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BERND MANSHOLT

Blind Date
nach Grönland

EIN SEGELABENTEUER

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

DELIUS KLASING VERLAG

 

 

Folgende Ausgaben dieses Werkes sind verfügbar:

Lektorat: Birgit Radebold
Titelfoto: Scott Flanders, USA
Fotos: Bernd Mansholt bis auf Ralph Villiger, Seiten 158/159, 186, 187, 192/193
Karte: inch3, Bielefeld
Einbandgestaltung: Buchholz.Graphiker, Hamburg
Layout: Petra Wittler, scanlitho.teams
Lithografie: scanlitho.teams, Bielefeld

Datenkonvertierung E-Book: HGV Hanseatische Gesellschaft für Verlagsservice, München

Alle Rechte vorbehalten! Ohne ausdrückliche Erlaubnis
des Verlages darf das Werk, auch Teile daraus,
nicht vervielfältigt oder an Dritte weitergegeben werden.

www.delius-klasing.de

 

“Das Glück besteht nicht darin,
dass du tun kannst, was du willst,
sondern darin, dass du immer willst,
was du tust.”

Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi

INHALT

Vorwort von Arved Fuchs

Prolog

Eine logische Entscheidung

Mitsegler gesucht

Der Start

Eine unerwartete Wendung

Die Entscheidung von Peterhead

Eine offene Rechnung

Ein guter Tag

Sturm

Eis

Land in Sicht

In den Norden

Sturm in Nuuk

In der Arktis

Der Gletscher

Der Goldschmied

Die Geistersiedlung

Paamiut

Scharf geschossen

Reise-Reise!

Atlantik einhand

Zurück in Schottland

Epilog

Technische Daten der NIS RANDERS

Danksagungen

VORWORT VON ARVED FUCHS

Träume sind häufig der Beginn von etwas sehr Wahrhaftigem. Viele Menschen belassen es beim Träumen, andere geben sich nicht damit zufrieden – sie lassen sich darauf ein und setzen sie in die Tat um, versuchen es zumindest. Wenn solch ein Traum dann auch noch im Nordatlantik liegt und Grönland heißt, dann ist der Pfad dorthin ein anspruchsvoller, insbesondere wenn man ihn auch noch mit einem Segelboot erkunden will.

Bernd Mansholt hat seinen Traum gelebt und ist mit seiner Yacht »NIS RANDERS« aufgebrochen. Die Reise ist keiner überhasteten, spontanen Idee gefolgt, sondern dem sorgsam reflektierten Entschluss, sich auf das Abenteuer einzulassen. Vorausgegangen waren ausgiebige Recherchen und Planungen – und vielleicht die Erkenntnis, dass wenn er es jetzt nicht macht, er es wahrscheinlich niemals wagen würde.

Segeln im Nordatlantik stellt besondere Anforderungen an Mensch und Material. Bei aller umsichtigen Planung und Vorbereitung – es gibt immer Unwägbarkeiten, die schwer abzuschätzen sind. Menschen reagieren unter Anspannung, Stress und fernab des gewohnten Lebensumfeldes bisweilen irrational. Diese Erfahrung habe ich selbst einige Male machen müssen. Das macht sie nicht zu besseren oder schlechteren Menschen – sie sind schlicht überfordert mit der Situation. Der Mensch kann das stärkste, aber auch das schwächste Bindeglied sein. Vermutlich ist die menschliche Komponente neben dem Wettergeschehen die am wenigsten planbare. Auch das hat Bernd Mansholt erfahren. Was als eine Reise zu zweit begann, endete als Einhandtörn von Grönland zurück nach Ostfriesland.

