JOACHIM REIBER

DUETT
ZU DRITT

Komponisten im Beziehungsdreieck

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-00955-3
Copyright © 2014 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Thomas Apel
unter Verwendung eines Fotos von Kiselev Andrey Valerevich/Shutterstock.com
Typografische Gestaltung, Layout: Sophie Gudenus
Lektorat: Paul Maercker
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Inhalt

Leoš Janáček
Dionysische Musik und die Geometrie der Demütigung

Ludwig van Beethoven
Verstauter Brief, gestaute Leidenschaft

Joseph Haydn
Tripel ohne Tragik

Felix Mendelssohn Bartholdy
Ausbruch aus dem Glück

Richard Wagner
Wohin fliegt der Holländer?

Clara Schumann, Robert Schumann, Johannes Brahms
Welche Sprache spricht die Liebe?

Gustav Mahler
Zu spät gesungene Lieder

Anmerkungen

Dionysische Musik und die
Geometrie der Demütigung

LEOŠ JANÁČEK

Im Dreieck lauert der Tod. Ein Mann bringt seine Frau um, aus Eifersucht. Solche Dinge geschehen. Sie stehen, fast täglich, in der Zeitung. Trotzdem: Leoš Janáček traf es wie ein Schock, als er davon lesen musste. Anfang 1928 erhielt er anonyme Post. Inhalt: Pressemeldungen zu solch einem Fall. Ein Mann hatte aus Eifersucht seine Frau umgebracht. Eine Dreiecksgeschichte, tödlich finalisiert. Janáček, entrüstet über die Zumutung, schöpfte sofort Verdacht. „Liebe Zdenka!“, schrieb der 73-Jährige an die Frau, mit der er seit mehr als 46 Jahren verheiratet war. „Bist Du diejenige, die mir die Zeitungsausschnitte aus dem niedrigsten gesellschaftlichen Morast schickt?“1 Sie war es. Das Inkognito wurde gelüftet, worauf auch Janáček sich Luft machte: „Liebe Zdenka! (…) Du hast keine Ahnung, wie die Ausschnitte auf mich gewirkt haben, auf mich Gejagten.“2

Aufatmend konnte der Gejagte nun auch an die Andere schreiben. Seine Frau, so Janáček an die 37 Jahre jüngere Kamila Stösslová, wolle nicht länger den Frieden stören. „Sie sagt, dass sie mit diesen Ausschnitten nicht verletzen wollte. Sei es, wie es sei (…) Es ist genug, dass wir einander lieben!“3

Der Tod im Dreieck. Janáček starb ihn, nur wenige Monate später. Gewaltfrei, wohl auch friedlich. Gevatter Tod gönnte dem Sterbenden Zeit genug, um ihm die Wahl zu lassen: weit weg zu sein von seiner Frau und nah bei der Geliebten. Kamila war an seiner Seite, als er am 12. August 1928 in Ostrava verstarb. Man hatte sie, wie eine Anverwandte, in einem Nebenzimmer der Klinik untergebracht. Viel zu spät sei der Fiebernde dort eingeliefert worden, ereifert sich Zdenka, die Ferngehaltene, in ihren Erinnerungen. Nur Kamila sei schuld an der Lungenentzündung, die dem alten Mann den Tod gebracht hatte. „Niemand“, so Zdenka in ihren Memoiren, „dachte natürlich an das, was immer meine allererste Sorge war: einen Mantel für ihn mitzunehmen.“4

Verzweifelte Gedanken einer Frau, die den letzten nagenden Zweifel nicht bemänteln konnten. Warum hatte Janáček Anweisung gegeben, sie, seine Ehefrau, nicht an sein Krankenbett zu rufen? „Ich werde die eigentliche Wahrheit nie erfahren“, so Zdenka in ihren Memoiren. 250 Seiten Erinnerungen, veröffentlicht unter dem Titel „Mein Leben mit Janáček“. Und dann dieser eine letzte Satz: „Es war grausam, sehr grausam von ihm, mich auf diese Weise zu verlassen.“5

Die letzte gemeinsame Szene spielte sich auf der Veranda des ehelichen Hauses ab. Man hatte ein Taxi gerufen, das Leoš zum Brünner Bahnhof bringen sollte. Dort wartete die Stösslová schon auf ihn – nicht allein. Auch ihr Mann, David Stössel, war mitgekommen, und ihr zwölfjähriger Sohn. Nach Hukvaldy sollte die Reise gehen, in Janáčeks Geburtsort im Nordosten Mährens. Dort besaß der Komponist ein Domizil, das er gerade erst hatte umgestalten lassen – mit einem Anbau, extra für sie: für Kamila. Den sollte sie nun erstmals in Augenschein nehmen und bewohnen. So also stand man da, auf der Veranda zwischen Koffern, und sah Leoš’ Abreise entgegen. Ein Ehepaar in eisiger Unbeholfenheit. „Endlich“, erinnerte sich Zdenka, „ratterte das Auto daher (…) Wir waren allein. Er gab mir wieder die Hand und wollte mich küssen – während die andere Frau am Bahnhof auf ihn wartete. Ich drehte meinen Kopf weg: ,Muss es sein?‘ ,Es kann sein, und es muss sein.‘ Er küsste mich ungestüm und ging.“6

Musste es sein? Konnte es sein? Ja, durfte es sein? Die Stösslová bestand vor allem darauf: dass es sein durfte – auch nach allen Regeln des Anstands, der Sitte, der Konvention: nichts Verwerfliches. Das war ihre Verteidigungslinie, als ihr Zdenka in Ostrava gegenübertrat. Schließlich war sie ja doch gekommen, Janáčeks Ehefrau. Ein Telegramm der Stösslová hatte sie zu einem „schwer Erkrankten“ gerufen, der in Wahrheit schon gestorben war. Nun prallten sie im Hotel aufeinander: zwei Frauen im Kampf um einen Mann. Der lag inzwischen in der Aufbahrungshalle des Friedhofs – bestimmt dazu, von seiner Gattin ein letztes Mal überführt zu werden.

Rücksichtslos habe sie ihr den Mann weggenommen, hielt die Janáčková der Stösslová vor, gnadenlos das Einzige geraubt, das ihr nach dem Tod ihrer Kinder auf Erden noch geblieben sei. Kamila wehrte sich. „Sie schwor mir bei der Liebe zu ihrem Ehemann und dem Glück ihrer Kinder, dass sie nie ein Verhältnis mit meinem Mann gehabt und er nicht einmal ihre Hand geküsst habe.“7

Mit dieser Behauptung, in Janáčkovás Erinnerungen festgehalten, war sie etwas hinter der Wahrheit zurückgeblieben. Möglich (wenn auch kaum denkbar), dass Janáček den Handkuss übersprang. Den Kuss aber bekam er: an einem Freitag im August 1927. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Beziehung schon ganze zehn Jahre gedauert. So lang hatte man Abstand gehalten, so lang hielt Kamila ihn auf Distanz. Blieb noch knapp ein Jahr nach dem Tag des ersten Kusses, dem von Janáček geheiligten „Freitag-Fest-Tag“. Ein Jahr – wofür? Der Abstand der Körper, dessen darf man sicher sein, blieb auch in dieser Zeit noch groß genug, um die nun 37-Jährige – irgendwie – von Anstand sprechen zu lassen.

