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Ingeborg Schober

TANZ DER LEMMINGE

AMON DÜÜL

und die Anfänge deutscher Rockmusik in der Protestbewegung der 60er- und 70er-Jahre

– FUEGO –

– Über dieses Buch –

 

»Tanz der Lemminge« erzählt, wie es rebellisch begann und in Anpassung an Industrie und Marktgesetze endete. »Tanz der Lemminge« erzählt von den ersten Lightshows und Auslandsreisen, den ersten Festivals, Plattenverträgen und Deutschrock-Labels. Amon Düül waren über Jahre immer eine der wichtigsten und stilprägendsten deutschen Gruppen, und mit ihrer Geschichte erzählt Ingeborg Schober zugleich ein wichtiges Stück deutscher Rockmusikgeschichte. In Interviews und Gesprächen werden Versäumnisse und Schwierigkeiten deutlich, Rockmusik in Deutschland zu machen, zu verkaufen und davon zu leben.

»Wenn Amon Düül begriffen hätten, was sie eigentlich konnten, nämlich diese Form von teutonischer Rockmusik mit ungeheurem Pathos, die sie eigentümlicherweise mit der Psychedelic-Musik zusammenbrachten, hätten sie es schaffen können. Aber die Düüls waren halt ein ausgeflippter Haufen. Dabei wären sie geradezu prädestiniert gewesen, das Deutschlandbild im Ausland zu verkörpern: Vergangenheit, Kant, Wagner, germanische Roots, tiefe Denker und 30er Jahre Berlin.«

Was Bern Brummbär in einem Gespräch bilanzierte, hatte 1967 mit Hoffnung und Aufbegehren begonnen. Aus der Drogenmusik der Grateful Dead und Jefferson Airplane und der Rebellion der Studenten in Berlin, Prag und Paris machten Amon Düül eine Musik, die neu und einzigartig war. Wie sonst nie wieder in der deutschen Rockmusik verschmolzen hier Lebensgefühl, politische Ziele und elektrisch verstärkte Musik. Was in der Münchner Szene Ende der 60er-Jahre begann, war die eigentliche Geburt einer eigenständigen und selbstbewussten deutschen Rockmusik.

VORWORT

Als dieses Buch 1979 erschien, richteten musikalische Drei-Akkord-Wunder ihre Sex Pistols und No-Future-Parolen gegen die eingeschlafene, satt und bequem gewordene, bieder-langweilige Musikszene. Generationsablöse und unversöhnliche Konfrontation zwischen zerschlissenem Love and Peace und aggressivem Hate and War. Trotz eines gleichzeitig leisen (und leicht verkaterten) 60er-Revival inklusive nostalgischer Rückblicke und Zehn-Jahres-Jubiläen nicht gerade der günstigste Zeitpunkt, ein Buch über die chaotisch-bonbonbunte Flower-Power-Zeit, Underground, Protest und Happening, Anti-Establishment, politische (bereits gescheiterte) Utopien und die Anfänge einer eigenständigen deutschen Rockmusik zu veröffentlichen. Schließlich sangen hierzulande die Fehlfarben 1980: »Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran«, aber auch »die Schatten der Vergangenheit: wo ich hingeh, sind sie nicht weit ... die Gegenwart ist auch nicht berauschend ... ich weiß immer noch nicht, wer ich bin.« Vielleicht haben sich deshalb erstaunlich viele in diesem Buch wiedererkannt. Und das hörte auch nicht auf, als sich das Karussell der neuen Moden und Trends immer schneller drehte und sich die musikalische Raubritter-Jugend hemmungslos der »verpönten« 60er- und 70er-Kultur bemächtigte. Entsprechend häuften sich Anfragen nach dem »sagenhaften Kultbuch«, und die Interessenten wurden immer jünger. Auf manchem Flohmarkt sollen vergilbte Exemplare des kleinen Taschenbuches für bis zu 75 Euro gehandelt worden sein.

Grund genug, Tanz der Lemminge neu aufzulegen. Aber nicht der Einzige. Ein anderer ist das generell gestörte Verhältnis zur Vergangenheit und Geschichte hierzulande — vielleicht deshalb, weil Vergangenheit bei uns (schon wieder) automatisch mit Vergangenheitsbewältigung gleichgesetzt wird. Offensichtlich haben wir dadurch auch die Fähigkeit zur kulturellen Kontinuität verloren. Wir kappen alle naselang unsere Vergangenheit und damit auch die Wurzeln unserer (Sub-)Kultur. Nur so kann ich mir erklären, dass man meiner — also der sogenannten »68er« — Generation weder ihre Irrtümer (= Jugendsünden) verzeiht, noch, dass auch sie älter wurde — und dabei nicht unbedingt klüger. Aber es war nun mal eine so intensive und innovative Zeit, dass ich persönlich manchmal das Gefühl habe, dass ich (und vielleicht viele andere auch) mein restliches Leben brauche, um mich davon zu erholen — auch von den Enttäuschungen, dem eigenen Versagen.

Derzeit schlägt also der Zeitgeist-Pegel plötzlich wieder retour und die Spät-60er und Früh-70er boomen mit Schlaghosen, Plateausohlen, Fransenjacken, Häkelhemdchen, Batikdruck, Lightshows, Trance-Dances, Sitzlandschaften, Exotika, Post-Psychedelic-Videos und anderem Firlefanz, San-Francisco-Underground-Raritäten werden auf CDs neu veröffentlicht, 60er-Dinos wie die Doors, Jimi Hendrix, die Mothers Of Invention, Cream oder Grateful Dead sind wieder »in«. Und Amon Düül II treten wieder live auf — auf Festivals. Ach ja, Festivals. Diesen Sommer wurden sie pressemäßig ausschließlich mit Woodstock verglichen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Zumal dieses Revival wohl eher nur aus oberflächlicher, retrospektiver Verpackung besteht. Dabei verblassen die wichtigen Ereignisse und Namen, vor allem aber werden die Zusammenhänge verfälscht. Schließlich kann man sich heute jedes beliebige Image kaufen — vom Freizeit-Hippie mit Peace-Zeichen und Psychedelic-Brevier bis zum Wochenend-Hell's-Angel samt Harley Davidson und Cowboy-Klub-Mitgliedschaft. Doch der Bewusstseinszustand, die öffentliche Meinung und die sozial-politische Lage ist fast schon wieder beim miefig-muffigen Kleinbürgergeist der 50er-Jahre gelandet — siehe Paragraf 218, siehe Sicherheitsdenken, siehe ausschließlich ökonomisch orientiertes Denken. Selbst dem bunten Zeitgeist fehlt es am Spielerischen, Bunten, Experimentellen. Wie singt der alterslose und distinguierte Rock-Lyriker Leonard Cohen mit überzeugender Vehemenz so richtig: »Things are going to slide in all directions, won’t be nothing, nothing, you can measure anymore ...« Zeit, sich dieser Dekade endlich frei von Medien-Mythen, Zeitzeugen-Legenden und nostalgisch-romantischem Veteranengeschwätz zu nähern.

