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Ada Brodbeck

Hannah

Immer ist eine sehr lange Zeit

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Es war Ada Brodbeck nicht bewusst, dass sie noch irgendetwas aufspüren könnte, was zugedeckt in ihr schlummerte. Sie dachte, dass sie ihre eigene Geschichte zur Genüge kannte und aufgearbeitet hatte. Zu schreiben begann sie nicht aus einem geplanten Vorhaben heraus, sondern aus einem Impuls. Während des Schreibprozesses verlor sie ihre Stimme, und ihre Glieder wurden wieder bleischwer. So wie damals. Ein Albtraum nach dem anderen beherrschte wieder ihre Nächte. Und doch schrieb sie weiter. Warum? Schreiben war, wie sie selber sagt, die am wenigsten gefährliche Waffe, die sie gegen sich selbst richten konnte. Das Verdrängen hatte ihren Geist müde und ihren Körper krank gemacht. Möglich war das Loslassen und Zu-Papier-Bringen aber nur – das wurde Ada Brodbeck schnell klar – in der dritten Person. Und so gab sie dem Kind, das sie einst war, einen neuen Namen: Hannah. Hannah brachte ihr die nötige Distanz. Hannah, nicht sie selbst, hatte erlebt, was nicht erzählbar ist. Durch Hannah war aussprechbar geworden, was nicht in Worte gefasst werden kann. Und dank Hannah wird für uns lesbar, was undenkbar ist. »Hannah« ist eine ebenso berührende wie auf- wühlende Geschichte, erzählt in Worten, denen sich niemand entziehen kann. In den Worten eines Kindes, das in seiner Familie über Jahre seelisch ausgebeutet und sexuell missbraucht wurde.

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Ada Brodbeck, geb. 1963, war fünf Jahre alt, als sie von ihrer leiblichen Mutter wegkam und in die Obhut ihres Vaters übergeben wurde, obwohl man von seinen Übergriffen wusste. Sechzehn Jahre später machte sie sich auf die Reise zu ihrer inzwischen todkranken Mutter; mit dem Zug. Diese Zugfahrt bildet den roten Faden, an den Ada Brodbeck ihre Erinnerungen an das Grundfalsche, das ihr als Kind widerfuhr, geknüpft hat und sich damit behutsam der Vergangenheit stellt, anstatt zu erstarren oder das zu verdrängen, was doch stärker ist als sie. Der autobiografische Roman »Hannah« ist Ada Brodbecks erstes Buch. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Zürcher Weinland. www.sachklang.ch

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des
auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe

Für meine Mutter – in Liebe
Trotz allem

Ein Wunsch geht immer.

Sommer 1963. Kein Glück lag in der Luft. Grüne Menschen und silberne Instrumente füllten das grelle Licht, in dem eine betäubte Frau lag. In glücklosen Zeiten wie diesen ausgerechnet noch ein Kind. Das waren vielleicht die letzten Gedanken der Frau, bevor die Narkose wirkte.

Das Kind musste raus aus Wärme und Geborgenheit. Deswegen streckte der Arzt seine behandschuhten Hände in die Höhe und nickte kurz zu beiden Seiten. Schnitt messerscharf, griff hinein, hob das Kind heraus.

Leicht wie ein Lappen ist das Neugeborene. Die Nabelschnur pulsierte noch. Nur kurz. Nur kurz. Dann aus eins mach zwei. Schnipp und schnapp. Aus eins mach zwei.

Für immer.

Aus Frau wird in solchen Momenten Mutter. Für Hannah war es anders, aus ihrer Mutter wurde die Frau.

Hannah wehrte sich, bäumte sich auf, schrie, schleuderte ihren Widerstand laut und mit voller Kraft hinaus.

Die Handnäherin saß unsichtbar neben Hannah, beruhigte sie und summte ein Lied. Dabei nähte sie mit ihrer Zaubernadel ganz sanft die Lebenslinien in das Innere der kleinen Handflächen, knüpfte achtsam den Faden in das Lebensmuster der Neugeborenen. Darin verstand sie sich. Es war ihre Pflicht. Mit geschickten Fingern hielt sie den zarten Faden und achtete auf die Präzision der Linien, vorgegeben wie eine Landkarte. Ein verflochtenes Labyrinth an Ereignissen und Begegnungen. Sie hielt die Hände des Kindes nach getaner Arbeit in ihren und sang leise das lange Lied des Trostes, während ihr Blick noch eine ganze Weile in Hannahs Zukunft schweifte, Ausschau hielt, nach Abzweigungen und Möglichkeiten, nach einer Verzauberung.

