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Ueli Oswald

Das Mädchen
aus Piräus

Die unfassbare Geschichte
einer Migrantin

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Helena, ein Mädchen aus Piräus, aufgewachsen in zerrütteten Verhältnissen und im Waisenhaus, nimmt ihr Leben mit knapp achtzehn Jahren selbst in die Hand und entflieht der Aussichtslosigkeit in ihrer Heimat Griechenland. Vor allem aber entkommt sie ihren Peinigern. Sie lässt alles hinter sich und macht sich – mit weniger als nichts – auf den Weg ins vermeintliche Paradies, die Schweiz. Dort lockt ein Jobangebot und somit ein Neuanfang. Die Reise nach Scuol im Engadin ist ebenso abenteuerlich wie gefährlich. Endlich dort angekommen, beginnt ein neues Leben. Die Arbeit als Küchenmädchen aber ist hart: Helena wird massiv ausgenutzt und findet sich, vorerst sprachlos, im neuen Kulturkreis nur schlecht zurecht, ist Fremdarbeiterin, nicht Gastarbeiterin. Im Jahr 1963, in jenem kalten Winter, in dem der Zürichsee zum letzten Mal zugefroren ist, macht sich die junge Frau auf nach Zürich, wo sie sich Hals über Kopf verliebt. Jetzt endlich scheint sie das Glück gefunden zu haben. Doch das Paradies behält seine düsteren Seiten, und Helenas Schicksal steht auch jetzt unter keinem guten Stern. Trotzdem gibt sie nie auf, und das ist es, was ihre Geschichte so erzählenswert macht.

»Weißt du, es gibt Menschen, die reden nicht über ihre Vergangenheit. Ich rede und rede, damit die Leute sehen, wie viel ein Mensch ertragen kann, ohne unterzugehen.«

Helena zu Ueli Oswald bei einem ihrer zahlreichen Gespräche auf einer Parkbank in Zürich

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Ueli Oswald, geb. 1952, bildete sich in London und Hamburg zum Fotografen aus und studierte danach in Zürich Ethnologie und Publizistik. Nach einer Dekade als Journalist wirkte er als Verlagsleiter von »NZZ Folio«. Sein Buchdebüt »Ausgang« (Edition Epoca), eine sehr persönliche Auseinandersetzung mit seinem Vater, der sich im hohen Alter für einen selbstbestimmten Tod entschied, war ein viel beachteter Erfolg. 2014 erschien sein zweites Buch, »Ja, ich will! – Wenn Liebe ewig währt«, im Wörterseh Verlag. »Das Mädchen aus Piräus« schrieb Ueli Oswald dank einer Zufallsbekanntschaft mit einer älteren Dame, die ihm ihr Leben vor die Füße legte und ihm erlaubte, es öffentlich zu machen. Ueli Oswald lebt in Zürich und ist als freier Publizist tätig.

Dieses Buch gründet auf Gesprächen des Autors mit der Protagonistin.

Alle Rechte vorbehalten, einschliesslich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe

© 2015 Wörterseh Verlag, Gockhausen

Lektorat: Claudia Bislin, Zürich

Print ISBN 978-3-03763-055-6
E-Book ISBN 978-3-03763-573-5

www.woerterseh.ch

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Nachwort

Die Paartherapie

Die Wörterseh-Bestseller

»Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen.«

Max Frisch

1

Zum ersten Mal begegnete ich Helena an einem warmen Maitag im Park. Gänseblümchen sprenkelten die satte Grünfläche mit weißen Farbtupfern, die jungen Blätter des alten Ahornbaums leuchteten in frischem Frühlingsgrün. Ich saß auf einer Bank und blätterte in einer Illustrierten, die ich zuvor im Tram vom Sitz neben mir geangelt hatte. Da nahm neben mir eine kleine, untersetzte Frau Platz und ließ ihre Füße über dem Boden baumeln. Ihr Alter war schwer zu schätzen. Das schelmische Leuchten in ihren Augen gab ihr etwas Mädchenhaftes, während ihr Haar, im Nacken zu einem Knoten gebunden, ergraut und das Gesicht von Furchen gezeichnet war. Sie musterte mich, dann die Zeitschrift in meinen Händen, und weil ich meine Ruhe wollte, tat ich, als würde ich es nicht bemerken.