„Seien Sie froh“, soll Kamila zu Zdenka gesagt haben, „dass er nun tot ist, so werden Sie wenigstens Ihren Frieden haben. Und auch ich bin froh, dass das alles nun ein Ende hat.“8 Das alles. Was war es? Kein Verhältnis jedenfalls im landläufigen Sinn. Keine Bettgeschichte. Keine Beziehung jenseits der Kussgrenze. In dieser Hinsicht also: keine Blößen. Aber bloße Freundschaft war es nicht. Auch nichts, bei dem das gern bemühte Unbedenklichkeitsattest „platonisch“ am Platz gewesen wäre. Es war Liebe – für ihn ganz entschieden: eine Liebe, nicht im Zeichen Platons, sondern in dem des Dionysos: „Was ist diese unsere Liebe? Sie kocht und brodelt wie starker Wein. Pass auf, dass sie nicht überkocht. Und ich schüre das Feuer, dass sie überkocht! Nein, sie ist ein Vulkan! Du weißt nicht, woher sein Feuer kommt. Aus der Tiefe der Augen, aus jeder Rundung deines Körpers. Gut, Gottes Feuer wird nie erlöschen.“9

So schrieb er ihr schließlich fast täglich, ja manchmal mehrfach am Tag, in einem Accelerando der Leidenschaft. Mehr als siebenhundert Briefe waren es, die im Lauf der Jahre an sie gingen. Zum Schluss mit einem Staccato von Bekenntnissen, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließen: „Ich weiß, was es heißt, dass wir zusammengehören. Das heißt: dass ich niemand anderem angehören kann bis zum Tod. Ich bin wie Wasser – ich weiß, wie man Dinge befeuchtet; wie Feuer – ich weiß nur, wie man brennt. Ich weiß nicht, wie man zwei Dinge zugleich tun kann. Wenn ich dich liebe, kann ich niemand anderen lieben.“10

Er schrieb und schrieb. Auch als er sie wieder an seiner Seite hatte, in diesen paar Tagen vor seinem Tod, zum ersten Mal in „ihrem“ Raum, dem für sie umgebauten Haus in Hukvaldy – da schrieb er ihr noch immer. Letzte Worte für Kamila, festgehalten in einem Album: „Und ich küsste dich. Und du sitzt neben mir und ich bin glücklich und im Frieden. So vergehen die Tage für die Engel.“11

Zdenka ließ er nicht mit solch einem Adieu zurück. Das Letzte, das er ihr schrieb, waren, vier Wochen vor seinem Tod, Anweisungen Richtung Küche. „Wenn ich komme, bereite zum Essen vielleicht ein Hühnchen zu, um mir den Übergang von der Schonkost zu erleichtern. Mit einem Gruß Dein Leoš“.12

Allerdings: Da gab es auch noch diese Passage in einem Brief, nur wenige Monate zuvor, Anfang des Jahres 1928. Sollte sich Zdenka nicht daran halten? „Stösslová“, so Janáček an seine Frau, „hat mir einen Teppich und Fotos ihrer Kinder mit mir und mit ihr geschickt. Ich glaube, wenn ich Dir das sage, dann weißt Du, dass ich Dein bin. Ich weiß, dass ein Komponist manchmal in der Nähe des Feuers sein muss. Foerster, Novák – man sieht, dass sie an kalten Öfen sitzen.“13

Es war und ist eine Frage der Perspektive. Dreiecksgeschichten folgen darin den Gesetzen der Geometrie. Zwei Punkte, geradlinig verbunden, bleiben ohne Dimension. Die entsteht erst durch ein Drittes: einen dritten Punkt, eine dritte Figur.

Die Dimension der Janáček’schen Dreiecksgeschichte ließ jedenfalls Deutungsraum und Deutungsnot, noch über seinen Tod hinaus. Die beiden Frauen kämpften weiter, balgten über den Sarg des Mannes hinweg, der sie an sich gezogen und nun verlassen hatte. Man traf einander vor Gericht – Kamila vertreten durch ihren Ehemann – und stritt um des Komponisten letzten Willen. Im besagten Album hatte Janáček nicht nur poetische Glücksnotate und ein Lied für Kamila niedergeschrieben; er hatte auch sein Testament zu ihren Gunsten geändert. Es ging dabei nicht bloß ums Geld, sondern auch um einen Akt von tiefer Symbolik. „Die Tantiemen von ,Katja Kabanowa‘, ,Tagebuch eines Verschollenen‘, ,Aus einem Totenhaus‘ und von unserem Quartett (Nr. 2) gehören Dir.“14 Mit dieser Bestimmung setzte er ein Zeichen. Ihre Musik sei es, ließ er die Nachwelt samt Frau Zdenka wissen, Musik, die er allein Kamila verdanke. Er hatte es ihr auch schon zu Lebzeiten gesagt. „Du weißt, dass das Dein Werk ist“, schrieb er Kamila zu „Katja Kabanowa“, „Du warst die warme Atmosphäre für mich, in ihr warst Du (…) ständig gegenwärtig für mich – überall dort, wo in der Oper die Liebe spricht.“15 Schon 1917, da hatten sie einander kaum gekannt, verwandelte sich Kamila in Musik für ihn. Das „Tagebuch eines Verschollenen“ wurde zur Hommage an sie. „Das ist’s, warum so viel emotionale Hitze in diesen Werken steckt. So viel Hitze, dass, würde sie uns beide erfassen, nur noch Asche übrig bliebe.“16 Und auf dieser Bahn ging es weiter: Kamila verschmolz mit Emilia Marty in der „Sache Makropulos“, sie fand sich in Janáčeks letzter Oper „Aus einem Totenhaus“ wieder, als Vorbild des warmherzigen Tatarenjungen Aljeja. Allerorten in Janáčeks Spätwerk: durch ein Weib ermöglichtes Schöpferglück. Wer sollte ihm das neiden?

