Walter Erdelitsch (Hg.)

Die Stadt, in der ich lebe

BELGRAD BERLIN BRÜSSEL BUDAPEST ISTANBUL KAIRO LONDON
MADRID MOSKAU PARIS PEKING ROM TEL AVIV WASHINGTON

ORF-Korrespondenten erzählen

Karim El-Gawhary Christian Schüller
Peter Fritz Mathilde Schwabeneder
Ernst Gelegs Ben Segenreich
Josef Manola Eva Twaroch
Bettina Prendergast Hannelore Veit
Cornelia Primosch Christian Wehrschütz
Carola Schneider Jörg Winter

Bildnachweis
Schutzumschlag vorne Weltkarte: ORF, Fotos v.o.l.n.u.r.: danileon/fotolia.com, kasto/fotolia.com, MasterLu/fotolia.com, Sergii Figurnyi/fotolia.com, SeanPavonePhoto/fotolia.com, Mikhail Markovskiy/fotolia.com, sborisov/fotolia.com, shaiith/fotolia.com, dynamofoto/fotolia.com, Iva/fotolia.com, Silke Wolff/fotolia.com, Patrik Stedrak/fotolia.com, steheap/fotolia.com, Marco2811/fotolia.com

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ISBN 978-3-218-00945-4
Copyright © 2014 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Sophie Gudenus/Karl Maier
Typografische Gestaltung und Layout: Sophie Gudenus, Wien
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Inhalt

Vorwort – Kathrin Zechner

Zum Geleit – Waltraud Langer

„Mein“ WELTjournal – Walter Erdelitsch

Mein London – Bettina Prendergast

Mein Paris – Eva Twaroch

Mein Brüssel – Cornelia Primosch

Mein Berlin – Peter Fritz

Mein Madrid – Josef Manola

Mein Rom – Mathilde Schwabeneder

Mein Budapest – Ernst Gelegs

Mein Belgrad – Christian Wehrschütz

Mein Moskau – Carola Schneider

Mein Istanbul – Christian Schüller

Mein Kairo – Karim El-Gawhary

Mein Tel Aviv – Ben Segenreich

Mein Washington – Hannelore Veit

Mein Peking – Jörg Winter

Die Autoren

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser,

nie sind Informationen aus der ganzen Welt schneller auf uns eingeprasselt als heute. Was am anderen Ende der Welt passiert, landet beinahe ohne Zeitverzögerung bei Ihnen am Smartphone, Tablet, im Radio und im Fernsehen. Die Frage ist also längst nicht mehr, wie komme ich an die neuesten Informationen, sondern wie finde ich das, was wirklich wichtig ist.

Die ORF-Korrespondentinnen und Korrespondenten bringen Ordnung in die Millionen Meldungen, die sich täglich ihren Weg um den Globus bahnen. Sie ordnen ein, stellen Zusammenhänge her und berichten über Hintergründe.

In der Serie „Meine Stadt“ im ORF-Magazin „WELTjournal“ zeigen sie das Leben in Städten, aus denen sie für den ORF berichten. Das Leben muss man genauso verstehen lernen wie die Wirtschaft und die Politik, um in Europa und über Europas Grenzen hinweg zusammenwachsen zu können.

Nehmen Sie im bequemen Lesesessel Platz und folgen Sie den Korrespondentinnen und Korrespondenten einmal um die Welt, von Europa über Washington nach Peking und dann über Moskau, Tel Aviv und Istanbul wieder zurück.

Ich wünsche eine gute Reise.
Fernsehdirektorin Kathrin Zechner

Zum Geleit

Liebe Leserin, lieber Leser,

lassen Sie mich ganz persönlich beginnen: Für mich zählt die Zeit, in der ich ORF-Korrespondentin war, zu den beruflichen Höhepunkten. Von 1992 bis 1994 berichtete ich – gemeinsam mit dem leider bereits verstorbenen Günter Schmidt – aus Brüssel. Es war die Zeit der österreichischen EU-Beitrittsverhandlungen, und vielen war Brüssel damals noch ziemlich suspekt. Unvergesslich etwa die damalige Frauenministerin Johanna Dohnal, die eher missmutig bei einer Pressekonferenz ihre Eindrücke schilderte. Auf meine Frage: „Ist Ihnen die EU eigentlich sympathisch?“, kam ein sehr spontanes, überzeugtes: „Nein!“

Was mir persönlich am Korrespondentinnen-Dasein so gefiel, war, dass neben unzähligen Berichten über die EU auch alle anderen Themen auf der Tagesordnung standen: von der Kulturhauptstadt Antwerpen bis zum Tod des belgischen Königs Baudouin und dem Unglück, als ein Flugzeug in eine Wohnhausanlage raste. Eine unglaubliche Bandbreite, und egal, worum es gerade ging, immer mit dem Versuch, möglichst verständlich zu sein, für das heimische Publikum interessant und nachvollziehbar. Ich durfte Gast in den Wohnzimmern sein.

Darf ich Sie an dieser Stelle zu einem Experiment einladen? Stellen Sie sich einen Moment lang vor, dass alle ORF-Korrespondentenbüros ab sofort zugesperrt sind. Keine Berichte mehr aus Washington, Berlin, Istanbul oder Rom. Keine KorrespondentInnen mehr als Gäste im Wohnzimmer. Geht es Ihnen wie mir? Nicht nur der ORF, das gesamte Land fühlt sich plötzlich sehr viel kleiner und provinzieller an. Eine geistige und persönliche Brücke zu den politischen und wirtschaftlichen Zentren dieser Welt würde uns abhandenkommen. Denn tatsächlich sind die ORF- KorrespondentInnen viel mehr als einfach Journalistinnen und Journalisten. Sie sind einerseits die bekanntesten Botschafter unseres Landes. Andererseits wirken sie wie gute Bekannte, die stellvertretend für uns die große Welt bereisen, unser Bild von diesen Ländern prägen. Sie berichten, sie erzählen, sie ordnen ein, sie sagen uns, was Sache ist.

