale zum Esstisch ins Wohnzimmer. Vera saß auf dem Sofa, wieder über ihr Tagebuch gebeugt. Evi öffnete die Terrassentür und ging in den Garten hinaus.

Jasper lag auf dem blauen Mooskissen und drückte die Blüten platt. Er begrüßte Evi mit einem gurrenden Laut und drehte sich träge auf den Rücken. Evi hockte sich neben ihn und kraulte ihm den Bauch. Jasper schloss die Augen bis auf einen schmalen Spalt und schnurrte.

»Oma kommt heute«, sagte Evi.

Jasper blinzelte sie grünäugig an. Das hatte sie ihm schon hundertmal erzählt. Wollüstig fuhr er die Krallen aus, zog sie wieder ein und schnurrte ein wenig lauter. Im Teich sprang ein Fisch. Kleine Wellen liefen über das Wasser und zitterten aus, bis die Oberfläche wieder glatt war wie ein dunkler Spiegel. Jaspers Ohren waren dem Geräusch gefolgt, doch als es sich nicht wiederholte, beschloss er, sich nicht weiter darum zu kümmern.

Evi stand auf und sah sich um. Das Grün war noch zaghaft und unbestimmt, das Licht der Sonne weich. Der Teich erwachte nach dem langen Winter wieder zum Leben, aber es würde noch eine ganze Weile dauern, bis er zugewachsen wäre. Sie pflückte ein paar Traubenhyazinthen und Gänseblümchen und ging zum Haus zurück. Jasper erhob sich vom zerknautschten Moos. Er gähnte, machte sich lang und heftete sich dann an ihre Fersen. Evi steckte ihm immer Leckerbissen zu und es war höchste Zeit für eine Zwischenmahlzeit.

Die Sonne leuchtete das Wohnzimmer aus, sacht wehte der Vorhang mit dem Luftzug. Jasper blieb in der Tür stehen und überlegte, ob er die Schatten ein bisschen jagen sollte, aber Evi war schon in der Küche, aus der es verführerisch klapperte, knisterte und raschelte. Probehalber machte er einen Satz und gab dann doch den viel versprechenden Stimmen aus der Küche nach.

Evi legte die Blumen auf den Tisch, kratzte den Rest Sahne aus dem Topf und füllte ihn in Jaspers Napf. Jasper schlabberte ihn gierig auf. In seine Ahnengalerie musste sich irgendwann einmal ein Schwein verirrt haben, ein Hängebauchschwein, wenn man nach Jaspers Äußerem ging. Evi suchte nach der blauen Vase und fand sie beim Kochgeschirr. Sie gab Wasser hinein, die Blumen und stellte die Vase auf den Esstisch. Vera hatte eine weitere Seite mit ihrer großen, runden, eiligen Schrift bedeckt. Die elfte? Die zwölfte? Sie blätterte um und nahm sich die nächste vor.

Evi warf sich neben sie aufs Sofa. Veras Füller kritzelte einen erschreckten Schnörkel. »Pass doch auf!«

»’tschuldigung.« Evi beugte sich vor. »Schlimm?«

Vera legte rasch die Hand auf die Seite. Evi sparte sich eine Bemerkung darüber. Sie war heute nicht zum Streiten aufgelegt. »Dass dir immer was zum Aufschreiben einfällt«, sagte sie. Es gab nicht viele Gründe, ihre Schwester zu bewundern, aber für ihre andauernde Schreiblust bewunderte Evi sie wirklich. Fünf dicke Tagebücher hatte Vera bereits voll geschrieben, und das freiwillig. Sie lagen in ihrem Schrank, unter Wollresten, Tüchern und verunglückten Strickversuchen begraben.

Jasper kam aus der Küche, ließ sich auf dem sonnengefleckten Teppich nieder und putzte sich. Vera beobachtete ihn angewidert. Wenn sie die Nase rümpfte, sah sie nicht wie sechzehn aus, sondern mindestens schon wie siebzehn.

»Du hast ihm wieder was gegeben! Irgendwann wird dieser Kater noch an galoppierender Verfettung eingehen.«

»Es war nur ein klitzekleiner Sahnerest«, verteidigte Evi ihn. »Er mag sie doch so g…«

»Stopf ich mich etwa mit allem voll, was ich mag?« Veras Stimme klang wie die Stimme der Gefängniswärterin in Unschuldig hinter Gittern. Evi hatte bei diesem Film ein halbes Päckchen Taschentücher nassgeheult.