Im Rausch der Inspiration und Insemination gab er sich gar der Illusion hin, dafür auch Verständnis bei seiner Frau zu finden. „Ich sagte ihr“, rapportierte er Kamila nach einem Streit mit Zdenka, „wie Du elf Jahre lang, ohne es zu wissen, mein Schutzengel auf allen Seiten warst (…) Ich sagte ihr, dass wo immer in meinen Kompositionen Wärme ausgestrahlt wird – durch reines Gefühl, Aufrichtigkeit, Wahrheit und brennende Liebe –, Du diejenige bist, durch die mir diese berührenden Melodien kommen“.17 Selbst die „Intimen Briefe“, das Streichquartett Nr. 2, wollte er im Ehezwist als Dokument der künstlerischen Seelenreinheit verstanden wissen, fast als Zeugnis jungfräulicher Empfängnis. „Ich sagte zu Zd.: Wenn dieses Werk als außerordentlich schön erkannt wird, dann solltest du überzeugt sein von ihrem Einfluss auf meine Seele, auf mein Werk!“18 Und in der Tat: Der Einfluss hätte evidenter nicht sein können. Dieses Quartett sog alles auf, was ihn bestürmte in seiner späten jungen Liebe. Es war Leidenschaft pur, Passion und Obsession. „Es ist meine erste Komposition, deren Noten von all dem Lieben glühen, das wir gemeinsam erlebt haben. Hinter jedem Ton stehst Du, Du, lebhaft, kraftvoll, liebend. Der Duft Deines Körpers, die Glut Deiner Küsse – nein, eigentlich meiner. Aber die Zartheit Deiner Lippen. Meine Töne küssen alles von Dir. Sie rufen leidenschaftlich nach Dir.“19

Und dieses Werk sollte Zdenka überzeugen, sollte für ihn werben als schönes Dokument schöpferischen Seelenflusses? War Janáček so naiv? War er so infam? Das Werk jedenfalls hatte ihn weit, weit hinauskatapultiert aus dem Gravitationsfeld der Moral. Das ist die Signatur des Dionysischen. Nietzsche hätte es gewusst, schrieb er davon doch in seiner „Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik“: „Gegen die Moral (…) erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwertung des Lebens, eine rein artistische, eine anti-christliche. Wie sie nennen? Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie (…) auf den Namen eines griechischen Gottes: ich hieß sie die dionysische.“20

In den „Intimen Briefen“ waltet Dionysos mit ungebremster Wucht. Für Zdenka Janáčková blieb nur noch die Wut. Mit dem ganzen Groll der Gedemütigten kämpfte sie darum, wenigstens den Titel „Intime Briefe“ zu unterdrücken. Sie scheiterte. „Lange Zeit“, schreibt sie in ihren Memoiren, „konnte ich nicht in Konzerte gehen, wo ich dieses leidenschaftliche Aufbäumen von Leoš’ Sehnsucht nach einer anderen Frau hören musste – einer Sehnsucht, die ihn zerstört hat.“21 Für Zdenka war es die Geburt der Ehetragödie aus dem Geist der Musik.

Im Zeichen der Musik hatte einst auch diese Beziehung begonnen. Man musste Klavier spielen können – und auch Zdenka erlernte das Instrument, wie es sich für eine höhere Tochter gehörte. Sie erwies sich freilich als so begabt, dass man im Haus des Brünner Schuldirektors Emilian Schulz darauf sann, den bestmöglichen Lehrer für sie zu finden. Die Wahl fiel nicht schwer. Leoš Janáček, der umtriebige junge Dirigent der Chorvereinigung „Beseda“, war der Mann der Stunde im Musikleben der 70.000-Einwohner-Stadt. Man kannte ihn, auch persönlich: Vater Schulz war Direktor der Slawischen Lehrerbildungsanstalt, als Janáček dort seinen Abschluss machte. Nun war er sein junger Kollege geworden. Janáček unterrichtete als Musiklehrer an dem von Schulz geleiteten Institut. Man bat ihn ins Haus, als neuen Klavierlehrer der talentierten Tochter. So begegneten sie einander zum ersten Mal, über die Tasten hinweg: Zdenka (12) und Leoš (23). Vier Jahre später war Hochzeit. Der Bund fürs Leben: Wäre es nach Janáček gegangen, hätte er ihn noch früher geschlossen. Aber Zdenkas Eltern wollten dann doch lieber bis kurz vor Zdenkas 16. Geburtstag warten.

Eine frühe Entscheidung. Und rückblickend betrachtet: viel zu früh. So sah es auch Zdenka, als sie ihr Leben Revue passieren ließ. Aber etwas Unwiderstehliches ging von diesem Mann aus, der sie mit dunkler Glut umwarb, kaum dass sie im Begriff war, das Kindsein hinter sich zu lassen. Ja, durch ihn begriff sie, dass sie kein Kind mehr war. Fast schien es, als wäre ihre Verwandlung zur Frau sein Werk. Sie vollzog sich unter seinen Augen, gespiegelt durch seine Blicke. Er gab ihr, geheimnisvoll, eine neue Richtung vor. Wohin? Sie hatte, jung wie sie war, keine Idee davon. Sie spürte nur, dass einer da war für sie – einer, der so entschieden anders war als die „anderen“. „Die ,anderen‘“, erinnert sich Zdenka, „waren meist älter, recht seriöse Kollegen meines Vaters, die mich als kleines Mädchen sahen. Es waren Leute, die mir gleichgültig waren, die mir nichts sagten und nichts gaben. Doch Janáček brachte so viel neue Dinge in meine frühere Art zu leben (…), er brachte etwas Erhebendes, Künstlerisches, und so wurde er der Dreh- und Angelpunkt meiner Gedanken.“22

Es war ein Wachküssen, ohne dass die Geküsste ganz wach geworden wäre. Höchst bezeichnend die Szene, in der Janáček, klassisch-bürgerlich, um ihre Hand anhielt und sich vor Zdenkas Mutter offenbarte. Die 14-Jährige, auf einem Kanapee mit Mama und dem Brautwerber, schlief ein. „Ich weiß nicht, wie das passieren konnte (…) Es war schon sehr dunkel geworden, als ich aufwachte und anfing, Mamas Stimme zu vernehmen: ,Aber sie ist noch ein Kind, sie ist noch nicht bereit für die Ehe. Sie muss noch lernen. Und sie weiß auch nicht, wie man ein Haus führt.‘ Und ich hörte sie sagen, dass ich nicht reich sein würde, obwohl ich eine Mitgift bekäme und meine Eltern mir mit allem nach der Hochzeit helfen würden (…) Dann antwortete Janáček. Leidenschaftlich warf er ein, dass er nichts wolle: nur mich.“23

Seine Entschlossenheit überzeugte, sein Charme warb für ihn. Frau Mama war auf seiner Seite, dazu auch noch die Großmama. Nur der Vater zögerte. Emilian Schulz, gütig, warmherzig, ausgleichend, wollte nichts überstürzen. Gern, sehr gern genehmigte er denn auch die Beurlaubung, um die sein junger Kollege angesucht hatte. Janáček wollte weiterstudieren, sich als Musiker im Ausland vervollkommnen. Die Karenz, die ihm Direktor Schulz gewährte, kam dem Familienvater zupass: eine Auszeit, die zeigen würde, was wirklich dran war an der Heiratswilligkeit. Janáček aber ließ keine Zweifel aufkommen. Als er Brünn in Richtung Leipzig verließ, war er de facto schon der Verlobte Zdenkas, die damals noch keine 15 war.