Es sind Tausende Berichte, die jedes Jahr aus der ganzen Welt im ORF-Radio und -Fernsehen ausgestrahlt werden. Von den dramatischen politischen Entwicklungen in der Ukraine bis zur Europawahl, vom smogbelasteten Peking bis zu den schockierenden Todesurteilen in Kairo, von Brüssel bis Moskau, von Madrid bis London, von Belgrad bis Budapest. Ohne Blick auf die Uhr und zum Teil trotz eines erheblichen persönlichen Sicherheitsrisikos halten uns die KorrespondentInnen auf dem Laufenden.

Sie sind unsere journalistischen Aushängeschilder, auf die wir im ORF sehr stolz sind. Sie sind fixer Bestandteil unseres Wohnzimmers und doch in der Fremde. Was also liegt näher, als die ORF-KorrespondentInnen noch ein wenig besser kennenzulernen? Höchste Zeit, dass sie uns erzählen, wie sie die Stadt, in der sie leben, erleben. Von Anfang an hat diese „WELTjournal“-Serie – eine Idee von Fernsehdirektorin Kathrin Zechner – beim Publikum eingeschlagen. Aus 14 Büros weltweit können Sie die Reportagen nun auch nachlesen. Von Jörg Winter in Peking, Ben Segenreich in Tel Aviv, Eva Twaroch in Paris oder Karim El-Gawhary in Kairo.

Wir wünschen Ihnen viel Vergnügen beim Lesen, freuen uns, wenn Sie uns als ORF-Publikum gewogen bleiben, und ich bedanke mich bei Walter Erdelitsch vom „WELTjournal“, der sich organisatorisch und inhaltlich um die Sendungen und um das Buch gekümmert hat!

Mit freundlichen Grüßen,
Waltraud Langer
Chefredakteurin ORF-TV Magazine und Servicesendungen

„Mein“ WELTjournal

Walter Erdelitsch

Der Einstieg

Vor meinem Hotelfenster war die Hölle los. Eine ganze LKW-Kolonne, die Ladeflächen voll mit Stirnbänder tragenden Chinesen, die Parolen skandierten und auf riesige Trommeln einschlugen, wälzte sich Richtung Stadtzentrum. Dort, auf dem Tiananmen-Platz, kampierten damals die Studenten, dort war das Zentrum des Aufstands der Unzufriedenen gegen den repressiven Kurs der Kommunistischen Partei Chinas. Als Studienreiseleiter hatte ich für eine Londoner Firma in den späten 1980er Jahren Interessierte aus aller Welt über die DDR durch die Sowjetunion nach China und bis Hongkong geführt. Diese Touren waren nun wegen der Unruhen komplett eingebrochen. Die chinesischen Konsulate stellten keine Visa mehr aus, Reisende fürchteten um ihre Sicherheit. Ich hingegen hatte meine letzte Reisegruppe ins Flugzeug nach Hause gesetzt und war auf eigene Faust in Peking geblieben. Das war möglich, weil alles drunter und drüber ging und die Behörden keine Kontrolle mehr über die Bewegungen von Ausländern ausübten. Ich wurde Zeuge von epochalen Ereignissen. Bisher hatte ich nur einige Reiseberichte veröffentlicht, jetzt schrieb ich plötzlich Reportagen für ein österreichisches Nachrichtenmagazin über Peking im Ausnahmezustand. Doch bald gingen mir Bargeld und Reiseschecks aus. Bankomaten oder Überweisungen gab es damals dort noch nicht. Frustriert machte mich auf den Weg zum Flughafen, wo man mich ohne Fragen ausreisen ließ.

Als das chinesische Militär in den Morgenstunden des 4. Juni 1989 den wochenlangen Aufstand brutal niederschlug und das in der Volksrepublik bis heute totgeschwiegene Tiananmen-Massaker verübte, war ich gerade seit zwei Tagen in Hongkong. Was, wenn ich in dieser Nacht auch auf dem Platz gewesen wäre? Jetzt konnte ich zwar Geld beheben, aber nicht mehr ins grabstill gewordene Peking zurückkehren. Und niemand wollte meine Berichte über die geschockten Reaktionen in Hongkong, das damals noch unter britischer Verwaltung stand. Plötzlich hatte ich keinen Job mehr und alle Zeit der Welt. Eigentlich gar keine so schlechte Gelegenheit, in den folgenden Wochen einmal wieder genauer darüber nachzudenken, wovon man eigentlich träumt. Und nach den Tagen und Abenden auf dem Tiananmen-Platz reizte es mich, Berichterstatter zu werden, überall dort zu sein, wo es turbulent zuging.

Zurück in Österreich hörte ich, dass im ORF ein kompetenter Übersetzer und Bearbeiter für internationale Kaufdokumentationen gesucht wurde. Drei Monate nach meiner Bewerbung hatte Hans Benedict, Nahost-Reporterlegende, Chef und Moderator des „Auslandsreports“, endlich Zeit für ein Gespräch mit mir. Voll Neugier saß ich jenem Mann gegenüber, der damals für viele Österreicher die Instanz in Sachen internationaler Hintergrundberichte war. Wir redeten über China, meine abgebrochene Philosophiedissertation, über Annäherung an Themen, über Haltung und Motivation. Bald wechselte er ins Englische, wohl um mich zu testen. Nach zehn Minuten sprang er auf und bedeutete mir, ihm zu folgen. „Der Monn wor jo in Kchina …“, erklärte er ein paar Zimmer weiter seinem Produktionsleiter in unverfälschtem Tirolerisch. Nach weiteren zehn Minuten war ich mit meinen damals immerhin schon 35 Jahren als Volontär beim „Auslandsreport“ engagiert. Ich schwebte zwischen Fassungslosigkeit und ungläubigem Glück.