Folglich braucht dieses Buch keine Verjüngungskur, es ist mit der Zeit gewachsen und wichtiger geworden. Damit waren alle Überlegungen und Diskussionen vom Tisch, ob ich es auf den neuesten Stand der Dinge bringen sollte, also bis zum heutigen Tag zu aktualisieren, vor allem, was die Band-Geschichte der Amon Düül anbelangt. Das Amon Düül-Buch war vor fünfzehn Jahren ein naiver Versuch, die Zeit festzuhalten. Und er ist merkwürdigerweise gelungen. Diese Naivität lässt sich nachträglich nicht mehr herstellen. Schon deshalb ist dieses Buch für mich persönlich sehr wichtig. Alles, was ich heute über die Düüls und die Zeit und mich schreiben würde, würde viel zu abstrakt ausfallen.

Wir haben uns also für einen Reprint entschlossen, um das Zeitdokument — mit einigen Veränderungen — so zu belassen, dass es für sich selbst spricht. Und zwar mit allen widersprüchlichen Daten, Fakten und Aussagen, weil jede neue Interpretation von einer anderen Seite nur meine damalige Erkenntnis, dass einige Legenden immer weiter bestehen werden bestätigt: »Selbst mir ist es trotz jahrelangem Kontakt zu den Musikern nicht gelungen, all die Unstimmigkeiten zu entwirren.« Doch Tanz der Lemminge hat einen neuen Untertitel, weil ich schon damals mit »Amon Düül — eine Musikkommune in der Protestbewegung der 60er-Jahre« nicht einverstanden war. Schlichtweg deshalb, weil er nicht stimmte. Das Buch beginnt 1967 und endet 1978. Vieles, was angeblich die 60er-Jahre prägte, begann oder geschah eigentlich erst in den 70ern. Noch so ein historisch inzwischen festgemachter Irrtum. Außerdem mussten wir etliche Songtexte aus rechtlichen Gründen kippen oder verkürzen. Aktualisiert habe ich im »Epilog« die heutigen Berufe der wichtigsten Hauptdarsteller und selbstverständlich die Diskografie. Gekürzt habe ich die Aussagen diverser öffentlicher Personen aus der deutschen Musikszene in »Die Zukunft ist heute.« Im »Epilog« erfährt der Leser, wie dieses Buch damals zustande gekommen ist und kann sich danach vorstellen, welche Probleme eine Aktualisierung aufgeworfen hätte.

Was nach den 70er-Jahren passierte, und damit meine ich nicht nur Amon Düül, sondern die neuere (musikalische) Geschichte Deutschlands, lege ich den jungen Schreibern ans Herz, falls sie für so was noch Muße, Zeit und Interesse haben. Weil Stillstand Rückschritt ist, wie Farin Urlaub von den Ärzten meint. Weil der Tanz der Lemminge in der Jugendszene nie aufhört — und eine/r ihn immer begleiten sollte. Weil es immer wieder Musiker gibt, die das Lebensgefühl ihrer Generation auf einen Nenner bringen, wie Element Of Crime 1993 mit »Immer unter Strom«:

 

»Wer sich bewegt, ist nicht zu fassen, ...

Wo wir war'n, war immer alles fade

wo wir hinfahr'n wird es wunderbar ...

Immer unter Strom

Immer unterwegs und niemals zu spät.«

 

Was hoffentlich auch auf dieses Buch zutrifft.

 

Ingeborg Schober

München, im November 1993

 

For what it’s worth?

»There’s something happening here

what it is ain't exactly clear

there’s a man with a gun over there

tellin me I’ve got to be aware

 

I think it’s time we stop ...

 

There’s battlelines being drawn

nobody’s right if everybody’s wrong

young people speakin their minds

getting so much resistance from behind

 

I think it’s time we stop …

 

What a field day for the heat

a thousand people in the street

singing songs and a-carring signs

mostly say hooray for our side

 

it’s time we stop …

 

Paranoia strikes deep

into your life it will creep

it starts when you are always afraid

step out of line

the men will come and take you away

 

you better stop …«

Stephen Stills, 1967

 

In diesem Lied beschrieb Stephen Stills mit seiner Band Buffalo Springfield eine Straßenschlacht zwischen Hippies, der Polizei und den Bürgern in Hollywood 1967. Das Lied wurde zur Demonstrations-Hymne der Hippies, die noch an eine Veränderung der Welt durch Liebe glaubten. »Make love not war«. Für sie war Revolution noch ein Spiel, an dem jeder teilhaben konnte. Spiel und Spaß war es anfangs auch für die Studenten, nicht nur in Kalifornien. Als Jerry Rubin 1970 in seinem Buch Do It! die Leute aufforderte: »Jeder schreibe seinen eigenen Slogan, jeder protestiere gegen das, was ihn persönlich stört«, war das nur noch ein Fazit dessen, was längst passiert war — persönliche Anarchie bis zur Selbstzerstörung.

 

KAPITEL 1

1967

Flower Power & Apo

Aufforderung zum Tanz

Dieses Buch beginnt in München, wo es auch endet. Es berichtet von Musikern, Lebenskünstlern, Genossen, Freunden (und auch mir), die viel gewinnen wollten und dadurch manches verloren haben. Der Einsatz war entsprechend hoch, das Leben meist gefährlicher, als wir wahrhaben wollten.

Wir schreiben das Jahr 1967, die Beatles und fünf Jahre Popmusik, Protestmärsche der Atomwaffengegner und Antivietnamdemonstranten und die Gründung der APO liegen schon hinter uns, als Europas Jugend Kenntnis vom »Sommer der Liebe«, 1966, an der Westküste Amerikas erhält. »If you go to San Francisco, wear some flowers in your hair.« Die Botschaft wurde schnell zum Werbeslogan, um Ketten, Glöckchen, Ringe, Räucherstäbchen und indischen Firlefanz zu verkaufen. Wir empfanden uns als Teil der internationalen Studenten-, Jugend- und Musikbewegung, suchten aber gleichzeitig nach einem eigenen Sprachrohr. Überall saßen die Leute in den Startlöchern, warteten auf das entscheidende Signal. Es herrschte nur die trügerische Ruhe vor dem Sturm.

Nach Vorbild des Films nannte sich in München die Viva-Maria-Gruppe um Kunzelmann, Langhans, Teufel und Dutschke. Sie war Keimzelle der Kommune I, am 1. Januar 1967 in Berlin gegründet.

In San Francisco fanden sich 20.000 Gleichgesinnte zum ersten Free Concert »Gathering of the Trips« im Golden Gate Park zusammen. Schwere Studentenunruhen erlebte nicht nur Barcelona. Schwere Zusammenstöße zwischen Polizei und Hippies führten bei einem Peace-In in Los Angeles zu zahlreichen Verletzten, und Flugblätter mit der Frage »Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?«, die nach dem Kaufhausbrand im Brüsseler A L'Innovation in Berlin auftauchten, lösten nationale Empörung aus. Günter Grass trug bei einem Protestmarsch gegen die polizeiliche Stürmung des Berliner SDS-Büros ein Plakat »Tausche Grundgesetz gegen die Bibel!« Und in München demonstrierten Studenten gegen die geplanten Tariferhöhungen der öffentlichen Verkehrsmittel. Beim Berliner Ostermarsch kam es erstmals zu Ausschreitungen gegen das Springer-Haus, kurz darauf wurden elf Kommunarden nach einem »Puddingattentat« auf US-Vizepräsident Hubert Humphrey verhaftet. So standen die Dinge, als am 2. Juni ein Ereignis die Idee von der friedlichen Veränderung der Welt, einer Politisierung mit Spaß und Happening, infrage stellte. Der Student Benno Ohnesorg war während einer Demonstration gegen den Schah von Persien das Opfer einer Polizeikugel geworden. Für viele war das die Initialzündung, manch einer hat seinen Glauben an die demokratische Bundesrepublik verloren, für viele wurde er zumindest angeknackst, andere, bis dahin eher gleichgültig, abwartend und distanziert, wurden durch diesen Schock emotional politisiert.

