Selma Lagerlöf

Eine Herrenhofsage

Aus:
»In Freien Stunden«
Eine Wochenschrift

Romane und Erzählungen für das arbeitende Volk.

Elfter Jahrgang. 2. Halbjahresband.

Berlin 1907.

Verlag:
Buchhandlung Vorwärts, Berlin SW.

(Ernst Preczang, Zingst.)

Verantwortlicher Redakteur:
E. Preczang, Zingst.

Verlag:
Buchhandlung Vorwärts, Berlin.

Druck:
Vorwärts Buchdruckerei und Verlagsanstalt

Erstes Kapitel.

Es war ein schöner Herbsttag Ende der dreißiger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts. Zu jener Zeit stand in Upsala ein hohes, gelbes, einstöckiges Haus merkwürdig einsam draußen vor der Stadt auf einer kleinen Wiese. Es war eigentlich ein häßliches, wenig einladendes Haus, aber es wurde verschönt durch eine Fülle von wildem Wein, der daran hinaufwuchs und auf der Sonnenseite an der gelben Mauer so hoch hinaufkletterte, daß er um die drei Fenster im oberen Stockwerk einen dichten Rahmen bildete.

In einem Zimmer hinter einem dieser von Ranken umsponnenen Fenster saß ein Student und trank seinen Morgenkaffee. Er war ein hübscher, großer Mensch von feinem Aussehen. Sein lockiges Haar war von der Stirne keck zurückgestrichen und eine Locke fiel ihm immer wieder auf die Stirne herein. Er trug einen bequemen, losen Anzug, war aber doch ziemlich elegant.

In seinem Zimmer war es sehr hübsch; es gab ein gutes Sofa und gepolsterte Stühle, einen großen Schreibtisch und prächtige Bücherbretter, aber fast keine Bücher.

«Der junge Herr war mit seinem Kaffee noch nicht fertig, als ein Student bei ihm eintrat. Dieser war von ganz anderem Schlag, ein kleiner, breitschulteriger Mensch, untersetzt und kräftig, häßlich, mit einem großen Gesicht, dünnem Haar und grober Haut.

»Du, Hede,« sagte er, »ich komme, um ein ernstes Wort mit Dir zu sprechen.«

»Ist Dir etwas Unangenehmes passiert?«

»O nein, durchaus nicht,« sagte der andere. »Es handelt sich eher um Dich.« Er schwieg eine Weile und sah vor sich hin. »Es ist verdammt widerwärtig, es zu sagen.«

»Dann schweige,« schlug Hede vor. Bei dem feierlichen Ernst des anderen war es ihm ganz lächerlich zu Mute geworden.

»Das kann ich eben nicht länger,« sagte der Gast. »Ich hätte schon lange sprechen sollen, aber es paßt sich so wenig für mich, verstehst Du? Ich kann den Gedanken nicht los werden, daß Du im Stillen sagen könntest: Sieh da, der Gustav Alin, er ist der Sohn eines unserer Häusler und denkt nun, er sei so groß geworden, daß er mich hofmeistern könne.«

»Aber, liebster Alin, glaube doch ja nicht, daß ich so etwas denken würde! Mein Großvater war doch ein Bauernsohn.«

»Ja, aber daran denkt jetzt niemand mehr,« sagte Alin. Schwerfällig und unbeholfen saß er vor Hede und fiel mit jedem Augenblick mehr in seine bäuerische Manier zurück, gleich als ob ihm das aus seiner Verlegenheit helfen könnte.

»Siehst Du, wenn ich bedenke, welch ein Unterschied zwischen Deiner und meiner Familie ist, dann ist es mir, als sollte ich schweigen, wenn es mir dann aber einfällt, daß es Dein Vater war, der mir seinerzeit zum Studieren verhalf, dann fühle ich, daß ich reden muß.«

Mit einem schönen Ausdruck in den Augen betrachtete ihn Hede.