Aus Leipzig schickte er ihr Briefe, wie wenig später dann aus Wien. 174 in nur kurzer Zeit. Er schrieb mehrfach täglich, in der Regel viermal, einmal waren es gar sieben Briefe an einem Tag. Ein Hunger nach Ausdruck brach sich Bahn, wie er sich später wieder gegenüber Kamila zeigen sollte. Janáček war ein großer Liebesbriefschreiber. Bei Zdenka, in seinen jungen Jahren, las sich das so: „Meine allerliebste Zdenci! (…) Wie bin ich glücklich, daß ich Sie liebe – in meinem Kopf ist niemals Ruhe. So öde und leer kam ich mir vor. Es war dies eine der Stunden, die ich früher so oft hatte, die jedoch vor Ihrem Bild gewichen sind, wie böse Geister vor dem Engel. In meinem Innern spielt sich von dem Augenblick an, seit ich Sie liebe, ein Umsturz ab (…) Es ist das ständige Ringen und der Kampf meines alten ,Ich‘ mit dem, was ich jetzt werden will, und ich fühle, daß ich mit Ihrer Hilfe siegen werde. Wenn ich Sie nicht kennen gelernt hätte, wäre aus mir wohl ein etwas besserer Musiker geworden, dem aber jede moralische Stütze fehlen würde (…) Niemals hätte ich um Sie geworben, wenn ich zu mir nicht das Vertrauen hätte, daß ich zu meinem Glück mich ganz ändern werde, und jetzt fühle ich mich so glücklich, denn ich richte mich in allem nach der Entschlossenheit, ein wahrer Mensch zu werden und immer so zu handeln, um Ihrer würdig zu sein. Dabei hoffe ich, daß aus mir ein größerer Künstler werden wird als im ersten Falle, denn das Gewissen würde mir in den späteren Jahren mein Schaffen verderben. Nun haben Sie mich, liebste Zdenci, recht sehr lieb, denn Ihre Liebe hält mich aufrecht, nur an Sie glaube ich (…) Ich will, daß Sie mich regieren, und mein einziges Glück finde ich in dem Gedanken, daß wir zusammen unser Leben führen und daß ich Ihnen werde nur Gutes tun können.“24

Ist es nicht einfach ein anrührender Brautbrief, den der 25-Jährige da – auf Deutsch – an seine Auserwählte schreibt? Eines jener Zeugnisse, wie man sie gern in erbaulichen Anthologien sammelt, Rubrik: „Die schönsten Liebesbriefe aus der Welt der Musik“? So mag es an der Oberfläche daherkommen. Aber zwischen den Zeilen – nein, eigentlich schon mittendrin – zeigen sich die Risse, die in dieser Ehe schmerzhaft aufbrechen sollten. Risse, die zu Einfallstoren wurden, um die dritte Figur einzulassen: die andere Frau, die Anti-Zdenka, das Gegenbild zu ihr. Ihr Bild hatte er fixiert und damit auch die Beziehung festgenagelt – schon in diesem Brief an die nicht einmal 15-Jährige. Zdenka als moralische Instanz; Zdenka als Engel, der böse Geister bannt; Zdenka als regierende Macht; Zdenka als höheres Wesen, dessen man sich würdig zu erweisen hat durch beständige Veredlung. Hier ist es, das Bild einer Frau, mit der Janáček ein Leben lang lebte, um sich an diesem Bild zu messen, mit ihm zu ringen, es zu bekämpfen und zu demontieren. Der Bildersturm galt einer Ikone, die er selbst aufgestellt hatte.

Risse, von Beginn an. Ein feiner, aber folgenschwerer zeigt sich auch dort, wo Janáček von Musik und Moral schwadroniert. „Wenn ich Sie nicht kennen gelernt hätte, wäre aus mir wohl ein etwas besserer Musiker geworden, dem aber jede moralische Stütze fehlen würde …“ Was für ein Satz, adressiert an das Kind Zdenka! Zu Ende gedacht konnte er nur heißen, dass Janáček irgendwann einmal diese „moralische Stütze“ würde wegstoßen müssen, um der „bessere“, der bestmögliche Musiker zu werden. Genau zu diesem Schluss kam er dann auch, ganz am Ende seiner Laufbahn. Mit den „Intimen Briefen“ trat er die „moralische Stütze“ in den Staub, um der „bessere Musiker“ zu sein. Weggeworfen war da auch die Hilfskrücke, die er im Brief an seine „einzige Zdenci“ herbeifantasiert hatte, nämlich jene, ein „größerer Künstler“ zu werden durch die Macht der Veredlung, personifiziert in Zdenka. Das wäre, aus der Sicht des jungen Idealisten, die Quadratur des Kreises gewesen: den Musiker zu bändigen durch Moral, auf dass ein „größerer Künstler“ aus ihm werde …

Derlei Subtilitäten, im Brautbrief noch ängstlich umkreist, interessierten den alten Herrn nicht mehr. Die „Intimen Briefe“ stürmten rauschhaft über die Moral hinweg: hemmungslos, radikal und – Zdenka gegenüber – auch brutal. Was tat es? Es war, als dürfte die Feder des Musikers endlich dionysisch-phallisch aufbegehren. „Ich bin so glücklich, dass die Feder glühend heiß war, als sie geschrieben hat! Wie schnell, mit überschlagendem Atem! Wie ungern“, so Leoš an Kamila, „hat sie aufgehört!“25

Die Demontage begann in dieser Ehe schon mit der Installation. Sichtbares Zeichen: Janáček nahm seiner Braut, noch vor dem Traualtar, die Sprache. Zdenkas Muttersprache war das Deutsche. Im Haus der Schulzens sprach man deutsch, schon der Mutter wegen, die eine Deutsche war – nichts Ungewöhnliches in jener Zeit. Im zweisprachigen Böhmen und Mähren gab das Deutsche in Bildungsbürgerkreisen oft den Ton an. Auch Vater Schulz hielt sich daheim daran, obwohl er eigentlich Tscheche war und tschechische Lehrer ausbildete, das freilich ebenfalls auf Deutsch. Janáček sprach tschechisch mit ihm, die Lizenz wurde ihm gerne gewährt. Den Damen gegenüber aber pflegte er das Deutsche. Auf Deutsch machte er Zdenka den Hof, auf Deutsch hielt er um ihre Hand an, auf Deutsch schrieb er ihr Liebesbriefe. Das war Zdenkas Sprache und für das junge Paar die Sprache der Herzen.