Zerstrittene Segelcrews oder gemeinsame Träume mit einer sehr kurzen Halbwertszeit gibt es in den Segelchroniken viele. Das ist an sich nichts Besonderes. Aber häufig werden die Ursachen dafür unterschlagen oder es wird abgerechnet – dann wird es meist unerfreulich. Nicht so bei Bernd Mansholt. Bei ihm überzeugt die Ehrlichkeit, mit der er die zwischenmenschlichen Probleme schildert. Das ist keine Abrechnung, kein Vorwurf an den anderen, sondern da ist ein wenig Traurigkeit und Irritation zu spüren. Auch Enttäuschung und Unverständnis – aber das ist ja nachvollziehbar. Der Traum ist etwas aus dem Kurs gelaufen. Aber so ist das nun einmal. Entscheidend ist doch, wie ich mit veränderten Situationen umgehe. Bernd Mansholt bleibt sich und seinen Zielen treu. In der Summe zählt nur das.

Mich hat in diesem Buch die Ehrlichkeit beeindruckt, mit der Bernd Mansholt über seinen Törn berichtet. Keine Schnörkel, keine Beschönigungen, keine Übertreibungen, aber auch keine Abrechnung. Andere bleiben zu Hause – Bernd Mansholt hat das Durchsetzungsvermögen und den Willen gehabt, seinen Traum Wirklichkeit werden zu lassen.

 

Arved Fuchs, Ostgrönland, im Sommer 2014

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Ein Traum, den nicht jeder teilt: Die Küste und das Eis Grönlands haben für manch Abenteurer jedoch einen hohen Suchtfaktor.

PROLOG

Im Wesentlichen gibt es wohl zwei Gründe unterschiedlicher Natur, warum man etwas publiziert: Entweder man berichtet, um anderen Menschen Sachverhalte mitzuteilen, oder man möchte mit seinem Buch unterhalten. Das vorliegende Manuskript versucht beides – einfach, weil der Inhalt dieser Geschichte es hergibt.

Die Gründe zu reisen können umso vielfältiger sein: Vielleicht möchte der Reisende seinen Horizont erweitern, Körper, Geist und Seele erholen oder sich schlicht die Zeit vertreiben. Manche arbeiten an ihrer Life-Work-Balance, andere wiederum brechen aus religiösen Gründen auf. Einige von uns hingegen müssen ab und an Neuland erforschen, sind Suchende auf dem Weg zur inneren Ausgeglichenheit. Fernweh ist ein Stachel im Fleisch der geregelten Lebensplanung und mindestens genauso schlimm wie Heimweh – nur umgekehrt. Man muss dem irgendwann nachgeben und für Ausgleich sorgen, sonst läuft man Gefahr, unglücklich zu werden. So geht es auch mir. Grönland habe ich eher durch einen Zufall kennengelernt. Ich habe das raue, ursprüngliche Land so angenommen, wie es ist, und es hat sich mir geöffnet. Es macht mich stolz und glücklich, jetzt von einer Reise voller Überraschungen und Abenteuern berichten zu dürfen.

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EINE LOGISCHE ENTSCHEIDUNG

Im Vorfeld einer großen Segelreise bilden sich schnell Kernfragen heraus, die mir immer wieder auf die ein oder andere Art gestellt werden: Wie lange wirst du auf See sein?, Was ist mit Seekrankheit?, Wirst du je wieder zurückkehren?, Denkst du auch an dein Testament?, Hast du keine Angst? und Ähnliches mehr. Wie Planeten um eine Sonne kreisen die Gedanken der Fragenden immer mehr oder weniger direkt um die Begriffe Verlust, Krankheit, Einsamkeit, Entbehrungen und Tod. Eine Kundin meiner Werkstatt bittet kurz vor der Abfahrt sogar darum, sich einen Gutschein für einen Goldschmiedekurs in bar auszahlen zu lassen, mit der Begründung, dass es ihrer Meinung nach eher unwahrscheinlich sei, dass ich lebend zurückkehre. Die mit Abstand am häufigsten gestellte Frage während der zweijährigen Vorbereitungszeit jedoch war: Warum zum Teufel willst du ausgerechnet nach Grönland?