Für die späteren Mitglieder der Amon Düül und viele, die in diesem Buch vorkommen, begann der Tanz der Lemminge erst jetzt.

 

Die Medien erwachen

Als Buchhändlerlehrling im Szczesny-Verlag, München, lernte ich die Autoren Bertrand Russell, A. S. Neill, die Autoren der Club Voltaire-Reihe und ihre Bücher kennen, war als Mitglied der Humanistischen Union dementsprechend human-liberal orientiert. Mit 180 DM Lehrlingsgehalt wohnte ich in einem Jugendheim der Arbeiterwohlfahrt Rädda Barnen, kurz Schwedenheim genannt, in einem 1 ½ mal 2 Meter großen Zimmer bei 189 DM Miete. Die meisten der ca. 200 Heimbewohner waren, wie ich, Wohlfahrtsfälle in einem Wirtschaftswunderland. Wir fühlten uns von der Wohlstandsgesellschaft betrogen, und das verband uns – Lehrlinge, Schüler und Studenten. Und dann war da noch die Popmusik!

Auch wenn wir die Texte der Rolling Stones, Beatles, der Animals und Kinks nicht richtig verstanden, wir wussten, um was es ging. Es ging um uns, um unsere Probleme. Es war unsere Sprache, unsere Musik. Da begannen meine intellektuellen Freunde gerade diese Musik für sich zu entdecken. Dabei geholfen hat ihnen sicher der rührige und wohlinformierte Uwe Nettelbeck — freier Journalist, Autor und Produzent der Gruppe Faust — mit seinen Textinterpretationen und Musikanalysen, mit denen er nicht nur die Musik der Beatles auf das Niveau der »Neuen Modernen« hob. So war in Aspekte im November folgendes in einem Artikel über »Pot Music« zu lesen: »Dann kam Revolver. In Tomorrow Never Knows, dem letzten Titel des Albums, zitierten John Lennon und Paul McCartney eine Zeile aus The Psychedelic Experience, einer Art Michelin für LSD-Trips, den die Havard-Drop-outs Timothy Leary, Ralph Metzner und Richard Alpert im August 1964 in New York veröffentlicht hatten: Turn off your mind, relax and float downstream ... Das war das Signal.«

Die bis dato als trivial und proletarisch verpönte Popmusik wurde in einem elitären Kreis schick und gesellschaftsfähig. Auch die konservativen Medien stellten sich allmählich auf die neuen Bedürfnisse ein. Am 5. Juni 1967 startete der Bayerische Rundfunk nach etlichen Vorlaufsendungen die erste Jugendmusiksendung, den täglichen Club 16. Georg Kostya, Discjockey der ersten Stunde, erinnert sich:

»Mit ›Espresso um Vier‹ hat es im April ’65 begonnen. Da gab’s noch gar nichts, weder eine Musiksendung, noch Plattenbesprechungen. Gespielt wurden in jeder Sendung natürlich die Beatles, dann Musik von Elvis Presley, Tom Jones, Sandie Shaw, Petula Clark, Bill Haley, den Rolling Stones, Searchers und dazwischen Dean Martin. Man kann sehen, dass es so beatig nicht gewesen ist, da war’s noch sehr, sehr schütter. Wir haben uns am AFN orientiert, alles sehr schnell, mit viel Dampf und Gags. Da alles noch vom Band gespielt wurde, mussten wir manchmal wochenlang warten, bis eine Platte auf Band umgeschnitten war und gespielt werden konnte. Dann kam im Jahr 1966 der Industrieboykott, wo sich der BR weigerte, mehr an die Plattenfirmen zu bezahlen. In der Zeit fuhren wir platten-los, holten deutsche und englische Bands ins Studio, veranstalteten einen Beatwettbewerb für bayerische Bands, den die Improved Sound Limited, heute Condor, gewannen.

Als dann auch noch der österreichische Rocksender Ö3 angekündigt wurde, war’s klar. So konnte es nicht weitergehen. Entweder man verliert die Hörer oder man macht selbst etwas. Der damalige Leiter des Jugendfunks, Reinhard W. Schmidt, fuhr mit seinem Redakteur Rüdiger Stolze zu Radio Luxemburg, um darüber eine kritische Sendung zu machen. Aber sie waren von der Lebendigkeit und Spontaneität, die dort herrschte, so beeindruckt, dass es eine positive Sendung wurde. Daraufhin wurde für den BR die erste Discjockey-Anlage konzipiert. Die erste Sendung lief am Montag, wo Werner Götze nur Sergeant Pepper spielte.«

Auch ich hörte Club 16 — der 1978 in die Nachfolgesendung Zündfunk-Club integriert wurde —, ohne zu ahnen, dass ich sieben Jahre später selbst dort als Discjockey hinterm Mikrofon sitzen würde, mehr aber noch Radio Luxemburg, denn an die neuesten Informationen und Platten war schwer ranzukommen. Zwar hatte ein gewisser Rainer Blome Anfang des Jahres eine neue Musikzeitschrift gestartet, Sounds, aber davon wußte ich nichts. Die deutsche Musikjournaille beschränkte sich nach wie vor auf Bravo. Am ehesten fand man noch in Konkret seine eigene Stimmung widergespiegelt. »Swinging London«, was steckte wirklich dahinter? Ich wollte es genau wissen, an Ort und Stelle erleben. Dazu fehlte erst mal das Geld. Durch meinen Bruder, freier Mitarbeiter der Zeitschrift Filmkritik, erfuhr ich von einem Drehbuchwettbewerb des Literarischen Kolloquiums, Berlin. Ich reichte ein Exposé für einen Kurzfilm ein und wurde Anfang Juli überraschend zu einem Arbeitsgespräch nach Berlin eingeladen.

In der vornehmen Villa am Wannsee lernte ich Uwe Brandner, Roland Klick und George Moorse kennen, fühlte mich aber unter den literarisch-cineastisch Älteren als Außenseiter. Dafür erlebte ich in Berlin die fieberhafte Aktivität der Jungen, die ganz anders als in München zwischen Pop und Politik eine eigene Lebensweise ausprobierten.

Etwa zur gleichen Zeit feierten die Popmusik-Fans ihr erstes großes Festival, das Monterey International Pop Festival, bei dem u. a. Janis Joplin & The Big Brother, Jefferson Airplane, Steve Miller Band, Country Joe & The Fish, Quicksilver Messenger Service, Jimi Hendrix, The Who, Mamas & Papas, Otis Redding, The Butterfield Blues Band und The Electric Flag auftraten.