»Sprich nur,« sagte er, »damit Du Deine Sorge los wirst.«

»Ja, siehst Du,« sprach Alin wieder, »ich habe gehört, daß Du nichts arbeitest. Es heißt, Du habest in den vier Semestern, die Du nun auf der Universität bist, kaum ein Buch aufgemacht. Tu tust nichts weiter, als den lieben langen Tag auf der Geige spielen, und das kommt mir gar nicht unglaublich vor, denn Du tatest ja auch früher schon, als Du noch auf der Schule in Falun warst, nichts anderes, obgleich Du damals gezwungen warst, zu arbeiten.«

Hede richtete sich ein wenig steif auf in seinem Stuhl. Alin fühlte sich immer unglücklicher, aber mit zäher Entschlossenheit fuhr er fort:

»Du denkst wahrscheinlich, wer einen Hof besitze wie Munkhyttan, der dürfe tun, was ihm beliebe, er dürfe arbeiten, wenn er wolle, und es lassen, wenn er wolle. Macht er ein Examen, ist es gut, macht er keins, ist es beinahe ebensogut; denn Du willst ja jedenfalls doch nichts anderes werden als ein Gutsherr und Dein ganzes Leben lang auf Munkhyttan verbringen. Ja, ich begreife recht wohl, daß Du so denkst.«

Hede schwieg, und Alin schien er diesem Augenblick von derselben Mauer von Vornehmheit umgeben, die in Alins Augen seinen Vater, den Herrn Bergrat, und die Frau Bergrätin, seine Mutter, immer umgeben hatte.

»Aber, siehst Du, Munkhyttan ist nicht mehr dasselbe Gut wie früher, wo die Eisengrube noch reiche Ausbeute gab,« fuhr er vorsichtig fort. »Das wußte der Herr Bergrat auch recht gut, und deshalb bestimmte er vor seinem Tod, daß Du studieren solltest. Die Frau Bergrätin weiß es auch, die Aermste, und das ganze Kirchspiel weiß es. Der einzige, der nichts davon weiß, bist Du, Hede.«

»Meinst Du, ich wüßte nicht, daß die Eisengrube erschöpft ist?« sagte Hede ein wenig gereizt.

»Ach nein,« sagte Alin, »das weißt Du natürlich, aber was Du nicht weißt, ist, daß es mit Eurem ganzen Besitztum vollständig aus ist. Denke selbst darüber nach, dann wirst Du einsehen, daß man drüben in Westdalarne nicht vom Ackerbau allein leben kann. Ich begreife nicht, warum die Frau Bergrat Dir das verheimlicht hat. Aber sie hat mit Deinem Vater in Gütergemeinschaft gelebt, und deshalb braucht sie Dich in nichts um Rat zu fragen. Daheim aber weiß jedermann, daß es ihr recht knapp geht. Es heißt, sie fahre herum, um Gelder aufzunehmen. Sie hat Dich wohl mit ihren Sorgen nicht bekümmern wollen, sondern gedacht, sie wolle alles wie bisher im Gang erhalten, bis Du Dein Examen gemacht hättest, denn sie will das Gut nicht verkaufen, bis Du ausstudiert und ein neues Heim hast.«

Hede sprang auf und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor Alin stehen.

»Aber Mensch! Was fällt Dir denn ein! Du willst mir ja weismachen, daß wir nicht reich seien!«

»Ich weiß wohl, daß Ihr bis vor kurzem für reich gehalten worden seid,« sagte Alin. »Aber Du begreifst doch wohl, daß es nicht reichen kann, wenn man nur immer ausgibt und nichts einnimmt. Als Ihr die Grube hattet, da war es etwas anderes.«

Hede setzte sich wieder.

Meine Mutter würde es mir doch gewiß mitgeteilt haben,« sagte er. »Ich bin Dir dankbar, Alin, aber Du hast Dich von einem leeren Gerede erschrecken lassen.«

»Ja, ich dachte es mir doch, daß Du nichts wüßtest,« sagte Alin eigensinnig. »Daheim auf Munkhyttan spart und arbeitet Deine Mutter, um Dir Geld nach Upsala schicken und es Dir in den Ferien daheim angenehm und behaglich machen zu können. Indessen aber lebst Du hier sorglos in den Tag hinein und tust nichts, weil Du nicht weißt, daß Gefahr im Anzuge ist. Ich konnte es nicht länger mit ansehen, wie Ihr beide Euch gegenseitig betrügt. Die gnädige Frau glaubt, Du studierst, und Du glaubst, sie sei reich. Nein, ich konnte es nicht länger mit ansehen, wie Du Dir Deine Zukunft zerstörst, ohne daß ich etwas sagte.«

Hede schwieg eine Weile und überlegte. Dann stand er auf und reichte Alin mit einem betrübten Lächeln die Hand.