»Manche haben Glück«, sagte sie, und es war unüberhörbar, dass sie das Gespräch suchte. Ich schwieg.

»Oder auch nicht. Vielleicht gehts ihr ja so wie Diana. Das fing auch glänzend an. Und dann lief alles aus dem Ruder. Am Schluss endete sie eingeklemmt in einem Auto am Pfeiler eines Pariser Tunnels. Stört es Sie, wenn ich rede?«

Ich blickte auf, wandte mich zu meiner Banknachbarin und fragte mürrisch: »Was haben Sie gesagt? Ich bin gerade am Lesen.«

»Na ja, die beiden da auf dem Titelblatt Ihrer Zeitschrift, William und Kate – was meinen Sie, wo das endet? Egal, mein Leben ist das sowieso nicht. Ihres vielleicht?«

Bevor ich antworten konnte, griff sie in ihre Tasche und zog ein in Frischhaltefolie eingepacktes Irgendwas heraus.

»Tiganites. Mögen Sie eine? Habe ich heute Vormittag für meine Enkelin gebacken. Die sagt immer: ›Ach Jaja, du bist die beste Köchin, die ich kenne.‹ Wissen Sie, dass ›Jaja‹ auf Griechisch Großmutter heißt?«

Die Frau war raumgreifend. Ihre neugierigen Augen spazierten so ungeniert auf meinem Gesicht und meinen Kleidern herum, dass ich mich ihr nicht entziehen konnte.

»Tiganites?«, fragte ich.

»Ah, Sie sind wohl noch nicht weit herumgekommen«, foppte sie mich mit einem herzlichen Lachen. »Das sind griechische Teigtaschen. In meinem Fall mit Honig und Sesam gefüllt. Kommen Sie, probieren Sie, und wenns Ihnen schmeckt, verrate ich Ihnen das Rezept. Können Sie überhaupt backen? Mein Mann nicht. Vielleicht könnte er, wenn er wollte, aber er will nicht. Grieche bleibt Grieche, auch in der Schweiz.«

Und über ihre Teigtaschen kamen Helena und ich ins Gespräch. Ich griff nach einer Tiganita, kostete, und bekundete meine Anerkennung, was ich allerdings auch getan hätte, wenn sie mir nicht gemundet hätte. So bin ich erzogen worden.

»Sind Sie Griechin?«

»Nein«, sagte Helena mit einer resoluten Bestimmtheit. Sie musterte mich erneut, als wolle sie prüfen, ob weitere Worte nicht bloße Verschwendung seien. »Wenn man es genau nimmt, war ich mal eine. Aber das wird Sie kaum interessieren, Sie habens ja lieber von Königskindern und dergleichen, und damit kann ich nun wirklich nicht dienen.«

Sie hielt mir die Frischhaltefolie mit den Teigtaschen unter die Nase, ich roch den Duft von frischem Gebäck, und weil ich die Dinger wirklich mochte, griff ich erneut zu. Ich hatte Zeit, die Sonne im Park wärmte herrlich, also beschloss ich, noch eine Weile zuzuhören. Wie hätte ich wissen können, dass daraus eine Lebensgeschichte würde, wie ich sie zuvor noch nie gehört hatte!