Heute, mehr als ein Vierteljahrhundert nach den Ereignissen auf dem Tiananmen-Platz, leite ich das „WELTjournal“, eine Nachfolgesendung des damaligen „Auslandsreports“. In diesen 25 Jahren habe ich im ORF auch einige Aufgaben wahrgenommen, die wenig oder nichts mit Auslandsberichterstattung zu tun hatten. Doch das Interesse für das, was außerhalb Österreichs an Wichtigem passiert, und die Leidenschaft, es zu vermitteln, sind meine unbeirrbare Kompassnadel geblieben. Ein Berufsumstieg, wie er mir damals beschieden war, ist heute beim ORF kaum mehr möglich. Es ist manchmal eher zum Verzweifeln: Die talentiertesten jungen Leute mit Abschlüssen der besten Universitäten und Praktika in mehreren Ländern muss man wieder ziehen lassen, weil der öffentlich-rechtliche Rundfunk zu einem rigorosen Sparkurs und Personalabbau gezwungen ist.

Die Sendung

Derzeit bietet der ORF unter der Dachmarke „WELTjournal“ Mittwoch abends 75 bis 80 Minuten Auslandsberichterstattung im Langformat. Das sind Reportagen, Analysen und Dokumentationen, die mehr Hintergrund und Vertiefung liefern als die aktuelle Berichterstattung.

2010 verließ der damalige Sendungsverantwortliche Franz Kössler – einer der erfahrensten Auslandsjournalisten des ORF – das Unternehmen und unter der Leitung von Claudia Neuhauser hat das „WELTjournal“ noch im selben Jahr einen erfolgreichen Konzeptwechsel vollzogen. Statt drei bis vier thematisch unterschiedlichen Geschichten in der Länge von sechs bis zehn Minuten bringt die Sendung jetzt eine 30-minütige Auslandsreportage. Gedreht wird oft an mehreren Schauplätzen, häufig in Europa, das für österreichische Seher besonders relevante Themen bietet. Diese Langreportagen werden außerordentlich gut angenommen: Die durchschnittliche Reichweite pro Sendung ist von 227.000 Sehern im Jahr 2009 auf 286.000 im ersten Quartal 2014 angestiegen, trotz eines Umfelds rasant zunehmender Medienangebote auf den verschiedensten Plattformen.

Die Anfang 2013 neu eingeführte Spätabend-Dokumentationsleiste „WELTjournal plus“ zieht die Themen und Inhalte des „WELTjournals“ weiter. In den Geschichten geht es – oft auch sehr subjektiv erzählt – um Nachhaltigkeit, um den Burn-out unseres Planeten, um fremde Lebenswelten, um persönliche Sichtweisen, die man als Seher und Seherin so nicht oft zu sehen bekommt. Abgestimmt mit dem „WELTjournal“ ergibt das jeden Mittwoch einen kleinen Themenabend aus der Welt. Das gibt es in dieser Form im ORF zum ersten Mal. Für die nähere Zukunft arbeiten wir daran, unser (zu) kleines, aber feines Team von erfahrenen Auslandsberichterstattern zu verstärken, sodass wir den Zusehern mehr stimulierende Fernseherlebnisse aus aller Welt bieten können.

Die Städteporträts

Ein Buch wie dieses hat es bisher bei uns noch nicht gegeben. Das kann ich deshalb sagen, weil mein gesamtes Berufsleben, auch jenes vor dem ORF und vor dem Internet, immer dadurch geprägt war, sich rasch gute und zuverlässige Informationen über interessante Orte und Menschen beschaffen zu müssen. Die Mittel der Wahl erstreckten sich dabei von trockenen Faktendossiers über Historisches, Interviews und Reisereportagen bis zu literarischen Begehungen. An der englischen Reiseliteratur mochte ich vor allem die ironische Distanz, mit der dem Leser das ihm noch nicht Bekannte oft nahegebracht wird.

Die vorliegende Sammlung von Städteporträts hat von all dem etwas. Die ganz eigenständige Qualität entsteht jedoch durch den besonderen Beruf der Autoren und natürlich durch ihre unterschiedlichen Persönlichkeiten. Der Journalismus ist für viele einer der faszinierendsten Berufe der Welt, weil es unter anderem darum geht, in die Lebenswelten anderer Menschen einzutauchen und dann darüber zu erzählen. Korrespondenten sind Zeugen von weit mehr gelebtem Leben, als in den meisten anderen Berufen zugänglich ist. Journalisten haben das Glück, sich wie selbstverständlich zwischen Hütten und Palästen bewegen zu können. Die ORF-Korrespondenten hatten freie Hand bei der Auswahl der Themen und Menschen in ihren Städten. Die wohlbekannten Gesichter, die uns allabendlich aus der Distanz via Bildschirm, Radio, Handy oder Internet über Politik, Wirtschaft, Kultur und andere wichtige Ereignisse berichten, erzählen diesmal ganz persönlich: Städteporträts von politischen Fernsehjournalisten, die hier ausnahmsweise einmal nicht objektiv sein müssen.