Dann sah sie sich nochmals Hannahs Schicksalslinien an und versprach, sie nicht im Stich zu lassen. Obwohl sie ahnte, dass ihr das vielleicht nicht gelingen würde.

Hannah erwacht von dem Licht, das durch den schmalen Spalt der Tür fällt. Bei Tageslicht verschwindet die Nacht. Das weiß sie.

Sie öffnet die Augen und sieht die Frau in der Tür. Hannah streckt sich ihr entgegen. Heute geht sie auf Reisen. Das hat die Frau gesagt. Sie, Hannah, darf heute alleine reisen. Sie wird mit dem Zug fahren. Ganz allein. Hat die Frau gesagt. Sie steht auf. Ganz allein?, fragt Hannah beim Ankleiden.

Ja.

Mit den neuen Schuhen, wünscht Hannah.

Ich weiß nicht. Mal sehen. Vielleicht. Ja.

Sie schlüpft in ihre Strümpfe. Die Frau wäscht währenddessen hastig Hannahs Gesicht, kämmt ihr das Haar, flicht zwei neue Zöpfe. Die Sonne wirft nun hell die ersten Strahlen in die Kammer. Hannah ist aufgeregt. Die Sachen packen. Zahnbürste festhalten.

Zahnbürste muss mit.

Ja.

Die Frau schiebt ihr den Teller hin, rückt die Tasse zurecht. Die Tasse mit den Augen und der Nase. Die Tasse lächelt.

Wir müssen los.

Tasse muss mit.

Nein.

Meine Tasse.

Ich weiß. Nein.

Man muss weit gehen. Hannah weiß das. Immer der Straße entlang. Das weiß sie.

Nun iss, der Zug wartet nicht.

Nein, Zug wartet nicht.

Bist du so weit?

Ja, so weit.

Gerade will das Kind aufstehen, gerade will es fragen, wohin es jetzt in diesem Moment gehen soll, gerade will es den Mund öffnen, gerade schiebt es sich einen Krümel in den Mund, als die Frau im Gang steht und ihren Mantel anzieht. Das Kind lächelt mit vollem Mund. Die Frau blickt zurück und streckt ihr den Mantel hin. Hannah befreit die Gedanken von Flocken und Krümeln. Sie zieht den Kopf zwischen ihre Schultern, schlüpft in die Jacke, streckt sich, stellt sich gerade hin und schaut die Frau an. Wir kommen zu spät, denkt die Frau.

Und ohne lange zu überlegen, ohne vorher noch einmal bedeutungsvoll in die Augen der Mutter zu blicken, ohne zu fragen, warum sie nun doch diese neuen Schuhe anziehen darf, ohne all das, schweigt Hannah wie in einem Anflug von Melancholie. Wie in einer plötzlichen, warmen Umhüllung einer freundlichen und sanftmütigen Ungewissheit. Wie in einer aufkommenden Vorahnung über die Dinge, die eben nicht bleiben, wie sie sind. Für Hannah stellt sich keine Frage. Sie kennt nichts anderes. Nichts anderes als mal hier, mal dort. Und ein Dazwischen. Manchmal viel davon.

Bist du so weit?, fragt die Frau ohne ein Wort, streift stumm mit ihrem trüben Blick das Kind und sieht, es ist so weit.

Vor der Tür streckt Hannah ihre Beine durch, blickt stolz auf ihre neuen Schuhe und hält die Hand der Frau fest. Für die Frau neben Hannah ist es selbstverständlich, diesen weiten Weg zu gehen. Die Frau geht ihn oft. Sie geht ihn an jenen Tagen, an denen es in Hannahs Welt still ist. Wie lange es manchmal in ihrer Welt still ist, weiß Hannah nicht so genau.

Dann, wenn es still in ihrer Welt wird, heften sich ihre Augen an allem fest, bis sie müde wegschlummert, einschläft, in Decken und Kleider gerollt. Manchmal hungrig. Manchmal nicht. Manchmal irgendwo. So lange schläft, bis sie jemand an der Schulter berührt. Manchmal ist es ihre Großmutter, manchmal ein Onkel, manchmal die Tante. Manchmal ist es ein fremdes Gesicht. Manchmal die Frau, die ihre Mutter ist.