»Dann sind Sie in Griechenland geboren? Übrigens, die Tiganites sind fabelhaft. Ich kann backen, Sie müssen mir das Rezept geben.«

»Geboren … sagen wir mal, meine Mutter konnte es nicht verhindern. Wissen Sie, als sie mit mir schwanger wurde, wollte sie mich ums Verrecken nicht und versuchte alles, um mich abzutreiben. Vielleicht war ihr mein erstgeborener Bruder schon genug. Dann erschien ihr eines Nachts ihre große Schwester, die früh gestorben war. Im Traum sagte sie zu Mutter: ›Mädchen, du bist im vierten Monat schwanger, wenn du so weitermachst, kommst du bald in so ein Erdloch, in dem ich schon liege.‹ Da hörte Mutter mit ihren Versuchen auf, mich mit Tabletten loszuwerden. Ihre Frauenärztin ermunterte sie: ›Behalte das Kind, ich werde dir helfen, für das Kind aufzukommen.‹ Sie müssen wissen, es waren lausige Zeiten, Kriegszeiten. Die Ärztin wurde zwar meine Patin, aber was sie versprochen hatte, war ein großes Märchen, sie kümmerte sich nie um mich. Dass ich in einem Krankenhaus zur Welt kam, war reine Glückssache – wie soll ich sagen, ›Beziehungsglück‹ –, denn das Geld dafür fehlte meinen Eltern. Aber im Krankenhaus arbeitete die Freundin der Schwester meiner Großmutter. Meine Großmutter hatte der mal einen großen Gefallen getan, und zum Dank revanchierte sich diese Freundin nach dem frühen Tod meiner Großmutter mit guten Taten für deren Kinder, also auch für meine Mutter. Verstehen Sie, eine Hand wäscht die andere, das ist sehr griechisch. Diese Frau sorgte dafür, dass meine Mutter zum Gebären ins Krankenhaus durfte. In der Nacht bevor ich geboren wurde, träumte Mutter von einem kräftigen Mann, der auf ihrem Bauch saß. Sie sagte zu ihm: ›Geh weg, du machst mein Kind kaputt!‹ Der Typ antwortete ihr: ›Nein, dein Kind geht nicht kaputt, es wird ein Mädchen, und es ist ein Glückskind.‹ Quatsch mit Tomatensauce!! Ein Mädchen war ich, aber von wegen Glückskind! Mit sechs Jahren kam ich ins Waisenhaus, und die Jahre zuvor waren auch nicht gerade paradiesisch.«

Die Frau neben mir auf der Bank schwieg, als wäre sie dorthin zurückgekehrt, wovon sie eben erzählt hatte.

»Was ist denn damals geschehen? Sind Ihre Eltern früh gestorben?«, wollte ich wissen, und diesmal fragte ich nicht aus Höflichkeit, sondern weil ich mich für ihr Schicksal zu interessieren begann.

Die Frau lachte, aber es war kein frohes Lachen, eher ein verdrängendes, verbergendes, um ihre wahren Gefühle nicht zu zeigen. Sie schob sich auf der Bank nach vorn, sodass ihre Füße den Boden erreichten, stand auf, zeigte mit dem Finger zum wolkenlosen Himmel und sagte: »Soll ja so bleiben. Ich komme morgen wieder in den Park. Wenn Sie wollen, bringe ich Ihnen das Rezept, und … vielleicht erzähle ich dann weiter. Haben Sie eigentlich einen Namen, junger Mann?«

»Oswald, Ueli Oswald.«

»Der Vorname reicht mir völlig, wissen Sie, wir sind hier ja nicht am englischen Hof, ich kann auf Titel und Formalitäten gut verzichten. Also, falls ich Ihnen damit nicht zu nahe trete – ich bin Helena. Ich bin ein Mädchen aus Piräus.«

Ohne meine Antwort abzuwarten, wandte sie sich um und trippelte den Parkweg entlang davon. Erst jetzt fiel mir auf, wie klein sie wirklich war, ihre Einkaufstasche baumelte nur Zentimeter über dem Boden. Eine Weile noch blieb ich sitzen, das Kindergeschrei vom Spielplatz erschien mir ferner als zuvor. Ich dachte an Helena, irritiert von diesem Lachen, das so gar nicht zu ihrer Geschichte passen wollte.