»Ja, ich verstehe, daß Du die Wahrheit gesprochen hast, wenn ich Dir auch nicht glauben will. Ich danke Dir.«

Freudestrahlend schüttelte ihm Alin die Hand.

»O Hede, nichts ist verloren, wenn Du nur arbeitest! Mit Deinem Kopf kannst Du mit sieben bis acht Semestern fertig werden.«

Hede richtete sich auf. »Sei ganz ruhig, Alin,« sagte er, »ich werde jetzt sehr fleißig sein.«

Alin stand auf und ging nach der Tür, aber sehr zögernd. Ehe er sie erreicht hatte, wandte er sich wieder um, indem er sagte:

»Ich hatte auch noch ein anderes Anliegen.« Er wurde wieder unendlich verlegen. »Ich möchte Dich bitten, mir Deine Geige zu leihen, bis Du mit dem Studium ordentlich im Zuge bist.«

»Dir meine Geige zu leihen?«

»Ja, wickele sie in das seidene Tuch ein, lege sie in das Futteral und laß mich sie mitnehmen, sonst wird aus Deinem Studieren doch nichts. Ehe ich zur Türe hinaus wäre, würdest Du wieder zu spielen anfangen. Du bist nun so daran gewöhnt, daß Du der Lust nicht widerstehen könntest, wenn Du die Geige hier hättest, so etwas kann man nicht überwinden, wenn einem nicht jemand dazu hilft. Es raubt einem die Willenskraft.«

Hede wurde unwillig.

»Es ist ja Wahnsinn,« sagte er.

»Nein, es ist durchaus kein Wahnsinn. Du weißt wohl, daß Du es von Deinem Vater geerbt hast, das Musizieren liegt Dir im Blut. Und seit Du hier in Upsala Dein eigener Herr bist, hast Du nichts anderes getan. Du wohnst ja auch nur deshalb so weit hier draußen, um niemand durch Dein Spiel zu stören. In dieser Sache kannst Du Dir nicht selbst helfen. Laß mich die Geige also mitnehmen!«

»Ja, früher konnte ich allerdings das Geigen nicht lassen,« meinte Hede. »Aber jetzt gilt es Munkhyttan, ich liebe meine Heimat mehr als meine Geige.«

Aber Alin war ebenso eigensinnig und bat immer wieder um die Geige.

»Was würde es nützen?« sagte Hede. »Wenn ich spielen will, brauche ich nicht viele Schritte zu machen, um mir eine andere Geige zu borgen.«

»Das weiß ich wohl,« sagte Alm, »aber ich glaube nicht, daß Dir eine andere Geige so gefährlich ist. Die alte italienische Geige hier, sie ist die größte Gefahr für Dich. Und außerdem möchte ich Dir auch noch vorschlagen, Dich während der ersten Tage einschließen zu lassen. Nur, bis Du ordentlich im Zuge bist.«

Alin bat und bat, aber Hede wehrte sich dagegen. Auf so etwas Unvernünftiges wie Stubenarrest wollte er sich nicht einlassen. Da wurde Alin feuerrot.

»Ich muß die Geige haben, sonst nützt alles nichts« sagte er eifrig und erregt. »Ich hatte die Absicht, nichts davon zu sagen, aber ich weiß, daß es sich für Dich um mehr handelt als nur um Munkhyttan. Im vorigen Frühjahr sah ich hier auf dem Promotionsball ein junges Mädchen, von dem man sagte, daß es mit Dir verlobt sei. Nun, ich tanze ja nicht, aber ich hatte meine Freude daran, als ich sah, wie sie im Tanze dahinflog und strahlte und leuchtete wie eine Lilie des Feldes. Und als ich hörte, daß sie mit Dir verlobt sei, tat sie mir leid.«

»Leid, warum?«

»Ach, ich wußte ja, daß nichts aus Dir werden würde, wenn Du so fortmachtest, wie Du begonnen hattest. Und da habe ich geschworen, daß das Kind nicht sein ganzes Leben lang auf einen warten soll, der niemals kommt. Sie soll nicht übrig bleiben und hinwelken, während sie auf Dich wartet. Ich will sie nicht in einigen Jahren mit spitzigen Zügen und tiefen Linien um den Mund wiederfinden.«

Er unterbrach sich. Hedes Blick hatte merkwürdig forschend auf ihm geruht.

