Milan Turković

Was Musiker tagsüber tun

Wissenswertes und Amüsantes
aus der Welt der Musik

Überarbeitete und erweiterte Neuausgabe

www.kremayr-scheriau.at

ISBN 978-3-218-00975-1
Copyright © 2007/2015 by Buchverlage Kremayr & Scheriau/Orac, Wien
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Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

INHALTSVERZEICHNIS

Auftakt

Berufsbild und Sozialprestige

Wunderwerk Orchester

Dirigenten und Orchester

Wie entsteht eine CD?

Zauberkunst Jazz

Rock, Pop, Jazz und Klassik

Die feinen und weniger feinen Unterschiede

»Muzak« oder Abschreckung mit Beethoven

Gedanken zur allgegenwärtigen Musikberieselung

Musiker und Musikverlage

Ein vorprogrammierter Konflikt?

Komponisten und ihre Interpreten

Musiker auf Reisen

Aus dem Tagebuch eines Musik-Vagabunden

Konzertveranstalter

Die Helfer im Hintergrund

Geliebtes Publikum

Was tut man bei einer Panne?

… und andere häufige Fragen aus dem Publikum

Gedanken zum Musikstudium

Musik und Stress

Lobeshymnen und andere Musikkritiken

Musik und Politik

Haben wir »Klassiker« Humor?

Sport und Musik

Ausklang

Dank

Quellen und Literaturhinweise

Namenregister

»Zwar ist es leicht,
doch ist das Leichte schwer.«

Erich Kästner

AUFTAKT

»Sagen Sie, was tun Sie eigentlich tagsüber?« Diese Frage von Konzertbesuchern, in angeregtem Pausengespräch oder »après« an Musiker gerichtet, wurde schon immer als abgedroschener Musikerwitz gehandelt. Immer wenn die ominöse Frage ausgesprochen wird, leiten viele von uns daraus ein Recht ab, zynisch und abfällig zu reagieren. Ich meine, es gibt nichts Ungerechteres als Hochmut, selbst auf eine vordergründig so naiv klingende Frage. Zugegeben, ich habe, vor allem in den vielen Jahren meiner Orchestertätigkeit, oft die Geduld verloren, wenn derartige Gespräche massive Unkenntnis und auch ein gerüttelt Maß an Fehlinformation über den Musikerberuf zutage förderten. Inzwischen habe ich aber erkannt, dass es eigentlich keine bessere Bestätigung künstlerischer Hochleistungen geben kann als die Tatsache, dass die Anstrengungen, die dahinter stecken, von einem Teil des Publikums nicht bemerkt werden. Denn Musik – souverän und virtuos dargeboten – löst doch beim Zuhörer (und Zuschauer!) meistens das Gefühl von Leichtigkeit und Überlegenheit aus.

Christa Ludwig sagte in einem Interview* für eine Schallplattenzeitschrift Folgendes: »Meine Mutter hat immer gesagt: ›Was? Man sieht dir an, wie schwer es dir fällt? Dann hast du noch nicht genug gearbeitet.‹ Das Publikum muss den Eindruck haben, dass es einem leicht fällt, nach dem Motto: die singt ja nur …, denn Kunst soll ja im Grunde nicht schwitzen, sondern leicht sein.« Wenn also das »Schwitzen« der Musiker im Konzertsaal und alle Mühen, die dem Auftritt vorangehen, unbemerkt sein sollen, so sei dafür in diesem Buch einmal die Rede davon.

* Quellenhinweise am Ende des Buches

Kein Beruf ist ohne Anomalien und Missstände. Zuweilen muss ich deswegen »senza sordino«, also ohne Dämpfer, Kritik üben, um dieses Metier einigermaßen umfassend darzustellen. Ich nehme mir dabei das Recht eines deklariert subjektiven Zugangs.

Die anfangs zitierte triviale Frage nach unserer Tagesbeschäftigung war absichtlich als Einstieg gewählt. Damit darf ich mir den Weg öffnen zur Beweisführung meiner Behauptung, dass wir einen der unverstandensten und unverständlichsten Berufe der Welt haben. Zuvor sei aber die ominöse Frage: »Was tun Sie eigentlich tagsüber?« – auch wenn ich sie tatsächlich selbst oft gehört habe – besser wieder in die Lade alter Musikerscherze befördert. Ersatzweise könnte – um nicht überproportional großem Ernst zu verfallen – die nachfolgende Aussage Johann Nestroys als Leitsatz zu meinem Buch eingefügt werden: »Kunst ist, wenn man’s nicht kann, denn wenn man’s kann, ist’s keine Kunst.«

BERUFSBILD UND SOZIALPRESTIGE

Der weltberühmte Pianist gab im Auditorium einer großen Universität im Mittelwesten der USA einen zweistündigen Soloabend mit vier Hauptwerken der großen Klavierliteratur. Danach fand eine der beliebten »post concert parties« im Haus des gefeierten Leiters der universitären Herzchirurgie statt. Der Doktor ist nebenbei ein begabter Pianist. Nach einem opulenten »chicken-dinner« mit allerlei Salaten und einem saftigen Blueberry cheesecake nähert sich der Chirurg dem ermatteten Klaviertiger und sagt: »Sehen Sie im Musikzimmer nebenan meinen ganzen Stolz, meinen neuen Steinway-Flügel? Würden Sie, lieber Maestro, nicht gerne darauf ein Stück für uns spielen?« Darauf der Pianist: »Ich habe einen besseren Vorschlag: Nehmen Sie uns doch alle in die Küche mit, und führen Sie uns dort eine Bypass-Operation an einem Huhn vor!«