2

Helena behielt recht, tags darauf zeigte sich das Wetter wieder von seiner besten Seite; die Sonne wärmte Natur und Parkgänger. Als ich zu unserer Bank unter dem alten Ahorn kam, saß Helena bereits dort, blinzelte in die Sonne und ließ ihre Beine baumeln.

»Aha, der Herr Ueli, hab ich ihn also doch nicht so erschreckt, dass er nicht wiederkommt«, sagte sie grinsend und fügte sehr ernst hinzu: »Ich konnte letzte Nacht nicht schlafen. Ich finde, ich habe meiner Mutter unrecht getan. Wie hätte sie anders handeln können, in ihrer Lage … Aber komm, setz dich, heute habe ich Pistazien mitgebracht, die kennst du ja wohl.«

Helena hatte sich entschieden, einen weiten Bogen zu schlagen, bei ihren Großeltern anzufangen, um mir begreiflich zu machen, warum ihre Mutter so gehandelt hatte und wie das Schicksal zu den Menschen, noch mehr aber die Menschen untereinander grausam sein können.

Mein Vater Achilleus wurde 1912 in Kleinasien, also auf türkischem Boden, geboren. Seine Eltern waren reiche Griechen. Mein Vater, sein Bruder Nikolaos und die zwei Schwestern Pipina und Elektra wuchsen in guten Verhältnissen auf. Doch der Türkisch-Griechische Krieg zwang die Familie, aus der Türkei zu fliehen. Die Türken erwischten sie auf der Flucht. Sie schlugen den Eltern vor den Augen der Kinder den Kopf ab und zwangen meinen Vater, vom Blut seiner Eltern zu trinken. Mein Vater, er war der Jüngste, und seine Geschwister kamen als Waisen nach Griechenland. Mit achtzehn hatte er eine Hirnhautentzündung, das schränkte seine Gesundheit, vielleicht auch sein Denken stark ein. Aber davon erzähle ich später.

Von den Großeltern mütterlicherseits weiß ich mehr. Überhaupt, was ich von meinen Vorfahren weiß, erfuhr ich alles von meiner Mutter. Ihr Vater war ein griechischer Reeder wie davor auch schon sein Vater. Meine Großmutter stammte von der Insel Spetses. Sie war dreizehn, als sie meinen Großvater kennen lernte.

Er war damals mit ihrer besten Freundin verlobt, aber meine Großmutter schnappte ihn ihr weg. Nach der Heirat zogen sie nach Piräus und bekamen neun Kinder. Mein Großvater Anargiros liebte seine Penthesilea abgöttisch. Am Anfang nahm er sie immer mit auf seine Schiffsreisen, später blieb sie bei den Kindern. Penthesilea hatte ein Leben wie eine Königin mit Dienstpersonal und Gouvernanten für die Kinder.

Siehst du, in meiner Familie gab es schon auch noble Leute, aber das ist alles Schnee von gestern …

Als Anargiros auf einer seiner Reisen war, wandte das Glück sich von den beiden ab. Penthesilea war wieder schwanger, und die Hebamme gab ihr eine Spritze. Aber etwas lief schief, und meine Großmutter wurde krank und starb. Leda, meine Mutter, war damals fünf Jahre alt. Am Tag, als Großmutter starb, saß sie auf dem Gehsteig und weinte. Nachbarskinder spielten um sie herum, und eines warf einen Stein, der Leda am Fuß verletzte. Der Fuß wurde geschwollen und entzündete sich. Mein Großvater, der inzwischen von seiner Reise zurückgekommen war, schickte die Kinder mit der Gouvernante auf die Insel Spetses, wo die Familie Häuser besaß. Leda schärfte er ein, wegen der Infektionsgefahr nicht im Meer zu schwimmen. Sie ging trotzdem baden, und die Infektion wurde schlimmer, so schlimm, dass man ihr schließlich den Unterschenkel amputieren musste.