Ihr Blick glitt über Veras Körper. Arme und Beine schienen nur aus Muskeln und Sehnen zu bestehen, die Handgelenke waren schmal, die Finger lang, schlank und gerade. Unter dem Sweatshirt zeichnete sich die Wirbelsäule ab, nirgendwo war auch nur ein Gramm Fett zu viel. Evi zog den Bauch ein.

Das Licht fiel auf Veras Kupferhaar, dass es schimmerte wie mit Gold bestäubt. Ihre Wangen hatten Aprikosenflaum. Die Vorteile und die Nachteile waren zwischen ihnen ziemlich ungerecht verteilt. Vera hatte alle Vorzüge auf einmal abgesahnt, während Evi sämtliche Nachteile mit sich herumschleppen musste. Sie fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Es war längst nicht so kräftig wie Veras Haar und es war auch nicht rot. Es war nicht blond, nicht braun und nicht schwarz. Wenn es überhaupt eine Farbe hatte, dann die von feuchtem, absolut nichts sagendem Sand. Ihre Figur war ein wenig plump, die Eckzähne standen schief und waren schuld daran, dass sie nachts eine Zahnspange tragen musste. Und dann ihre Füße – mindestens zwei Nummern zu groß geraten.

»Ist was?« Selbst mit gerunzelter Stirn war Vera schön.

»Nö.« Evi stand auf, stieß die Hände in die Hosentaschen und verzog sich deprimiert in die Küche.

Die Mutter hatte den Tortenboden mit den Kirschen belegt und verteilte nun den Tortenguss darauf. Evi sog den Duft von Obst und Kuchenteig tief ein und sah aus dem Fenster. Nichts. »Ich geh noch mal bei Tom vorbei«, sagte sie. »Diese Warterei hält ja kein Mensch aus.«

 

»Hallo«, sagte Tom über die Schulter. »Ich dachte, deine Oma kommt.« Er fütterte seine Fische mit getrockneten, stinkenden Flöhen.

Evi atmete so flach wie möglich. »Tut sie auch. Vielleicht ist Stau auf der Autobahn.« Die Fische kamen an die Oberfläche und schnappten rundmäulig nach dem Futter. Ihre Leiber waren wie aus Transparentpapier und schillerten in allen Farben.

Tom verschloss die Futterdose, stellte sie weg und wischte sich die Hände an der Hose ab. Er rückte seine Brille zurecht und kratzte sich im Nacken. »Meine Mutter sagt, sie würd’s nicht machen.«

Evi beobachtete, wie die Futterteilchen langsam zu Boden sanken. »Was würde sie nicht machen?«

»Deine Oma ins Haus nehmen.«

»Muss sie ja auch nicht.«

»Sie sagt, deine Oma könnte ein Pflegefall werden.«

Vier große Fische jagten einen kleinen. Sie scheuchten ihn kreuz und quer durch den schaukelnden, schwebenden Wasserpflanzenwald, bis sie die Lust daran verloren.

»Quatsch«, sagte Evi.

»Aber sie spinnt ein bisschen, oder nicht?«

Wenn das jemand anders gesagt hätte, dann hätte Evi ihm jetzt eine geklebt. »Sie ist höchstens manchmal ein bisschen … durcheinander. Vergisst, wo sie Sachen hingelegt hat und so. Passiert dir das nie?«

»Schon«, sagte Tom. »Nur…«

Die Jagd begann von vorn. Evi hob die Hand und steckte die Finger ins Wasser. Panisch stoben die Verfolger auseinander. Aber all die andern Fische auch.

»Spinnst du?« Tom konnte es nicht leiden, wenn man seine Lieblinge erschreckte.

»Klar«, sagte Evi ruhig. »Genau wie meine Oma.« Sie schüttelte das Wasser ab, stand auf und ging zur Tür.

Tom kam ihr zuvor und legte schnell die Hand auf die Klinke. Seine Augen blinzelten hinter den starken Brillengläsern. »So hab ich das doch nicht gemeint.«

»Dann sag’s auch nicht so! Du kennst sie doch überhaupt nicht.«

»Okay, okay. Ich nehm’s zurück.« Er streckte ihr die Hand hin.

Evi zögerte einen Moment, bevor sie danach griff. Dann hörte sie die Hupe.