Was darf ich aus dieser Begebenheit schließen?* Doch zumindest, dass auch im Kreise von Musikkennern und -liebhabern die Einfühlung in die komplexe psychische und physische Verfassung eines professionell tätigen Künstlers nicht unbedingt gewährleistet sein muss. Und wer oft selbst auf Tournee war, weiß, dass diese Pianisten-Anekdote absolut typisch ist, auch wenn sie sich nicht immer auf derart charmante Weise abspielt. Seien wir aber auf niemanden böse: weder auf den Klavier spielenden Arzt noch auf den vermeintlich arrogant reagierenden Starsolisten! Der Doktor ist jedes Mal, wenn er selbst am Flügel sitzt, im siebenten Himmel.

* Es handelt sich um eine verbürgt wahre Begebenheit. Ihre Akteure nenne ich nicht, weil es mir – wie auch im weiteren Verlauf dieses Buches – bei solchen symptomatischen und überall möglichen Geschichten nicht darum geht, dass über jemanden, sondern über etwas gelacht werden kann.

Folglich meint er, das müsste nun auch auf seinen Gast zutreffen. Von einem erfolgreichen Künstler, dem man die Liebe zu seinem Metier anmerkt, nimmt man an, dass diese Liebe jederzeit abrufbar ist, da er ja – wie er sicherlich hin und wieder zu verstehen gibt – in seinem Beruf völlig »aufgeht«. Und in der Tat hat es immer wieder Musiker gegeben, die sich zu später Stunde im kleinen Kreis gerne produzierten: Von Vladimir Horowitz gibt es private Tonbänder, auf denen man ihn auf nächtlichen Festen grotesk komische Chansons singen und sich selbst begleiten und persiflieren hört. Aber wohlgemerkt: kein Schubert oder Chopin auf dem wohltönenden neuen Flügel eines begeisterten Fans! Wenn der Pianist Stefan Vladar als Alleinunterhalter in der legendären Broadway-Bar von Béla Koreny ans Klavier geht, so tut er das für uns, seine Freunde, und aus eigenem Antrieb. Und wer einmal den viel zu früh verstorbenen Klarinettisten Christian Cubasch von den Wiener Philharmonikern auf einem Fest erlebt hat, wird niemals die Lachsalven vergessen, die dieser als Alleinunterhalter buchstäblich eine ganze Nacht lang ausgelöst hat. Aber, nochmals sei betont: Er hat dabei keinen einzigen Ton auf der Klarinette gespielt. Auch der berühmte Fritz Kreisler hätte es nicht getan. Von ihm ist die folgende – unter Musikern oft zitierte – Anekdote überliefert: Nach einem seiner Konzerte wird Kreisler für den nächsten Abend zum Essen eingeladen. Der Gastgeber krönt sein Angebot mit der Frage: »Und werden Sie auch Ihre Violine mitbringen, Herr Kreisler?« Worauf dieser eisig lächelnd sagt: »Nein, danke, meine Violine isst nichts.« So viel zu den Missverständnissen zwischen Musikern und Laien.

Es sage aber niemand, das Prestige des Musikers müsse nur gegenüber den Nichtfachleuten verteidigt oder gar erst fabriziert werden! Wenn ich mich im Kollegenkreis umhöre, so stoße ich berufsintern auf die fantastischsten Szenarien der Hoch- oder Missachtung. Wie auch auf anderen Nervenstärke erfordernden Gebieten, rettet man sich bei uns am besten vor sich selbst, indem man sich zu der Überzeugung durcharbeitet, wichtiger zu sein als alle anderen. In dem köstlichen – leider nur auf italienisch erschienenen – Buch »Vademecum del pianista da camera« von Bruno Canino berichtet der großartige Pianist über Diskussionen in der Hochschule. Da ist die Rede von dem ewigen Problem, dass es zu viele Pianisten und zu wenige Auftrittsmöglichkeiten gibt. Eine Kollegin von einem anderen Instrument glaubt, die Sache folgendermaßen lösen zu können: »Es ist ganz einfach, diejenigen, die nicht so gut sind, die nicht so viel Talent haben, können noch immer Kammermusik machen.« So weit kann es also das herrliche Gebiet des denkbar feinsten musikalischen Dialogs bei so manchen »Fachleuten« bringen, wenn diese neidvoll auf das Prestige eines derart etablierten Instrumentes wie jenes des Klaviers blicken.