Das Schicksal verteilt Gaben und Gräuel nicht gerecht, der eine kriegt ein Füllhorn voll von Gutem, der andere droht in einem Meer von Schlechtem zu ertrinken. Mein Großvater war ein gebrochener Mann, jeden Tag saß er am Grab seiner Frau. Neun Monate später starb auch er. Von den neun Kindern waren vier bereits im Kindesalter gestorben. Evgenia, die älteste Schwester meiner Mutter, war damals vierzehn Jahre alt, das war, als in Europa der Erste Weltkrieg zu Ende ging. Damit die Geschwister nicht auseinandergerissen wurden, musste Evgenia heiraten. Aber letztlich konnte nur meine Mutter Leda bei ihr bleiben, ihr Bruder Silenos und die Schwester Helene kamen bei Nachbarn unter. Gala, die andere Schwester, musste ins Waisenhaus.

Evgenias Mann war ein übler Kerl, er machte all das, was der Herrgott verboten hat. Meine Mutter litt sehr: ohne Eltern aufwachsen, mit nur einem Bein … In der Schule wurde sie herumgeschubst, und der Beinstumpf verheilte nicht richtig. Evgenia und ihr Mann zwangen sie mit elf Jahren, eine Lehre als Schuhnäherin zu beginnen. Sie arbeitete von morgens bis abends – und das mit nur einem Bein. Um elf Uhr nachts kam sie jeweils nach Hause und musste noch den Abwasch machen. Jahre später wurde Evgenia schwer krank, in ihrem Bauch sammelte sich immer Wasser, das alle sechs Monate operativ entfernt werden musste. Genützt hats nichts, mit dreiunddreißig starb sie. Ihr »Super«-Mann verkaufte alles und verpulverte das ganze Geld mit Kartenspielen, Frauen, Drogen. Auch die zwei Geschwister, die bei den Nachbarn aufwuchsen, starben viel zu früh. Von den neun Kindern blieben also einzig meine Mutter Leda und ihre Schwester Gala übrig.

Mit zweiundzwanzig lernte meine Mutter während der Arbeit bei einem Schuhmacher meinen Vater kennen, auch er arbeitete dort. Mutter drängte auf eine Heirat, weil sie so schnell wie möglich aus dem Haus ihrer Schwester wegwollte. Evgenia, die zu jener Zeit noch lebte, riet ihr davon ab. Er sei kein Gelernter, er mache ja nur Gelegenheitsarbeiten. Selbst der Bruder meines Vaters sagte ihr: »Mein Bruder ist nichts zum Heiraten, er hatte mit achtzehn Jahren eine Hirnhautentzündung und ist manchmal ziemlich merkwürdig.«

Aber Mutter heiratete ihn trotzdem, sie sah das anders: Er arbeitete fleißig, er trank nicht, fluchte nicht, ging nicht mit anderen Frauen. Gewiss, manchmal erzählte er Unsinn. So sagte er einmal um Mitternacht: »Jetzt gehe ich auf den Friedhof.« Mutter antwortete: »Der Friedhof ist nachts geschlossen.« Er sagte: »Macht nichts, ich klettere einfach über die Mauer.« Oder wenn er etwas suchte, räumte er Schränke und Truhen leer. Einmal suchte er ein Taschentuch und brachte alle Wäsche, die Mutter sorgfältig gebügelt in eine Truhe weggeräumt hatte, durcheinander. Dann wurde sie manchmal wütend und schrie: »Geh fort!«, und er meinte, sie schicke ihn für immer weg. Mein Vater war selbstmordgefährdet. Er versuchte sich zweimal das Leben zu nehmen, aber Mutter rettete ihn: Das erste Mal griff er sich ein scharfes Spezialmesser, mit dem sie in der Schuhmacherei das Leder putzten, und lief weg. Doch meine Mutter holte ihn zurück. Das zweite Mal legte er sich auf die Bahnschienen, aber auch dort war sie rechtzeitig zur Stelle.