In New York hatten sich 4.000 Provos im Tomkins Square Park zu einem Smoke-In getroffen und vor den Augen der Polizei drei Kilo Marihuana verraucht, die Beatles hatten in einer weltweiten Live-Fernsehübertragung »All You Need Is Love« gesungen, von den Doors erschien die erste Single »Light My Fire«.

Begeistert kam ich zurück, mit einem Stipendium in der Tasche, um das Drehbuch zu schreiben.

Dies Geld sollte das Grundkapital für alles werden, was ich ab da machte. Die erste Schreibmaschine wurde davon finanziert und versetzte mich in einen Schreibrausch, durch den ich mich immer mehr von der lethargischen Heimgemeinschaft absonderte. Und mit dem Rest kaufte ich ein Flugticket nach London, das mir ein befreundeter Jurastudent über Studenten-Reisen billig besorgte. Er war es auch, der mir das minimal nötige Reisegeld lieh. Und auf seinen Namen flog ich am 14. August in einer Chartermaschine nach London. Es war der Start in ein neues, turbulentes, unbekanntes Leben.

 

London - es muss noch viel bunter werden!

London war wie eine 3-D-Vision all meiner Träume. Es war eine permanente Sinnesreizung ohne Drogen; der Film, die Lightshow, die Musik, die Aktion, alles auf den Straßen zu finden. Gleich bei meiner Ankunft geriet ich auf dem Weg in die Innenstadt in eine pittoreske Demonstration. Tausende von Jugendlichen gingen singend gegen die Einstellung des Piratensenders Radio Caroline auf die Straße. Musik, Hippies, Blumen. Deutschland war grau und weit weg. Es musste viel bunter werden! Was ich an Platten nicht kaufen konnte, lernte ich in den Läden auswendig. Ich hing in Folk-Clubs herum, stöberte Headshops mit exotischem Krimskrams durch, sah Privilege mit Popsänger Paul Jones in der Hauptrolle. In meinem Tagebuch notierte ich: »Man wird sogar als Hippie höflich bedient«. Als solcher fühlte ich mich nach vierzehn stimulierenden Tagen. Ich war von der oberflächlichen, entspannten Toleranz der Stadt hingerissen. In den Zeitungen las ich Berichte über den Besuch des Maharishi und dass die Beatles zu einer Schulung nach Bangor, Nord-Wales, gefahren waren. Dass sie nun LSD und andere Drogen aufgegeben hätten und George Harrison Sitar lernte. Das klang so abenteuerlich, wie es war. Bald sollte ich merken, wie schnell sich unser Leben verändern würde, wie bald uns das Abenteuerliche normal erscheinen sollte. Am 27. August flog ich zurück nach München, nicht nur äußerlich ausstaffiert als Flower-Power-Kind, sondern auch innerlich vorbereitet, mit indischem Flatterhemd und kurioser LSD-Brille, mit Räucherstäbchen, Musik- und Untergrund-Magazinen wie OZ und IT, mit den neuesten Platten unterm Arm: die erste Pink Floyd-LP The Pipers at the Gates of Dawn», Freak Out von den Mothers of Invention, Flowers in the Rain von The Move. An diesem Tag starb der Beatles-Manager Brian Epstein. In der Zeit erschien ein Nettelbeck-Nachruf und die vierteilige Serie »Die Kinder von Sergeant Pepper und Mary Jane – Bericht einer Reise nach London«.

Um dieselbe Zeit muss es gewesen sein, dass die Gebrüder Peter – »Leo« – und Uli Leopold ein kleines Appartement in der Münchner Klopstockstraße bezogen, das schnell zum Treffpunkt und Wohnort von ehemaligen Schul- und Internatsfreunden wurde. Peter, am 15. August 1945, und Uli, am 18. September 1948 in Bückeburg als Söhne einer wohlsituierten Akademikerfamilie geboren, besuchten das Internat Lauingen, später dann Marktoberdorf, wo auch Falk Rogner und Chris Karrer die Schulbank drückten. Als Peter Leopold mit einer Fünf in Musik aus Marktoberdorf rausfliegt, kommt er auf eine Privatschule nach Nürnberg.

Dort trifft er einen weiteren Amon-Düül-Anwärter, Christian »Shrat« Thiele, am 29. März 1946 in Unterpolling als Sohn eines Fabrikbesitzers geboren. »In dieser Privatschule in Nürnberg, da saß ich ganz vorn, der Peter ganz hinten. Aus irgendeinem Grund guckte der mich immer so an und ich guckte zurück. Wir hatten damals einen von diesen transportablen Plattenspielern. Mit dem lagen wir immer auf dem Aufmarschgelände von Nürnberg und hörten den ganzen Tag Avantgarde-Jazz. Oder gingen mit ganz großen Taschen durch die Plattenläden von Nürnberg. Da war noch ein Typ dabei, der ist heute Assistent des Bundespressechefs in Bonn. Das letzte Jahr vor dem Abi kam ich dann in eine staatliche Schule nach Taufkirchen, der Peter musste nach Straubing. Und am Wochenende trafen wir uns immer alle in der Klopstockstraße«. Chris und Falk besuchten zu jener Zeit bereits die Klasse für Malerei von Waki Zöllner an der Münchner Kunstakademie.

Chris Karrer, am 20. Januar 1947 in Kempten als Sohn eines Karosseriebaumeisters geboren, hatte soeben die Bundeswehrmusterung hinter sich gebracht: »Da hab ich erst mal einen Trip eingeschmissen, mich dort total ausgezogen und Liegestützen gemacht. Da meinte der Typ, ›ziehen Sie sich doch erst mal wieder an, Sie sind eh farbenblind‹. Und dabei wollte ich doch Zeichenlehrer werden!

In München wurde grade das Jazzlokal Domicile eröffnet. Ich war zuvor schon immer im Tabarin bei Sessions eingestiegen und dachte, im Domicile ginge das auch. Da hab ich mein Saxophon eingepackt und bin hin, stellte mich zu Don Menza und Joe Haider, doch plötzlich hieß es: ›Hau ab!‹ Später bekam ich dann Lokalverbot.« Im Domicile lernte Chris den Jazzmusiker Olaf Kübler, später Produzent und Manager von Amon Düül II, kennen. »Den hab ich unheimlich bewundert. Ich dachte mir, das ist ein Gipfel, auf den ich nie hochkomme. Und ich hab damals wirklich geübt. Bin in der Eiskälte in meiner Ente an der Isar gehockt und hab mit klammen Fingern John Coltrane geübt.«

Einer, der nach jahrelanger Aktivität in der deutschen Szene nie ein Gefühl der Sesshaftigkeit und Zugehörigkeit entwickelte, ist Falk U. Rogner, am 14. September 1943 in Liegnitz geboren. Bis zur Flucht in den Westen war sein Vater Gutsverwalter, später arbeitete er als hoher Beamter im Umweltschutzamt. Falk reiste mit seinen Eltern von Asien bis Afrika, bis er schulpflichtig wurde. Auch bei Amon Düül blieb er immer der stille Außenseiter. Während die anderen Free-Jazz-Fans waren, hörte er zu Hause klassische Musik und nennt als erstes Musikerlebnis Elvis Presley und »Tutti Frutti«.