Wir dürfen also feststellen, dass es auch in unserem Metier selbstverliebte Meister der Unduldsamkeit gibt. Worüber ich jedoch so glücklich bin, ist die Tatsache, dass die Podien im Moment der Aufführung keinen geeigneten Platz für selbstgefällige Autismen bieten. Es sei denn, man kalkuliert ein künstlerisches Misslingen bewusst ein! Ich wage zu behaupten, dass wir damit im Gegensatz zu einer modernen Öffentlichkeit stehen: nämlich zu jenen Bereichen menschlicher Begegnungen, in denen der Ellbogen – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn – zu einem unverzichtbaren Instrument der Selbstbehauptung mutiert. Ein Musiker, der bei der Arbeit mit Ellbogentechniken agiert, mag ein großer Künstler sein. Er wird aber keine brauchbaren Resultate erzielen, solange er im Verein mit anderen musizieren soll.

Meine Gedanken zum Sozialprestige der Musiker im Publikum führen mich nun aber wieder auf ein häusliches Fest, und noch einmal ist der ganz junge und noch nicht sehr berühmte Fritz Kreisler der Protagonist: Die Besitzerin eines vornehmen, großen Hauses engagierte Kreisler, damit er für die Gäste eine halbe Stunde lang aufspiele. Nachdem er sich der Hausherrin vorgestellt hatte, fragte diese: »Mister Kreisler, wie hoch ist Ihr Honorar für einen solchen Anlass?« Er erwiderte: »Zweihundert Pfund, Madam.« »O. K.«, sagte sie und fügte hinzu: »Ach ja, was ich noch sagen wollte: Die Gäste treffen erst in zwanzig Minuten ein. Vielleicht könnten Sie inzwischen schon Ihr Dinner in der Küche einnehmen.« Daraufhin antwortete Kreisler schnell: »Wenn das so ist, dass ich in der Küche esse, dann kostet meine Mitwirkung nur fünfzig Pfund, Madam!«

Man meine nicht, eine Quasi-Leibeigenschaft, wie sie die Musiker im Kreis um Joseph Haydn zähneknirschend erduldeten, beziehungsweise wie sie Mozart aus dem Dunstkreis des Salzburger Erzbischofs vertrieb, gehöre zu den Anachronismen früherer Zeiten und sei heute undenkbar. Wahrscheinlich hätte Mozart weniger Empörung über das Essen in der Küche empfunden als Kreisler, denn auch sein Vorgesetzter in Salzburg, Graf Arco (der mit dem Fußtritt!), war nur ein Hofschranz, nämlich bezeichnenderweise »Oberküchenmeister«!

Das Erlebnis Fritz Kreislers wiederholt sich in mannigfacher Form und in aller Welt immer wieder. Vor allem dort, wo nicht verstanden wird, dass der Musiker heute als Akademiker angesehen werden muss und nicht eine »Elite des Dienstpersonals« ist. Wahrlich nicht überall ist klar, dass unsere Arbeit nicht nur im Bereich der Unterhaltung, sondern auch in der Kunst anzusiedeln ist. Wenn wir im Visaformular für Japan in der Spalte »profession« brav unser »musician« einsetzen, wird daraus im Visum mit bürokratischer Bosheit ein »entertainer«. Und wenn ich mich nun schon auf Reisen begeben habe, so setze ich gleich in die USA über. Die Vereinigten Staaten von Amerika kommen in meinen Betrachtungen ganz bewusst oft vor. Nicht nur, weil ich sie sehr gut kenne, sondern auch, weil gerade dort unser Sozialprestige als »Entertainer« noch immer traditionell niedrig ist. Ich habe das Glück, in einem Land zu leben, in dem das genaue Gegenteil der Fall ist. In Österreich, vor allem in Wien, gelten wir nicht nur als Aushängeschild der Nation, sondern sind auch in allen Gesellschaftsschichten (auch in denen, für die unsere Kunst uninteressant ist!) angesehen. Man ordnet unser Metier dem Begriff zu, der so grauenhaft ist wie viele der Politik entstammende Wortschöpfungen: Hochkultur.

Eine miserable Wortwahl! Denn damit wird allen, die noch keinen Zugang zu uns haben, suggeriert, dass unsere Kunst für sie unerreichbar, also zu hoch ist. Ich werde freilich nicht so naiv erscheinen wollen, das dahinter stehende feine politische Kalkül nicht durchschauen zu können. Glücklicherweise darf ein österreichischer Musiker beruhigt von philosophischen Grübeleien über dieses Thema absehen. Ich verweise auf mein Kapitel »Musik und Politik« und kann mich fortan an der Tatsache erfreuen, dass des Musikers Prestige hierzulande schwer zu mindern ist. Und wer es tut, schneidet sich damit ins patriotische Fleisch. Denn auf kaum einem anderen Gebiet können wir auf ähnliche Weltgeltung verweisen wie in der Musik. Unsere Landsleute danken uns dies, indem sie uns ein hohes Prestige in der Gesellschaft zugestehen. Und wir Musiker danken es nicht nur unseren Lehrern und Vorgängern, sondern vor allem Fux, Mozart, Haydn, Beethoven, Strauß (wohl nur den mit dem scharfen »ß« dürfen wir beanspruchen), Brahms (dem größten aller Gastarbeiter), Mahler, Schönberg und und und.