An meinen Vater erinnere ich mich kaum. Ich habe zwar sein Gesicht vor Augen, nicht von Fotos, sondern aus der Erinnerung. Er war ein hübscher Mann. Auch meine Mutter sah adrett aus. Als sie heirateten, war Vater dreiundzwanzig und Mutter zweiundzwanzig. Sie arbeitete zu Hause an ihren Nähmaschinen für die Schuhmacher, Vater hatte seine Gelegenheitsarbeiten. Das Geld reichte gerade knapp, um die kleine Familie durchzubringen. Und bei allen Unwägbarkeiten wegen Vaters Krankheit – ich glaube, sie hatten es miteinander zehn Jahre lang sehr gut.

Helena legte eine Pause ein, klaubte in der Plastiktüte zwischen den leeren Pistazienschalen nach einer noch ganzen Nuss und musterte mich.

»Willst du das wirklich alles hören? Ich meine, eine Rosamunde-Pilcher-Geschichte wird das nicht.«

Sie sagte das in einem Ton, als wolle sie sagen: Ich hab dich gewarnt, komm mir nachher nicht und jammere, das sei dir alles zu viel. Sie blickte kurz zur Sonne, dann auf ihre Uhr und sagte, ohne meine Antwort abzuwarten: »Na gut, eine Stunde kann ich noch bleiben. Dann muss ich nach Hause, meine Enkelin kommt zum Abendessen, ich muss noch einiges vorbereiten. Heute Morgen habe ich schon Zaziki gemacht, du weißt schon, Joghurt, Salatgurke, frischen gepressten Knoblauch, Olivenöl, und alles richtig gewürzt – wenn du das magst, bring ich dir morgen eine Schale voll mit. Ach ja, das Rezept für die Tiganites habe ich dir auch versprochen. Ich werde vergesslich …«

1935 heirateten meine Eltern. Mutter hatte keine Ahnung, was in ihrer ersten Nacht mit Vater geschehen sollte, und hatte furchtbare Angst, dass er ihr ein Loch in den Bauch machen würde. Sie war nie aufgeklärt worden. Deshalb ging Vater mit ihr zum Arzt, und der sagte ihr: »Du brauchst keine Angst zu haben, geh jetzt einfach mit deinem Mann nach Hause und mach, was er dir sagt.«

Zuerst lebten Vater und Mutter zusammen mit den beiden Schwestern des Vaters in einem großen Haus in Piräus. Doch Vaters jüngste Schwester wollte für ihre Familie auch den Hausteil haben, der eigentlich ihm gehörte. Viel später bekam ich als Ersatz dafür von Vaters Familie ein Stück unbebautes Land in Piräus. Ach! Das ist auch so eine verflixte Griechengeschichte – erzähl ich dir ein anderes Mal.

Mutter und Vater zogen also mit meinem Bruder und mir an einen anderen Ort, ganz in der Nähe. Mutter mietete ein Zimmer, kaum größer als ein Esszimmer. Darin standen das Bett der Eltern, eine Couch, auf der nachts mein Bruder und ich schliefen, ein Tisch und Mutters zwei Nähmaschinen von Singer. Die Eingangstür führte zum Innenhof hinaus. Die Schwester meiner Mutter und weitere Bewohner in angrenzenden Zimmern teilten mit uns Haus und Hof. Die Toilette war im Hof, ein Badezimmer blieb an jenem Ort ein Traum, der nie Wirklichkeit wurde. Wenn das Wetter es erlaubte, kochten wir draußen. Das Schönste aber war der Mandelbaum, der im Hof wuchs.

Während des Zweiten Weltkriegs geriet Griechenland zwischen die Fronten, doch das war nicht das Schlimmste. Kaum waren die Deutschen und die Engländer abgezogen, wussten die Griechen nichts Besseres anzufangen, als sich in einem Bürgerkrieg selbst die Köpfe einzuschlagen.