Die Lebensform Korrespondent ist geprägt durch aktuelle Ereignisse und erfordert daher extreme Flexibilität. Wenn sich eine Kollegin beim sonntäglichen Mittagessen zur Suppe setzt, kann sie nie völlig sicher sein, ob sie auch tatsächlich bei der Nachspeise ankommt. Statt bei Kaffee und Dessert könnte sie schon im Auto sitzen, hektisch ein Kamerateam auftreiben, während sie zu einem plötzlich ausgebrochenen Großereignis hetzt, um bis Mitternacht Radio- und TV-Einstiege zu bewältigen. Daher möchte ich mich an dieser Stelle für den außerordentlichen Einsatz bedanken, der nötig war, um neben der fordernden Berichterstattung für die zahlreichen ORF-Nachrichtensendungen noch eine unterhaltsame und informative „WELTjournal“-Reportage plus Buchbeitrag zur Verfügung zu stellen. Ich hoffe, diese Erzählungen bereiten den Lesern und Leserinnen ein ebensolches Vergnügen wie mir.

Mein London

Bettina Prendergast

30 Millionen Besucher im Jahr können nicht irren. Rote Doppeldeckerbusse, Big Ben, St. Paul’s Cathedral und die Tower Bridge. London ist eine Stadt, die jeder einmal gesehen haben sollte und an der man bei jedem Besuch neue Seiten entdeckt. London ist immer in Bewegung und hält zugleich seine 2000-jährige Geschichte lebendig. Sie ist das Zuhause von 270 Nationen, über 300 Sprachen werden in der Stadt gesprochen. Die Metropole an der Themse ist ständig im Blick der Weltöffentlichkeit. Sie war Schauplatz der Finanzkrise 2008, Kulisse für die Königliche Hochzeit 2011 und Gastgeberin der Olympischen Sommerspiele 2012. London hat aber viel mehr zu bieten, als das Touristenauge wahrnimmt. Erst wenn man in dieser Stadt lebt und arbeitet, öffnet sich London wirklich und zeigt seine vielen Gesichter.

Mich verbindet mit London eine leidenschaftliche Hassliebe, London kann an einem Tag laut, hektisch und schmutzig sein und ist 24 Stunden später elegant, tolerant und unterhaltsam. Es ist eine Stadt der Gegensätze. Man lernt mit der Zeit diese Launenhaftigkeit, damit ist nicht nur das Wetter gemeint, geduldig wie alle anderen Londoner zu ertragen.

Der unterirdische Moloch

Die größte Hürde im Alltag beginnt gleich am frühen Morgen, dann zehrt London bereits an den Energiereserven seiner Bewohner. Wer in London wohnt, ist immer in Eile und meistens damit beschäftigt, einen Bus, einen Zug oder ein freies Taxi zu erwischen. Das größte öffentliche Verkehrsnetz Europas befördert Pendler an ihre Arbeitsplätze, mehr als eine Million Menschen strömen von außerhalb in die Stadt, Hauptschlagader des öffentlichen Verkehrs ist die 150 Jahre alte U-Bahn. Die „Tube“, wie sie von den Londonern genannt wird, ist ein fast unüberschaubares Labyrinth an Tunneln. Sie befördert die Pendler bis weit über die Stadtgrenzen hinaus in die umliegenden Grafschaften. Londons unterirdische Welt sorgt dafür, dass die Stadt nicht stillsteht, eine Meisterleistung, wenn die Linien funktionieren, ein Albtraum im Falle einer Panne. Es ist schon schlimm genug, zusammengepfercht mit Hunderten anderen in einem stickigen U-Bahn-Zug eine halbe Stunde durch die Stadt zu fahren, bleibt die „Tube“ jedoch stehen, ist Nervenstärke gefragt. Ich denke mit Bewunderung an die Leute in einem U-Bahn-Zug zurück, die eine sehr nervöse junge Frau beruhigten, als wir wegen eines technischen Defekts 40 Minuten bei brütender Hitze festsaßen – die meisten von uns standen. Die Frau hatte 2005 die Bombenanschläge auf die U-Bahn miterlebt, die Panne hat wohl diese traumatischen Ereignisse wieder an die Oberfläche gebracht und sie begann zu hyperventilieren. Ein Plastiksack zum Aus- und Einatmen und gutes Zureden haben geholfen, diese Panikattacke abzuwehren. Notfälle wie dieser setzen auch das ungeschriebene Gesetz außer Kraft, dass man unter gar keinen Umständen mit fremden Personen in der U-Bahn ein Wort wechselt.

Die Gesetze der Höflichkeit

Eine weitere eiserne Regel ist die Höflichkeit. Es ist selbstverständlich, in fast jeden zweiten Satz ein „Sorry“ oder „Excuse me“ einzuflechten. Ganz egal, ob man nun wirklich einen Fehler gemacht hat oder nicht. Es genügt schon, im Supermarkt einem anderen Einkaufswagen etwas zu nahe zu kommen, dann ist ein „terribly sorry“ mehr als angebracht. Tut man das nicht, muss man aber keine Rüge fürchten, der Londoner ist viel zu höflich, um sich über schlechte Manieren zu beschweren. Nur in einem Fall sind lautstarke Proteste vorprogrammiert. Es ist in der Tat eine Todsünde, sich in einer Schlange vorzudrängeln, sei es nun bei der Bushaltestelle oder vor der Imbissstube. Ob Lord oder Lagerarbeiter, keiner wird bevorzugt. Sollte es aus irgendeinem unerfindlichen Grund einmal keine Schlange geben, fragt der gelernte Londoner, wo die nächste Schlange sei. Ich werde das Gefühl nicht los, dass sie gerne anstehen, im Gegensatz zur U-Bahn ist ein reger Gedankenaustausch in der Schlange erlaubt, ja sogar erwünscht. Eine Freundin von mir hat beim Schlangestehen sogar ihren Lebensgefährten kennengelernt.