Ganz zuoberst in der Werteskala des gesellschaftlichen Prestiges stehen in Wien die Wiener Philharmoniker. Ihre Leistungen und ihr Ruhm bilden gemeinsam eine derart starke Kraft, dass alles andere, was in dieser Stadt musiziert, es schwer hat, zu ähnlichem Ansehen zu gelangen. Wäre nicht ihr weltweiter Bekanntheitsgrad – Stichwort Neujahrskonzert –, wer weiß, wie viel öfter man fern der Heimat Vienna buchstabieren und erklären müsste, warum es in Austria keine Känguruhs gibt. Diesen Status quo kann man freilich nicht immer und prinzipiell als gerecht ansehen. Denn als Musikmetropole ist Wien eine veritable Weltstadt. Sie besitzt drei internationale Spitzenorchester und sie bringt zusätzlich laufend große Künstler hervor, die jenseits der orchestralen Bereiche in aller Welt von sich reden machen.

Aber Tatsache bleibt, dass alles »Philharmonische« aus Wien mit Beständigkeit und mit Erfolg unangefochten die erste Position besetzt. Dies erklärt sich auch aus der geballten Ladung Musikgeschichte, die sich hier angehäuft hat. Das Archiv der Wiener Philharmoniker kann als ein Brennpunkt europäischer Musikgeschichte angesehen werden. Clemens Hellsberg dokumentiert dies in seinem Buch »Demokratie der Könige«. Dort wird die revolutionäre Idee, mitten im neunzehnten Jahrhundert ein professionelles Konzertorchester aus einem Opernbetrieb herauszuschälen, eindrucksvoll deutlich gemacht. Sehr ähnlich verliefen Entwicklungen in Berlin, Prag, Amsterdam, Budapest, London, Chicago, Boston und New York, um nur die berühmtesten zu nennen. Dennoch nehmen diese Konkurrenten trotz ihrer jeweiligen Position in ihren Städten selten einen mit dem der Wiener Philharmoniker vergleichbaren gesellschaftlichen Rang ein. Eine Tatsache, die etwa den Wiener Symphonikern zu allen Zeiten eine benachteiligte Ausgangsposition zumaß, ganz gleichgültig, wie sehr ihre Leistungen in Fachkreisen anerkannt wurden.

Am ehesten erscheint mir Berlin mit Wien vergleichbar. Dort kennt man auch den Begriff des »Philharmonikers« als »Titel«. Als ein Hornist des Orchesters in einer sehr edlen Gegend Berlins in einem gediegenen, A-Klasse-bewohnten Haus eine Wohnung erwerben wollte, wanderte zunächst die Frage, wer denn der »Neue« sei, durch die Hausflure. Ein Musiker, zumal ein Hornist, wird ja zuerst einmal bloß als eine potenzielle Lärmquelle eingestuft. Die Mitteilung, es handle sich um ein Mitglied des Berliner Philharmonischen Orchesters (heute »Berliner Philharmoniker«), löste allgemeine Zufriedenheit der Hausgemeinschaft aus. Nun konnte ich es mir nach dem Bericht meines Kollegen nicht verbeißen zu fragen, wie denn die Reaktionen gewesen wären, hätte er sich – als dieselbe Person mit seinem Horn und seiner Familie – als Angehöriger eines anderen Orchesters ausgewiesen. Er meinte darauf, dass er dann wohl nicht so spontan und herzlich in die Gemeinschaft aufgenommen worden wäre …

Und nun fällt mir ein lange zurückliegendes Gespräch mit einem exklusiven Wiener Wohnungsmakler ein. In Wien spricht man einander stets mit Titeln an. Und zwar auch dann, wenn keine echten vorhanden sind oder diese tatsächlich nur Berufsbezeichnungen sind.* Das dient in erster Linie der Bequemlichkeit, denn es erspart einem das Merken des Namens seines Gegenübers. Auch der Herr Makler wusste am Ende der Verhandlung meinen Namen offensichtlich nicht mehr. Er wollte aber das Geschäft machen und musste mich deshalb mit einer »todsicheren« Höflichkeit verabschieden. Zuerst schwang er die Hände in die Luft und stieß schließlich, in Erinnerung an meinen Beruf, die Formel: »Habe die Ehre, Herr Philharmoniker!« hervor.

* Genau genommen geht es hier um Ersatzhandlungen: 1918 wurde der Adel abgeschafft. Im Gegensatz zu Deutschland wurden jedoch nicht nur dessen Privilegien, sondern auch quasi Teile ihrer Namen kassiert. Schon deswegen waren Titel als Ersatz zu pflegen.

Gelegentlich fragt mich ein wohlmeinender Zuhörer, warum ich denn nie »zu den Philharmonikern gegangen« sei. Es bleibt dann oft unverstanden, warum dieses unendlich gut gemeinte Kompliment reserviert aufgenommen wird. Die Erklärung, ich hätte mich bei dem von mir sehr verehrten Orchester nie beworben, denn es gebe doch auch andere schöne Karrierewege, wird oft mit Staunen oder gar mit Misstrauen aufgenommen.