 

Der Vater hielt die Beifahrertür auf und Oma stieg aus. Evi hatte erwartet, dass sie sich verändert hätte. Dass sie alt und hinfällig wäre. Sie hatte sich insgeheim die schrecklichsten Dinge ausgemalt, eingefallene Wangen, Tränensäcke und filziges Haar, löchrige Strümpfe, Sabbern und Kreischen und schließlich diesen irren Blick wie bei der Heldin in Hundertmal durchs Fegefeuer. Und nun stand Oma da, nicht anders als in Evis Erinnerung und breitete die Arme aus. Evi stürzte sich hinein und riss Oma beinah um. Vera hielt Oma bloß steif die Wange hin. Oma gab beiden einen schmatzenden Kuss.

»Ich freu mich«, sagte sie.

2

Oma blieb auf der Türschwelle stehen und schaute still in den sonnigen Raum. Lichtpunkte tanzten auf dem Boden und an den Wänden, die Blätter der Weide vorm Haus zitterten leise, alles schien in Bewegung zu sein.

»Wenn es dir zu hell ist«, sagte Evi rasch und machte schon eine Bewegung zum Fenster hin, »kann ich das Rollo runterlassen. Oder die Vorhänge zuziehen. Oder beides. Oder…« Was redete sie denn da?

»Nein.« Oma hielt sie zurück. »Nein. Ich hab’s gern, das Sonnenlicht.«

»Deine Möbel«, plapperte Evi weiter und flatterte wie eine aufgeschreckte Motte im Zimmer umher, »stehen sie so richtig? Wir haben geschoben und gerückt und probiert und…« Alles sollte Oma gefallen, unbedingt, alles so sein, wie sie es sich wünschte. Damit sie wirklich blieb und es sich nicht doch noch anders überlegte. Für immer, dachte Evi. Das war eine lange Zeit. Es fiel ihr schwer, daran zu glauben.

Oma betrat das Zimmer, betrachtete den Sessel, das Bett, den Tisch, die beiden Stühle. Sie fuhr mit der Hand über das matt glänzende Holz der alten Kommode, zog die Schublade des Nähtisches auf und schob sie wieder zu. Die Haut ihrer Hand war wie aus Pergament und mit Altersflecken bedeckt. »Genau so hätte ich sie auch hingestellt.«

Gut. Gut! Doch etwas an der Art, wie Oma das gesagt hatte, stimmte nicht. Da war ein Unterton, ein Zögern, Zweifeln.

»Du kannst direkt in den Garten gucken.« Einen Wimpernschlag später war Evi beim Fenster, riss es auf und beugte sich hinaus. »Nicht mehr lange und der Klatschmohn blüht«, sagte sie nach draußen und ein Windstoß schnappte nach ihren Worten. Mein Gott, dachte sie, ich tu ja so, als wäre Oma noch nie bei uns gewesen. Sie weiß doch, wo der Garten ist. Neben ihr, ganz nah, aber längst nicht nah genug, beugte Oma sich ebenfalls aus dem Fenster.

Unter den Obstbäumen lag ein Rieselteppich aus weißen und rosafarbenen Blütenblättern. Drosseln scharrten im Rosenbeet und warfen die schwarze Erde auf. Ein Schwall von Fliederduft stieg Evi in die Nase. Warum sagte Oma nichts?

»Einen Teich haben wir jetzt auch.« Evi zeigte eifrig nach unten, als hätte Oma nicht selbst Augen im Kopf. »Wir haben Moderlieschen reingesetzt. Und Posthornschnecken. Zuerst waren es nur drei, die Schnecken meine ich. Heute sind es bestimmt schon dreißig oder vierzig oder sogar noch mehr. Man kann sie schlecht zählen.« Sie holte Luft. »Die Moderlieschen laichen gerade. Weißt du, dass sie ihre Eier um die Stängel von den Wasserpflanzen legen? Und dass sie…«

Von unten rief die Mutter zum Tee.

Sie richteten sich auf und sahen sich an. Omas Lippen probierten ein Lächeln und schafften es nicht. Evis Herz sackte ein Stück. Jetzt schnell raus hier. Raus und nach unten, bevor Oma sagen konnte …

»Das ist doch dein Zimmer«, sagte Oma.

Die Erleichterung floss Evi bis in die Fingerspitzen. Das war es also. Nur das! »Und ich dachte schon, es gefällt dir nicht!« So musste sich eine Schneeflocke fühlen, klar und leicht und windhauchkühl. Irgendwo draußen wurde ein Rasenmäher angeworfen. Der Motor brauchte vier Anläufe, bis er dunkel und gleichmäßig tuckerte.

»Evi.« Oma wartete immer noch auf eine Antwort.