Gehen wir, sagt die Frau.

Wohin?

Zum Bahnhof.

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Wenn man zum Bahnhof will, muss man weit gehen.

Das war schon immer so.

Der Fußweg führte damals entlang der Bahnschienen. Immer geradeaus. Hannah lief ihn an der Hand ihrer Mutter. Folgte ihren kurzen, eleganten Schritten. Immer geradeaus.

Hannah glaubt, den Duft der Frau zu riechen. Die Aufregung jenes besonderen Tages. Die beschlagenen Fensterscheiben, den Geruch von feuchtem Morgennebel. Die Wärme im Abteil, in dem sie saß. Ihre Fußspitzen vermochten kaum den Boden zu berühren. Wie lange das her sein mag?, überlegt sie sich, während sie mit lauten Schritten über die Pflastersteine eilt, zielstrebig, Richtung Bahnhof.

Nach Einbruch der Dunkelheit haftet der Stadt etwas Mittelalterliches an. Nur wenige Fenster sind erhellt. Die Kleinstadt schläft tief zu dieser frühen Morgenstunde.

Hannahs Stöckelschuhe verursachen ein morgendliches Echo, das von den grauen, feuchten Hauswänden auf sie zurückrollt. Sie weicht geschickt den schimmernden Pfützen aus, die der Regen der letzten Nacht hinterlassen hat. Ihre Absätze sinken ein wenig zwischen den Pflastersteinen in den Boden ein.

Sechs Uhr.

Sie geht diesen Weg jeden Morgen zur selben Stunde. Auch heute. Sie muss sich beeilen. Der Zug wartet nicht.

Das Abenteuer, das Reisen. Heute hat sie kein Gefühl dafür. Sie ist aufgewühlt und friert. Der Klang, das vertraute Läuten der Glocke, gibt ihr die Uhrzeit an. Noch drei Minuten bis zur Einfahrt des Zuges. Sie raucht eine Zigarette. Ihre Fingerspitzen sind feucht und schmerzen vor Kälte.

Sie kann den Zug bereits hören. Von der Zigarette zittert die Glut ab. Hannah blickt auf die Wolken, die sie ausatmet, auf die mittlerweile feuchte Zigarette, lässt sie fallen. Bald kann sie in ein warmes Abteil steigen.

Die Kälte klammert sich an ihre Fußgelenke. Hannah ist viel zu leicht angezogen. Das Tauwetter begleitet ihre Seele. Drückt sie nieder.

Wie damals, denkt Hannah, trägt sie Kleider, die gefallen sollen und nicht wärmen. Ihr, der Frau, gefallen. Weil diese Frau jetzt stirbt. Sie könnte weiterleben, sie könnte ihr diese letzte Gefälligkeit erweisen. Wäre doch nicht zu viel verlangt.

Hannah fühlt sich plötzlich matt und müde.

Nicht auf sie zu, sondern von ihr weg scheint sich alles zu bewegen. Der einfahrende Zug und auch ihr Leben. Nicht nur das Leben der Frau. Sie kann es fühlen. Das Leben der Frau mit den eleganten Schritten verflüchtigt sich, wie damals der Geruch von ihrem Parfüm. Sie kann es fühlen. Das Sterben. Egal, wie viele Jahre dazwischenliegen. Wenn man zum Bahnhof will, muss man weit gehen. Irgendwie war das immer so. Egal, aus welchem Grund. Gewisse Dinge bleiben eben, wie sie sind. Für immer. Der Zug fährt ein. Quietschend, kreischend laut.

Hannah wirft von außen einen Blick in das Innere des Zuges, sucht das Abteil nach freien Plätzen ab, steigt ein und denkt: Immer ist eine sehr lange Zeit.

Sie steht im Gang des Zuges. Die plötzliche Wärme tut ihr gut. Ihre Gedanken reisen zurück in die Vergangenheit.

Mit ihr laufen. So schnell wie der Wind! So schnell wie der Wind, der sich damals, an ihre Zöpfe gebunden, mittragen ließ. Den ganzen weiten Weg entlang.

Bis zum Bahnhof hin.

Wie die Bilder standen die Bäume dicht beieinander, berührten sich in der Ferne und gingen beim Näherkommen zueinander auf Distanz.