Aber Gunnar Hede hatte verstanden, daß Alin seine Auserwählte liebte. Es rührte ihn tief, daß dieser unter solchen Verhältnissen ihn retten wollte, und unter dem Einfluß dieses Gefühls gab er nach und überließ dem Freund die Geige.

Als Alin gegangen war, studierte Hede eine Stunde lang wie ein Verzweifelter, dann aber warf er das Buch weg. Ja, das verlohnte sich, das Studieren! In drei bis vier Jahren würde er fertig sein, aber wer konnte ihm dafür einstehen, daß das Gut währenddem nicht verkauft werden mußte!

Beinahe mit Schrecken empfand er, wie sehr er den alten Hof liebte. Es war wie ein Bann; jedes Zimmer, jeder Baum tauchte vor ihm auf. Nichts von allem konnte er entbehren, wenn er sich glücklich fühlen sollte.

Und da sollte er ruhig bei den Büchern sitzen, während es nahe daran war, ihm verloren zu gehen!

Mit jeder Minute wurde er unruhiger; er fühlte das Blut wie im Fieber an seine Schläfe pochen. Und dann war er ganz verzweifelt, daß er nicht nach der Geige greifen und sich zur Ruh' spielen konnte.

»Lieber Gott!« rief er. »Dieser Alin macht mich schließlich noch verrückt. Zuerst bringt er mir eine solche Nachricht, und dann nimmt er mir meine Geige!«

»Ein Mensch wie ich muß in Freud und Leid einen Bogen zwischen den Fingern fühlen! Ich muß etwas tun, ich muß Geld schaffen, aber ich habe keinen Gedanken im Kopf; ohne Geige kann ich nicht denken!«

Hede war wütend darüber, daß er eingesperrt und auf seine Bücher angewiesen war. Es war ja Wahnsinn, ein langsames Studium fertig zu machen, während er doch Geld brauchte, Geld, Geld, Geld!

Das Gefühl, eingesperrt zu sein, wurde ihm unerträglich. Er war so böse auf Alin, der diese Torheit ausgedacht hatte, daß er fürchtete, er werde sich an ihm vergreifen, wenn er wiederkam.

Ja, freilich hätte er gespielt, wenn er die Geige gehabt hätte, aber das war es auch, was er brauchte! Sein Blut kochte ja vor lauter Erregung, so daß er wirklich nahe daran war, wahnsinnig zu werden – – –

Gerade als Hede sich am allermeisten nach seiner Geige sehnte, kam ein herumziehender Spielmann vorbei, und begann drunten im Hof zu geigen, – Es war ein alter, blinder Mann, und er spielte falsch und ausdruckslos, aber Hede wurde von den Geigentönen, die gerade in diesem Augenblick zu ihm drangen, so gerührt, daß er mit Tränen in den Augen und mit gefalteten Händen lauschte,

Im nächsten Augenblick riß er das Fenster auf und kletterte an dem Gitter des wilden Weins hinunter in den Hof. Er machte sich kein Gewissen daraus, daß er die Arbeit im Stich ließ; es war ihm im Gegenteil, als sei die Geige nur deshalb gekommen, um ihn in seinem Unglück zu trösten.

Gewiß hatte Hede noch niemals um etwas so demütig gebeten, als wie er nun den greisen Blinden bat, er möge ihm seine Geige leihen. Er hielt die ganze Zeit seine Mütze in der Hand, obwohl der Mann stockblind war.

Der Alte schien nicht zu verstehen, was Hede wollte. Fragend wandte er sich an das Mädchen, das ihn führte. Hede verbeugte sich vor dem armen Kinde und wiederholte sein Begehren. Sie sah ihn an, wie die zu tun pflegen, die Augen für zwei haben müssen. Der Blick kam so sicher aus den großen, grauen Augen, daß Hede zu fühlen glaubte, wie er traf. Nun ruhte er auf seinem Hals und sah, daß er einen reinen Hemdkragen trug, nun sah er, daß der Rock gebürstet war, und nun, daß die Stiefel glänzend waren.