Andere Länder, ähnliche Sitten: Das japanische Konzertpublikum, mittlerweile so erfahren und wohltrainiert in westlicher klassischer Musik, dass es seine eigene Musiktradition fast vergessen hat, blickt mit höchsten Erwartungen auf jedes Gastspiel seiner Favoriten. Das sind absolut unbestritten und weit vor allen anderen »Wien Phil« und »Berlin Phil« (so die beinahe schon offiziellen dortigen Abkürzungen). Klar, dass die im Umfeld dieser Spitzenorchester agierenden Kammermusikgruppen von Haus aus das allerhöchste Ansehen genießen. Als Mitglied eines solchen – Wien und Berlin einschließenden – Ensembles genieße ich selbst diesen Vorteil. Alle anderen Gruppierungen, seien sie aus Europa oder aus den USA, können nur mit Mühe in Japan Fuß fassen und die riesigen Konzertsäle füllen. Unter dieser scheinbar unverrückbaren Tatsache leiden die »anderen« Orchester Wiens und Berlins. Dasselbe gilt für viele große Orchester Europas und der USA. Etwa das London Symphony Orchestra oder das Chicago Symphony Orchestra. Dabei ist Letzteres gerade im amerikanischen Musikleben, aber natürlich auch in den meisten europäischen Ländern, eine allererste Adresse.

Als der Concentus Musicus Wien vor vielen Jahren in einer kalifornischen Musikkritik als »Chicago Symphony der Alten Musik« bezeichnet wurde, da wussten wir uns im Ansehen innerhalb der USA in der absoluten Oberliga etabliert.

Für die Berühmtheit des Chicago Symphony Orchestra gibt es auch andere Beweise: Ein eher mürrischer »immigration officer« auf dem Flughafen O’Hare in Chicago hatte gerade gelangweilt mein Arbeitsvisum bearbeitet. Auf die Frage, was meine genaue Beschäftigung hier sein würde, sagte ich: »Solist des CSO.« Daraufhin wich seine Langweile einer höchst intensiven Neugierde. Trotz der langen Warteschlange hinter mir verfiel er in ein angeregtes Gespräch. Während ich mit Blick auf die hinter mir stehenden, müden Mitreisenden möglichst einsilbig reagierte, erzählte er mir ausführlich, welche Geigen-, Klavier- und Gesangssolisten des Chicago Symphony er schon an seinem Schalter gehabt habe. Und er entließ mich mit einem wohlwollenden: »You are in great company, sir, good luck!«

Solche Erlebnisse sind üblicherweise Wien-typisch. Hier gibt es immer wieder Situationen, die des Musikers hohes Ansehen in der Gesellschaft auf besonders liebenswürdige Weise bestätigen. Ich denke beispielsweise an einen Besuch auf dem Telefonamt in den siebziger Jahren, als unser Telefonnetz noch den Standard eines besseren Entwicklungslandes hatte. Ich wollte mein »Vierteltelefon«, ein unsäglich rückständiges Relikt aus der Nachkriegszeit, gegen einen Einzelanschluss tauschen. Der Beamte beschied mir kurz und bündig: »Des geht net, wir haben nur zwei freie Leitungen im Bezirk, und die sind für Ärzte reserviert.« Ich sagte, ich würde ihn dennoch um eine Überprüfung der Situation bitten. Ich müsse nämlich wegen meiner Tätigkeit als Musiker mit vielen Telefonaten mit Agenturen und … Er unterbrach mich beim Wort »Musiker« und sagte: »Welche Nummer wollen Sie, 73 64 11 oder 73 …«

WUNDERWERK ORCHESTER

Die »Freischütz«-Ouvertüre von C. M. von Weber beginnt mit einem aus dem Nichts kommenden und bedrohlich anschwellenden Einklangs-»c« aller Streicher und Holzbläser, außer den Flöten. Leise zu spielen ist auf jedem Instrument schwer. Mit vielen anderen gemeinsam leise zu spielen ist noch viel schwieriger. Zusätzlich »auf den Punkt« genau zusammen einzusetzen ist eine Kunst für sich. Carlos Kleiber gab einmal bei solcher Gelegenheit in der Probe den Rat: »Lassen Sie doch den Kollegen zuerst beginnen!« Diese Methode des Einsatzes nennen wir in Wien »hineinschleichen«, eine Technik, die von erstklassigen Orchestermusikern so perfekt beherrscht wird, dass die Zuhörer den Eindruck eines völlig gemeinsamen Einsatzes »aus dem Nichts« gewinnen.

Beim Beginn des »Freischütz« funktioniert der Trick. Nicht jedoch etwa bei den Bläsereinsätzen der Einleitung von Gustav Mahlers erster Symphonie: Hier ist jeder Einstieg, der nicht punktgenau erfolgt, so gut wie verpatzt.

