Selma Lagerlöf

Die Prinzessin von Babylonien und andere Erzählungen

 

Titelblatt

Einzige berechtigte Übersetzung aus dem Schwedischen
von
Marie Franzos

 

Albert Langen, München

1922

Die Prinzessin von Babylonien

Es war an einem dunklen Winterabend in der kleinen Hütte Skrolycka. Kattrinna, die Bäuerin, saß da und spann, und die Katze lag auf ihrem Schoß und spann auch, so gut sie konnte. Der Mann, Jan Andersson, saß am Herde und wärmte sich mit dem Rücken gegen das Feuer. Er war den ganzen Tag in Erik Fallas Wald gewesen und hatte Holz gehackt, da konnte niemand von ihm verlangen, daß er jetzt, wo er daheim war, noch eine andere Arbeit vornehmen sollte. Nicht einmal Kattrinna hatte etwas dagegen einzuwenden, daß er jetzt nichts anderes tat, als mit ihrem kleinen Mädchen spielte und plauderte, das diesen Winter in sein fünftes Jahr ging.

Kattrinna saß in ihren eigenen Gedanken da und hörte nicht viel darauf, was der Mann und das Kind miteinander schwatzten. Aber auf eines hielt sie strenge. Sie konnte es nicht leiden, wenn Jan der Kleinen sagte, daß sie so schön und besonders sei, und das tat er gar zu gerne. Denn wenn Klara Gulla schon als kleines Kind eine hohe Meinung von sich selbst bekam, dann wußte ja Kattrinna, daß nie und nimmer ein vernünftiges Frauenzimmer aus ihr werden konnte.

Jan trieb es zu arg, er kam auf alles Mögliche, was das Kind hoffärtig machen mußte. Aber an diesem Abend war Kattrinna ganz ruhig, denn nun saß er da und erzählte von Dingen, die sich früher einmal in der Welt zugetragen hatten, zu der Zeit, als die Erde erschaffen wurde und die Menschen sie zu erfüllen begannen. Er war gerade dabei, die alte Geschichte vom Turm zu Babel zu erzählen, und da konnte man ja hoffen, daß er keine Gelegenheit finden würde, mit seinen gewohnten Torheiten zu kommen.

»Ja, und da haben sie Lehm herbeigeschleppt,« sagte Jan, »und sie haben Ziegel geschlagen, und Kalk haben sie gelöscht und ein Gerüst aufgerichtet, und mit jedem Tag ist der Turm höher geworden.

Sie haben schon gewußt, daß es unserem Herrgott nicht recht ist, wenn sie den Turm bauen, aber danach haben sie nicht viel gefragt. Denn sie hatten sich's einmal vorgenommen, sie wollten bis zum Himmel hinauf, um zu sehen, wie's dort ausschaut.

›Hört einmal, ihr guten Leute,‹ hat da der liebe Gott gesagt, ›jetzt sag' ich's euch aber zum letztenmal: wenn ihr nicht gleich von hier weggeht und mit der Bauerei aufhört, dann kann ich mir nicht helfen, ich muß ein Unglück über euch kommen lassen. Und das wird ein solches Unglück sein, das ihr nie loswerdet, und niemand kann euch dagegen helfen.‹

Aber die Menschen, die haben sich gedacht, ach was, unser Herrgott wird schon langmütig sein, wie gewöhnlich. Und sie haben weiter an ihrem Turm gebaut, und jeden Tag sind sie ein Stückel höher gekommen.

Da ist aber unser Herrgott hergegangen und hat ihre Sprache ganz durcheinandergebracht. Siehst, bis zu dem Tag haben sie so gesprochen, daß eins das andere verstanden hat, aber jetzt war's damit aus.

Wenn die Maurermeister jetzt sagen wollten: ›Gib mir Lehm!‹ Dann haben sie anstatt dessen gesagt: ›Fitzliputzli Fitzliputzli.‹ Und wenn die Lehrlinge haben fragen wollen, was sie denn meinen, da haben sie gesagt: ›Erbe, derbe, mirbe, marbe.‹ Na, da kann man sich nicht wundern, daß sie sich nicht verstanden haben.