Neben den Internatsfreunden trudelten in der Klopstockstraße außerdem Rainer Bauer, seine Frau Ella und das Töchterchen Romana aus Wien ein, sowie der Fotografinnen-Sohn Helge Villander mit Frau Angelika und Sohn Joris aus Augsburg. Zusammen entdeckte man die Musik der Doors, von Jefferson Airplane, Pink Floyd, Cream und Hapshash and The Coloured Coat, deren knallrote LP Featuring The Human Host and The Heavy Metal Kids auch von anderen als wesentlicher Einfluss genannt wird. Zwangsläufig führten die zahlreichen kreativen Talente und Ideen zu einer Art Multi-Media-Gruppenkonzept »Lightshow, Film, Fotografie, Musik«. Und sie alle fuhren, etwa zur gleichen Zeit wie ich, zum ersten Mal nach London. Da sich keiner mehr genau an die Reise erinnern kann, hier aus einem Gedächtnisprotokoll:

Shrat: »Am Wochenende sammelte sich langsam alles zusammen und dann fuhr eine Abteilung nach London. Wer war da eigentlich dabei?«

Peter: »Du warst dabei!«

Chris: »Und Falk und Angelika auch. Wir wollten meinen Bruder zurückholen, oder?«

Shrat: »Bei so einer ominösen Adresse, Nottinghill Gate-was-weiß-ich. Ein Wochenende, um mal schnell so eine Flasche Trips abzuholen.«

Peter: »Wo ich im Schlafanzug vor dem Haus saß?«

Chris: »Und das Steuerrad vom Auto wie Gummi wurde?«

Shrat: »... ja, und dann wieder zurück, und jeder erst mal an die Flasche wollte ...«

Peter: »Und Uli alle zwei Minuten ausstieg und sagte, die Bullen sind hinter uns her, voll auf Trip!«

Chris: »Da war doch dieses Wahnsinnsfest im Roundhouse, wo die Animals und dieser Sänger von Family ...»

Peter: »Jedenfalls waren da dreitausend Leute voll auf dem Trip!«

Chris: »Allen Ginsberg und Yoko Ono, die Nacht der Nächte ...«

Shrat: »Freitag nach England, Sonntag zurück. In der Klopstockstraße eingelaufen. Damals haben die Zöllner noch immer nach Zuckerstückchen die Koffer durchsucht ...«

Chris: »... und Räucherstäbchen wurden auch gleich beschlagnahmt.«

Shrat: »Dann habe ich angefangen, Bongos zu spielen. Die Klopstockstraße war dann allmählich überfüllt und wir flogen da raus. Und dann entschloss man sich, nachdem Chris auch aus seiner Wohnung rausflog, dass man gemeinsam wohnt. Da zogen wir in die Prinzregentenstraße.«

Das war aber bereits Ende des Jahres. Während die zukünftigen Mitglieder der ersten Acid-Band Deutschlands bereits den Aufstand probten, während allerorts die Leute von einer Aufbruchs- und Umbruchsstimmung ergriffen wurden, versuchte ich meine ersten Artikel an eine neue Musikzeitschrift namens Hit zu verkaufen. Zum ersten Mal lernte ich ein System kennen, das später die gesamte deutsche Musikszene bis auf den heutigen Tag prägen sollte. Die Geschäftemacher in Sachen Jugendkultur warfen mit Begriffen wie »Idealismus«, »Risiko« etc. um sich und impften ihren Mitarbeitern und damit auch dem Publikum die Prämisse ein, dass man damit natürlich kein Geld verdienen dürfte. Offiziell zahlten ja sogar sie selbst nur drauf. Ironischer konnte es nicht zugehen. Während man sich gegen die Ausbeutung der Arbeiter durch die Konzerne zur Wehr setzte, wurde man mit der Verlockung, selbst an der Verbreitung der Gegenkultur mitzuarbeiten, nicht minder ausgebeutet. Natürlich fiel auch ich darauf rein, glücklich, hin und wieder eine Geschichte, die ich persönlich für wichtig hielt, unterzukriegen.

Auch mit der Heimgemeinschaft hatte ich mich wegen der »hässlichen, schrillen Affenmusik«, die unablässig aus meinem Zimmer dröhnte, total überworfen. Gemeint waren natürlich die Mothers, Cream, Pink Floyd und eben jene kompromisslose, legendäre rote Hapshash-LP, über die ich damals schrieb, »eine Schallplatte kann vollkommen rot sein und trotzdem überhaupt nichts mit Mao oder dem Kommunismus zu tun haben«. Jedenfalls machte die vom Establishment noch immer angefeindete Popmusik plötzlich eine interne Spaltung durch. Sich die Beatles, Kinks oder gar Rolling Stones anzuhören, war für manche Leute genauso schlimm, wie für Frank Sinatra zu schwärmen. Nächtelang trieb ich mich in den Clubs Big Apple und PN an der Leopoldstraße herum, suchte nach neuen Verbündeten, fand sie nicht. Ein neues Gefühl, das des Außenseiters, machte mich ruhe- und rastlos, unduldsam und ungerecht. Die Bürgerlichen waren mir zu oberflächlich, desinteressiert, die Intellektuellen zu überlegen, selbstgefällig, theoretisch. Es musste doch irgendwo dazwischen eine versöhnende, kreative Verbindung geben!

Der Oktober wurde wohl der heißeste Monat des Jahres 1967. In San Francisco fand ein Trauermarsch mit symbolischem Begräbnis statt, bei dem Tausende von Hippies gegen die Vermarktung ihrer Ideen und das lakonische Endzeitgeraune »Die Flower-Power-Bewegung ist tot!« protestierten.

Hätten wir damals die Informationen darüber so schnell wie heute bei der Hand gehabt, wäre unserer Szene dann ein ähnlicher Weg erspart geblieben? Zwei Tage später, am 8. Oktober, wurde die Tagung der Gruppe 47 durch ein Go-In von Studenten gesprengt; sie überredeten die Mitglieder zu einem Boykott gegen den Springer-Konzern. Und in München wurde das erste Music-Action-Center nach angloamerikanischem Vorbild eröffnet, das Blow Up, Elisabethplatz. »Monatlich wechselnde Bands, Gastspiele, Go-Go-Girls, Diaprojektionen, Discjockeys der Piratensender.« Die feierlich-pompöse Einweihung wurde von dreitausend stürmenden Jugendlichen empfindlich gestört. Nun hatten die bürgerlich bis weniger bürgerlich veranlagten Geschäftsunternehmer eine neue Marktlücke entdeckt. Und wir waren tatsächlich noch so gutgläubig und nahmen an, sie wären bekehrt worden, zu uns übergelaufen.