An diesen Beispielen erkennen wir die absolute Einzigartigkeit und Unvergleichlichkeit des Orchesterberufes. Mir fiel während der gesamten Arbeit an diesem Buch – abgesehen von den verwandten Metiers Ballett und Chor – keine andere Tätigkeit ein, bei der vierzig, achtzig oder einhundertfünfundzwanzig Menschen auf Zehntelsekunden genau gemeinsam etwas tun, beginnen oder beenden müssen! Dass die Qualität dieses »Etwas« noch zusätzlich von der Übereinstimmung des Ansatzes, der Klangfarbe und der perfekten Intonations-Kongruenz abhängt, sollte vollends beweisen können, dass wir es hier mit einem Metier zu tun haben, das im Prinzip eigentlich »unmöglich« ist, weil es vielen Elementen des menschlichen Naturells widerspricht. Ich wage diese Behauptung angesichts der Beobachtung, dass gerade die großen und besonders perfekten Orchester Ansammlungen extrem individualistischer Typen sind. Hinzu kommt, dass Unterschiede der Bildung, der sozialen Herkunft und des Lebensverlaufs für die Aufnahme in den Orchesterverband weniger relevant sind als in anderen Berufen. Die Leistungsfähigkeit mit dem Instrument ist der entscheidende Faktor.

Somit haben wir also den folgenden Widerspruch vor uns: Eine prinzipiell heterogen zusammengesetzte Schar von Frauen und Männern unterschiedlichster Herkunft vollführt auf Zeichen des Dirigenten eine Tätigkeit, bei der von jedem Einzelnen totale Unterordnung bei gleichzeitig hundertprozentigem seelischem und körperlichem Einsatz erwartet wird. Wenn dann das Spiel des Orchesters wie eine geölte Maschine läuft, sagt man so gerne: »Sie spielten wie ein Mann!« (Ich zitiere bloß einen etablierten Ausspruch, dessen emanzipatorisches Defizit mir klar ist.)

Wie viel persönliche Selbstaufgabe im Kollektiv bei gleichzeitigem Zwang zur höchsten Motivation – vor allem im Bereich der Stimmführer – erforderlich ist, kann dem Außenstehenden schwerlich im Detail vermittelt werden. Autoren, die in Büchern über das Thema »Orchester« nachgedacht haben, konnten zwangsläufig das, was unausgesprochen und unaussprechbar über dem Konzertpodium schwebt, nur mangelhaft vermitteln. André Previns einschlägiger Versuch behalf sich mit Beiträgen zahlreicher Musiker, deren niedergeschriebene Selbstgespräche ein ziemlich buntes und informatives Panorama ihrer Berufssphäre vermitteln. Was die Funktionsmechanismen eines Orchesters wirklich ausmacht, wird aber dem Leser auch dort nicht klar.

So gesehen ist es auch kein Wunder, dass sogar Kommunikations-Spezialisten scheitern, wenn sie dazu angehalten werden, ein Orchesterkollektiv zu definieren. Das Tonhalle Orchester Zürich veranstaltete einmal »Kommunikations-Tage« Die eingeladenen Spezialisten, trainiert im Umgang mit Firmenmitarbeitern aller Kategorien, stellten ratlos fest, dass die Uhren in einem Orchester vergleichslos anders laufen als in den ihnen vertrauten Berufen. Sie waren etwa erstaunt, dass es gar nicht möglich sein kann, dass Meinungen über die Interpretation oder Stricharten bei den Streicher-Gruppen laufend nach vorne »geschickt« werden, weil sonst der ganze Apparat blockiert wäre. Wenn ich von Bekannten gefragt werde, was denn nun das Ungewöhnliche und so besonders Komplexe am Zusammenwirken von Orchestermusikern sei, so ziehe ich folgenden Vergleich heran:

Versuchen Sie einmal, etwa nur zu dritt einen Text so gemeinsam zu rezitieren, dass alle drei Personen wie eine klingen, wobei auch Tonfall, Tonhöhe und Aussprache vollkommen einheitlich sein müssen. Natürlich wird dies ohne Übung vollkommen misslingen, denn Sie sind ja – wahrscheinlich – darin keine Profis. Aufmerksame Theaterbesucher werden aber sicherlich des Öfteren bemerkt haben, wie sehr sich sogar erfahrenste Schauspieler plagen, wenn sie einen Sprechchor absolvieren. Das kleinste Hervorstechen einer Stimme, das ein wenig zu stark gerollte »r« eines Einzelnen gefährdet bereits die Homogenität des Klanges. Am Beginn der vorhin zitierten ersten Symphonie von Mahler sind es nun nicht drei oder acht Sprecher, sondern ein »Chor« von Violinen, die einen unangenehm hoch liegenden Ton im Einklang und in vollkommener Homogenität ansetzen müssen!

So gesehen dürfte es verständlich sein, dass die Mitglieder eines Orchesters ungeachtet ihrer persönlichen Haltung zueinander in fast allen Situationen aufeinander angewiesen sind. Das ist so wie bei einer riesigen Seilschaft auf einem Berg. Diese merkwürdige Konstellation ist auch der Grund dafür, dass es sich hier nicht nur um einen sehr disziplinierten, sondern auch besonders pünktlichen Berufsstand handelt. Eine Probe zu Brahms erster Symphonie kann nicht ohne das dritte Horn beginnen. Ich wage die Behauptung, dass in wenigen anderen Berufen pünktliches Erscheinen so selbstverständlich ist wie in diesem. Freilich gilt das nicht nur für Orchester, denn was kann schon ein Streichquartett ohne zweite Geige, außer Kaffee trinken gehen … Die »Seilschaft« ist natürlich in der Kammermusik eine unverzichtbare Minimalforderung. Aber auch die harte Orchesterschule schmiedet das äußerste Pflichtbewusstsein der Musiker. Ein solcher war der unvergleichliche, früh verstorbene Konzertmeister der Wiener Philharmoniker, Gerhart Hetzel. Er hat beispielsweise das Ensemble Wien–Berlin bei einer CD-Aufnahme auch dann nicht im Stich gelassen, als er an einer schweren Lungenentzündung erkrankt war.