Allerdings: Als er von seinem Studienaufenthalt aus Wien zurückkehrte, wollte er nur noch tschechisch mit Zdenka reden. Der verkorkste Studienversuch am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde hatte wohl – ebenso wie die durchwachsene Leipziger Zeit – dazu beigetragen, seine Aversion, ja Aggression gegen das Deutsche und Deutschösterreichische zu schüren. Zdenka folgte seinem Wunsch, schließlich sprach sie auch leidlich Tschechisch. Und außer Frage stand für sie, dass die Kinder, sollten sie welche haben, in Leoš’ Sprache aufwachsen sollten. Sie war zu all dem bereit – und konnte den Eklat doch nicht verhindern. Der Wunsch der Frau Mama, die Hochzeitszeremonie auf Deutsch abzuhalten, provozierte Janáček zu einer Szene: Wütend sprang er auf, rauschte grußlos ab und schnitt auch Zdenka, die für all das nichts konnte, tagelang. Tief grub sich diese Episode in ihr Gedächtnis ein. Ihre Mutter, erzählt Zdenka Janáčková in ihren Memoiren, habe ihren zukünftigen Schwiegersohn damals schon in einem anderen Licht gesehen. „Kind, du wirst nicht glücklich werden mit ihm.“ „Und ich“, so Zdenka im Rückblick, „gab ihr, halb aus der Tiefe meiner Liebe, halb aus kindischem Trotz, zur Antwort: ,Ich wäre lieber unglücklich mit ihm als glücklich mit jemand anderem.‘“26

Sie wurde unglücklich. Janáček verschärfte den Sprachentzug und isolierte sie von ihrer Familie. Er verbot ihr, deutsche Bücher zu lesen. Er erlaubte ihren Eltern nicht, sie zu besuchen. Ja, er versuchte sogar, ihre Besuche „daheim“ zu unterbinden. Sie tat es im Verborgenen und hatte die Wut ihres Gebieters zu fürchten. Überhaupt: „Er wurde zornig mit mir wegen jeder Kleinigkeit – nein, das war nicht, wie ich es von meinem Elternhaus gewohnt war.“27 So hielt er Zdenka, noch immer im Teenageralter, fern von der Wärmequelle, die sie so dringend gebraucht hätte. Und so wurde es schwer, ja eigentlich unmöglich für sie, etwas von dieser Wärme hineinzutragen in die eheliche Beziehung. „Abgesehen von heftigen Ausbrüchen der Leidenschaft meines Mannes gab es keine Zärtlichkeit und Wärme zwischen uns, wie ich es von daheim gewöhnt war“, erinnert sich die alte Frau an die Atmosphäre der jungen Ehe. „Warme intensive Gespräche kamen nie auf.“28

Janáček selbst hatte solche Wärme in seiner Kindheit kaum mitbekommen. Schon im Alter von neun Jahren war der Spross einer kinderreichen Dorfschullehrerfamilie von zu Hause weggeschickt worden. Man schätzte sich glücklich, dass er einen Freiplatz als Sängerknabe im Augustinerkloster von Brünn bekommen hatte: einer weniger daheim am umdrängelten Esstisch – und für den musikalischen Buben die bestmögliche Ausbildungsstätte! Aber was war das wirklich für ein Glück? „Fremde Menschen, unherzlich; fremd die Schule, hart das Lager, härter das Brot; keine Zärtlichkeit.“29 So erinnerte sich Janáček später an diese Zeit. Auch in den Briefen an Kamila blitzen Reminiszenzen daran auf – nicht zufällig gerade dort, wo es um tiefe Differenzen mit Zdenka geht. „Möglich“, schreibt Janáček, „dass mir diese Art von Dingen gar nicht einfällt, weil ich schon ab dem Alter von neun komplett auf mich allein gestellt war, ohne die Zuwendung und Sorge von Eltern, nur unter fremden Leuten, harten Leuten und, was mehr ist, unter Priestern.“30

War es Neid, der ihn dazu trieb, Zdenka von ihren Eltern wegzusperren? Neid auf die wohlig warme Kinderstube, in der sie aufgewachsen war? War es Scham? Scham der eigenen Mutter wegen, der einfachen, früh verwitweten Frau vom Lande, die der Junggeselle Janáček zu sich genommen hatte? Offenbar hatte er ihr auch versprochen, sie nach seiner Verheiratung im ehelichen Haushalt unterzubringen – ganz im Gegensatz zu dem, was mit den Schulzens vereinbart war. Denen hatte er verbindlich zugesagt, dass das junge Paar alleine leben werde. Dabei blieb es auch. Mutter Janáček zog weg zu ihrer ältesten Tochter. Von dort schickte sie ihrem Leoš allerdings Briefe, die ihn an sein gebrochenes Wort erinnerten. Zdenka las diese Briefe erst nach Janáčeks Tod … Sie hätte, erzählt sie in ihren Memoiren, Janáčeks Mutter gerne näher kennengelernt. Aber Leoš zog auch da einen strengen Trennstrich. Schon bei der Hochzeitsfeier hielt er seine Mutter fern vom Empfang bei den Schulzens – vermutlich war es ihm peinlich, sie auf dem Parkett der vornehmeren Familie zu präsentieren.

Verdrängtes Versprechen und bedrängtes Gewissen, Scham und Neid: Es war ein schweres Bündel, das dieser jungen Ehe aufgebürdet war und Wärme, Nähe, Intimität nicht aufkommen ließ. So blieb auch Janáčeks tiefe Sehnsucht ungestillt – und die zielte genau darauf. Auf Wärme, Nähe, Intimität.

Was er bei Zdenka nicht leben ließ, suchte er schließlich bei Kamila. Wärme ist ein Leitmotiv der Briefe an sie, Wärme in allen Formen: nicht bloß geballt und gesteigert zu Hitze und Glut, sondern auch in ihrer lebensspendenden Form. Kamila beim Sonnenbad auf den Felsen – daran entzündet sich die Fantasie des alten Mannes immer wieder. Und auch: Kamila am Ofen, Kamila am Herd daheim in der Küche. Davon schreibt er, davon schwärmt er. „Die Welt wäre zu klein für Dich“, heißt es in einem Brief an sie. „Aber dann würdest Du wieder nach Deiner Ecke beim Ofen verlangen. Dort bist Du die schönste Frau; ich sehe Dich vor allem hier vor mir, und wenn ich Dir schreibe, dann sehe ich Dich in ,meinem‘ Zimmer, auf diesem blutroten Sessel, auf diesem schmalen Diwan; oder in der Küche, wie Du da hantierst (…)“31 Ein anderes Mal schreibt er ihr aus Hukvaldy, seinem Geburtsort, den er so früh verlassen hatte und den er neu für sich gewinnen wollte: „Ich hätte so gern Wärme hier. Du weißt, diese Wärme, die gespürt wird, wenn zwei Leute einander lieben, wenn zwei Leute einander verstehen, wenn zwei Leute nur füreinander Verlangen haben! Wenn zwei Leute still sein können und ihre Blicke verstehen. Diese Wärme, wenn man nicht mehr Öl ins Feuer gießen muss. Wärme, die keinen trüben Moment kennt; wenn man eingehüllt ist in einen Pelzmantel und sich eng umschlungen hält.“32 In der Ehe der Janáčeks war solche Wärme im Keim erstickt worden. Zdenka, sich erinnernd: „Ich, die ich von zu Hause an Liebe und zärtliche Fürsorge gewöhnt war, litt unter der Kälte des neuen Heims je länger je mehr.“33