Weißt du, Ueli, meine Mutter war in späteren Jahren wie ein offenes Buch. Ohne dass sie gefragt wurde, erzählte sie freimütig aus ihrem Leben. Im Krieg versteckte sie Juden und Engländer unter ihrem Bett, wenn die Deutschen das Quartier durchkämmten. Aber sie gab auch deutschen Soldaten auf dem Rückzug Wasser und Brot. Niemand mit Hunger oder Schwierigkeiten ging an unserem Zuhause vorbei, ohne dass sie geholfen hätte.

Vater brachte manchmal Säcke voller Lebensmittel nach Hause, die er aber nicht mit anderen Leuten teilen wollte. Mutter trickste ihn aus, schnitt unten in die Säcke Löcher, klaubte einige Nahrungsmittel heraus, kochte und verteilte sie an Notleidende. Oder sie sammelte, einbeinig wie sie war, an fünf verschiedenen Ausgabestellen Essen ein! Wenn die Menschen sahen, dass sie nur ein Bein hatte, schenkten sie ihr immer etwas, einen Laib Käse oder so. Auch wenn rundherum Bomben fielen, brachte sie die Nahrungsmittel den Menschen in den Bunkern. Sie erzählte mir, sie habe keine Angst gehabt. Einmal gab ihr der Bischof Geld, um Trauben zu kaufen, damit sie diese weiterverkaufen konnte. Doch Vater aß alle Trauben, und Mutter traute sich nicht, beim Bischof noch einmal Geld zu verlangen. Ich glaube, Vater wollte in diesen Krisenzeiten einfach alles für uns behalten. Mutter erzählte immer, er sei kein schlechter Mensch gewesen, er habe niemandem etwas zuleide getan.

Im Gegenteil, ihn haben sie gequält! Das war 1945, in den ersten Monaten des Bürgerkriegs … Eine Nachbarin, die ihn nicht mochte, behauptete, er sei ein Aufständischer. Sie habe gesehen, wie er geschossen habe. Dabei hatte Vater sein Leben lang nie eine Waffe in der Hand gehabt. Die Regierungstreuen nahmen ihn mit, hängten ihn Kopf nach unten an einer Stange auf, schlugen und quälten ihn zwei Wochen lang. Sie schlitzten ihm den ganzen Rücken auf. Was ihn vor dem Tod bewahrte, war etwas, was ein paar Jahre zurücklag. Damals hatten die Deutschen eine griechische Freiheitskämpferin, die Tochter eines Obersten, umgebracht. Mein Vater war derjenige, der die Tote bei den Deutschen abholte und das Kind seinem Vater zurückbrachte. Diesen Obersten bat meine Mutter, er möge Einfluss nehmen, dass ihr Mann wieder freikomme. Nach zwei Wochen kam er gefoltert und gebrochen nach Hause und dann …

Alles wurde noch schlimmer. Ich verstehe heute noch nicht, wie es so weit kommen konnte. Ich meine, zuerst setzt Mutter alle Hebel in Bewegung, um ihn freizubekommen, und dann tut sie ihm das an … Das macht einfach keinen Sinn! Als mein Vater nach der Haft nach Hause kam, sagte sie zu ihm: »Du schläfst am Boden, und ich schlafe mit meinem Freund im Bett.« So erzählte es mir meine Mutter. Ich habe keine Ahnung, wo oder wann sie diesen Mann kennen gelernt hatte und was damals zwischen Mutter und Vater passiert war. Sie sorgte für ihn, tauschte für ihn andere Lebensmittel gegen Eier ein, damit er gesund blieb. Sie schützte ihn, wenn andere frech oder verletzend zu ihm waren. Einerseits holte sie ihn aus dem Gefängnis, andererseits schickte sie ihn weg, weil sie einen Freund hatte. Das passt hinten und vorn nicht! Ich meine, Mutter musste selber wissen, was recht und was unrecht war. Ich maße mir nicht an, das zu verurteilen. Aber ich verstehs bis heute nicht!