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Warum Grönland? Weil solche Bilder Sehnsucht in mir entfachen …

Tja, warum? Ich will ganz offen sein. Die Karibik hätte meinem Gusto eigentlich mehr entsprochen: gemütliche Anreise über den Großen Teich, vorangetrieben von beständigen mittelatlantischen Passatwinden, Ankunft in tropischer Atmosphäre, schließlich Ankerfall in irgendeiner der zahllosen romantischen Piratenbuchten inmitten ausladender Vegetation und entspannter Einheimischer. Schnorcheln im kristallklaren Wasser mit Badewannentemperatur – mit einem Wort: paradiesisch. Doch es gab entscheidende Punkte, die gegen die Inseln über und unter dem Winde sprachen: Erstens kannte ich sie schon – Stichwort Neuland erforschen –, zweitens, anders als bei meiner Weltumsegelung, die ich im Jahre 2006 beendete und für die ich meine heimische Existenz für einige Jahre aufgab, habe ich für mein neues Segelabenteuer nur drei Monate Zeit zur Verfügung. Denn meine Auszeit soll laden- und familienfreundlich sein. Ladenfreundlich, weil ich mich nicht erneut den Strapazen eines Wiederaufbaues meiner Existenz aussetzen wollte, und familienfreundlich, weil sich zu Beginn der zweijährigen Planungsphase Nachwuchs angekündigt hat. Und der sollte nicht neun Monate oder länger (denn so lange mindestens dauert eine Reise in die Karibik und zurück) auf seinen Papa verzichten. Mit meiner Frau und meinen Kindern wurden also drei Monate vereinbart, in die ich mein neues Segelabenteuer zeitlich verpacken konnte. Lediglich eine Bedingung von meiner Frau Andrea begleitete die Vorbereitungszeit:

»Du segelst bitte nicht allein, es muss jemand mit an Bord sein.«

»Kein Problem, mein Schatz«, antwortete ich laut und dachte im Stillen: »Kein Problem, mein Schatz.« Ich hatte mich schon früher mit den Gedanken an die Einhandsegelei auseinandergesetzt und gebe gern zu, dass ich damit aus sportlichen Gründen geliebäugelt habe. Doch selbst bei unterschiedlicher und auch wohlwollender Betrachtungsweise bin ich letztendlich immer zum gleichen Schluss gekommen: Das geht gar nicht! Denn der Mensch muss schlafen, und auf See schlafende Einhandsegler stellen eine Gefahr für sich und die übrige Schifffahrt dar. Zumal ich in Morpheus’ Armen dazu neige, Umweltgeräusche in meine Träume einzubinden, statt wie andere Einhandsegler davon aufzuwachen.

Also für mich keine echte Option.

Ich habe also drei Monate Zeit zur Verfügung. 90 Tage. Dieses Zeitfenster teile ich auf in einen Monat für die Anreise, einen Monat Aufenthalt und einen weiteren Monat für die Rückreise. 30 Tage also darf das Ziel entfernt sein. Im Mittel schafft man 100 Meilen pro Tag, macht 3000 Meilen. Hm, Ostsee? War ich schon. Island, Norwegen, die Shetlands, die Färöer? War ich auch schon, wäre langweilig. Mittelmeer? Da war ich auch schon, langweilig. Es musste doch noch mehr geben, ich brauchte etwas Neues, Frisches. Ein Stechzirkel und ein alter Globus, den ich im Keller fand, führten mich schließlich an einen großen weißen Fleck mit gezackten Rändern ganz im Norden unseres Planeten. Kalaallit Nunaat stand auf dem Weiß, Hauptstadt Nuuk. Bingo! Grönland hatte sich als mögliches vorläufiges Ziel aus den bestehenden Rahmenbedingungen heraus nahezu stringent ergeben. Dann fiel mir das alte Buch von Joachim Schult wieder ein, das ich vor rund 20 Jahren las und nachhaltig Eindruck bei mir hinterlassen hat: Wale, Wikinger und wir lautete der Titel des Buches. Vater und Sohn segelten damals auf der CORMORAN rund Nordatlantik und berichteten über ihre Erlebnisse. Es war also tatsächlich machbar, innerhalb der vorgegebenen Zeit Destinationen in Westgrönland zu erreichen. Warum bin ich da nicht früher drauf gekommen? Wenn die Wetter- und Eisbedingungen es zuließen, könnte ich vielleicht sogar bis hoch nach Thule … Aber die genauen Planungen würden erst später kommen. Ich besprach meine Nordpolarmeeridee mit meiner Familie und bekam unter Vorbehalt grünes Licht.