Ich hab dieses Event übrigens nicht mitbekommen, denn da arbeitete ich auf der Frankfurter Buchmesse, wo renitente Studenten für den »Messekrach« sorgten. Zündstoff für Demonstrationen gab es genug: die Ermordung Che Guevaras, das Militärregime in Griechenland, die Springer-Stände. Unsere Nachbarn waren von Konkret und standen bei Besuchern und Presse hoch im Kurs. Denn täglich wurde das Messe-Extrablatt als Flugblatt verteilt, mit dem die Konkret-Redakteure ständig aktuellen Diskussionsstoff unters Volk brachten. Abends traf man sich im Club Voltaire. Ich gesteh’s, meist saß ich nur wegen der Musik dort. Irgendwann mal verschreckte dann noch Peter Handke mit einer Dichterlesung zu Popmusik die konservativen Buchhändler. Das kann aber auch ein Jahr später gewesen sein. So genau weiß ich das nicht mehr. Jedenfalls wurde die Buchmesse von Provos, Hippies, Spontis und anderen Fraktionellen zu einem permanenten Spektakel umfunktioniert.

Ende des Monats wurde ich abermals vom Literarischen Kolloquium nach Berlin eingeladen. Man wollte über Produktionsmöglichkeiten für die vorliegenden Drehbücher reden. Ich saß meist im Kino. Die Freunde der deutschen Kinemathek führten von Helmut Costard, Marquard Bohm u. a. Kurzfilme vor, veranstalteten eine Woche des New American Cinema. Nachts zog ich durch die schon damals lebendige Berliner Kneipen- und Diskothekenszene. Besonders beliebt die drei Edens – Big Eden, Kurfürstendamm, Verzehrbon zwei DM, gemütlich, mit englischen Discjockeys und farbigem Flackerlicht, bis 3 Uhr geöffnet. Nicht weit davon der Eden-Playboy-Club, Eintritt eine DM, für Mädchen solo umsonst (Playboyclub!), Bikini-Go-Go-Girls, Swimmingpool, Showtanzen, Trickfilme, Spielautomaten, bis 5 Uhr morgens. Und der Old Eden Saloon, Damaschkestraße, Verzehrbon zwei DM, mehrere Räume mit verschiedener Musik, Soul, Beat, Jazz. Zwischen überlebensgroßen Aktfotos stehen Kakao-Automaten, Spielautomaten, Fernseher, Satelliten-Imitationen als Biertransporter. Man kann ruhig die gewagtesten Klamotten anziehen, sie fallen nämlich gar nicht mehr auf. – Besonders »in« war grade das Riverboat, Hohenzollerndamm, vier Bands gleichzeitig plus Diskothek. »Berlins größtes Action-Center, Bullaugen, Teakholzwände, riesige ineinander verschachtelte Räume. Für Frei- und Frischluftfanatiker gibt es eine Terrasse, wo getanzt werden darf. In der kleinen Bar kann man sich mit Würstchen, Sandwich oder Espresso aufmöbeln. Alles, was beatig, popig, opig, munter, bunt und heiter, gammlig oder elegant großes Treiben erleben möchte, sollte die ›Liftfahrt‹ unternehmen«.

 

Alles schien möglich. In Berlin hatte ich einen Industriefilmemacher aus Hamburg kennengelernt, der träumte von einem überregionalen Multi-Media-Verband für Musik, Film, Kunst, Werbung unter dem Motto »das permanente Happening«. Mein Bruder hatte jemanden getroffen, der Deutschlands ersten Boutiquen-Führer für Insider drucken wollte. Ich jobbte derweil in Münchens erster Boutique Daisy als Aushilfsschneiderin. Frei nach dem Vorbild von Mary Quant. Was fehlte, war eine »progressive Modezeitschrift«. Fand ich jedenfalls. In München wurde die Hochschule für Film und Fernsehen eröffnet, Hamburger Studenten lieferten anlässlich einer Uni-Feier die Parole »Unter den Talaren — Muff von 1000 Jahren«. Das war, nach »Traue keinem über 30« der zweite Spruch des Jahres. Ebenfalls im November wurde als erste überregionale alternative Musikzeitschrift Amerikas der Rolling Stone gegründet. In Berlin kommt es bei der Prozesseröffnung gegen den Kommunarden Fritz Teufel erneut zu Demonstrationen. Ich erhalte kurz darauf zwei Absagen von Fernsehsendern, denen ich mein Drehbuch angeboten hatte.

Die Engländer feierten ihr Weihnachtsfest mit der Fernsehausstrahlung von Magical Mystery Tour, dem ersten Film, den die Beatles selbst gedreht hatten.

Das Jahr, das uns Flower Power und APO, Op-Art und Twiggy, The Mothers Of Invention und A Whiter Shade of Pale, das Filmförderungsgesetz und die erste Herzverpflanzung, Klaus Lemkes 48 Stunden bis Acapulco und May Spils Zur Sache, Schätzchen, den Begriff male chauvinism und die Heirat von Elvis Presley, die Abiturrede »Erziehung zum Ungehorsam« und das Telekolleg im Bayerischen Fernsehen, Marshall McLuhans »Magische Kanäle« und das Schlagwort von einer »Talsohle« in der Wirtschaft gebracht hatte, war vorbei. Doch die eingeläutete Sturm-und-Drang-Zeit hielt sich nicht an den Kalender. Keine Neujahrsansprachen, keine guten Vorsätze und pädagogischen Mahnungen konnten uns aufhalten. Wir hatten uns entschlossen, freiwillige Outlaws zu werden, nach dem Motto der neuen Rolling Stones-LP »Their Satanic Majesties Request«:

 

»It's so very lonely

you’re two thousand light years from home.«

KAPITEL 2

1968

Die Helden aus dem Untergrund

Aus Bonbons werden Bomben

»Let's hear it for the good guys, hooray!

Let’s hear it for the bad guys, boo!«

Country Joe McDonald

 

»Sing this song all together (see what happens).«

The Rolling Stones

 

Im Frühjahr 1968 gehörten die Alben der Gruppen Quicksilver Messenger Service, Moby Grape, Steve Miller Band, Country Joe & The Fish und Creedence Clearwater Revival zu den Topsellern der Billboard-Charts in Amerika. Auch hierzulande wuchs das Selbstbewusstsein und versetzte die Protestbewegung in einen beängstigenden Machtrausch. Doch welche Folgen ein harmloser Studentenulk á la »Feuerzangenbowle« hatte, zeigte das bereits verschärfte, paranoide Klima. Am 10. Januar hatten in München zwei Studenten in ausgeliehenen Polizeiuniformen eine Uni-Vorlesung gesprengt und wurden dafür im April zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt. Vorbei war es mit der Parole »Die Phantasie an die Macht!« Es sollte nicht mehr lange dauern, bis die »organisierte Gegengewalt« das Kampfmittel Polit-Happening ablöste, und dass statt Bonbons Bomben flogen. Die Kommune I zeigte Verfallserscheinungen, nachdem Rainer Langhans das Münchner Topmodell Uschi Obermaier nach Berlin geholt hatte. Im Februar wurde in Berlin beim »Springer-Hearing« ein Lehrfilm von Holger Meins über die Herstellung von Molotow-Cocktails vorgeführt. Noch in derselben Nacht wurden von Unbekannten bei sieben Morgenpost-Filialen die Fensterscheiben eingeworfen. Auch die amerikanische Hippie-Bewegung machte eine Radikalisierung durch, die von den Anarcho-Gedanken Abbie Hoffmans und Jerry Rubins begeisterten Jugendlichen firmierten nun als Yippies und lieferten sich am 18. Februar in San Francisco mit der Polizei eine Straßenschlacht. Zur gleichen Zeit fand in Berlin der »Internationale Vietnamkongress« statt.