Noch nie war Hede einer solchen Prüfung unterworfen worden. Er sah deutlich, daß diese Augen ihn nicht erhören würden.

Aber es kam nicht so. Das Mädchen hatte eine ganz eigene Art zu lächeln. Ihr Gesicht war so ernst, daß man den Eindruck bekam, dies sei das erste und einzige Mal in ihrem Leben, wo sie froh aussah. Und nun flog eines dieser seltsamen Lächeln über ihr Gesicht. Sie nahm die Geige aus den Händen des Alten und reichte sie Hede.

»Spielen Sie den Walzer aus dem Freischütz,« sagte sie.

Es kam Hede sonderbar vor, daß er gerade in diesem Augenblick einen Walzer spielen sollte, aber im Grunde war es ihm ganz gleich, was er spielte, wenn er nur einen Bogen in die Hand bekam.

Das war alles, wonach er sich sehnte. Und die Geige begann auch sogleich, ihn zu trösten. Sie sprach zu ihm mit schwachen, schrillen Tönen. »Ich bin eine Bettelmannsgeige,« sagte sie, »aber so wie ich bin, bin ich Trost und Hülfe eines armen Blinden. Ich bin das Licht und die Farbe und der Glanz seines Lebens. Ich bin es, die ihn über Armut, Alter und Blindheit trösten muß.«

Hede fühlte, wie die entsetzliche Mutlosigkeit, die alle seine Hoffnungen niedergedrückt hatte, von ihm zu weichen begann. »Du bist jung und stark,« sagte die Geige zu ihm. »Du kannst kämpfen und ringen. Du, kannst das festhalten, was Dir entfliehen will. Warum bist Du mutlos und traurig?«

Mit gesenkten Augen hatte Hede bisher gespielt, nun warf er den Kopf zurück und betrachtete die, so ihn umgaben. Es war eine ordentliche Schar von Kindern und Vorübergehenden, die in den Hof hereingeströmt waren, um der Musik zuzuhören.

Aber sie waren nicht einzig und allein der Musik wegen gekommen; der Blinde und seine Begleiterin gehörten zu einer umherziehenden Truppe.

Gerade vor Hede stand ein Mann in Trikot und Goldflittern, die nackten Arme über die Brust gekreuzt. Er sah alt und abgeschafft aus, aber Hede erschien er mit seiner hochgewölbten Brust und seinem langen Schnurrbart wie ein wahrer Riese Goliath. Und daneben stand seine Frau, klein und dick und auch nicht besonders jung, aber strahlend glücklich über ihre Goldflitter und über ihre wogenden Florröcke.

Während der beiden ersten Takte standen die beiden still und zählten. Dann glitt ein huldreiches Lächeln über ihre Gesichter, sie reichten sich die Hände und begannen nun auf einem kleinen Flickenteppich zu tanzen.

Und Hede bemerkte, daß unter all diesen equilibristischen Kunststücken, die sie nun ausführten, die Frau beinahe still stand, während der Mann allein arbeitete. Er sprang über sie weg, wirbelte um sie herum und schlug Purzelbäume über sie. Die Frau aber tat fast nichts, als den Zuschauern Handküsse zu werfen.

Eigentlich aber dachte Hede nicht viel an diese beiden. Sein Bogen flog nun über die Saiten. Er sagte ihm, daß im Kämpfen und Erobern ein Glück liege, ja, er wollte ihn beinahe glücklich preisen, daß für ihn alles auf dem Spiele stehe. Und Hede spielte und spielte sich selbst Mut und Hoffnung ins Herz und dachte nicht an die alten Seiltänzer.

Aber plötzlich merkte er, daß sie unruhig wurden. Sie hörten auf zu lächeln, sie warfen dem Publikum keine Handküsse mehr zu. Der Akrobat sprang falsch, und seine Frau wiegte sich im Walzertakt hin und her.

Hede spielte immer eifriger. Er gab den Freischützwalzer auf und jagte in einer alten Polka dahin, einer Polka, die alle Menschen toll machte, wenn sie einmal bei einer Festlichkeit gespielt wurde.

Die alten Seiltänzer verloren ganz und gar die Fassung, sie waren lauter atemlose Verwunderung. Und der Augenblick kam, wo sie nicht länger widerstehen konnten. Sie machten einen Sprung vorwärts, flogen einander in die Arme und begannen zu tanzen, mitten auf dem Flickenteppich.