»Aber nur mit einem …«

»Ich weiß, nur mit einem Mitsegler.«

»Ja, aber nur mit einem netten«, fügte Andrea augenzwinkernd hinzu.

Mit der weißen Insel in Verbindung gebracht hatte ich bis zu diesem Zeitpunkt allenfalls die Wikinger, Arved Fuchs, Eisbären, Fräulein Smillas Gespür für Schnee, die Gefahren des Klimawandels, Gletscherschmelze und eben Eis. Viel Eis. Segelberichte im Internet waren eher spärlich zu finden, Reiseführer im Buchhandel waren rar. Lag das vielleicht daran, dass das Land und seine Bewohner per se übersichtlich sind? Oder am Ende sogar uninteressant? Ich hatte zwei Jahre für die Vorbereitungen, also genug Zeit, das herauszufinden.

Und mein alles entscheidendes Personalproblem zu lösen.

MITSEGLER GESUCHT

»Hab’ grade mein Patent abgeholt. Alter, damit kann ich die AIDA fahren!« Völlig zu Recht ist Hinnak (Name gegeändert) stolz auf sein frisch erworbenes Kapitänspatent, das er mir kurz vor Beginn der großen Reise auf den Salontisch pfeffert. Das Patent ist die vorläufige Krönung seiner seemännischen Ausbildung, die neben einem nautischen Studium an der Seefahrtschule auch eine Ausbildung zum Schiffsmechaniker beinhaltet. Sicherheitsausbildung inklusive. Hinnak ist 28 Jahre alt und kommt aus der Nähe von Flensburg an der dänischen Grenze. Er hatte sich in einer Art Mitsegler-Casting durch seine Qualifikationen als Favorit für die ausgeschriebene Stelle als Mitsegler auf meinem Schiff hervorgetan. Über Umwege hatte er von der geplanten Grönlandreise erfahren, als er sich gerade als Erster Offizier auf einem Gastanker im Golf von Mexiko aufhielt. Eine große norddeutsche Tageszeitung hatte mein Mitseglergesuch veröffentlicht. Ein Bekannter von Hinnak wurde aufmerksam und faxte ihm den Artikel von Deutschland aus an Bord des Tankers. In einem Bewerbungsschreiben per E-Mail, das er mir von Bord seines Schiffes sendete, nahm er ersten Kontakt auf. Hinnak schrieb über seine seemännischen Erfahrungen und vermittelte den Eindruck eines versierten Seglers, der wohl schon seit Kindesbeinen auf allem segelte, was schwamm … egal, ob Jolle oder Dickschiff, ob internationale Regatta oder längere Tour. Im Internet kursierten Fotos, die Hinnak im offenen Cabrio-Oldtimer und auf der Kommandobrücke eines Öltankers in der Magellanstraße zeigten. Jung, dynamisch, erfolgsverwöhnt und selbstbewusst. Hinnak war zweifellos ein Vollprofi und ein absoluter Glücksfall für mein Schiff und mein Unternehmen. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, ob er auch Humor hat.

Vor einer verbindlichen Zusage trafen wir uns zunächst in meiner Heimatstadt Oldenburg, beschnupperten einander und waren uns schließlich einig: sympathisch. Könnte passen. Vielleicht zur Sicherheit noch ein Probeschlag auf der Nordsee, damit wir sehen, ob wir auch zusammen auf dem Schiff arbeiten können. Andrea hatte ebenfalls ein gutes Gefühl. Das Probesegeln sollte auf der NIS RANDERS, meinem Boot, stattfinden und von Bremerhaven aus in Richtung Helgoland gehen. Aufgrund widriger Wetterumstände musste es allerdings kurzfristig abgesagt werden. Weitere Treffen waren durch berufliche Aktivitäten beiderseits zeitlich nicht möglich. In mehreren Gesprächen und Mails verfestigte sich mein gutes Gefühl. Guten Gewissens erhielt er die endgültige Zusage.