Wenn wir die Tatsache akzeptieren, dass im Orchester eine höchst heterogene Menschenansammlung mit einer Aufgabe betraut ist, in der Homogenität die Hauptforderung ist, so müssen wir fragen, ob denn alle hochbegabten und profilierten Musiker für das Zusammenspiel geeignet sind. Im Kapitel über das Musikstudium werde ich das Grundproblem der Heranbildung von Orchestermusikern noch ansprechen. Die Wegweiser in Richtung Zusammenspiel müssen frühzeitig aufgestellt werden. Dann ist bereits ein junger Instrumentalist in der Lage, sich in das Kollektiv einzufügen, ohne gleichzeitig seine individuelle Künstlerpersönlichkeit im Stimmzimmer deponieren zu müssen. Es sei aber nicht verschwiegen, dass es immer wieder Engagements gibt, die sich in der Alltagspraxis als verfehlt erweisen. So ist es durchaus kein Einzelfall gewesen, dass ein Orchester einen phänomenalen Geigenvirtuosen als Konzertmeister verpflichtete und mit ihm ein totales Fiasko erlitt, weil er sich in keiner Phase der Arbeit klanglich und rhythmisch einfügen konnte. Und dies, wohlgemerkt, obwohl seine menschlichen Qualitäten und seine Bestrebungen der geforderten Integration nicht im Wege standen.

Was sind denn eigentlich die Aufgaben und Machtbereiche des Konzertmeisters? Ich habe zur Präzisierung meiner Antwort zwei Freunde aus der orchestralen Spitzenliga interviewt und möchte diese Gespräche in Auszügen wiedergeben. Mein erster Gesprächspartner war Joseph Silverstein, langjähriger Konzertmeister des Boston Symphony Orchestra und nunmehr erfolgreicher Dirigent und Kammermusiker. Ich arbeite mit ihm bei der Chamber Music Society of Lincoln Center zusammen.

Milan Turković: Jeder Mensch begreift, was die Aufgabe eines Flugzeugpiloten ist. Aber wer versteht die Verpflichtungen eines Konzertmeisters?

Joseph Silverstein: Sie sind bei verschiedenen Orchestern und Dirigenten unterschiedlich. Wenn der Dirigent selbst ein Streicher war oder ist, oder wenn er die Technik der Streichinstrumente gut kennt, dann sind unsere Aufgaben viel einfacher. Unter normalen Umständen ist es die Aufgabe des Konzertmeisters, die Wünsche des Dirigenten so in die »Sprache« der Gruppe zu »übersetzen«, dass ein einheitliches stilistisches Resultat entsteht.

M. T.: Und was ist mit den Bläsern?

J. S.: Einer Übereinstimmung des Zusammenspiels steht oft die akustische Barriere der Sitzanordnung auf dem Podium im Wege. Deshalb ist es oft unsere Aufgabe, für die Koordination von Zusammenspiel, Artikulation etc. zu sorgen.

M. T.: Um beim Vergleich mit dem Fliegen zu bleiben: Ist der Konzertmeister nun ein Kapitän oder ein Kopilot?

J. S.: Ein Kopilot oder so etwas wie der einst im Cockpit benötigte Navigationsoffizier.

M. T.: Erich Leinsdorf hat den Dirigenten »the composer’s advocat« (den Anwalt des Komponisten) genannt. Wessen Anwalt ist denn der Konzertmeister?

J. S.: Aufgrund konzentrierter Reaktionen auf die Anweisungen im Notentext und die Gesten des Dirigenten wird er ein Anwalt der speziellen Aufführung. Mit anderen Worten, der Konzertmeister vertritt sowohl die Standards des Orchesters als auch die Intentionen des Dirigenten.

M. T.: Wie würdest du die Entscheidung über die Stricharten (Anm.: gemeinsame Bogenführung) Nichtmusikern erklären?

J. S.: Die Spitzenorchester zeichnen sich durch die optisch leicht erkennbare gemeinsame und präzise Führung der Bögen in den Streichergruppen aus. Die Entscheidungen über die Striche (Anm.: Auf- bzw. Abstrich) und über die Intensität bzw. Bogenlänge, die beim einzelnen Strich verwendet wird, hat maßgeblichen Einfluss auf den Klang und das Zusammenspiel. Wenn der Dirigent die Bogenstriche nicht vor den Proben im Material eingetragen hat, entscheidet gewöhnlich der Konzertmeister darüber.

M. T.: Wenn Dirigenten das Material ihres Orchesters mitbringen und die dort befindlichen Stricharten den Traditionen deines Orchesters nicht liegen …?