Die Erinnerung gibt ihr ein Gefühl von Gegenwart.

Sie reist zu der Frau, die ihre Mutter ist, entscheidet sich, sich zu freuen, entscheidet sich, dort nie anzukommen, will sich selber ihre Gefühle beschreiben und entscheidet sich, gar nicht erst damit anzufangen.

Hannah fällt auf, dass es ihr nie in den Sinn kam, ihre Mutter anzurufen. Ihr auch nie schrieb. Ein Versäumnis, für das sie keine Entschuldigung braucht, entscheidet sie sich und kramt in ihrer Tasche nach der Zigarettenschachtel. Sie sieht sich um. Eigentlich würde sie jetzt gerne jemanden treffen, den sie kennt. Sie ist unglaublich nervös. Die Mitreisenden, unter denen sie kein bekanntes Gesicht ausmachen kann, scheint das nicht zu interessieren.

Hannah findet um diese Uhrzeit nicht immer einen freien Sitzplatz. Manchmal muss sie stehen. Gedrängt zwischen all den müden Körpern sich festhalten. Wach halten. Die Gerüche aushalten. Heute hat sie Glück. Sie kann wählen und zögert. Normalerweise setzt sie sich nicht mit dem Rücken zur Fahrtrichtung. Normalerweise will sie die Bilder auf sich zufliegen sehen. Brücken, Wiesen und Wälder. Dieses Nichtwetter aufnehmen, den Tau, in dem alles noch wie in einer Fruchtblase schimmert, feucht und blass. Normalerweise will sie die Landschaft mit ihrem Körper einfangen. Heute nicht.

Heute ist alles anders.

Kalte Tage. Warme Tage. Sommertage. Frühlingstage. Wintertage. Kurze Tage.

Tage bei ihr, der Frau. Irgendwie waren es flüchtige Tage. Hannah war klein, schlank, ihre Augen dunkel. Ihr Haar mittellang. Sie war kein spezielles Kind. Nichts Besonderes. Kein Kind mit Oh-wie-süß-Effekt. Dieses Kind hatte seine Mutter verloren. Hannah legt ihre Stirn an die Fensterscheibe und empfindet die Kälte als angenehm. Sie lehnt sich an ihre Erinnerung. Vielleicht findet sie auch noch etwas Schlaf. Die Nacht war kurz. In etwa drei Stunden wird sie die Frau sehen, die ihr das Leben geschenkt hat. Hannah ringt mit dem Selbstmitleid. Eine Schwäche, sich selbst zu bedauern, aber sie kann nicht anders. Sie hatte ihre Mutter, ihre Kindheit verloren und trauert dieser Tatsache gerade jetzt nach, wie man einem verlorenen Freund in dem Moment, da man gemeinsame Orte aufsucht, nachtrauert.

Mit ihr laufen. So schnell wie der Wind.

Wie sehr sie gerade diese Erinnerung ergreift. An der Hand ihrer Mutter.

Sie wollte gehorchen, wenn die Frau sagte, sie solle sich beeilen. Gehorchen, wenn sie sagte, geh, komm. Der Wind verweht sie. Die Spuren. Beeil dich, klingt es in ihrem Kopf nach. Der Zug wartet nicht. Nein, tut er nicht, denkt Hannah, während sich der Zug langsam in Bewegung setzt.

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Heute ist ein besonderer Tag. Hannah hüpft glücklich auf und ab. Je nachdem dreht und wendet sie ihren Körper an der Hand der Frau, die ihre Hand mit festem Griff umschließt, mal nach links, mal nach rechts. Ihre Füße tanzen dazu laut und klangvoll. Setzen der bedrückenden Stille, die durch das lange Schweigen der Frau entsteht, ein Ende.

Eine Woche wird sie verreisen. Oder auch mehr. Oder auch weniger. Was eine Woche ist, hat in der Aufregung keine Bedeutung. Der Himmel hat sich einfach etwas für Hannah einfallen lassen. Sie hat in sich die Hoffnung, mit dieser Frau neben ihr bald und immer wieder zum Bahnhof zu gehen. Doch die Hoffnung hat kein Gewissen. Auch kein Kindergewissen. Das Kind kümmert dies wenig, und es hüpft. Hüpft und schwingt und genießt die Kraft der Hand seiner Mutter. Es kann es ja nicht wissen. Kann nicht wissen, was sich hinter der nächsten Woche, unmöglich wissen, was sich hinter dem nächsten Monat, ja selbst hinter dem nächsten Jahr verbirgt.