Man hoffte auf die Ankunft eines Dritten. Wenn aus den zwei erst drei geworden wären und das Paar sich zur Familie erweitert hätte, dann, so glaubte vor allem Zdenkas Mutter, würde sich schon alles zum Besseren wenden. „Sie sollte sich täuschen“, resümiert Zdenka. „Mein Mann nahm die Nachricht zur Kenntnis, zeigte keinerlei Freude und änderte sich in keiner Weise. Es gab noch mehr Szenen jetzt und Zornausbrüche wegen jeder Kleinigkeit.“34 Als Mama Schulz dann allen Stolz überwand und bei Janáček persönlich vorsprach, um mehr Freundlichkeit für ihre schwangere Tochter zu erbitten, warf er sie kurzerhand hinaus. Immerhin einigte man sich darauf, dass Zdenka im Haus der Schulzens entbinden sollte. Der Zusammenhalt des Paares aber litt weiter, die Entfremdung nahm zu. Zdenkas Erinnerungen an die Geburt ihres Kindes: starr vor schockierender Kälte. Janáček, schreibt sie, habe die Botschaft mit demonstrativer Gleichgültigkeit zur Kenntnis genommen und sei erst auf Drängen bereit gewesen, sie am Kindbett aufzusuchen. „Er kam zu meinen Eltern und grüßte sie nicht, als würde er sie gar nicht sehen. Er schaute kaum auf das Kind, küsste mich kalt und ging dann wieder. Vielleicht ärgerte es ihn, dass es kein Junge war – während meiner Schwangerschaft sagte er wieder und wieder zu mir: ,Es muss ein Junge sein.‘ Dabei war Oluška so ein liebes, schönes Kind.“35

Das Leben zu dritt – Leoš, Zdenka und die 1882 geborene Olga – stand unter keinem guten Stern. Die Grobheiten arteten aus in physische und psychische Gewalt. Nach einem Wutausbruch wurde Janáček, ihrem Bericht zufolge, tätlich gegen Zdenka. Ein andermal drohte er: „Ich bringe meine Mutter hierher. Die wird’s dir schon zeigen.“36 Ein Brünner Anwalt empfahl die Trennung auf freiwilliger Basis ohne Gerichtsverfahren, so dass die Möglichkeit einer Rückkehr offenblieb. Man trennte sich tatsächlich. Nach zwei Jahren aber kehrte Zdenka mit der kleinen Olga zurück. Warum?

Janáček hatte um sie geworben – „und auf einmal war da wieder derselbe charmante Leoš wie aus der Zeit vor unserer Hochzeit. Ich war erst noch reserviert, doch schon bald schmolz ich dahin; unterdrückte Liebe flammte wieder in mir auf.“37 Janáček schloss sich nun auch wieder den Schulzens auf, gegenseitige Besuche wurden möglich, die Familie öffnete sich und erweiterte sich auch sonst. 1888 kam ein Sohn auf die Welt, Vladimír getauft. Für die Freude am ersehnten Stammhalter blieben Janáček gerade zweieinhalb Jahre. Der Bub starb 1890 an Scharlach. Sein Tod riss tief ein ins Beziehungsgeflecht, kaum dass es sich heilend verwoben hatte.

So waren die Janáčeks wieder zu dritt: ein Familiendreieck, das sich auf Olga ausrichtete. Schön und geistreich war sie, ein Mädchen von fragiler Konstitution und starkem Charakter. Die Herrschaftsstruktur der Familie blieb unangetastet, Janáček brauchte das Gefühl, als Paterfamilias bestimmen zu können – aber er sah sich einer Tochter gegenüber, die aus gleichem Holz geschnitzt war und ihm, auf ihre Weise, die Stirn zu bieten verstand. So entstand Raum für Lebendigkeit und Offenheit. „Teurer Tatínek! Warum hast Du so verärgert geschrieben in Deinem gestrigen Brief? Hat Dich jemand verärgert?“, schreibt sie da einmal ganz offensiv an ihn und verbleibt „Dich küssend Deine Tochter Olga“. Und er: „Liebe Olguška! Ich soll verärgert sein? Ach nein, Seelchen. Weißt Du, was für Sorgen am Schuljahresende an einem hängen – und dazu noch die Angst um Dich. Bleib tapfer (…) Grüße an Euch alle der Euch liebende Leoš“.38

Ich, du, wir, euch: Im Dreieck dieser Familie sind Konstellationen möglich, die Bewegung ins System bringen und so auch die Eheleute herausholen aus starren Festlegungen. Zdenka erlebt das „wir“ von Frau zu Frau – zu zweit bilden sie einen biegsamen Widerpart des Femininen zu Leoš’ herrenhaft-herrischem Führungsstil. Zdenka lernt ihren Mann neu sehen und wohl auch neu lieben, weil sie in ihrer Tochter seine Züge weich und weiblich gespiegelt sieht. Und auch Leoš erlaubt sich mehr Weichheit, Zartheit, Einfühlung. Die patriarchale Hegemonie erfährt milde Züge. Selbst ernsthafte Infragestellungen sind möglich, wo es um das Wohl seines Kindes geht. „Ist das Lernen Dein eigener Wille und Dein ernstes Ziel, oder denkst Du, dass ich Dich zu diesem Beruf dränge?“, schreibt er an die 19-Jährige. „Ich zwinge Dich zu nichts (…)“39

Olgas Wohlergehen wurde zum ängstlich umsorgten Gut. Fern von daheim war sie schwer erkrankt. Man hatte sie nach St. Petersburg zu einem Bruder von Janáček geschickt. Ihre Russischkenntnisse sollte sie perfektionieren und nebenbei auch über eine Liebschaft hinwegkommen, die besonders die Eltern als unglücklich einstuften. Die Entscheidung stellte sich als unheilbringend heraus. Olga, ohnehin ständig kränkelnd, zog sich in Russland eine rheumatische Herzerkrankung zu. Die Eltern hatten sie noch heimholen können nach Brünn, aber der Tod war nicht aufzuhalten. Olga starb Anfang 1903, noch keine 21 Jahre alt.