Die Meister, die haben geglaubt, die Lehrlinge wollen sie zum Narren halten. Aber wenn sie sagen wollten: sprecht doch ordentlich, dann haben sie gesagt: ›Ullen dullen dorf!‹ Na, und wenn die Lehrlinge fragen wollten, warum sie ein so böses Gesicht machen, da haben sie nichts anderes herausgebracht als: ›Abrakadabra?‹

Und da sind sie alle miteinander zornig geworden und sind sich in die Haare gefahren und haben zu raufen angefangen.

Na, und von dem Tag an war's aus mit der Freundschaft zwischen den Menschen, und niemand hat mehr daran gedacht, weiter an dem Turm zu bauen, sondern ein jedes ist für sich gegangen.«

Als Jan in seiner Erzählung so weit gekommen war, schielte er zu Kattrinna hinüber. Der Spinnrocken stand stille, und es sah beinahe aus, als seien Frau und Katze eingeschlummert. Da nahm Jan seine Erzählung wieder auf. Er senkte die Stimme nur ein wenig.

»Aber unter all den anderen dort in Babylon, die an dem Turm gebaut hatten, war auch ein König und eine Königin, und die hatten eine kleine Prinzessin. Und auf einmal fängt auch dieses kleine Mädel an, so närrisch zu sprechen, daß ihre Eltern und alle anderen Leute nicht ein einziges Wort verstanden haben.

Da wollt' der König und die Königin sie nicht mehr auf ihrem Schloß behalten, sie haben sie fortgejagt, und sie mußt' ganz mutterseelenallein in die große, weite Welt hinaus.

Da war sie natürlich ganz verzagt. Sie hat ja nicht gewußt, wem sie da unterwegs begegnen kann. Für einen Bären oder einen Wolf war es ja ein Kinderspiel, so eine kleine Prinzessin aufzufressen, wenn sie ihm in den Weg lief.

Aber so zart und fein sie auch war, so hat ihr doch niemand was zu Leid getan.

Nein, im Gegenteil, alle, denen sie begegnet ist, sind freundlich auf sie zugegangen und haben ihr die Hand gegeben und gefragt, wo sie denn hin will. Aber was sie zur Antwort gegeben hat, davon haben sie kein Wort verstanden, na, und da haben sie sich nicht weiter um sie gekümmert.

So lieb und fein wie sie war, braucht' sie nur in die Schlösser und Burgen hinaufzukommen, da haben sie die Türen sperrangelweit aufgerissen und sie hineingehen lassen. Aber wenn sie den Mund aufgemacht und man ihre närrische Sprache gehört hat, da hat sie gleich wieder fortmüssen.

Na, und endlich, da war sie schon durch alle Königreiche gewandert, die's gibt, da kommt sie eines Abends spät in einen großmächtigen Wald, und als sie durch den Wald gegangen ist, da sieht sie eine kleine Hütte, die war so niedrig, daß sie grad noch durch die Tür durchkonnt', und da geht sie hinein und sagt ›Grüß Gott‹.

Da drinnen sitzt die Bäuerin und spinnt, und der Bauer sitzt am Herd und wärmt sich. Und wie sie sehen, daß ein Fremdes zur Tür hereinkommt, so sagen sie auch: ›Grüß Gott‹.

Da hat die kleine Prinzessin eine schreckliche Freude gehabt, denn da in der Hütte haben sie akkurat so gesprochen, daß sie sie verstehen konnt'. Aber sie war sehr vorsichtig, sie hat ihnen nicht gleich alles erklären wollen.

›Wie heißt denn diese Hütte?‹ hat sie gefragt, um sie auf die Probe zu stellen.

›Die heißt Skrolycka,‹ haben sie gleich geantwortet, und da hat sie schon gemerkt, daß sie sie verstanden haben.