Wie sie tanzten! Sie machten kleine, trippelnde Schritte und wirbelten rund herum in kleinen, drehenden Wendungen, sie traten kaum über den Teppich hinaus. Und ihre Gesichter strahlten vor Vergnügen und Entzücken. Jugendlust und Liebesrausch hatte die alten Menschen erfaßt.

Der ganze Haufen der Zuschauer jubelte, als er sie so tanzen sah. Die kleine, ernste Blindenführerin lächelte mit dem ganzen Gesicht, aber Hede wurde über die Maßen erregt.

Sieh da, was seine Geige zustande brachte! Sie brachte die Leute ganz außer sich. Das war eine Macht, über die er gebieten konnte. Jeden Augenblick, sobald er nur wollte, konnte er sein Reich in Besitz nehmen.

Nur ein paar Jahre Studium im Ausland, bei einem großen Meister! Dann könnte er in die weite Welt hinausziehen und sich Geld, Ehre und Ruhm erspielen!

Hede war es, als hätten diese Akrobaten hierher kommen müssen, um ihm das klar zu machen. Dies war sein Weg, der offen und hell vor ihm lag.

»Ich will, ich will ein Musiker werden,« sagte er zu sich selbst, »ich muß einer werden! Das ist etwas anderes als studieren. Mit meiner Geige kann ich die Menschen bezaubern, ich kann reich werden.«

Er hörte auf zu spielen. Gleich traten die Kunstreiter zu ihm und überhäuften ihn mit Lobreden,

Der Mann teilte ihm mit, daß er Blomgren heiße. Dies sei sein bürgerlicher Name; aber wenn er auftrete, dann habe er noch andere. Er und seine Frau seien alte Zirkusleute. Frau Blomgren sei die ehemalige Miß Viola und einst auf Pferden dahingeflogen. Und heute noch, obgleich sie den Zirkus verlassen hätten, seien sie Künstler, Künstler mit Leib und Seele. Das habe der Herr ja nun selbst gesehen. Deshalb hätten sie auch seinem Geigenspiel nicht widerstehen können.

Hede zog mehrere Stunden lang mit den Akrobaten umher. Er konnte sich nicht von der Geige trennen, und die Begeisterung der alten Künstler für ihren Beruf gefiel ihm.

Er wollte sich auch selbst prüfen.

»Ich will doch sehen, ob ich das Zeug zu einem Künstler in mir habe; ich will sehen, ob ich Begeisterung hervorrufen kann, und ob es mir gelingt, Kinder und Tagediebe dazu zu bringen, mir von Hof zu Hof zu folgen.«

Während sie durch die Straßen zogen, warf Herr Blomgren einen alten, abgetragenen Mantel über, während Frau Blomgren sich in einen braunen Radmantel hüllte, und so ausstaffiert gingen sie in eifrigem Gespräch neben Hede her.

Herr Blomgren sagte, er wolle nicht von all der Ehre sprechen, die er und Frau Blomgren in der Zeit geerntet hatten, als sie einem richtigen Zirkus angehörten. Allein der Direktor habe Frau Blomgren unter dem Vorwand, daß sie zu korpulent werde, verabschiedet. Er, Herr Blomgren, sei nicht verabschiedet worden, er habe seinen Abschied selbst verlangt. Denn das würde niemand von ihm geglaubt haben, daß er noch länger bei einem Direktor geblieben wäre, der seine Frau verabschiedet hatte.

Frau Blomgren liebte die Kunst, und um ihretwillen habe sich Herr Blomgren entschlossen, ein freier Künstler zu werden, damit auch sie ferner noch auftreten könne. Im Winter, wenn es zu Vorstellungen auf der Straße zu kalt sei, spielten sie in einem Zelt. Da habe man dann ein sehr reiches Repertoir. Man gebe Pantomimen, man zaubere und taschenspielere.

Der Zirkus habe sie ausgestoßen, sagte Herr Blomgren, aber nicht die Kunst. Sie dienten immer der Kunst, sie sei es wert, daß man ihr bis zum Tod getreu bleibe. Allezeit Künstler, allezeit! Das sei Herrn Blomgrens Grundsatz und ebenso auch der der Frau Blomgren.