Ihr Sterben, das Abschied-nehmen-Müssen von ihr, ganz bewusst und über Monate hin, schnitt sich unvorstellbar tief ins Gewebe dieser Familie ein. Zdenkas Erinnerungen geben einen Begriff davon. Mit herzzerreißender Detailtreue rekapituliert sie 30 Jahre nach Olgas Tod die Stationen ihres Leidenswegs. Janáček erscheint in diesem Passionsbericht als empathischer Vater. Er leidet mit, kämpft, rennt um Hilfe, ist präsent. „Am Mittwochmorgen begann sie zu delirieren“, so eine der Szenen, festgehalten von Zdenka. „Mein Mann lehnte sich über sie, und sie sagte sanft: ,Papa, es ist so schön hier, es sind nur Engel hier.‘ Und er sagte glühend zu ihr: ,Und du bist der schönste Engel von allen.‘“40

Als sie starb, blieben zwei fassungslose Menschen vor einem toten Körper zurück. „Alles“, so Zdenka über diesen Moment, „schlug in mir in wilden Hass auf Leoš um. Er saß am Bett, ohne sich zu bewegen, den Kopf gesenkt. Ich stürzte auf ihn zu, schüttelte ihn und schrie wie eine Irre: ,Gib mir mein Kind zurück, gib mir Olga zurück, schau, wohin du sie genommen hast. Das ist dein Werk. Das ist dein Fehler.‘ Er begann zu weinen. Er erlebte sein Unglück anders als ich, wie konnte er verstehen, was in mir vorging?“41

Wie konnte es weitergehen in dieser Ehe? Das Vorgefallene trennte sie. Das Durchlittene verband sie. Vielleicht konnte das Ergebnis so aussehen wie auf jener Ansichtskarte, die Zdenka 1908 aus Wien an ihren Mann schickte? Es ist eines der raren Zeugnisse von Humor in der Korrespondenz der beiden. Die Karte ging ohne Text und Unterschrift an den Adressaten. Es sprach nur das Bild, eine Karikatur mit dem Titel: „Vernunft-Ehe“. Zu sehen sind zwei Dackel in einem Bett, die Decke bis zu den Ohren hochgezogen. Sie schlafen. Der eine bäuchlings, der andere seitwärts, den Kopf abgewandt. Viel haben sie nicht miteinander zu tun, aber keiner bringt den anderen aus der Ruhe. Eine Bettszene, in der das Arrangement vorherrscht.42

Man arrangierte sich auch bei den Janáčeks. Als das Paar 1910 den Neubau eines Hauses plante, war es wichtig, dass in Janáčeks Studio auch ein Bett für ihn stand. Er wollte, wie schon in der alten Wohnung, auch allein schlafen können.

So scheint denn auch eher die Küche der Gravitationspunkt des ehelichen Haushalts gewesen zu sein. Sie an ihn: „Lieber Leoš! Ich erwarte den Spargel und eine Nachricht von Dir.“43 Er an sie: „Ich hatte hier nur eine Woche schönes Wetter. Ich freue mich schon auf die Zwetschgennocken zu Hause. Dein Leoš“.44

Gaumenfreuden und Gesundheitsfragen. Von der körperlichen Befindlichkeit ist viel die Rede in der Korrespondenz dieser Jahre. In den Briefen, die Leoš von seinen Kuraufenthalten schickt, mischen sich Wetterberichte, Speisezettel und Diagnosen. 1909 eine, die aufhorchen lässt. Signale der Unruhe: „Bei mir ist vieles nicht gut. Stürmisches Herz, angeblich wie bei einem Mädchen. 120 mit Überspringen.“45

„Jenufa“ hätte ein seelischer Kristallisationspunkt für das Paar werden können, dieses große Werk des Leidens und des Mitleids. In ihm war angelegt, auch den Schmerz aufzuheben, den sie miteinander teilten – ihn zu bewahren und zu verwandeln. Janáček trug diese Oper, auch sie ein Schmerzenskind für ihn, über Jahre mit sich, gewährte Zdenka in vertraulichen Gesprächen Einblicke während der Entstehung und vollendete sie 1903 im Angesicht seiner sterbenden Tochter. „Während der ganzen Zeit, als er sie komponierte, nahm Olga großen Anteil daran“, erinnert sich Zdenka. „Mein Mann pflegte oft zu sagen, dass sein Grundmodell für Jenufa seine kranke Tochter gewesen sei. Nun bat ihn Olga: ,Papa, spiel mir Jenufa, ich werde nicht leben können, um sie zu hören.‘ Leoš setzte sich ans Klavier und spielte (…) Ich konnte es nicht aushalten und rannte hinaus in die Küche.“46

Es war ihre Oper: die Oper Olgas, die Oper der Janáčeks als Familie, die Oper des Paares. Zdenka war voll Mitgefühl, als Leoš das fertige Werk an den Direktor des Prager Nationaltheaters sandte, um ihm die Uraufführung anzubieten. Es ging um viel: nicht nur für den Künstler Leoš Janáček, der um seine Anerkennung kämpfte, sondern auch – und mehr noch in diesem Moment – um den trostbedürftigen Menschen, den trauernden Vater. Dann kam die Nachricht aus Prag. Janáček wagte kaum, den Brief zu öffnen. Er umfasste ganze drei Zeilen. Ablehnung. „Weil wir es gut mit Ihnen meinen.“ Janáček brach in Tränen aus und rief verzweifelt, dass er als Komponist nichts tauge. „Die gnädige Frau“, so erinnerte sich das Hausmädchen an die Situation, „stürzte in sein Zimmer, umarmte ihn und versuchte ihn, selbst weinend, zu trösten, bis er sich beruhigte. Es war damals bei uns wie nach der Rückkehr von Olgas Beerdigung.“47

„Jenufa“ hätte tatsächlich eine Art Seelenschrein für die Janáčeks werden können. 1904, bei der Uraufführung im kleineren, mutigeren Brünn, schien es noch so. „Beide Herrschaften“, so Janáčeks Dienstmädchen über den Nachklang der Premiere, „mussten an den letzten Sonntag in Olgas Leben denken.“48

Ein Verbindendes, das zersplitterte, als die Oper 1916 schließlich doch in Prag herauskam. Es war der Durchbruch für den Künstler Leoš Janáček – und ein Einbruch für die Beziehung des Paares. „Jenufa“, die Oper Olgas, mutierte zur Oper der Küsterin. Janáček verliebte sich in die Darstellerin dieser Partie, die 39-jährige Gabriela Horvátová.

Eine Hochdramatische war diese Horvátová, gefeiert auch als Wagners Brünnhilde. Und hochdramatisch geriet der alternde Komponist in ihren Bann, als sei er Jung-Siegfried. Ihr Brünnhildenfelsen war sexuell umlodert. Der 62-Jährige ging durch Flammen – und landete in ihrem Bett. Zdenka muss das Flackern gleich gespürt haben, mochte ihr Gatte noch so bemüht von künstlerischen Dingen schreiben. „Ich weiß, dass Du auf Frau Horvátová nicht eifersüchtig bist und es auch nicht sein kannst. Deshalb schreibe ich Dir nur, dass ich bis jetzt keine so ernsthafte, tiefsinnige Künstlerin kennenlernen durfte.“49 Fast rührend muten seine Versuche an, Zdenka zu beruhigen und wohl auch sich selbst. Er hatte derlei noch nicht erlebt. Er war kein Schürzenjäger und Seitenspringer, hatte Zdenka, bei allen Divergenzen, die Treue gehalten und die Fasson gewahrt. Die aber kam ihm nun abhanden. „In mir“, bekannte er seiner Frau, „brennt ein inneres Feuer und es macht mir zu schaffen, ich selbst zu bleiben (…)“ Wohl präzisierte er dieses Selbstbekenntnis mit der „Flut der Schmeicheleien“,50 denen er als umjubelter Meister plötzlich ausgesetzt sei. Aber klar war, und so verstand es Zdenka auch: Die Erregung des Mannes, der plötzlich aus seiner Brünner Orgel-Schul-Enge in die große Theaterwelt hinauskatapultiert wurde, hatte ein unkontrollierbares Ausmaß erreicht. In der Horvátová fand diese Exaltation ihr Ziel. Die Diva schleppte den Taumelnden übers gesellschaftliche Parkett, schleifte ihn durch Salons und bettete ihn schließlich auf ihr Pfühl.

Hochdramatisch. Das Leben war für Janáček zur großen Oper geworden, und so nahm er auch eine schockierende Nachricht von seiner Frau entgegen, als sei sie bloß ein Theatercoup. Am 10. Juli 1916 unternahm Zdenka einen Selbstmordversuch. Mit einer Überdosis Morphium und Schlaftabletten im Körper wurde sie ins Krankenhaus eingeliefert. Als ein „Opfer“ für ihren Mann hätte sie diesen Tod gern gesehen. Sie wurde zurückgeholt. Und Leoš? Der fuhr erst einmal auf Kur. Sein Zimmer in Luhačovice, wo er mit Frau Horvátová unter einem Dach zu wohnen gedachte, hatte er schließlich schon gebucht.

Janáčeks Briefe von dort, im Tagesabstand an Zdenka geschrieben, dokumentieren ein erschreckendes Maß an Unfähigkeit und Unwillen, auf die Seelenlage seiner Frau einzugehen. Ein Mixtum compositum aus halbherzigen Zusammengehörigkeitsbekundungen, unlauteren Verharmlosungen, hilflosen Fragen, demütigenden Vorwürfen und verletzendem In-die-Pflicht-Nehmen …

17. 7.: „Mein Seelchen, hab keine Angst, weil Frau Horvátová im selben Hause wohnt. Weißt Du, um zu sündigen, hat es überall genug Platz. Vertraue mir, Du bist mein, und Du bleibst mein, und wir gehören zusammen.“ 18. 7.: „Und was machst Du? Wenn ich nicht so besorgt um Dich sein müsste, hätte ich eine fröhlichere Stimmung (…) Wir müssen uns die Liebe nicht bekennen: Das Schicksal hat uns fest verbunden.“ 19. 7.: „Ich denke an Deine schreckliche Tat: Siehst Du, so viel wolltest Du für meine Freiheit und für meine Arbeit opfern, und ich wollte nicht einmal den tausendsten Teil davon! Und doch will Frau Horvátová nur das Gute für mich und somit auch für Dich! Kannst Du damit in Deinem Kopf endlich ins Reine kommen? Ich weiß nicht, ob sie nicht doch zuweilen bei uns Angst hat; es wird Deine Aufgabe sein, sie dahin zu bringen und zu beruhigen.“51

Und dann, am 21. Juli, konfrontiert er sie mit dem perfekten Entwurf eines Dreiecks. Beziehungsgeometrie, direkt auf ihn und seine Bedürfnisse zugeschnitten, mit klaren Funktionsanweisungen für die beiden Frauen. „Mit Dir habe ich mein Leben gelebt“, schreibt er Zdenka – und lenkt dann den Blick auf Gabriela, die Andere: „[S]ie webt mein Leben in meinen Werken, und dadurch verlängert sie es. Und glaube mir, sie ist einzigartig, selbstlos: Die Wurzeln unserer tiefen Zuneigung sind so tief, wie mein Musikschaffen tief ist. Ich schätze ihre Zuneigung und Du, in Deiner Liebe zu mir, sollst das Gleiche tun. Ich weiß, dass ich für meine Arbeit Deine Stille brauche, für den Ruhm, zur Anerkennung der Arbeit, brauche ich ihr Temperament, ihr rücksichtsloses Verhalten zu meinen Gunsten.“ Nachschlag am nächsten Tag, 22. Juli: „Liebe Zdenka! Können wir mit den ,Liebesgesprächen‘ aufhören, was meinst Du? Ich habe den Kopf voll mit anderen Dingen.“52

Wie viel wollte er ihr noch zumuten? Janáček beließ es nicht bei Schriftlichem. Er schickte Frau Horvátová auch noch persönlich bei Zdenka vorbei. Während er schon in Luhačovice kurte, reiste sie erst an. Es sei, ließ er Zdenka wissen, zu ermüdend für die verehrte Künstlerin, die weite Strecke von Prag ohne Zwischenstopp zurückzulegen. So hatte er die Idee, sie die Nacht unter seinem Dach verbringen zu lassen: bei sich daheim in Brünn, ohne die Anwesenheit des Hausherrn. Nur die zwei Frauen für sich. Zdenka ließ sich das gefallen.

Die Diva rollte an, wurde von Zdenka mit Schweinernem, Sauerkraut und Kartoffeln überhäuft und am nächsten Tag, mit einem Lunchpaket versehen, in den Zug Richtung Leoš gesetzt. Wenigstens der kleine Triumph blieb Zdenka, festgehalten in den Memoiren: „Auf der Bahnstation benahm sie sich so bizarr, dass unser Dienstmädchen (…) gefragt wurde, ob die Dame vom Zirkus sei.“53

Janáček aber dirigierte das Ganze aus der Ferne und war mit dem Resultat zufrieden. Die Horvátová, berichtete er Zdenka, „hat (…) unsere Bleibe gemütlich gefunden (…) Die Buchteln und die Torten waren ausgezeichnet, – wenn Du ihr mit den Buchteln dienen möchtest, würde es sie freuen.“54

Einige Monate später erschien das Ehepaar Leoš und Zdenka Janáček vor den Anwälten Dr. Rudis und Dr. Hanf in Brünn und unterzeichnete einen Vertrag über die fernere Regelung ihres ehelichen Verhältnisses. Janáček hatte auf eine juristische Klärung gedrängt. Die konsultierten Anwälte beschieden ihm, es sei „Nonsens, ein altes Paar wegen so etwas zu scheiden“.5556Zdenka Janáčková