»Jetzt nicht mehr«, sagte Evi. »Ich bin ins Gästezimmer umgezogen, das ist kleiner. Deine Möbel hätten nicht reingepasst.« Sie schwebte immer noch.

»Das kann ich unmöglich annehmen, Kind.«

Evi schloss das Fenster. »Es gefällt dir doch?« Sie wippte auf den Zehenspitzen, sie konnte nicht anders. Ihre Füße waren verrückt geworden.

»Ob es mir…« Oma fasste sie an den Schultern und hielt sie fest. »Natürlich gefällt es mir! Aber…«

»Das kleine Zimmer ist sowieso viel gemütlicher«, sprudelte es aus Evi heraus, »außerdem liegt es zur Straße und da draußen ist immer was los.« Das war eine glatte Lüge. Vorm Haus passierte niemals etwas. Es stand in einer abgelegenen, schläfrigen Seitenstraße, die an einem unbebauten Grundstück endete. Nur die Nachbarn ließen sich blicken, die Postbotin, der Schornsteinfeger und ab und zu ein Handwerker oder Lieferant. Vielleicht verirrte sich mal ein Spaziergänger mit seinem Hund hierher, ließ ihn auf das verwilderte Grundstück pinkeln und drehte wieder um. Aufregend war es hier wahrhaftig nicht.

In Omas Augen glitzerte es verdächtig.

Evi machte sich von ihr los und tänzelte, schwebte, flog zur Tür. »Beeil dich lieber, sonst essen sie die Torte ohne uns auf.«

 

Jasper umkreiste Omas Reisetasche auf der Suche nach einer Öffnung. Offenbar tat er das schon seit einer geraumen Weile ergebnislos, denn er schlug verärgert mit dem Schwanz.

»Na, mein Alter?« Oma bückte sich, um ihn zu streicheln. Jasper tauchte unter ihrer Hand weg. Er warf Oma und der Reisetasche einen letzten, bösen Blick zu, trottete zum Sofa, sprang hinauf und rollte sich zusammen. Ob er mit jemandem Freundschaft schloss oder nicht, das entschied er immer noch selbst. Und er wählte auch selbst den Zeitpunkt dafür aus.

»Ein Stück Torte, Mutter?« Das Gesicht des Vaters war grau von Müdigkeit. Er hasste Auto fahren und die lange Fahrt hatte ihn angestrengt.

»Gern.« Oma hielt ihm ihren Teller hin.

Die Mutter schenkte Tee ein. Oma nahm reichlich von der Sahne, Evi begrub ihr Tortenstück unter einem wahren Sahnegebirge.

»Sahne macht fett«, bemerkte Vera und spießte zierlich ein Kirschlein auf. Sie hatte ein ausgesprochenes Talent, im passenden Augenblick das Unpassende von sich zu geben.

»Und wenn schon«, sagte Oma gleichmütig. Evi begnügte sich damit, sich freundlich an die Stirn zu tippen.

Der Vater schimpfte über den Stau, in dem sie festgesteckt hatten. Die Kuchengabeln klipperten auf den Tellern. Der Tee dampfte in den Tassen. Von der Kerzenflamme stieg steil eine dünne Rauchfahne auf. Eine Fliege summte am Fenster entlang. Jetzt sind wir eine Großfamilie, dachte Evi und drehte und wendete das Wort genüsslich im Kopf. Großfamilie. Wenn sie je auf die Idee käme, Wörter zu sammeln, würde sie mit diesem beginnen.

»Da bin ich also«, sagte Oma und wischte sich den Mund.

Die Mutter lachte. »Du scheinst darüber erstaunt zu sein.«

Oma ließ den Blick durchs Zimmer wandern. Plötzlich sah sie dem Vater sehr ähnlich. »Das bin ich auch. Monatelang hab ich mich darauf vorbereitet und nun kann ich es nicht glauben.«

»Ich auch nicht.« Evi kniff sich in die Wange. Es tat weh. »Aber es stimmt.«

Alle nahmen ein zweites Stück Torte, außer Vera natürlich. Sie hatte die Kirschen abgegessen und piekste nun Muster in den rosig verfärbten, glibbrigen Teig. Unter ihren langen Wimpern hervor sah sie Oma an. »Was hast du eigentlich mit deinen anderen Möbeln gemacht?«

»Die hab ich verschenkt«, antwortete Oma.