Finanzielle Interessen hatte ich an meinen Wegbegleiter nicht. Mein Mitsegler muss lediglich für seine eigene Verpflegung sowie die Hälfte des verbrauchten Diesels und eventuell anfallende Liegegebühren und allfällige Wartung anteilig bezahlen. Damit ist Hinnak einverstanden. Hätte mich auch sehr gewundert, wenn nicht; wird ihm doch schließlich drei Monate kostenloses Segeln angeboten und Grönland en passant inklusive.

Einziger ernst zu nehmender Mitbewerber von Hinnak ist Dirk. Dirk kommt wie ich aus Oldenburg. Der Mittfünfziger leitet dort eine Versicherungsagentur, ist leidenschaftlicher Segler und eine wahre Frohnatur. Auch er liest das Mitseglergesuch in der Tagespresse und meldet sich bereits einen Tag später bei mir in der Goldschmiede. Auch er berichtet von seinen Segelerfahrungen und wäre sicher mein Co-Segler geworden, wenn da nicht Hinnaks entscheidender Vorteil gewesen wäre: Er spricht Dänisch – neben Grönländisch die zweite, inoffizielle Landessprache Grönlands.

Ich verabrede mit Dirk, dass er nachrücken wird, falls Hinnak aus irgendwelchen Gründen absagt oder ausfällt. Dirks einzige Bedingung: Er müsste ungefähr zehn Wochen vor dem offiziellen Abfahrtstermin Bescheid wissen, damit er ausreichend Zeit hat, sich körperlich fit zu machen.

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Erstes und einziges Vorbereitungstreffen: Hinnak und ich bei einem Vorbereitungstreffen.

Alles läuft also nach Plan: Ziel geklärt, Zeit geklärt, Crew geklärt. Die Goldschmiede wird während meiner Abwesenheit von meiner Mitarbeiterin geführt, bei der ich sie in den besten Händen weiß.

Bleibt noch das Schiff: Die NIS RANDERS ist ein 11,25 Meter langer Einmaster mit einem Rumpf aus Kunststoff, gebaut von der französischen Werft Bénéteau. Sieben Jahre alt, guter Zustand. Ein hochseefähiges Fahrtenboot der höchsten Kategorie mit modernem Schnitt. Erprobt habe ich das Schiff zuvor auf einer Reise rund England, bei der sie in der Irischen See in einen Sturm geriet und sich wacker hielt. Lediglich kleinere Umbauten, um zusätzlichen Stauraum für Getränke zu schaffen, und der Anbau eines Windgenerators zur Stromerzeugung sind vor dem Start nötig, um das Leben an Bord für längere Zeit angenehmer zu machen und die Sicherheit zu erhöhen. Quasi in der allerletzten Minute montiere ich ein Radargerät an den Mast, dessen Verkabelung in der Kabine Hinnak fast selbstständig übernimmt. Überhaupt überzeugt mein Mitsegler bei den Einkäufen und den übrigen Vorbereitungen mit Verve. Er ist aufgeschlossen, kreativ und zeigt Einsatzbereitschaft. Es gibt keinen Grund, Dirk vorsorglich ins Fitnessstudio zu beordern.

DER START

Liegeplatz der NIS RANDERS ist Bremerhaven. Um uns von unseren Lieben, Freunden und Bekannten zu verabschieden, verholen Hinnak und ich eine Woche vor dem offiziellen Starttermin das Schiff in seinen Heimathafen nach Oldenburg, wo wir einen Liegeplatz auf der Hunte fast in der Stadtmitte zugesagt bekommen. Blauer Himmel, brennendes Sonnenlicht, kaum ein Lüftchen. Wir fahren unter Motor über die Weser in die Hunte. Es ist unsere erste gemeinsame Fahrt. Ich überlasse Hinnak das Ruder, damit er sich an das Schiff gewöhnen kann und wir uns einspielen können. Dafür, dass er das Schiff das erste Mal steuert und es nicht die AIDA ist, macht er sich sehr gut. Dass er an der Oldenburger Eisenbahnbrücke kurz vor der Hafeneinfahrt mit unserem Bugkorb ein Binnenschiff mittschiffs rammt, liegt wohl an seiner Nervosität und nicht an mangelnder Erfahrung. Kann passieren. Bin auch schon mehr als einmal gegen eine Tonne gekracht. Im Oldenburger Stadthafen angekommen, schließen wir auch die letzten Vorbereitungen ab und erledigen weitere Einkäufe in Supermärkten. Per Schubkarren und Autoanhänger transportieren wir die Lebensmittel an Bord.

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Mathilda, Maria und Mike helfen nach Kräften bei den Einkäufen.

In der Zeit zwischen den ersten vagen Ideen zur Reise und dem Tag der Abfahrt wurde mir von meiner Frau Andrea eine kleine Tochter geschenkt. Wenn Mathilda ihre ersten Schritte macht, werde ich mich voraussichtlich irgendwo auf hoher See befinden. In mir kommen nicht zum ersten Mal Gedanken auf, ob es nicht zu egoistisch von mir ist, sie in dieser Zeit allein zu lassen.

Andrea und meine Kinder Mike, 14, und Maria, 13, haben darüber gesprochen und unterstützen mich weiterhin bei dem Vorhaben. Sie sind der Meinung, dass es einem Unternehmen dieser Größenordnung sicher nicht zweckdienlich ist, nicht auch ein klein wenig eigennützig zugunsten des lang geplanten Zieles zu sein. Also nehme ich das Angebot an. Sie halten 90 Tage Abwesenheit für vertretbar, zumal wir über moderne Kommunikationsmittel wie Satellitentelefon und E-Mail an Bord verfügen. Wir verabreden, egal was kommt, täglich zu telefonieren oder zu skypen. Trotzdem sehe ich – sehen wir – dem Abschied mit gemischten Gefühlen entgegen. Doch alles im Universum strebt nach Gleichgewicht und Harmonie, und wie schwer mir die Trennung von meiner Familie wirklich fallen wird, werde ich erst später zu spüren bekommen.

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Schubkarrenweise kommen Lebensmittel: Wie soll das alles aufs Schiff passen?

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Luftige Angelegenheit – ein letzter Check von der Mastspitze.

Ein sonniger Sonntagvormittag Anfang Juni in der norddeutschen Tiefebene. In Oldenburg am Ufer der Hunte stehen Familienmitglieder, Freunde, Bekannte, Segler, Schaulustige, Kamerateams und Journalisten. Interviews und lächelnde Gesichter erwarten mich. Selbst Menschen, zu denen der Kontakt kompliziert geworden und seit einiger Zeit eingeschlafen ist, sind gekommen und verabschieden mich mit herzlichen Worten und Umarmungen. Bei einigen frage ich mich, ob auch sie wohl dachten, dass ich nicht wieder zurückkehren würde – könnte ich jetzt wohl meinen Gutschein in bar ausgezahlt bekommen, bitte? Abschiedstränen. Selbst gebastelte Schutzengel und Geschenke. Sudoku fürs Gehirn und Schüßler-Salze gegen Kopf- und Fußweh. Bewegende Augenblicke im Kameraklick. Auch Hinnaks Freunde und Familie sind von weit her angereist, um Lebewohl zu sagen und eine gute Fahrt zu wünschen.

Nur Co-Co-Segler Dirk, der mich hin und wieder in der Goldschmiede besucht hat und mit dem ich mich mittlerweile angefreundet habe, ist nirgendwo zu sehen. Ihn habe ich heute vermisst, ich hatte gehofft, ihn jetzt hier zu treffen.