Nun beeil dich!

Mit ihr laufen. So schnell wie der Wind. Für immer. Beeil dich, klingt es in ihrem Kopf mit den frisch geflochtenen Zöpfen nach. Der Zug wartet nicht. Die Hand der Mutter, die ihre Hand mit festem Griff umschließt. Sie fühlt, wie die Handnäherin arbeitet! Stich für Stich. Schnell zusammengenäht. Knopf. Noch ein Knopf und Doppelknopf. Jetzt gehören sie zusammen. Lange möchte Hannah so hüpfen. Diesen sicheren, festen Griff genießen. Möchte für immer neben ihr gehen. Lange die Hand der Mutter fühlen, drücken, halten.

Gehen, hüpfen, die Hand fester halten. Festhalten die Gewissheit, dass für dieses eine Mal ihre umschlossene Hand nicht weitergereicht wird. Der Klang ihrer Schuhe stimmt sie fröhlich, lässt keine andere Realität erahnen.

Hannah versucht, Schritt zu halten und gleichzeitig, durch ihr Auf und Ab, die eisernen Griffe des kalten Morgennebels um ihre Knöchel zu lockern. Soeben kommt die Sonne über die Hügel und lächelt sanft auf die kalte Straße.

Es ist Frühsommer.

Heute wird der Tag schön. Klack, klack, klack.

Das Kind hört seine eigenen Schritte.

Die neuen Schuhe sind eng, drücken nach einer Weile da und dort. Hannah ist es gewohnt, barfuß zu gehen. Nun trägt sie Schuhe, die ihre Füße plagen. Besondere Schuhe. Sie glänzen und machen beim Gehen klack, klack.

Der Tag wird wärmer und angenehm. Der Wind spielt mit dem zusammengebundenen Haar, löst sich von ihren Fußgelenken und zerrt neckisch an ihren straffen Zöpfen.

Sie weiß nicht genau, woher der Zug kommt. Er kreischt und quietscht, dass sich ihre Haut zusammenzieht. Das Pochen in ihrem Herzen ist lauter geworden. Hannah schaut auf ihre Füße.

Ihre Schuhe wirken plötzlich mausbeinallein.

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Die Tage werden noch nicht heller. Sie späht durch das spiegelnde Fensterglas des Zugabteils nach draußen. Mutter und Tochter. Wie beim Hüpfspiel. Ein Bein und dann wieder kurz beide Beine. Und wieder auf einem Bein weiter.

Mutter und Tochter.

Himmel und Hölle.

Alles liegt im Dunkeln. Hannah zieht ihre Handschuhe und ihren Schal aus, reibt ihre Hände. Die Haare kleben ihr nass an der Stirn. Sie wird sich ihrer Kindheit zuwenden müssen. Das fühlt sie. Wird das, was hinter diesem Zaun, hinter jener Straße lag … sie wird sich den Bildern, die wie eine unüberlegte Überschreitung der Grenze eines Grundstücks ihre Aufmerksamkeit beanspruchen, stellen müssen. Den Bildern von damals. Damals, an der Hand der Frau. Hannah liebte sie schon immer auf die Art und Weise, wie man jemanden liebt, der sich rarmacht. Es war ein Abschiednehmen. Damals am Bahnhof. Darüber ist sich Hannah im Klaren.

Abschied. Darin war sie noch nie gut. Vielleicht darum. Vielleicht wegen dieser Zeit. Oder jener, die folgte. So viele Abschiede. Irgendetwas in ihrem Innern, etwas Bedrohliches, brach auf, als sie als kleines Mädchen gemeinsam mit der Frau am Bahnhof stand. Etwas Schweres, das dunkle Windungen in ihrer Kinderseele verursachte. Etwas Schweres, das sie heute noch zu erdrücken, das ihre Brust mit Schnüren, geflochten aus Sehnsüchten und Entbehrungen jener Tage, zusammenzuziehen droht.

Die Schwere, die damals, am Bahnhof mit ihrer Mutter, plötzlich über ihrem Herzen lag, wurde durch die wärmende Sonne, das Reisen und die Tatsache, mit ihr zu sein, in tausend klitzekleine Teilchen gerissen und zerstob. Einer Ahnung gleich. Ein Vorgefühl, das man von sich wirft. Zudem wollte sie tapfer sein. Niemand sollte merken, dass sie Angst hatte. Hannahs Kinderherz tanzte einfach weiter. Einfach immer weiter.