Sicher war es ein Zufall, dass zur selben Zeit die fröhliche Ballade vom anarchistischen Gangsterpärchen Bonnie & Clyde in der Hitparade stand.

Im März erschien die erste LP Bob Dylans nach seinem Motorradunfall 1966, John Wesley Harding. Wie immer waren in den Texten visionäre Bilder, treffende Aussagen:

 

»No martyr is among you now

whom you can call your own

but go on your own way accordingly

and know you're not alone«,

 

aber auch

 

»There must be some way out of here

said the joker to the thief

there's too much confusion

I can't get no relief ...«

 

Songs über Hobos, Kämpfer, Outlaws, Heilige, Narren – was hätte besser in die Zeit gepasst? Und in Sounds 3/68 hielt mit einer Besprechung der Mothers-LP »Freak Out« endlich die Popmusik Einzug. Schon im Monat darauf kam ein Bericht über die San-Francisco-Szene. Deutschland hatte endlich seine alternative Musikzeitschrift. Deutschland hatte aber auch noch seine Bravo und Hit, bei der ich inzwischen zum ständigen freien Mitarbeiter avanciert war.

Und so las sich da die April-’68-Mischung: »Engelbert, mit 32 Jahren das Idol von Teenagern und Großmüttern in aller Welt, spürt plötzlich, dass die revoltierende Jugend auf ihn Eindruck macht. In diesen Wochen, in denen er wieder mit einem Hit ›Am I that Easy to Forget‹ die Hitparaden vieler Länder anführt, prophezeit er im Hinblick auf seine künftige Karriere einen musikalischen Wandel: Mit mehr PS ins internationale Showbusiness. – Nach großem Krach in der Gruppe Manfred Mann ist die Crew wieder vereint und auf Anhieb mit einem Hit im Schlager-Weltgeschehen zur Geltung gekommen: ›Mighty Quinn‹. Ein Mann, ein Wort, kann man bei Manfred Mann sagen, denn in einem Interview meinte er zur Schlagerszene unerschrocken: Der Rundfunk macht unser Geschäft kaputt! – Hitparade des Monats April: ›World‹, Bee Gees, ›Hello, Goodbye‹, Beatles, ›Massachusetts‹, Bee Gees, ›Mama‹, Heintje, ›Daydream Believer‹, Monkees, ›Doch dann kamst du‹, Ronny, ›2000 Lightyears from Home‹, Rolling Stones, ›The Letter‹, Box Tops, ›Morning of my Life‹, Esther und Abi Ofraim, ›The Ballad of Bonnie and Clyde‹, Georgie Fame. – Was wird aus den Mamas & Papas? – Die Monkees sind eine der erfolgreichsten Bands in den USA. Bisher haben sie zehn Millionen Single-Platten und fast dreizehn Millionen Langspielplatten verkauft. – Das Leben ist ein verrückter Spaß. So heißt die Devise der Who Keith Moon, John Entwistle, Roger Daltrey und Pete Townshend –, die sie täglich in die auffallendsten Taten umsetzten. Wer diese quirligen Vier mal aus der Nähe erlebt hat, weiß, dass man bei ihnen auf die tollsten Sachen gefasst sein muss. – The Cream: ›Sunshine of Your Love‹: Modern gesetzter Gruppengesang unterscheidet die Cream heute von früheren Aufnahmen. Der Background ist hart und zugleich mystisch verträumt. Die Cream im Trend unserer Zeit. Eine Platte für Freunde des zeitgemäßen Beat.«

Am 3. April explodierten nachts in zwei Frankfurter Kaufhäusern Sprengsätze. »Burn, warehouse, burn!« Andreas Baader, Gudrun Ensslin, Söhnlein und Thorwald Proll, wurden tags darauf verhaftet und im Oktober zu einer Zuchthausstrafe von jeweils drei Jahren verurteilt. Am 4. April wurde Martin Luther King ermordet, am 11. April Rudi Dutschke bei einem Attentat schwer verletzt.

Hüben wie drüben kam es zu spontanen Aufständen, Unruhen, Straßenschlachten, Eskalation der Gewalt. Amerika wurde durch bürgerkriegsähnliche Kämpfe in 125 Großstadt-Gettos erschüttert, Deutschland durch die Osterunruhen – ihr Ziel: die Springer-Redaktionen und -Fillialen! Solidaritätsdemonstrationen weltweit, von Amsterdam bis Washington. In München sah es so aus: Am Karfreitag, einen Tag vor dem Dutschke-Attentat, wurde die Redaktion der Bild-Zeitung gestürmt, es kommt in der Barerstrasse zu erbitterten Straßenschlachten, die, über die ganze Stadt verteilt, bis Ostermontag andauern. An diesem Tag geht in München ein Kulturspektakel über die Bühne, für das Eberhard Schoener, heute Deutschlands experimentierfreudigster Komponist, verantwortlich zeichnete. In der Süddeutschen Zeitung vom 17. 4. 68 schrieb Florian Fricke, der bald mit seiner Gruppe Popol Vuh selbst den Weg zum Musiker einschlagen sollte, über »Alteraction« im Münchner Haus der Kunst: »Abgesehen vom Resultat und auch davon, dass das ›Neue‹ ja nicht eigentlich neu war, nur eben für München, ist der Versuch zu begrüßen und selbst in seinem Misslingen interessant.« Helmut Lesch fand in der Abendzeitung das »Morphinisten-Gestammel ... trotz allem: ein sehenswertes Experiment«. Und der Spiegel berichtete: »Den Münchnern im (Haus der Kunst) schlug die von Macchi erstrebte Provokation bislang nicht aufs Gemüt ... überdies: Draußen auf den Münchner Straßen, soviel war sicher, wurde zur gleichen Zeit weit eindringlicher provoziert.« – Soviel zu (A)lter A(ction) von A. Artaud, von Eberhard Schoener, Florian Furtwängler und Tatiana Massine initiiert ...

An diesem Tag wird der AZ-Fotoreporter Klaus Frings von einem Pflasterstein tödlich getroffen. Der Student Rüdiger Schreck erliegt ebenfalls seinen Verletzungen. Beide Fälle bleiben, wie unzählige andere, unaufgeklärt. Nach der Belagerung des Buchgewerbehauses am 16. April sieht die Bilanz der »Osterunruhen« so aus: über 60.000 Demonstranten aller Bevölkerungsschichten wurden von 21.000 eingesetzten Polizisten bekämpft, die 1.000 verhafteten, darunter auch völlig unbeteiligte Bürger. Man zählt über 4.000 Verletzte. Seit der Weimarer Republik hat Deutschland keine Straßenschlachten in diesem Ausmaß erlebt.