Und da war sie ganz wild vor lauter Freude, aber sie hat gemeint, es ist doch besser, wenn sie sie noch einmal auf die Probe stellt.

›Wie heißt denn die Sprache, die ihr hier im Haus sprecht?‹ hat sie gesagt.

›Das ist die värmländische Sprache,‹ haben die Leute in der Hütte gesagt.

Und da ist die kleine Prinzessin zu ihnen hingegangen und hat sie gebeten, daß sie bei ihnen bleiben darf, denn hier wär' der einzige Ort auf der Welt, wo sie verstehen konnten, was sie geredet hat.

Aber wie sie zum Feuer hingekommen ist, da haben die Leute ja gesehen, daß sie eine kleine Prinzessin von Babylonien ist. Und da haben sie ihr gesagt, daß sie fehlgegangen sein muß. Und sie haben ihr gesagt, es könnt' ihr unmöglich bei ihnen gefallen. Die värmländische Sprache, die wär' ja überall, in jedem Haus, in der ganzen Gegend hier herum bekannt, haben sie gesagt, sie könnt' überall hingehen, wo es ihr beliebt.

Aber die kleine Prinzessin, die hat auf diesem Ohr nicht gehört. ›Nein,‹ hat sie gesagt, ›ich merk' schon, daß ich recht gegangen bin. Und hier will ich bleiben. Denn hier hat man eine Freude und einen Nutzen von mir.‹«

Die kleine Klara Gulla war ganz still auf Jans Schoß gesessen und hatte gelauscht, und ihre Augen waren vor Staunen immer runder und runder geworden. Aber als jetzt Jan zu erzählen aufhörte, saß sie zuerst ganz stumm da, dann drehte und wendete sie das Köpfchen und guckte sich alles in der Stube an, so, als hätte sie es noch nie gesehen.

»Ja, jetzt kann's ja noch so bleiben, wie's ist, eine Zeitlang,« sagte sie endlich. »Aber bis ich einmal groß bin, dann geh' ich schon wieder dorthin zurück, wo ich her bin.«

Jan machte ein langes Gesicht. Und das Schlimmste war, daß Kattrinna jetzt wach war und den Schluß des Gesprächs gehört hatte.

»Ja, siehst du, das hast du davon, daß du dem Mädel immer einreden willst, daß sie gar so was Feines und Besonderes ist!« sagte sie.

Magister Frykstedt

Meine alte Tante Nanna Lagerlöf, die mit dem Propst in Karlskoga, Tullius Hammargren verheiratet war, war keine Bewundererin von Gösta Berling. »Das Leben war damals gar nicht so,« sagte sie zu mir, kurz nachdem das Buch erschienen war. »Weder Männer noch Frauen sind richtig gezeichnet.« Sie schien beinahe geneigt, zu glauben, daß das Buch Schmach über die alten Värmländer und ihr Land bringen würde.

Das war ein hartes Urteil, und ich muß gestehen, daß ich nicht erwartet hatte, es von dieser Seite zu hören. Die Propstin von Karlskoga war selbst eine begeisterte Erzählerin der alten Värmländer Historien, und ich weiß, daß nicht nur einige ihrer besten Mären, sondern vor allem viel von ihrer besonderen Anschauung der Menschen früherer Zeiten in meinem Buch wieder auflebte.

Da sie nichts Gutes über das Buch zu sagen hatte, vermied sie es zumeist darüber zu sprechen, wenn ich auf meinem gewöhnlichen Sommerbesuch im Pfarrhof weilte. Einmal kam es ihr jedoch in den Sinn zu fragen, wen ich mir als Vorbild für Gösta Berling gedacht hatte.

Ich antwortete ihr, mein Held sei ein Pfarrerssohn aus Sunne, von dem ich meinen Vater erzählen gehört. Der war so, daß Freude bei jedem Gastmahl herrschte, sowie er sich nur zeigte, und das allererbärmlichste Klavier klang stark und voll, sowie er nur die Tasten berührte.

Die alte Propstin wußte sofort, wen ich meinte.

»Ach so, Kalle Frykstedt,« sagte sie. »Ich habe mich eben gefragt, ob du nicht an ihn gedacht hast.«

Ich wagte nicht zu fragen, ob er recht geschildert war. Vielmehr bat ich meine Tante, mir zu sagen, ob sie in ihrer Jugend viel mit ihm zusammengewesen sei. Ihr Kindheitsheim in Marbacka lag ja nur eine Meile vom Pfarrhof Sunne entfernt, und meine Tante hatte dort viele große Gesellschaften mitgemacht.

Nein, in seinem Elternhause hatte sie ihn nicht gesehen. Er war ja um vieles älter gewesen als sie. Aber nach ihrer Verheiratung hatte sie ihn ein paarmal in Karlstad getroffen.

»Da war er vielleicht schon herabgekommen?« fiel ich ein.

»Kalle Frykstedt!« rief die Propstin mit scharfer Betonung. Und sie sah mich erstaunt an, als könnte sie gar nicht verstehen, was ich meinte.

Es verhielt sich mit meiner Tante so, daß sie mit einem eigenen Zauberkreis um sich durch die Welt gegangen war. Schön, gewinnend und reich begabt, wie sie es gewesen und noch immer war, hatten alle, die sie getroffen, sich ihr von der besten Seite zeigen wollen, und zum Dank dafür blieb sie ihnen treu und sah sie für allezeit edel, gut und geistvoll vor sich. Sie war durchaus kein unerfahrenes Kind, sie wußte, wie niedrig und töricht die Menschen sich gewöhnlich betragen, aber sie hielt diese Erkenntnis stolz von sich ab, und dasselbe verlangte sie von allen, die in ihre Nähe kamen.

Eine Weile saß sie stumm da, und das Strickzeug ruhte in ihrem Schoß. Aber bald sah sie mit einem feinen Lächeln auf. »Warte, jetzt sollst du hören, wie Kalle Frykstedt war,« sagte sie, und ich begriff, daß sie mir nun zeigen wollte, wie falsch ich meine Värmländer geschildert hatte.

»Es war zu der Zeit, als ich neuvermählt war,« begann sie, und nun wußte ich, daß ich etwas richtig Schönes zu hören bekommen würde. Meine Tante hatte keine reizenderen Geschichten als die, die in der Zeit spielten, wo ihr Mann als junger Magister in der Knabenschule in Åmål angestellt war und sie so verwunderlich wenig zum Leben hatten. Nie vergesse ich eine Geschichte von einer Packkiste, die ihr erstes Salonsofa wurde. Sie konnte so schön und drollig von dieser Packkiste erzählen, daß ich seither nie eine große Holzkiste sehen konnte, ohne daß mich Lachen und Weinen zugleich ankam.

Nun erzählte sie, wie ihr Mann, als sie ein Jahr verheiratet waren, den Entschluß faßte, das Pastorexamen abzulegen. Den Magistergrad hatte er schon in Upsala erworben, aber es war zu jener Zeit gebräuchlich, daß die Schullehrer auch Geistliche waren.

»Mußte er da wieder nach Upsala zurückfahren?« fragte ich.

»Nein, nur nach Karlstad,« erklärte meine Tante. »Man konnte das Pastorexamen vor dem Domkapitel in Karlstad ablegen.«

Tante Nanna und ihr Mann verließen also ihr kleines Heim in Åmål und zogen nach Karlstad, wo sie blieben, so lange die Studien für das Pastorexamen dauerten. Und die ganze Zeit über mußten sie von geborgtem Gelde leben. »Nein, daß ihr euch in ein solches Abenteuer gewagt habt!« sagte ich. – »Es mußte sein,« sagte meine Tante, und man hörte es ihr an der Stimme an, wie ängstlich sie gewesen war, als sie dieses kühne Unternehmen begonnen.

»Aber nun wollte ich ja nicht von uns sprechen,« fuhr sie fort, »sondern von Kalle Frykstedt. Er war auch unter denen, die das Pastorexamen machen sollten, und er wohnte auch in Karlstad und studierte da, so wie Hammargren. Die letzten Jahre war er als Hofmeister von einem Ort zum anderen herumgezogen, aber nun hatten ihn ein paar Freunde überredet, dieses Examen zu machen, damit er doch einmal einen anständigen Lebensunterhalt hatte.«

»Und als du ihn trafst, Tante, da warst du wohl ganz entzückt von ihm, wie alle anderen?« – »Anfangs hatte ich eigentlich eher Angst vor ihm, denn er war fast nie nüchtern.« – »Ah!« sagte ich und war ganz betroffen. »Aber ich glaubte doch...« – »Du fragtest, ob er herabgekommen war,« sagte meine Tante. »Aber er hatte so große Kenntnisse und so viel Geist, daß die Herren des Domkapitels förmlich Angst vor ihm hatten, als sie ihn prüfen sollten. Aber getrunken, das hat er ja. Hammargren und die andern pflegten ihm am Abend vor einem Kolloquium die Schuhe wegzunehmen, denn sonst konnten sie sicher sein, daß er die ganze Nacht im Wirtshaus saß und am nächsten Morgen nicht auf den Füßen stehen konnte.«

Als ich dies hörte, schien es mir doch, daß es besser zu meiner Schilderung der Gösta Berling-Gestalt paßte, als ich erwartet hatte, aber ich hütete mich wohl, eine derartige Bemerkung zu machen.

»Kam es denn überhaupt dazu, daß er sein Examen machte?« fragte ich.

»Doch, er machte es zugleich mit Hammargren, und zwar mit bestem Erfolg. Obwohl ich sagen muß, es wäre mir lieber gewesen, wenn er es nicht bestanden hätte,« fügte sie hinzu.

Es ging mir durch den Sinn, daß meine Tante gemerkt hatte, daß Kalle Frykstedt nicht für den priesterlichen Beruf paßte, aber das hätte sie nie zugegeben. Es durfte nichts Tadelnswertes an den Gebräuchen und Einrichtungen der alten Zeit geben, und sie tat so, als sei es ganz in Ordnung, daß Kalle Frykstedt die Priesterweihe erhielt und eine Gemeinde in seine Hut gegeben wurde.

Nein, aus einem ganz anderen Grunde hätte sie gewünscht, daß er durchgefallen wäre. Sie und ihr Mann hielten sich für verpflichtet, am Examenstage für den Bischof, das Domkapitel und die Prüfungskameraden eine Mittagstafel zu geben. Und meine Tante wollte Kalle Frykstedt nicht bei dem Feste haben, weil sie überzeugt war, daß er sich betrinken und die ganze Gemütlichkeit stören würde; aber nun, da er sein Examen bestanden, war es unvermeidlich, ihn einzuladen.

Mit nicht sehr freudigen Gefühlen traf meine Tante ihre Vorbereitungen für diese Mittagstafel. Sie und ihr Mann hatten eine kleine Wohnung gemietet, Schlafraum und Speisezimmer im ersten Stock, während die kleine Küche und das Arbeitszimmer des Mannes im Erdgeschoß lagen. Man mußte ihr recht geben, das war kein passender Schauplatz für ein Bischofsdiner. Das Essen war nicht schwer zu beschaffen, das meiste schickte ihr ihre Mutter aus Marbacka. Aber Porzellan, Glas und Silber hatte sie nicht genug für so viele Gäste, so mußte sie sich das Fehlende bei Freunden und Bekannten ausleihen.

Die schwerste Sorge war aber doch, daß sie nicht darum herum konnte, Kalle Frykstedt zu bitten.

Die Mittagstafel fand also statt. Der Bischof kam mit dem ganzen Domkapitel, die Prüfungskameraden fanden sich ein, und auch Magister Frykstedt blieb nicht aus. Und wunderbarerweise wurde diese Mittagsgesellschaft der allergrößte gesellschaftliche Erfolg, den meine Tante je erlebt hatte.

Ich dachte daran, welch einnehmende, unterhaltende Hausfrau meine Tante noch in ihren alten Tagen sein konnte. Zu jener Zeit, als sie noch Schönheit und jugendlichen Frohsinn besaß, mußte sie ja unwiderstehlich gewesen sein. Und ich fragte ganz still, ob es nicht ihr Verdienst gewesen sei, daß das Fest so vortrefflich gelungen war.

Aber das verneinte sie auf das Bestimmteste. Es war nicht ihr Verdienst, sondern das Magister Frykstedts.

Erstens einmal war er so schön gewesen, mit den tiefen, melancholischen Augen und dem reichen, welligen Haar. Es war etwas Hochgestimmtes und Strahlendes um ihn gewesen. Die Freude, die er darüber empfand, daß es ihm gelungen war, eine neue Lebensbahn einzuschlagen, hatte ihn mit schönem, ernstem Enthusiasmus erfüllt.

Nie hatte sich meine Tante gedacht, daß ein Mensch einer so starken Inspiration mächtig sein könnte. Er hielt eine Rede nach der anderen, und das waren keine gewöhnlichen Tischreden, sondern sie waren voll von den tiefsten Gedanken. Alles, was er bei dieser Mittagstafel vorbrachte, war so interessant, daß alle nur ihm lauschen wollten. Er wurde der Mittelpunkt aller Gespräche, und er entführte die Anwesenden in neue unbekannte Welten. Aber obgleich man von den edlen und kühnen Ideen, die er hinwarf, tief ergriffen war, fanden doch alle, daß er selbst das größte Wunder war. Man genoß das erhebende Schauspiel, den Genius in einer Menschenseele lodern und leuchten zu sehen.

Unter den Eingeladenen befanden sich viele hervorragende Persönlichkeiten. Bischof Agardh war selbst ein hoher Geist, der Hausherr, sowie mehrere der Gäste waren begabte, gelehrte Männer. Sie wurden von Kalle Frykstedt mitgerissen, sie erhoben sich alle über ihre grauen Alltagsgedanken und taten beredte, tiefsinnige Aussprüche. Aber keiner war doch wie er.

Solange Magister Frykstedt am Mittagstisch saß, berührte er kaum den Wein, und überhaupt wurde an dieser Tafel Speise und Trank nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt. Aber die Eingeladenen blieben doch Stunde um Stunde bei Tische sitzen. Endlich erhob sich der Bischof und nahm Abschied, indem er den jungen Gastgebern für das angenehmste Festmahl dankte, das er noch in seiner Bischofstadt miterlebt hatte. Zugleich mit dem Bischof entfernten sich mehrere der älteren Herren, und auch die Hausfrau zog sich zurück.

Aber einige von den Gästen konnten sich nicht entschließen, zu Bette zu gehen. Sie trugen Flaschen und Gläser in das Arbeitszimmer im Erdgeschoß, und da setzten sie das Fest bis zum lichten Tage fort.

Magister Frykstedt hielt die ganze Zeit herrliche Reden, aber nun begann er auch zu trinken. Gegen Morgen stand er, an den Tisch gelehnt, auf dem die Trinkwaren standen, und redete. Ganz plötzlich schwankte er, fiel zu Boden und riß das Tischtuch und alles, was an Flaschen und Gläsern darauf stand im Fall mit.

Als meine Tante am nächsten Morgen erwachte, hatte sie noch kaum recht an den gestrigen Tag zurückdenken und sich daran freuen können, daß alles so gut gegangen war, als sie auch schon erfuhr, daß eine Anzahl Gläser und Karaffen zerschlagen waren. Man kann sich ihre Bestürzung und Kränkung denken. Es wäre schon unangenehm gewesen, wenn das Zerstörte ihr gehört hätte, aber nun war ja fast alles geborgt. Unter dem Zerschlagenen befanden sich kostbare alte Erbstücke, die zu ersetzen nicht im Bereich der Möglichkeit lag. Meine Tante weinte, wenn sie an all die Ausgaben dachte, denen sie sich unterziehen mußten, um den Schaden gutzumachen, all die Entschuldigungen, die sie vorbringen mußte, und all den Ärger den sie ihren Freunden bereitete, weil sie ihr Eigentum nicht besser in acht genommen.

Im Laufe des Vormittags kam Magister Frykstedt zu Besuch. Meine Tante wischte sich die Tränen aus den Augen und empfing ihn ganz wie immer. Er war jetzt nüchtern und ruhig, dankte für den angenehmen Abend und blieb dann noch ein Weilchen sitzen und plauderte über alltägliche Dinge. Aber es war eine gewisse Unruhe über ihm. Er sah meine Tante forschend an. Er schien auf irgendeinen Ausbruch des Zorns oder der Bitterkeit zu warten. Endlich machte er einen Versuch, sich zu entschuldigen.

»Ich entsinne mich nicht recht...« sagte er und strich sich mit der Hand über die Stirn. »Es schwebt mir etwas dunkel vor ... ich werde mich doch hoffentlich gestern nicht schlecht benommen haben?«

»Nein,« sagte meine Tante, und ich kann mir vorstellen, wie sie ihn dabei mit ihrem bezauberndsten Lächeln ansah, »Sie haben sich gewiß nicht schlecht benommen, Magister Frykstedt. Sie waren derjenige, der uns alle unterhalten – ja, das ist viel zu wenig gesagt – uns alle hingerissen hat.«

Er sah sie staunend an. Ihre Antwort hatte ihn nicht ganz beruhigt. »Ich möchte um Entschuldigung bitten, wenn vielleicht doch irgend etwas ...«

»Sie haben sich durchaus nicht zu entschuldigen, Herr Magister,« sagte meine Tante mit entschiedener Stimme.

Ich begriff so gut, warum sie so geantwortet hatte. Der Mann, der vor ihr stand, hatte ihr Verdruß und große Kosten verursacht, aber sie hatte ihn als einen hochfliegenden Genius kennen gelernt, und sie konnte es nicht über sich bringen, zu gestehen, daß sie um seine Erniedrigung wußte.

»Ach, was bin ich froh,« hatte der Arme da gerufen. »Ach, was bin ich froh!« Er hatte die Hand meiner Tante geküßt wie ein Bettler, der ein Gnadengeschenk bekommen hat. Dann hatte er sich emporgerichtet und war strahlend und geistsprühend gewesen wie am vorhergehenden Tage.

Auch ich küßte meiner Tante die Hand, und es wurde mir schwer, die Tränen zurückzudrängen. Sie hatte immer etwas an sich, das zugleich bezaubernd und rührend war. Es ruhte Poesie über ihrem ganzen Wesen. Die Poesie der Menschen der alten Zeit.

Ich verstand wohl, was sie mich hatte lehren wollen, aber während ich mir der Lektion bewußt war, stieg ein großer Jubel in mir auf.

»Frauen vergangener Zeiten und Männer vergangener Zeiten,« dachte ich, »ihr mögt es selbst leugnen, ihr wart doch so, wie ich euch vor mir gesehen, in einem langen Traum.«

Das Heinzelmännchen von Töreby

Ich weiß noch, wie ich einmal als Kind an einem alten Hof vorüberfuhr, von dem man wußte, daß es da ein Heinzelmännchen gab. Dieser Hof lag sehr einsam und unschön an einem flachen Seeufer. Es war kein Garten um das hohe, weiße Wohnhaus, nur ein paar verkrümmte Bäume standen da. Es war der reizloseste Ort, den ich je gesehen. Aber es schien ein reicher Hof zu sein. Die Wirtschaftsgebäude waren wohlgebaut und von großem Zuschnitt, und auf den Feldern stand die Saat so üppig, daß ich mich noch heute dessen entsinne.