Pub-Kultur und Mittagstisch

Für soziale Zusammenkünfte eignet sich das Pub aber noch immer am besten. London hat eine unüberschaubare Zahl an solchen. Das Stammlokal liegt meist unweit vom Arbeitsplatz, wo man sich mit einem Ale oder Lager auf den Feierabend einstimmt und so der ungeliebten Rush Hour in der U-Bahn entgeht. Auch im Pub gibt es ungeschriebene Regeln, die im Umgang mit den Einheimischen unbedingt zu beachten sind. Gesellt man sich zu einer Gruppe dazu, fragt man, wer was trinken möchte. Im Pub bestellt niemand einzeln ein Getränk, man gibt Runden aus. Die Kunst besteht darin, den richtigen Moment für seine Runde abzuwarten, die Gläser dürfen nicht zu voll, aber auch nicht ganz leer sein, zwei Drittel leer sei ideal, sagte mir mein Kameramann Lee. Dann steht man – wenig überraschend – Schlange an der Bar. Diese Schlange ist wohl der härteste Prüfstein für einen zugewanderten Londoner. Sie ist ein unübersichtlicher Haufen, hat keine Struktur und lässt nicht erkennen, wo vorne und wo hinten ist. Trotzdem wissen die Wartenden genau, wer wann an der Reihe ist, im Zweifelsfall sollte man sich vom Pub Landlord hinter dem Tresen aufrufen lassen. Hat man das richtige Timing erwischt, leeren die Gäste gerade ihre Gläser, bis das frische Bier da ist. Ich wurde bei meiner ersten gelungenen Runde von den englischen Kollegen mit Applaus bedacht!

Während der Pub-Aufenthalt auch schon mal gerne bis Mitternacht dauern kann, ist die Mittagspause in London eine kurze, rastlose Angelegenheit. Die meisten Londoner machen um Touristen-Fastfood-Lokale einen großen Bogen, sie bevorzugen die sogenannten „Greasy Spoons“, die „Fettigen Löffel“, das sind Imbisslokale mit englischen Schnellgerichten. Auch hier gibt es keine Bedienung, die an die Tische kommt, die Köchin ruft die Bestellung auf, man springt von seinem Stuhl und holt sich pflichtschuldigst und sehr schnell seinen „Steak and Kidney Pie“ oder eben „Fish ’n Chips“. Ich persönlich kann die englische Hausmannskost nicht empfehlen, es sei denn, man hat eine Vorliebe für Fettiges und Frittiertes. Essen ist für Londoner in der Hektik des Alltags nicht besonders wichtig, sondern eher eine Notwendigkeit, um im Großstadtdschungel Energie zu tanken. Es gibt kein Wort für „Mahlzeit“ oder „Guten Appetit“ auf Englisch. Da in meinem Job Mittagspausen ohnehin eine Seltenheit sind oder eher in eine Drehpause fallen, verlege ich kulinarische Genüsse lieber aufs Wochenende.

Bürokratiedschungel

Oft fragt man mich bei meinen Österreich-Besuchen: „Wie lebt man denn so in London?“ Die kurze Antwort lautet: Ganz passabel, aber man braucht viel Geld und gute Nerven. Ich habe noch nie eine Stadt erlebt, die so viele unsinnige bürokratische Sicherheitsregeln hat wie London. Folgende Anekdote kann dies fabelhaft belegen.

Im Mai 2008 hatte Boris Johnson von den Konservativen überraschend die Bürgermeisterwahl in London gewonnen. Wir drehten eine Geschichte und filmten an der Themse vor dem Rathaus. Den besten Ausblick hat man von der Tower Bridge, deswegen positionierten wir die Kamera eben dort. Als ich vor laufender Kamera mit meiner Erklärung begann, wie es zu diesem Wahlerfolg gekommen war, wurden wir von einem Mitarbeiter der Brückenaufsicht verscheucht. Es sei viel zu gefährlich, hier zu drehen, sagte er. Ich könnte ja ins Wasser fallen und die Stadt verklagen. Drehen sei nur unter Aufsicht und mit einer Genehmigung der Stadt erlaubt, ich könne ja einen Antrag ausfüllen, der vermutlich innerhalb von einer Woche bearbeitet werde. Nun, dafür war leider keine Zeit, meine Geschichte musste ja noch am selben Tag auf Sendung gehen. Wir zogen also weiter und drehten vor dem Rathaus auf einem Gehweg. Da kam schon der nächste Sicherheitsbeamte und sagte höflich, aber bestimmt, dass wir hier kein Kamerastativ aufstellen dürften, weil jemand darüber stolpern könnte. Das sei zu gefährlich. Ich bettelte, doch nur fünf Minuten hier filmen zu dürfen, wir benötigten nur ein paar kurze Aufnahmen. Der Sicherheitsbeamte verwies mich auf ein Rasenstück keine fünf Meter vom Gehweg entfernt und sagte, wir sollten die Kamera dort aufbauen. Ich fragte nach dem Sinn der Sache. Der Mann antwortete, für die Sicherheit auf dem Rasen sei sein Kollege zuständig, der gerade Teepause mache, ich solle mich beeilen und filmen, bevor er wiederkomme.

Nach neun Jahren in London würde ich gerne behaupten, noch immer sehr „österreichisch“ zu sein. Ich koche mit Vorliebe Wiener Schnitzel, Käsespätzle und Gulasch, auch mein Mann (er kommt aus Irland) hat im Laufe der Zeit gelernt, die Spezialitäten aus meiner Heimat zu schätzen, seine Abneigung gegenüber Knödeln konnte ich ihm allerdings bisher nicht austreiben. Ich merke aber bei meinen Österreich-Besuchen, wie „englisch“ ich geworden bin. Ich ärgere mich mehr über unhöfliche Menschen und platte Witze. In London habe ich gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Das ist manchmal mühsam, erleichtert aber den Umgang im Alltag wesentlich. Mein Kameramann Lee fragt vor einem Interview immer scherzhaft, ob ich nun die Fragen auf „englische“ oder „österreichische Art“ stelle. Die „österreichische Art“ ist für ihn, mit der Tür ins Haus zu fallen, „englisch“ bedeutet, um den heißen Brei herumzureden und erst vorsichtig auf den Punkt zu kommen. Ich habe mir im Laufe der Zeit eine Mischung aus beiden angewöhnt.