Tanzte sich taub.

Warf die Angst über Bord.

An der Hand ihrer Mama bis zum Bahnhof und dann die Reise allein. Irgendwohin.

Für die Frau war es selbstverständlich, dass Hannah das konnte, denkt sie sich. Für die Frau war vieles selbstverständlich.

Es ist nicht meine Entscheidung, sagte die Frau, während sie ihre Tochter fest ansah.

Nicht ihre Entscheidung. Hannah verstand nicht und nickte. Sie erkannte nicht, was sich alles zutrug. Doch die Entscheidung, egal, von wem sie kam, war gefallen. Diese Entscheidung hatte mit ihr, Hannah, zu tun. Damit, dass sie nun am Bahnhof standen.

Eigenartig findet sie das alles. Sie hatte sich in ihrem Leben nie darüber Gedanken gemacht, über das Weshalb, Warum und Wofür.

Nie, bis zum heutigen Tag.

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Etwas ist hier nicht richtig. Das kann sie spüren. Sie stellt sich am Bahnhof ganz nahe neben die Frau. Hannahs sehnlichster Wunsch ist, dass die Hand der Frau mit ihrer, wie von Zauberhand, jetzt, gerade in diesem Moment, zusammenwachsen möge. Jetzt zählt nur noch die Hand der Frau. Diese Hand gilt es festzuhalten. Für immer festzuhalten. Sie bittet die Handnäherin, die für Hannah zuständige Märchenfrau, sich um ihr Anliegen zu kümmern, sich dabei zu beeilen, da das langsame, laute Heranrollen des Zuges schon zu hören ist.

Stich um Stich. Bitte!

Hannah horcht in ihre Hände, hält die Hand etwas fester, weicht dem fragenden Blick der Frau aus und schüttelt unmerklich den Kopf. Sie hört nichts, kein Geräusch in ihren Händen, kein Nachklang von summend schwingendem Glas. Hannah horcht genauer hin. Es wird funktionieren. Ganz bestimmt. Sie hält den Atem an. Die Handnäherin wird ihre Arbeit machen. Davon ist Hannah überzeugt. Einen geliehenen, hoffnungsvollen Moment lang ist sie sich ganz sicher. Es wird funktionieren. Hannah schaut die Frau an, deren Augen über die Gleise schweifen. Da lässt die Frau die Hand los.

Die Nadel bricht, der Faden reißt, der Zug fährt ein.

Das Kind lässt sich von der Frau zur ersten Sitzbank am linken Fenster führen. Die roten Lackschuhe halten Hannahs Blick am Boden fest. Rucke di guh. Sie spürt erst jetzt, wie sehr sie ihre Füße schmerzen. Blut ist im Schuh!

Rucke di guh.

Hannah setzt sich ans Fenster, zieht ihr Kleid über die Knie und gleitet sanft mit der Hand über die glänzende Bank aus warmem Holz. Ihr Mantel legt sich wie von Zauberhand müde hin. Für einen Moment denkt sie an nichts, fühlt die Bank unter ihren Fingern und schließt die Augen. Auf irgendeine Weise erfüllt sie dieses Gefühl mit wärmender, milder Zuversicht. Ohne Fragen zu stellen, ohne lange zu überlegen, ohne vorher noch einmal bedeutungsvoll in die Augen der Frau zu blicken, ohne zu fragen, warum sie in diesem Zug verlassen wird, ohne all das, sitzt Hannah und schweigt.

Alles in Ordnung?

Hannah nickt und blickt der Frau nach, die den Zug hastig verlässt. Sie findet in sich selbst nur wenig Trostkraft. Sie möchte in einer plötzlichen Furcht wissen, wann sie wiederkomme und ein, zwei Dinge dazu. Doch die Frau ist schon weg. Die Antwort auf ihre Fragen legt sich in aller Ruhe – wie eine erzählte Geschichte, wie ein Buch, das man schweigend berührt und gelesen schließt – achtsam zwischen die zusammengepressten Beine und den Mantel, während sich der Zug vom Bahnhof löst und langsam losfährt. Schließlich verliert sie sich in den Bildern des vorüberziehenden Himmels, der Felder und Häuser. Wie lange hält sich die Schuhspitze am Boden, überlegt Hannah und zählt leise, im Rhythmus des fahrenden Zuges vor sich hin, während die Füße mit den Spitzen den Boden berühren. Ihr Körper bewegt sich wie von selbst, sobald sich die Fußspitzen vom Boden lösen. Ein Spiel, das die Zeit vertreibt.