Das merkwürdigste war, die Ordnung zu sehen, die überall herrschte. Ich erinnere mich, daß wir ganz langsam vorbeifuhren, um zu sehen, wie gut die Gräben gezogen waren, wie schnurgerade die Wege liefen und wie fest die Brücken gebaut waren. Wir betrachteten die niedlichen, bemalten Boote, die sich am Strande schaukelten, und eine unermeßlich lange Waschbrücke, die gerade hinaus in den See lief. »Wahrscheinlich will das Heinzelmännchen, daß sie ihre Wäsche in richtig tiefem Wasser spülen, nicht in dem seichten Strandwasser,« sagten wir.

Denn niemand zweifelte daran, daß alles auf diesem Hofe des Heinzelmännchens wegen so war, und daß die Leute, die dort wohnten, an es glaubten. Aus Angst vor dem Heinzelmännchen durfte kein Strohhalm, kein Span auf dem Hofplatz herumliegen, darum war der Viehstall geputzt wie eine gute Stube, und die Felder waren wie Gartenbeete.

Dieses Heinzelmännchen hatte es zu allen Zeiten auf dem Hofe gegeben, und aus allen Zeiten erzählte man sich Geschichten von ihm. Hier will ich eine berichten, die sich vor etwa zweihundert Jahren zugetragen haben mag.

Es war in einer dunklen Herbstnacht, der Regen goß über die grauen Klotzwände, denn damals war der Herrenhof weder bretterverkleidet noch getüncht, und der Sturm peitschte alle Zweige des hohen Holzapfelbaums, der am Giebel stand, gegen den Dachfirst.

Mitten im ärgsten Unwetter kam eine Eule geflogen. Sie hatte ihr Nest oben im Dachstuhl, auf einem der großen Böden und pflegte durch ein kleines Loch dicht unter der Dachrinne dort hineinzufliegen. Aber bevor sie noch die Luke finden konnte, packte sie der Wind, blähte ihr dichtes Federkleid auf, so daß sie wie ein runder Ball aussah, und schleuderte sie ein paarmal gegen die Wand. Da gab der Vogel jeden weiteren Versuch aus, hereinzukommen. Anstatt dessen setzte er sich auf den Holzapfelbaum und schrie die ganze Nacht hindurch.

Drinnen im Hause war es ganz stumm und still, aber aus dem Lichtschein, der durch die Spalten der Fensterläden rieselte, merkte man, daß die Hausbewohner noch nicht zu Bett gegangen waren. Hin und wieder hörte man Lärmen und lautes Lachen, gleich darauf wurde es wieder totenstill.

Gegen elf Uhr nachts kam die alte Haushälterin des Gutshofs in den Flur hinaus, sie war völlig angekleidet und trug ihre schweren Schlüssel an der Seite, von denen sie sich weder Tag noch Nacht trennen konnte. Die schwere Türe war mit vier verschiedenen Schlössern versperrt, und es dauerte geraume Zeit, bis die alte Frau sie öffnen konnte. Sowie sie einen Spalt aufgebracht hatte, war der Wind schon zur Stelle, schwang sie sperrangelweit auf, warf der Haushälterin einen ganzen Regenschauer ins Gesicht und wirbelte unter den Strohmatten des Hausflurs herum, so daß sie sich krümmten wie die Schlangen.

Die alte Frau schloß die Tür hinter sich zu und wanderte in die Nacht hinaus. Sie ging sehr rasch, wie von einer großen Angst gejagt, und murmelte unaufhörlich: »Der Herr bewahre uns! Der Herr bewahre uns!«

Sie leuchtete sich mit einer Hornlaterne, aber sie war so ganz davon eingenommen an das zu denken, was sie erschreckte und ängstigte, daß sie sich das Licht gar nicht zunutze machte, sondern in Wasserpfützen hineintrat, die sie leicht hätte vermeiden können. Einmal ums andere kam sie in der Verwirrung von dem ausgetretenen Pfad ab, geriet auf den Graswall hinauf