Einen klaren Kopf behielt nun keiner mehr, auf beiden Seiten trat anstelle kühler Überlegung unberechenbare Willkür. Der erste »Osterdemonstrant« wird am 16. April in München wegen Aufruhrs und Auflaufs zu sieben Monaten Gefängnis ohne Bewährung verurteilt, gegen weitere 826 werden Ermittlungsverfahren eingeleitet. In einer Bundestagssondersitzung bezeichnete Innenminister Benda den SDS als verfassungsfeindliche Organisation. Was für einen Mai konnte man nach einem solchen April erwarten? Den Heißesten, den es je gab. Doch ausgerechnet im ereignisreichsten und wichtigsten Monat der ganzen 60er-Jahre-Bewegung hatte ich meine Prüfung als Buchhändler vor der Handelskammer abzulegen. Wäre sie einen Monat später gewesen, wer weiß? So kam ich zumindest noch zu einem bürgerlichen Berufsabschluss und konnte guten Gewissens herumexperimentieren. Die politischen Ereignisse hatten sich nach Frankreich verlagert, der legendäre »Pariser Mai ’68« fand jedoch in einem internationalen Protestumfeld statt, von Ankara bis Tokio. In Deutschland hatte die APO zu den 1.-Mai-Kundgebungen des DGB »Gegenkundgebungen« organisiert. Während sich in Paris nach tagelangen Straßenschlachten Arbeiter und Studenten solidarisierten und dort mit Blockaden und Streiks, Besetzungen und Stürmungen die Stadt für einen Monat lahmlegten, waren am 11. Mai in Deutschland 60.000 unterwegs, um gegen die geplanten Notstandsgesetze zu protestieren. Das Kuratorium Notstand der Demokratie hatte diesen Sternmarsch auf Bonn organisiert. Trotz Beteiligung an mehreren Osterdemonstrationen legte ich am 14. meine Buchhändlerprüfung ab, am 15. musste ich für mehrere Wochen zu einem Kursus der Buchhändlerschule des Deutschen Börsenverbands nach Frankfurt.

Anlässlich der zweiten Lesung der Notstandsgesetze im Bundestag kam es an diesem und dem darauffolgenden Tag an den Universitäten und Hochschulen zu Demonstrationen. Am 17. wurden die Notstandsgesetze gebilligt, am 18. wurde auch an der Kunstakademie in München gestreikt.

Am 20. fand dort das sogenannte »Notstandshappening« statt, am 21. versammelten sich 12.000 Notstands-Gegner im Alten Botanischen Garten, und am 24. wurden auf den Bühnen der Theater die sogenannten Notstandsproklamationen verlesen. Und an einem dieser Tage war er – der erste Auftritt der Münchner Gruppe Amon Düül!

Wann genau, da kann sich keiner mehr erinnern. Wen wundert’s bei diesem Chaos, die Welt war alles andere als in Ordnung.

 

Notstandskinder

»Wir haben uns bemüht,

diese(s) Märchen so rein wie möglich aufzufassen ...

Kein Umstand ist hinzugedichtet oder

verschönert und abgeändert worden.«

Brüder Grimm

 

Die Amon Düül hatten sich in der vornehmen Wohngegend an der Prinzregentenstraße einquartiert. Die Musiker-Fraktion der Multi-Media-Gruppe, Chris Karrer, Peter und Uli Leopold und Rainer Bauer, übten ein paar Häuser weiter in einem Keller unter der Aral-Tankstelle. Ihre Erfahrungen mit dem Kommuneleben beschrieben sie in einem Gespräch:

Shrat: »Da residierten wir in der Prinzregentenstraße, wo Ärzte und Rechtsanwälte wohnen. Es war die Zeit, wo man total ausflippte, die Haare immer länger wurden und man nur noch indische Gewänder trug. Wenn man unten die Straße entlangging, öffneten sich oben immer die Fenster und die Leute schrien: ›Vergast gehört ihr!‹ Diese Tour lief da. Das war auch die Zeit, wo es mit den Ideologien losging. Alles flippte etwas ins Kommunegehabe. Alles gleich, alles für alle!«

Chris: »Da hat man nur Leute reingelassen, die irgendwas wie Kopfstand oder so konnten, eine bestimmte Begabung hatten. Man hat sich so echte Hausnarren gehalten.«

Shrat: »Z. B. kam da so ein Engländer und blieb sechs Wochen. Den kannte keiner. Weiß auch nicht mehr, wie der hieß. Der saß sechs Wochen lang immer im Eck und hat nur riesige Butterstullen mit Marmelade drauf gegessen, kochte Tee und sonst nichts! Rührte sich nicht und wurde von allen respektiert.«

Chris: »Ich weiß noch, eines Tages kamen Shrats Mutter und sein Bruder an und wollten ihn polizeilich abführen lassen. Da haben wir ihn versteckt.«

Shrat: »Ich bin ja offiziell nach München gekommen, um Soziologie zu studieren. Und niemand ahnte, was da mit meinem angesparten Geld passierte, dass ich meine und anderer Leute ›flips‹ damit finanzierte. Und nachdem das dann zu Hause durchsickerte ...«

Chris: »Das war eine ›straighte‹ Familie, Zementwerk und so ...«

Shrat: »Damals also, von der Ideologie her, die man so als Obergerüst konstruiert hat, war noch alles möglich: Film, Fotografie, eben Multi-Media! Und Helge immer als Oberpriester. Nie Geschirr abspülen, aber immer sehr erleuchtet! Freud, Nietzsche und Castaneda gelesen! Und dann wurden im 3. Stock die Trips eingeworfen und die ganze Nacht auf volle Lautstärke die erste Anlage, Solton, die ich angeschafft hatte, ausprobiert.«

In einem Interview, das Peter Leopold Ende 1977 im NDR Klaus Wellershaus gegeben hat, beschrieb er die Entstehung der Band so: »Die Ideologen kamen und sagten, jetzt müssen alle Musik machen. Es muss Musik gemacht werden von allen – alle dürfen, die irgendwie können. Das war erst mal ein gesellschaftliches Bedürfnis wie zusammen fernsehen, reden oder ins Kino gehen. Dann haben wir das versucht, auf die Bühne zu transponieren. Aber die Bühne schafft halt doch Abstand. Auf eine Bühne gehört eben nur das, was sich entsprechend vom Durchschnitt abhebt. Wenn dann eine Situation eintritt, wo im Publikum zwanzig Leute sitzen, die besser Gitarre spielen können als der Gitarrist da oben, dann können die Leute unten schon abgetörnt werden. Doch damals dachten wir, das ist ein gutes Modell, das sollte man durchziehen. Und mit der damaligen Einstellung hat man’s eben auch eine Zeitlang durchziehen können.« Wie nachhaltig dann der erste Auftritt der Amon Düül bei einer dieser Notstand-Demos auf die anwesenden Leute gewirkt hat, von denen manche prompt darauf ihre bürgerlich-vorprogrammierte Karriere aufgaben, zeigen zahlreiche Interviews, die ich mit Augenzeugen führte.

Da war z. B. Peter Kaiser, der Theaterwissenschaft studierte und nebenher schon Assistenzen bei Filmemachern wie Peter Fleischmann (Herbst der Gammler) machte: