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Claude Cueni

GIGANTEN

Roman

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Giganten erzählt die Geschichte zweier Freunde, die im ewigen Wettstreit um das größte Bauwerk der Welt zu Rivalen werden; es ist das Drama zweier Rivalen, die im Wettstreit um eine Frau zu Feinden werden. Der eine ist der kühl berechnende Visionär und Ingenieur Gustave Eiffel, der geniale Eisenmagier, der den Eiffelturm erbaute; der andere der Bildhauer Frédéric Bartholdi, ein Künstler aus Leidenschaft, der von der Idee besessen ist, einen weiblichen Koloss von Rhodos zu erschaffen, und die Freiheitsstatue errichtete. Zwischen den beiden Männern steht eine junge Frau, die sich zwischen Vernunft und Herz, zwischen wirtschaftlicher Sicherheit und einem Leben als Bohemienne, entscheiden muss.

Claude Cuenis neuester Roman ist eine historische Fiktion die uns auf eine spektakuläre Reise durch die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts führt. Es ist die Epoche der Beschleunigung, der Eisenbahn, der Telegrafie, der Orientreisen, der Goldsucher in Alaska; die Zeit der industriellen Revolution, des rücksichtslosen Kolonialismus, der großen Finanz- und Wirtschaftskrisen, der letzten Typhus- und Cholera-Epidemien; es ist die Zeit von Jules Verne, Louis Vuitton, Karl Marx und vielen bekannten Unbekannten. Basierend auf historisch gesicherten Fakten, erzählt Claude Cueni von fiktiven Begegnungen, von Leidenschaft und Ruhmsucht, der Kraft der Liebe und dem Willen des Menschen, Unmögliches zu erschaffen. Er erzählt die Geschichte vom Visionär und Ingenieur Gustave Eiffel, der den Eiffelturm erbaute, und dem Bildhauer Frédéric Bartholdi, der die Freiheitsstatue errichtete.

Falls Ihr Gerät das Video nicht abspielen kann, können Sie es auch hier ansehen: http://www.woerterseh.ch

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Claude Cueni, geb. 1956 in Basel, schrieb historische Romane, Thriller, Theaterstücke, Hörspiele und über 50 Drehbücher, unter anderem für Fernsehserien wie »Tatort«, »Eurocops«, »Peter Strohm« und »Cobra 11«. Für Blackpencil designte er jahrelang Computergames, darunter den Welthit »Catch the Sperm«. Sein historischer Roman »Das große Spiel« (Heyne), die wahre Geschichte des Papiergelderfinders John Law, belegte Platz eins der Schweizer Bestsellerliste und wurde bisher in 13 Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien 2014 im Wörterseh Verlag der viel beachtete Bestseller »Script Avenue«, in dem Claude Cueni, anders als in seinen bisherigen Büchern, nicht die Geschichten anderer, sondern seine eigene erzählt. Claude Cueni lebt in Basel.

Für Clovis

Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen
Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe

»Alles, was erfunden werden kann, ist erfunden worden.«

Charles H. Duell, Beauftragter des US-Patentamtes, 1899

»Alles, was ein Mensch sich vorzustellen vermag,
werden andere Menschen verwirklichen können.«

Jules Verne (1828–1905)

Prolog

»Giganten« ist eine historische Fiktion nach Motiven der Biografien von Gustave Eiffel und Frédéric Bartholdi. Sie besteht aus historisch gesicherten Fakten und teilweise erfundenen Ereignissen und Begegnungen. Chronologie und Altersangaben wurden mancherorts zugunsten der Dramaturgie modifiziert.

Alle Originalzitate aus Tagebüchern, Zeitungen und Briefwechseln sind kursiv gesetzt.

Bezeichnungen, Redewendungen und Straßennamen aus der damaligen Zeit habe ich aus Gründen der Authentizität eins zu eins wiedergegeben. Liberty Island, der Standort der Freiheitsstatue im New Yorker Hafen, hieß zum Beispiel noch Bedloe’s Island beziehungsweise Île de Bedloe; und auch etliche Pariser Straßennamen und Hotels sind heute umbenannt oder verschwunden. Damals verwendete Begriffe wie »Neger« oder »poussieren« habe ich bewusst übernommen.

Für die Figur Charles Bartholdi, die aufgrund ihrer »historischen Bedeutungslosigkeit« kaum schriftliche Erwähnung findet, gab mir Isabelle Bräutigam, Konservatorin des Musée Bartholdi in Colmar, die entscheidenden Informationen. Ich bedanke mich an dieser Stelle sehr herzlich bei ihr.

Claude Cueni, im Mai 2015

Inhalt

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Vierter Teil

Fünfter Teil

Sechster Teil

Anhang

Historische Figuren

Fiktive Figuren

Glossar

ERSTER TEIL

George Stephenson, ich bin bereit

In der Mitte des 19. Jahrhunderts wartete ein Mann auf den Zug nach Paris. Er hieß Jean Charles Bartholdi. Er hatte keine Fahrkarte gelöst; für diese Fahrt würde er keine brauchen. Ein eisiger Wind blies ihm ins Gesicht, die Natur lag im Sterben, bald würde der Winter kommen und die Landschaft unter einem weißen Mantel begraben. Jean Charles Bartholdi, der Präfekturberater von Colmar, stand am Straßburger Bahnhof und wartete auf die Eisenbahn, die ihn nach Paris bringen würde. Zu einem Anwalt. So hatte er es jedenfalls seiner jungen Ehefrau Charlotte und seinem zwölfjährigen Sohn Frédéric gesagt, als er sich heute früh von ihnen verabschiedete. Charles, sein ältester Sohn, hatte ihn begleiten wollen. Doch Jean Charles Bartholdi hatte ihm erklärt, dass es im Leben Reisen gebe, die ein Mann allein antreten müsse. Charlotte hatte ihn gebeten, seinen Cousin Alphonse in Mulhouse aufzusuchen, der sei doch auch Anwalt. Aber er hatte insistiert, das sei geschäftlich, im Auftrag der Präfektur. Und Alphonse sei viel zu alt, er verstehe die neue Welt nicht mehr. »Die alte Welt löst sich auf, ein neues Zeitalter hat begonnen. Wir unterwerfen fremde Kontinente und huldigen dem Eisen und der Elektrizität.«

Jean Charles Bartholdi stieg auf das Gleisbett und schritt die Schienen entlang, als habe er sich vorgenommen, den Abstand der einzelnen Holzschwellen zu vermessen. Doch Jean Charles Bartholdi arbeitete nicht für die Compagnie du chemin de fer de Paris à Strasbourg, und er war auch nicht im Auftrag der Colmarer Präfektur unterwegs. Er hatte ein anderes Ziel. Er nahm eine Eisenbahnschwelle nach der andern. Ordnung, Struktur, das hatte er stets seinen Söhnen gepredigt. Doch die Welt war aus den Fugen geraten. Sie hatte den Rahmen, den Vernunft und Erfahrung vorgeben, gesprengt. Ihm schien, als würde die Menschheit wie eine entfesselte Herde dem Abgrund entgegenstürmen.

Als er den kleinen Bahnhof hinter sich gelassen hatte, nahm er seinen schwarzen Zylinder ab. Später, als er das Waldstück erreichte, wo sich das Schienennetz bog, blieb er stehen und zog seinen Frack aus.

Was hatten sie ihm in Paris nicht alles erzählt über die britischen Eisenbahnen! Sie würden eine noch nie da gewesene Beschleunigung des Lebens einleiten. Tagelange Kutschenfahrten würden durch mehrstündige Zugfahrten ersetzt. Man würde gigantische Fabriken bauen, die Massenware produzieren und mit der Eisenbahn in alle Winkel des Landes bringen würden. Napoléon III. hatte den Nutzen gleich erkannt. Wer über ein Schienennetz verfügte, würde in Zukunft Kriege gewinnen. Überall waren kleine Gesellschaften gegründet worden, die Teilstrecken bedienten. Kaufte man Aktien von Eisenbahngesellschaften und ihren Zulieferbetrieben, konnte man nichts falsch machen. Jean Charles Bartholdi hatte sich das alles ganz genau überlegt. Er war ein gescheiter Mann und vertraut mit Zahlen. Der Eisenbahn gehörte die Zukunft.

Jean Charles Bartholdi faltete seinen schwarzen Gehrock sorgfältig zusammen und legte ihn abseits der Schienen ins schüttere Gras. Dann nahm er die gemusterte Krawatte ab, knöpfte den Klappkragen auf und legte beides auf den Gehrock. Die Taschenuhr zeigte zehn vor sechs. Fast andächtig zog er die graue Weste aus. Im weißen Hemd und der karierten Hose wirkte er seltsam verloren in der Landschaft. Es war bitterkalt. In vier Minuten würde die Eisenbahn mit einem schrillen Pfeifen in den Wald hineinfahren. Es würde eine dampfbetriebene George Stephenson sein. Seguin hatte sie weiterentwickelt, und da er Franzose war, war nun auch die George Stephenson eine Französin. Vor wenigen Jahren hatten noch Pferde die Wagons gezogen. Jetzt brauchte man keine Pferde mehr. Die Zugtiere der Postkutschen würden bald zu Trockenfleisch verarbeitet. Hufschmiede, Stellmacher, Lackierer und Linierer; bald würde man sie alle nicht mehr brauchen.

Und auch den italienischstämmigen Präfekturberater aus Colmar würde man nicht mehr brauchen. Ein junger Ingenieur würde ihn ersetzen. Jean Charles Bartholdi hatte sein ganzes Vermögen in britische Eisenbahnaktien gesteckt. Er hatte sich an vielen Compagnien beteiligt, die vorgaben, größere Städte miteinander verbinden zu wollen. Er hatte sogar die Populationen der einzelnen Städte berechnet. Welche Strecken würden sich lohnen? Wer betrieb diese Strecken? Wer waren die Konkurrenten? Wo gab es Minen und Produktionsstätten, eine Eisen verarbeitende Industrie, die auf ein Schienennetz angewiesen war? Reinvestierten sie den Gewinn, oder zahlten sie ihn in Form von Dividenden an die Aktionäre aus? Wer waren die Zulieferbetriebe, die von diesem Boom profitieren würden? Plötzlich hatten alle wie wild Eisenbahnaktien gekauft. Die Preise schossen in den Himmel. Charlotte hatte ihn gewarnt. Sie misstraute diesen schwarzen, Ruß spuckenden Kolossen, doch er hatte sie überzeugt. Er wusste alles über diese neue Branche. Eisenbahnaktien waren eine hundertprozentig sichere Investition. Der Staat übernahm sogar einen Teil der Baukosten, subventionierte, förderte, stellte Grund und Boden zur Verfügung, gewährte Zinsgarantiezuschüsse, erteilte lange Konzessionslaufzeiten; es war absehbar, dass das Eisenbahnfieber keine Grenzen mehr kennen würde. Wo war das Risiko? Frankreich war groß. Die Eisenbahn würde die Wirtschaft förmlich explodieren lassen. Das Zeitalter der Beschleunigung hatte begonnen, eine Erfindung jagte die andere: neue Technologien, Industrien. »Only the sky is the limit«, schrieb die neue britische Wirtschaftszeitung »The Economist«. Dumm, wer das nicht erkannte und nicht auf diesen Zug aufsprang.

Jean Charles Bartholdi hatte nie zu den Dummen gehören wollen. In einer Minute würde der Zug in den Wald hineinfahren. Dieser Zug würde eine unglaubliche Geschwindigkeit von fünfunddreißig Stundenkilometern haben. Der Zugführer würde ihn erst im letzten Augenblick sehen und nicht mehr anhalten können. Bartholdi dachte an seine Söhne Charles und Frédéric, der ältere sechzehn, der jüngere gerade vierzehn geworden. Bitterkeit und Wehmut schnürten ihm die Kehle zu. Charles war ihm besonders ans Herz gewachsen. Es ist nicht wahr, dass Eltern für jedes Kind das Gleiche empfinden. Charles neigte zur Melancholie, wie er, sein Vater.

Jean Charles Bartholdi löste die Uhrenkette von seiner Brusttasche und stieg wieder die Böschung hinunter. Dort hatte er Gehrock, Veston und Zylinder ins Gras gelegt. Sorgsam legte er einen Brief in den schwarzen Hut. Er warf einen letzten Blick auf die goldene Uhr seines Vaters, löste sie von der Kette. Eine hübsche Berlocke hing daran, ein elfenbeinernes Anhängsel, das einen Pinienkern darstellte, das Symbol der Ewigkeit.

Ein ohrenbetäubendes Pfeifen, Stöhnen und Rasseln zerriss die Stille. Es kam direkt aus dem Wald, es kam auf ihn zu. Er hetzte auf das Bahngeleise hinauf und kniete nieder, als wolle er Gott für diesen Frevel um Verzeihung bitten. Ein dampfendes Stahlross schoss aus dem Wald. George Stephenson! Jean Charles Bartholdi starrte auf das schwarze Monster, das wie ein rauchender Feuerdrachen auf ihn zukam. Er fixierte das Ungeheuer. Er hatte sich vorgenommen, keine Angst zu haben. Dann kniff er die Augen derart zusammen, dass er nichts mehr sehen konnte. Er hörte weder das Quietschen der Bremsen noch das Aufjaulen und Rattern der Maschinen. Es war vorbei. Die Eisenbahn war zu ihm gekommen. Bartholdis Körper wurde in tausend Stücke zerrissen. Sein linker Fuß klatschte gegen seinen Zylinderhut und hinterließ eine blutige Spur auf seinem Abschiedsbrief.

Hatte er einen letzten Willen?

»Sterben«, murmelte die junge Witwe Charlotte Bartholdi, geborene Beysser. Sie saß konsterniert hinter dem schweren Eichentisch ihres verstorbenen Mannes in der Colmarer Wohnung. Ein Stapel Briefe lag auf dem Tisch. Die meisten Schreiben waren ungeöffnet. Vor ihr lag das handgeschriebene Testament ihres Ehemannes. Der Verstorbene hatte es mit einem bronzenen Löwen beschwert, einer Kopie des Luzerner Löwendenkmals, das einen erschöpften Löwen in der Agonie zeigt. Charlotte Bartholdi starrte die Skulptur an und spürte die ganze Traurigkeit des verendenden Tieres. Sie hatte die Arme ausgebreitet und hielt sich an der Tischkante fest. Selbst im Augenblick tiefster Trauer konnte ihre Schönheit nicht verblassen. Sie hatte ein schmales Gesicht mit leicht hervorstehenden Wangenknochen und auffallend kräftigen, schwarzen Brauen. Sie hob langsam den Kopf und ließ den Blick über die große Bibliothek ihres Mannes schweifen. Er hatte in seinem Leben mehrere hundert Bücher gesammelt und alle fein säuberlich in der verglasten Bücherwand aufbewahrt. Nach einer ganz bestimmten Ordnung. Die untere Hälfte der Wände war mit dunkel gebeizter Täferung verkleidet, darüber war die Wand mit einer grünen Tapete bespannt, die filigrane weiße Efeumuster trug. Kupferstiche an den Wänden zeigten maritime Motive und Szenen aus den französischen Kolonien.

Charlotte starrte nun auf die große Pendule zwischen den beiden kleinen Fenstern, die die Sicht auf eine kleine Gasse freigaben. Die Pendule hatte soeben in der Rue des Marchands 30 die nächste halbe Stunde angesagt. Charlotte realisierte in diesem Augenblick, dass die Zeit nicht stehen bleiben würde, bis sie ihren Trauerschleier abgelegt hatte. Das Leben kannte kein Mitleid. Aber sie glaubte daran, dass der Mensch die Fähigkeit hatte zu trauern und dass er auch die Fähigkeit hatte, diese Trauer zu überwinden. Fast trotzig zupfte sie an ihren Pulswärmern aus schwarzer Seide. Dann sah sie den wuchtigen Globus, den ihr Mann in einem Anflug von Euphorie beim britischen Globenverlag Newton & Son bestellt hatte. Die Eisenbahnschienen würden sich wie ein Spinnennetz über den gesamten Globus verteilen, hatte er immer wieder erzählt und deshalb britische Eisenbahnaktien gekauft. Und diesen imposanten Globus.

»Der wurde noch im Kupferstichverfahren hergestellt«, sagte der alte Mann, der sich tief über den Globus gebeugt hatte. »Heute benutzt man Farblithografien und presst die Halbkugeln aus Karton.«

Der Besucher wandte sich Charlotte zu und bewegte sich mit unsicherem Schritt zum Schreibtisch. Erst jetzt fiel auf, dass er sich gar nicht über den Globus gebeugt hatte, sondern dass er aufgrund einer schweren Sklerose diese gebückte Haltung einnahm. Etwas umständlich rückte er den Sessel zurecht und setzte sich. Alphonse, so hieß der Mann, hatte schlohweißes Haar mit buschigen, breiten Koteletten und war der Cousin von Charlottes verstorbenem Mann, außerdem der Anwalt der Familie Bartholdi.