Trotz aller diplomatischen Bemühungen habe ich aber immer noch regelmäßige Auseinandersetzungen mit der Polizei vor dem Buckingham Palast. Jeder dahergelaufene Tourist darf mit einer Kamera den Palast den lieben langen Tag abfilmen und sich auf dem Vorplatz frei bewegen. Die Medien werden (mit Ausnahme der britischen Hausmacht BBC) ins letzte Eck vor dem Canada Gate verscheucht, nur von dort darf gefilmt werden. Eine Regel, deren Sinn ich nicht verstehe und die ich daher immer wieder breche. Zudem muss man einen sogenannten „Parks Pass“ bei sich tragen, das ist die offizielle Genehmigung für Dreharbeiten in den königlichen Parks und Palästen. Ich hatte vor der Königlichen Hochzeit in der Hektik des Tages den „Parks Pass“ im Büro liegen gelassen. Prompt wurden wir von der Polizei beim Drehen unterbrochen. Ich rief im Büro an und ließ mir von meiner Produzentin Kathi die Nummer des „Parks Passes“ durchgeben. Das war aber nicht gut genug, ich wurde aufgefordert, den Pass aus dem Büro zu holen, sollten wir ohne Pass weiterdrehen, würde ich eine Festnahme riskieren. Zwei Tage vor dem großen Hochzeitsereignis wäre eine Korrespondentin im Arrest wohl nicht besonders hilfreich bei der ORF-Berichterstattung gewesen. Ich sprang also ins nächste Taxi, holte den verdammten Pass, doch bis ich wieder beim Buckingham Palast war, war die Polizei verschwunden und tauchte für den Rest des Tages auch nicht mehr auf. Murphy’s Law, sagen die Londoner dazu.

Heathrow Terminal 5

Als Einzelkämpferin für den ORF in London hat man nicht immer die Zeit und die Ressourcen, um Drehgenehmigungen zu beantragen, schon gar nicht, wenn man es mit einer „breaking news story“ zu tun hat, also über eine wichtige Eilmeldung berichtet. Das Chaos am neuen Flughafen Terminal 5 in Heathrow 2008 ist ein gutes Beispiel. Nach 20 Jahren Planung und mehr als fünf Milliarden Euro Baukosten wurde das Vorzeigeobjekt mit großem Tamtam eröffnet. Die Premiere war ein massiver Reinfall. Schon am ersten Tag mussten Hunderte Flüge gestrichen werden, weil das Personal den Weg zu den Dienstparkplätzen nicht fand. Tausende Koffer verschwanden, weil niemand wusste, wie das neue Hightech-Gepäcksortiersystem zu bedienen war. Zornige Passagiere saßen in den todschicken Wartehallen aus Glas und Stahl fest, es dauerte Wochen, bis alle Reisenden wieder mit ihren Koffern vereint waren. Ich machte mich sofort mit dem Kamerateam auf den Weg, um vor dem Flughafen die ankommenden Besucher nach ihren Erlebnissen im Terminal 5 zu befragen. Ich hatte nicht vorab wegen einer Drehgenehmigung angefragt, der Flughafenbetreiber hätte ohnehin abgelehnt, wer will schon die Medien vor der Tür haben, wenn alles schiefläuft? Wir erwischten ein paar arg gestresste Fluggäste, aber die Überwachungskamera hatte uns natürlich auch sehr schnell entdeckt. Zwei wutschnaubende Flughafen-Sicherheitsleute stürmten auf uns zu und befahlen mir, das Band herauszugeben, sonst würde die Polizei mich wegen Hausfriedensbruch festnehmen. Ich griff seufzend in meine Handtasche und murmelte ein leises „Sorry“, der Wachmann umklammerte das Band triumphierend und eskortierte uns vom Flughafengelände. Was er nicht wusste, war, dass ich immer ein Ersatzband in meiner Tasche habe, falls der Kameramann ein neues Band braucht. Die richtige Aufnahme hatte er längst in seinem Rucksack verstaut. Ich hatte eine diebische Freude, die Interviews mit Betroffenen im „Zeit im Bild“-Beitrag einzubauen.

Mein Mann Patrick schüttelt bei solchen Geschichten immer den Kopf, er arbeitet für Scotland Yard und sagt immer, er würde mich mit Vergnügen einmal festnehmen, meine Sturheit sei kriminell.

Elend und Not in London

Ich habe vorhin schon erwähnt, dass London extrem teuer ist. Das größte Problem ist der extreme Mangel an bezahlbaren Wohnungen. Wie viele andere Familien sind auch wir vor drei Jahren aufs Land gezogen, wo die Immobilienpreise noch etwas erträglicher sind. Eine Stunde Pendeln in die Stadt ist der Preis für ein Haus in einem kleinen Dorf in der Grafschaft Essex, den ich aber gerne auf mich nehme.

Nicht jeder hat die Möglichkeit, dem Preiswahnsinn in London zu entkommen. Viele leben dort, wo sie Arbeit finden. Sie wohnen oft in schäbigen, überteuerten Wohnungen. Selbst in Londons Randgebieten steigen die Mieten exorbitant. Ich war besonders erschüttert, als ich bei Dreharbeiten eine delogierte, alleinerziehende Mutter und ihre zwei schulpflichtigen Töchter in Croydon südlich von London besuchte. Sie lebten seit einem halben Jahr auf 15 Quadratmetern in einer Notunterkunft. Das Doppelbett füllte den ganzen Raum aus, im Nebenraum waren eine winzig-kleine Küche und eine Dusche. An den Wänden war Schimmel und durch die Fenster zog es eisig herein. Die Gemeinde zahlte für diese Behausung horrende 3000 Euro im Monat an den Privatvermieter. Die Mutter sagte zu mir, die Gemeinde habe keine andere Unterkunft für sie finden können. Die Warteliste für eine geförderte Gemeindewohnung ist lang.