Dieses Hin- und Herschaukeln mag Hannah, solange niemand mit ihr in ihrem Abteil sitzt.

Doch bald setzt sich ihr ein Fremder gegenüber. Hannah lässt das Zählen. Ihr Blick wandert über die anderen Holzbänke zu dem halb geöffneten Fenster. Sie versucht, das Schaukeln zu stoppen, hält sich auf ihren Zehenspitzen und stemmt sich fest auf ihre Hände, um den Körper zu fixieren. Was mit der Zeit sehr anstrengend wird. Ihre Hände kleben durch die Wärme unangenehm auf der Sitzbank fest.

Der andere Mann bei der Frau hat ein tiefes Lachen und lange Beine. Seine Gesichtszüge sind kantig. Tagtäglich ist er um sie herum. Hat ihr, Hannah, das Lachen genommen und der Frau gegeben. Hannah liebt das Lachen der Frau.

Die Frau mag Katzen. Katzen und diesen Mann. Der Mann hat etwas hinter den Augen, das Hannah nicht mag. Der Mann bei der Frau hat Hände, die Hannah nicht mag. Wie der andere Mann, wie ihr Vater, lächelt er eigenartig, streckt seine langen Arme nach ihr aus. Will ihr die Hand reichen.

Der Zug wird sie zur Großmutter bringen. Nur für ein paar Nächte, hat man ihr gesagt. Man hat ihr vieles gesagt.

Der Zug verlangsamt seine Fahrt. Hannah wechselt die Seite, um an das Fenster zu gelangen, das ihr den Blick auf den Bahnsteig gewährt. Als sie die kleine alte Dame sieht, steht sie auf und stellt sich an den Ausgang.

Der Zug hält an.

Hannah hält sich fest und lehnt sich durch die offene Tür nach draußen.

Ein warmer Wind weht ihr entgegen.

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Sie sieht die beschlagenen Fensterscheiben im Zug vor sich, glaubt den Geruch von feuchtem Morgennebel zu riechen, der damals auf dem Weg zum Bahnhof lag. Die Wärme der Holzbänke im Abteil, in dem sie saß. Sie sieht ihre Fußspitzen, die kaum den Boden zu berühren vermochten. Die Luft war angereichert vom Duft des Frühlings. Es roch nach Wasser. Sie erinnert sich an die Spaziergänge und an die Parkanlagen. Die Promenade, die entlang des Sees üppig blühte. Hannah hält ihre Nase hoch und zieht die Luft tief ein, als könnte sie den See riechen. Man hatte ihr vieles gesagt.

Und vieles nicht.

Sie hat viel geweint, ihr Kopf schmerzt, und die geschwollenen, verklebten Augen brennen. Die Landschaft fliegt an ihr vorbei, ohne von ihr eingefangen zu werden. Der Tau löst sich an manchen Stellen auf, genau wie ihre inneren Aufzeichnungen. Legt Erinnerungsbilder frei und taucht sie in Licht und Schatten. Langsam fühlt sie die Wärme, die wieder in ihren Körper zurückkehrt. Es wird Tag.

Unzählige Male weggegeben.

Warum habe ich dich nur so gestört, Mama? Unzählige Male von fremden Armen hochgehoben und fortgetragen. Der Einsamkeit überlassen. Abgegeben, weitergeschickt und geopfert, auch für etwas Ruhe im ehelichen Schlafzimmer.

Eine lebende Ware, schlussfolgert Hannah.

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Durch die offene Zugtür empfängt sie die strahlende Sonne, die nun hoch am Himmel steht. Die kleine Hannah ist froh, dass sie aussteigen kann. Sie springt, winkt und hüpft auf ihre Großmutter zu. Missbilligend hält die Dame ihre zerzausten Zöpfe fest, lächelt aber im nächsten Moment und schiebt eine Hand unter Hannahs Kinn.

Das hast du gut gemacht, Kind, sagt sie dann.

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