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Schwer, hier nicht gerührt zu sein: Zahlreiche Zuschauer verabschieden uns in Oldenburg.

Als wir gegen Mittag unter Applaus und Glückwunschbekundungen unserer Angehörigen die Leinen loswerfen, um die Hunte zurück nach Bremerhaven an den Rand der Nordsee hinunterzutuckern, blicke ich zurück auf einen zweijährigen Vorbereitungsmarathon, der nicht nur die Schiffsausrüstung betrifft. Stichwörter sind: Foto- und Filmausrüstung erweitern, Seekarten und Revierführer besorgen, ins Fitnessstudio gehen, Wetterrouting und Navigation vertiefen, Eiskarten organisieren/studieren, Laden übergeben, internationale Schiffspapiere beschaffen und Versicherungen abschließen, Vorsegel verstärken und Sprayhood erneuern, Kajaks kaufen, Ersatzteile für den Motor bestellen, Rettungsmittel und Bordapotheke komplettieren und vieles andere mehr. Meine To-do-Liste gebärdet sich wie eine Hydra, und manche ihrer Köpfe sind hartnäckiger abzuschlagen als Entenmuscheln am Rumpf eines Langzeitseglers. Außerdem habe ich meine alte Weltumsegler-Website WirHauenAb.de reaktiviert, um den Fortschritt der Reisevorbereitungen dort für Freunde, Familie und Interessierte zu dokumentieren. Im Blog der Website werden Tagesberichte von dem Törn eingestellt – über das Sat-Handy auch von hoher See. Für die Pflege der Website sowie die Versorgung mit Wetterdaten konnte ich wieder Udo und Nils Biedermann gewinnen, die mich schon auf der Weltumsegelung großartig unterstützt haben. Meine Kinder Mike und Maria brachten mich auf die Idee, eine Art Spendenlauf zu organisieren. Also nutze ich die öffentliche Aufmerksamkeit an der Grönlandexpedition für einen Spendenaufruf zugunsten des Kinderhospizes Löwenherz in Syke bei Bremen: Ich verkaufe unsere Seemeilen. Für jede bis zu unserer Rückkehr zurückgelegte Seemeile kann man einen beliebigen Betrag spenden, der dem Hospiz zugutekommt. Mindestbetrag ist ein Cent pro Meile, abgerechnet wird bei der Rückkehr. Ich schätze, dass wir circa 5000 Meilen zurücklegen werden. Auf diese Weise können wir mit unserer Aktivität auf das Kinderhospiz, das zum großen Teil auf Spenden angewiesen ist, aufmerksam machen und Gutes bewirken. Über einen Spendenaufruf via Website und die Medien erreichten wir viele Menschen, die sich dem Unternehmen anschließen.

Aber das ist Vergangenheit, ab jetzt heißt es, den Blick nach vorn wenden. Ich denke nicht mehr darüber nach, ob oder was ich vergessen haben könnte, sondern resümiere das Vorhaben: Unser Zeitlimit beträgt drei Monate. Das Schiff ist ein Elf-Meter-Kunststoffboot aus Serienproduktion. Die Segler: zwei Männer, die Vater und Sohn sein könnten, sich über das Internet kennenlernten und noch nie miteinander segelten. Das Ziel: 5000 Meilen in 90 Tagen von Deutschland nach Grönland und zurück, über den Nordatlantik ins arktische Eismeer zur größten Insel der Welt. Na, das ist doch mal was! Mittlerweile nicht doch ein klein wenig Angst vor der eigenen Courage? Nicht ein bisschen.

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Das Abenteuer beginnt … zunächst auf der Hunte und der Weser.

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In der Not unsere besten Freunde: unsere Überlebensanzüge, hier ganz entspannt in der Helgoländer Sonne.