Damit der Wahnsinn um die teuren Mieten beendet werden kann, müsste viel mehr gebaut werden. Die Londoner Stadtregierung hat bisher keine nennenswerten Impulse gesetzt. Die finanzielle Belastung für Familien mit niedrigem Einkommen ist immens. Dazu kommt, dass die konservative Regierung von Premierminister David Cameron im Zuge des Sparpakets die Sozialausgaben massiv eingeschränkt hat. Kindergeld, Wohnbeihilfe, Arbeitslosengeld und Zulagen für körperlich Behinderte wurden gekürzt. Vielen bleibt nicht mehr genug zum Überleben. In jedem Supermarkt in London steht am Ausgang bei den Kassen eine Lebensmittel-Spendenbox. Die Kunden sind aufgerufen, eine Dose mehr für die Bedürftigen einzukaufen und sie in die Box zu packen. Diese gesammelten Lebensmittel werden dann von sogenannten „Food Banks“ an die Familien verteilt. Ich habe einen Vormittag in einer Food Bank verbracht und mit Betroffenen gesprochen. Viele kommen her, weil sie nicht mehr wissen, wie sie ihre Kinder ernähren sollen, manche haben zwei Tage und länger nichts gegessen. Schwer vorstellbar, dass in einer so reichen Stadt wie London Menschen hungrig zu Bett gehen. Die britische Regierung hält aber am Sparkurs fest. Wer es sich trotz Wohnbeihilfe nicht mehr leisten kann, in London zu leben, muss seine Koffer packen und in den noch wesentlich billigeren Norden Englands ziehen. Familien werden dadurch zerrissen, Kinder verlieren ihre Freunde, soziale Strukturen werden zerstört.

Aber selbst der Mittelstand hat es schwer, auf die sogenannte „Housing Ladder“ zu gelangen, das ist der Traum vom Eigenheim. Die Aussicht für Londons junge Generation ist düster, wenn sich die Immobilienpreise nicht normalisieren. Für viele wird eine Eigentumswohnung nicht finanzierbar sein. Ich kenne verheiratete Paare, die noch bei den Eltern leben, um Geld für die Anzahlung anzusparen. Schuld an der Misere sind unter anderem aber auch ausländische Investoren. Für viele reiche Anleger aus Russland, China und immer häufiger auch Osteuropa ist ein Haus in London eine sichere Art, ihr Geld zu parken. Diese Immobilien stehen oft leer, die Londoner nennen dies das sogenannte „dark flat“-Syndrom. Das sind die Penthäuser in den oberen Stockwerken der neu gebauten Luxuswolkenkratzer, wo abends kein Licht brennt, weil die Besitzer eigentlich in Dubai oder Moskau leben. Die Bezirksverwaltungen hätten die Möglichkeit, höhere Steuern und Strafzahlungen für leerstehende Wohnungen einzuheben. Passiert ist dies bisher nur in Einzelfällen. Es sei viel zu aufwändig und kompliziert nachzuweisen, wie lange und warum eine Immobilie leerstehe, so die Argumentation der Bezirksverwaltungen.

Im Unterhaus des Parlaments

London ist auch das Zentrum der britischen Politik, der Palast von Westminster gilt als Mutter aller Parlamente. Die Anfänge des Parlamentarismus gehen auf das 14. Jahrhundert zurück. Die Briten sind stolz auf diese lange demokratische Tradition. Guy Fawkes, ein katholischer Offizier des Königreichs England, versuchte das Parlament 1605 mit Sprengstoff in die Luft zu jagen. Das Attentat auf den damaligen König Jakob I. wurde vereitelt. Guy Fawkes und seine Mitverschwörer wurden gehängt, gevierteilt und ausgeweidet.

Damals wie heute spielen sich echte Dramen in Westminster ab. Es fließt kein Blut mehr, Opposition und Regierungschef liefern sich aber in der Premierminister-Fragestunde heftige Wortgefechte. Das ist der wöchentliche Höhepunkt im parlamentarischen Alltag. Anders als in anderen Parlamenten sitzen die Abgeordneten nicht im Halbkreis, das britische Unterhaus teilt sich in zwei Seiten, auf der einen sitzt die Regierungspartei, vis à vis die Opposition. Alle Parlamentarier sprechen in der dritten Person und adressieren den Parlamentspräsidenten „Mr. Speaker“. Interessanterweise wird bei politischen Debatten sehr direkt attackiert, mit der feinen englischen Art ist es dann vorbei, trockener Humor und eine Prise Ironie sind aber natürlich die wichtigsten Waffen, um den politischen Gegner verbal zu schlagen. Das Unterhaus ist eigentlich viel zu klein für die 650 Abgeordneten, bei wichtigen Debatten stehen sich zu spät Gekommene die Beine in den Bauch.