J. S.: Ich war immer glücklich, solche Notenmaterialien zu sehen, denn sie gaben mir unverzüglich einen tiefen Einblick in die Intentionen dieses Dirigenten. Im Übrigen sind die meisten guten Streicher sehr flexibel und ist es auch die Aufgabe des Konzertmeisters, ein guter Gastgeber für die Ideen des Dirigenten zu sein. Nur in wenigen Fällen habe ich um eine Änderung dieser Eintragungen gebeten.

M. T.: Als Bläser fand ich es während meiner Orchester-Jahre immer schrecklich schwer, die Anweisungen zu befolgen, wenn sie mir total unlogisch erschienen. Der Konzertmeister ist da noch mehr ausgeliefert.

J. S.: Ich habe in solchen Fällen immer versucht, mein Bestes zu geben und habe gehofft, mit demjenigen nicht wieder zu spielen …

M. T.: Welche Erinnerungen bleiben nach 29 Jahren Boston Symphony besonders im Gedächtnis?

J. S.: Beispielsweise die Schallplattenaufnahme des d-Moll-Konzertes von Brahms mit Rubinstein.

M. T.: Wenn ich an seine Memoiren denke, muss ich fragen: War er – abgesehen von seiner Genialität als Künstler und Instrumentalist – genügend vorbereitet?

J. S.: Wir hatten das Stück mit ihm nie vorher gespielt. Dennoch wollte er, anstatt zu proben, sofort mit der Aufnahme beginnen! Und sein Spiel war so inspirierend und perfekt, dass wir nur ganz wenige Korrekturen machen mussten und das dreiviertelstündige Stück in drei Stunden aufgenommen und abgehört hatten. Wir haben auch mit Jascha Heifetz Aufnahmen gemacht. Jeder Take von ihm war wundervoll. Sämtliche Korrekturen machten wir ausschließlich wegen Fehlern im Orchester. Bei der ganzen Sache war er stets vollkommen kühl und zeigte nie den leisesten Anflug von Humor.

M. T.: Hast du aus Boston auch etwas Heiteres mitgenommen?

J. S.: Ein älterer Dirigent verlor während des Konzertes den Stab. Der fiel in den Orchestergraben. Der Mann ging hinunter, um den Stab wiederzuerlangen. Er fand ihn, schaffte es aber nicht mehr zurück auf das Podium. Alles, was das Publikum nun von ihm zu sehen bekam, war ein hoch in die Luft gestreckter, wehender Dirigierstab …

Als Nächsten befragte ich Rainer Kussmaul, viele Jahre lang als Konzertmeister der Berliner Philharmoniker tätig, ein Solist und Kammermusiker allerhöchsten Ranges. Seine Aussagen über die Orchesterarbeit deckten sich im Wesentlichen mit denen Joseph Silversteins. Etwas differenzierter reagierte er auf Fragen bezüglich seiner Position innerhalb seiner Gruppe.

Milan Turković: Was bist du innerhalb des Orchesters?

Rainer Kussmaul: Der Erste unter den Streichern, der die Grundrichtung vorzugeben hat.

M. T.: Wie wird generell über Stricharten entschieden?

R. K.: Es geht prinzipiell um zwei Ziele: erstens um Lösungen, die allen von uns gut liegen. Also geht es um praktikable Lösungen. Es ist wie im Fußball: Wie der Ball ins Netz geht, ist egal! Und zweitens sollen alle Beteiligten musikalisch überzeugt sein.

M. T.: Wann ist ein Konzert der Berliner Philharmoniker besonders beglückend für dich als Konzertmeister gewesen?

R. K.: Wenn es so ist, als spielte eine große Anzahl von Streichquartetten und Kammermusik-Ensembles zusammen.

Eine dem Konzertmeister ähnliche Funktion nehmen die Stimmführer der anderen Streichergruppen sowie die Solobläser ein. Sie sorgen für Ordnung in ihrem Register, kümmern sich aber auch um das Zusammenspiel mit anderen Gruppen, indem sie beispielsweise einander optische Einsätze geben, um die Probleme räumlicher und akustischer Distanzen auszugleichen. Das Gefühl, welches man dafür benötigt, ist schwer beschreibbar, wie es auch nur bedingt erlernbar ist. Nikolaus Harnoncourt definiert es bildhaft, wenn er an einem etwas freier gespielten Übergang bittet, »die Radarantennen auszufahren«. Blickkontakt ist hier eine wesentliche Ergänzung des Zuhörens. Dabei sieht man sich nicht direkt an. Oft genügt es, die Spitze des Bogens des Konzertmeisters oder die Finger eines Flötisten aus dem Augenwinkel zu beobachten. »Im Schlaf«, wie man gelegentlich liest, oder »traumwandlerisch sicher« kann kein Zusammenspiel mehrerer Musiker ohne besondere Anstrengungen in verschiedenster Hinsicht ablaufen. Höchstens – und diese Anmerkung erlaube ich mir nur mit anekdotischem Augenzwinkern – wenn eine Gruppe ein Musical zehn Monate lang Abend für Abend abschnurren lässt … Eine New Yorker Kollegin, die am Broadway davon lebt und eine begeisterte Leseratte ist, gibt zu, während jeder Vorstellung ein halbes Taschenbuch genüsslich zu lesen, auch während sie spielt …