»Verschenkt?« Entgeistert ließ Vera die Kuchengabel sinken. »Du hättest sie verkaufen können! Alte Möbel sind ungeheuer wertvoll.«

Oma klaubte einen Kirschkern aus dem Mund und legte ihn am Tellerrand ab. »Die Leute, denen ich sie geschenkt habe, hätten sie nicht bezahlen können. Der Mann hat gerade seine Arbeit verloren.«

»Und das Klavier?« Vera hielt die Kuchengabel wie eine Pistole auf Oma gerichtet.

»Das hat der Sohn von meinen Nachbarn bekommen. Er hat immer für mich eingekauft, wenn ich nicht auf dem Damm war und jedes Mal hat er sich danach ans Klavier gesetzt und sich selbst kleine Melodien beigebracht. Du hättest ihn dabei sehen sollen. Er war wie verzaubert.«

»Verschenkt«, murmelte Vera. »Ich fass es nicht.«

»Vera!«, sagte die Mutter scharf.

Oma rollte den glatten, seidigen Kirschkern nachdenklich auf ihrem Teller hin und her.

»Vielleicht hätte ich es ja gern gehabt«, sagte Vera. »Vielleicht wär ich ja auch gern gefragt worden, bevor…«

Oma legte Vera die Hand auf den Arm. »Aber du hast doch ein Klavier, Vera. Der Junge hatte keins.«

Vera zog den Arm weg und hob ihre Tasse. »Kann ich noch Tee haben?«

Von da an hielt sie den Mund und das war gut so. Evi hatte schon Schwung geholt, um ihr unterm Tisch einen kräftigen Tritt zu geben.

Nachdem sie die ersten Neuigkeiten ausgetauscht hatten, holte Oma die Reisetasche aus dem Flur. Kaum hatte sie den Reißverschluss aufgezurrt, stand Jasper neben ihr. Jetzt war die Zeit gekommen, mit der alten Dame Freundschaft zu schließen. Den Schwanz steil aufgerichtet, strich er Oma um die Beine, rieb den Kopf an ihren Armen und beobachtete dabei aufmerksam ihre Hände, die Päckchen aus der Tasche zogen.

»Tut mir Leid, mein Lieber«, sagte Oma. »An dich habe ich nicht gedacht, sonst hätte ich dir natürlich auch was mitgebracht.« Jasper machte einen Satz und verschwand bis zum Bauch in der Tasche, um sie endlich gründlich zu erforschen.

»Jasper! Raus da!« Die Mutter drohte ihm mit dem Zeigefinger, ein Mittel, das manchmal wirkte und manchmal nicht. Heute wirkte es nicht. Jasper legte die Ohren an, fauchte und ging auf Tauchstation.

Oma verteilte die Geschenke. Für die Eltern hatte sie die kleine Standuhr aus Kirschholz mitgebracht, die noch von ihren Eltern stammte. Das Zifferblatt hatte Stockflecken, das Holz einen dunklen, rötlichen Schimmer. Vera bekam ein Tagebuch. Es war fast so groß wie Evis Atlas und in silbergrauen Brokat eingebunden, auf dem sich blasse Blumen ineinander verschlangen. So etwas Kostbares hatte Vera noch nie besessen. Ihre Tagebücher waren sämtlich Sonderangebote gewesen, klein und quadratisch, auf ihren Seiten war wenig Platz. Dieses hier war der pure Luxus.

»Habe ich deinen Geschmack getroffen?«

»Es ist… reiner Wahnsinn!« Vera schob ihren Stuhl zurück, presste das Tagebuch an die Brust und ging wie eine Schlafwandlerin zur Tür. Schon fast draußen, drehte sie sich um.

»Danke.« Und sie verschwand in ihrem Zimmer. Es war das erste freundliche Wort, das sie an Oma gerichtet hatte und selbst das hatte noch kühl geklungen.

Evis Geschenk war eine Schatulle aus geschnitztem Holz, die Evi sehr gut kannte. Sie hatte in Omas Wohnung auf dem Vertiko gestanden. Evi klappte den Deckel auf, hörte das vertraute Rasseln und dann die feine, etwas atemlose Melodie.

Jasper hob den Kopf aus der Reisetasche und horchte. Evi klappte den Deckel zu und wieder auf. Wie oft hatte sie als kleines Kind versucht, diese Spieluhr zu überlisten! Den Deckel zu öffnen, ohne die Töne zu wecken. Es war ihr nie gelungen.

Oma krempelte die Ärmel hoch. »Und nun mach ich mich ans Auspacken. Hilfst du mir, Evi?«