Normalsterbliche haben zum Unterhaus keinen Zugang. Umso erfreuter war ich, als ich es letztes Jahr schaffte, nach langem Bitten und Betteln für den „WELTjournal“-Beitrag „Mein London“ eine Drehgenehmigung im Parlament zu bekommen. Vereinbart war, Punkt 7.00 Uhr früh mit dem SNP-Abgeordneten Angus Robertson in den altehrwürdigen Hallen zu drehen, bevor das Parlament den Tagesbetrieb aufnimmt. Wir hatten nur zwei Stunden Zeit. Ich hatte schon ein paar Tage vor dem Dreh meinem Mann erzählt, dass ich auf gar keinen Fall auch nur eine Sekunde zu spät zu diesem Termin kommen dürfe, weil zeitlich alles so knapp kalkuliert sei. Am besagten Morgen wachte ich Punkt 7.00 Uhr auf! Patrick hatte in der Nacht versehentlich meinen Wecker ausgeschaltet. Ich hätte mich in diesem Moment beinahe selbst zur Witwe gemacht. Ich sprang in meine Kleider, putzte die Zähne, mein Mann fuhr mich tief zerknirscht im Feuerwehrtempo zum Bahnhof, ich versuchte im randvollen Schnellzug, eingequetscht zwischen anderen Pendlern, mich zu schminken und zu kämmen, ich musste ja schließlich vor die Kamera! Exakt eine Stunde zu spät tauchte ich auf. Angus und das Kamerateam nahmen die Sache mit Humor, sie hatten schon ein paar Einstellungen ohne mich vorgedreht und wir schafften in der letzten Stunde noch das Interview mit Angus und andere Aufnahmen. Dieser Morgen wird mir sicherlich noch lange in Erinnerung bleiben, er hat mich auch mit Sicherheit ein paar graue Haare gekostet. Patrick hat mich ein paar Tage später zum Essen ausgeführt, als Entschuldigung. Eine Einladung, die ich natürlich gerne angenommen habe.

„Gehst du wieder einmal zurück nach Österreich?“, fragen mich Freunde und Kollegen manchmal, wenn ich ihnen von meinen Erlebnissen berichte. Ich zitiere dann den englischen Schriftsteller Samuel Johnson: „Wer London müde ist, ist lebensmüde“, sagte er, „es gibt in London alles.“ Das stimmt, aber man sollte auch niemals nie sagen. Ich genieße es immer noch, jeden Tag aufs Neue diese Stadt zu erobern, ihre Launen zu ertragen und ihre Abenteuer zu genießen. Die Umzugskartons werden so schnell nicht gepackt.

TIPPS FÜR LONDON-BESUCHER

Das originellste Museum: The Museum of Brands, Packaging and Advertising

Hier findet man eine skurrile Ansammlung an Verbraucherobjekten verschiedenster Marken. Unter den 12.000 Stücken sind Lebensmittelverpackungen aus der viktorianischen Zeit, Kosmetik und Spielzeug. Die Besucher laufen durch einen „Time Tunnel“ und erleben, wie sich Marken, Verpackungen und Werbung in den letzten 120 Jahren verändert haben.

www.museumofbrands.com

Colville Mews, Lonsdale Rd, Notting Hill, W11 2AR
Tel. +44 (0) 20 7908 0880

Anfahrt: Mit der U-Bahn, Station Notting Hill Gate (10 Minuten Gehzeit)

Der schönste Park: Hampstead Heath

Für mich auch nach neun Jahren in London immer wieder einen Ausflug wert. Hampstead Heath ist ein 320 Hektar großer Park. Hier hat man das Gefühl, auf dem Land zu sein, gleichzeitig bietet der Hügel Parliament Hill einen wundervollen Ausblick auf die Silhouette der Stadt. Hampstead Heath hat ein ungeheiztes Freibad, das das ganze Jahr hindurch geöffnet ist, eine Sportstrecke, einen Zoo, großräumige Spielmöglichkeiten für Kinder und Schwimmteiche.

www.cityoflondon.gov.uk/­hampsteadheath

Anfahrt: Mit der U-Bahn, Stationen Gospel Oak, Kentish Town, Hampstead Heath, Golders Green und Highgate.

Wohin zum Essen: „Queen’s Head“

Wer ein traditionelles Pub besuchen möchte, ist im „Queen’s Head“ in Hammersmith genau richtig. Selbst Skeptiker der englischen Küche werden vom Menü begeistert sein, ich würde die Lammschulter empfehlen, sie zergeht auf der Zunge. Natürlich gibt es hier auch leckere Fish ’n Chips. Ideal auch für Familien, das Pub hat einen großen Garten und einen Spielplatz für die kleinen Besucher.

www.queensheadhammersmith.co.uk

13 Brook Green, Hammersmith, W6  BL
Tel. +44 (0) 20 7603 3174

Anfahrt: Mit der U-Bahn, Station Hammersmith (10 Minuten Gehzeit)

Der spannendste Markt: Portobello Road Market

Es ist Londons ältester und größter Straßenmarkt und kann mit Recht als einer der besten Antiquitätenmärkte der Welt bezeichnet werden. Waren im Wert von 50 Pence bis zu 100.000 Pfund wechseln hier den Besitzer. Der große Markt ist freitags und samstags geöffnet. Achtung, früh aufbrechen, besonders bei Schönwetter zieht es die Touristen in Scharen nach Notting Hill.

www.portobelloroad.co.uk

Anfahrt: Mit der U-Bahn, Station Notting Hill Gate, Ladbroke Grove und Westbourne Park

Österreich in London: Das „Kipferl“

Wer Lust auf eine gute Wiener Melange hat, sollte unbedingt bei Christian Malnig im „Kipferl“ vorbeischauen. Heimwehgeplagte Auslandsösterreicher stillen hier ihren Hunger nach guter österreichischer Küche. Das „Kipferl“ gilt als eines der besten Cafés der Stadt.

www.kipferl.co.uk

20 Camden Passage, N1 8ED
Tel. +44 (0) 20 7704 1555

Anfahrt: Mit der U-Bahn, Station Angel (3 Minuten Gehzeit)

Ein Geheimtipp: Street Art Tour im East End