Das, was nicht zuletzt auch nach einem sozialen Experiment klingt, lässt sich zunächst gut an. Die Stimmung an Bord ist entspannt und gelöst. Unter stürmischen Böen, die in den letzten Stunden eingesetzt haben, steuern wir die NIS RANDERS zunächst unter Motor von der Hunte in die Weser, um nach Wetterbesserung schließlich von Bremerhaven nach Helgoland zu segeln.

Auf Helgoland testen wir erst einmal unsere Immersion Suites, die Überlebensanzüge, mit denen man nach Herstellerangaben selbst bei Wassertemperaturen nahe dem Gefrierpunkt einige Zeit überleben soll. Brauchen möchte ich die nicht, um ehrlich zu sein. Das Anlegen der sperrigen Einteiler muss man üben, damit es im Notfall schnell geht.

Helgoland soll unsere Absprungstation nach Grönland sein. Wenn’s nach mir geht, können wir über die Nordsee hoch nach Schottland durch den Pentland Firth in den Nordatlantik, um schließlich in einem Rutsch nach Grönland zu gelangen. Mir gefällt es auf See sowieso meist besser als in einem Hafen, und durch das schlechte Wetter der letzten Tage haben wir schon etwas Zeit verloren. Für einen studierten Nautiker hält Hinnak sich bezüglich der Streckenführung bei den Planungsgesprächen auffallend zurück, das heißt, er will sich nicht festlegen. Muss er ja auch nicht, wir können ja erst mal ablegen und dann sehen, wie wir vorankommen. Der Generalkurs ist eh klar: Nord.

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Ab jetzt gibt es nur noch eine Richtung: Nord.

Helgoland-Südhafen. Der Diesel ist im Tank, die Reservekanister sind voll. Das Frischwasser ist gebunkert, der Proviant verstaut, der Hafenmeister bezahlt. Die Wettermeldungen für die nächsten Tage sind nicht mehr ganz so schlecht, und Bereitschaft kennzeichnet die Moral an Bord. Wir sind lediglich ein wenig in uns gekehrt, als wir die Leinen loswerfen und in See stechen. Am frühen Nachmittag lassen wir den Hochseefelsen mit seinem Wahrzeichen, der »Langen Anna«, hinter uns. Der Himmel ist grau und der Wind noch nicht so ganz auf unserer Seite. Die ersten Meilen nehmen wir den Motor zu Hilfe, damit wir uns nördlich von Helgoland von einem Windpark, der sich noch in Entstehung befindet, freihalten können.

Doch nach wenigen Minuten Motorlaufzeit fällt uns ein heulendes Geräusch an der Schraubenwelle auf. Scheint von der Buchse zu kommen, die die Welle nach außen hin abdichtet. Durch einen Fingerdruck auf die Gummimanschette ist das Problem jedoch schnell gelöst. Die wassergeschmierte Wellendichtung war wohl trockengelaufen, und durch den Druck auf die Manschette kann die Luft entweichen. Wir entscheiden uns, das rund vier Tage entfernte schottische Peterhead anzulaufen, um der Ursache des Heulens nachhaltig auf den Grund zu gehen. Eventuell können wir das Schiff dort aus dem Wasser nehmen, um es zu untersuchen, oder wir lösen das Problem bereits auf dem Weg dorthin. Peterhead liegt im Nordosten Schottlands und ist kein großer Umweg auf unserer Route.

Nachdem wir den Windpark vor Helgoland umschifft haben, erleben wir die erste Nacht auf See. Wir haben vereinbart, dass ich bis zwei Uhr morgens Wache gehe und Hinnak mich dann ablöst.

Windparks sind grundsätzlich überall auf der Welt Restricted Areas, Verbotszonen, Gebiete, in die man nicht einfahren darf. Sie sind in den Seekarten eingezeichnet und auch auf dem Seekartenplotter an Bord markiert. Außerdem sind sie derart mit roten Signalblinkleuchten gekennzeichnet, dass man sie nicht übersehen kann, selbst wenn man möchte. Abgegrenzt werden diese Windkraftfelder durch Bojen.