»Das ist alles?«, fragte Charlotte irritiert.

»Ja, Charlotte, das ist alles«, sagte Alphonse mit gedämpfter Stimme und schob ihr das große Bündel Eisenbahnaktien über den Tisch.

»Das ist nichts«, flüsterte Charlotte, »das ist nichts als wertloses Papier.«

Nach einer Weile des Schweigens erhob sich Alphonse und machte eine kleine Verbeugung. Das Atmen fiel ihm schwer. »Ja, das ist nichts. Er hat nichts hinterlassen«, sagte er.

Die Pendule schlug erneut die Zeit an. Die Uhrenhersteller dachten, dass der erste Schlag die Menschen weckt und ein zweiter Schlag nötig war, aber Charlotte hatte die ganze Nacht über nicht geschlafen. Sie starrte auf den bronzenen Bacchus auf dem steinernen Vorsprung des Cheminées. Der Gott des Weines saß auf einem Fass, in dem ein Ziffernblatt aus Emaille eingearbeitet war: ein Hochzeitsgeschenk. Feste, Einladungen, Soupers, das war nun vorbei. Sie würde den Rest ihres Lebens allein verbringen. Ich werde mich um Frédéric kümmern, dachte sie. Das gab ihr Mut. Jetzt bemerkte sie, dass Cousin Alphonse sie die ganze Zeit über fragend anschaute. Er war unsicher auf den Beinen. Sie konnte ihn nicht warten lassen.

»Danke, dass du gekommen bist, Alphonse. Soll ich dich zur Kutsche hinausbegleiten?«

»Ich stehe stets zur Verfügung, Charlotte. Ich habe meinen Cousin sehr geschätzt. Ich bin deshalb bereit, die Ausbildung eines meiner Neffen zu übernehmen. Entscheide du, wer der Talentiertere von beiden ist.«

Als Alphonse den Raum verließ, sah Charlotte Frédéric in der Tür. Er war ein verträumter Junge mit pechschwarzem Haar und südländischem Teint. Charlotte lächelte matt und lud ihren Sohn mit einer anmutigen Kopfbewegung ein, sich zu ihr zu setzen. Frédéric rannte auf sie zu und warf sich in ihre Arme. Sie drückte ihn fest an sich.

»Ist das die Uhr von Papa?«, fragte Frédéric, als er den Kopf wieder frei hatte.

»Die gehört jetzt dir, Frédéric. Halte sie in Ehren.«

Frédéric nahm die Uhr in die Hand und legte sie ehrfürchtig auf den Tisch zurück. »Ich will sie nicht. Charles ist der Älteste. Warum hat uns Papa im Stich gelassen? Wir sind doch reich.«

»Es ging nicht um Geld.«

»Hatte er uns nicht mehr lieb?«

»Es ging um die Ehre, Frédéric. Er wollte die Schande nicht ertragen.« Charlotte nahm ihren Jungen erneut in die Arme. »Du wirst mich nie verlassen, Frédéric, nicht wahr?«

Sie küsste sein Haar, als wolle sie den Duft ihres Sohnes einatmen. Frédéric ließ es geschehen und fühlte ihre weiche Brust im Gesicht. Er blickte zu seiner Mutter hoch und schüttelte lächelnd den Kopf. Dann nahm Charlotte seinen Kopf zärtlich in beide Hände und küsste ihn auf den Mund. Sie hielt einen Moment inne und schaute Frédéric in die Augen, als versuche sie zu lesen, was nun in ihm vorging. Frédéric lächelte ergeben und fuhr sich mit der Zungenspitze über die feuchten Lippen. Charlotte zog ihn erneut an sich heran und küsste ihn verzweifelt. Dann sah sie Charles in der Tür stehen. Er stützte sich am Türrahmen ab und schien untröstlich. Er hatte große Ähnlichkeiten mit seinem Bruder, doch etwas unterschied ihn von ihm, seine innere Unruhe vielleicht, das Glühen in den Augen, Zorn?

»Komm zu uns«, sagte Charlotte. Charles drehte sich um und verschwand im dunklen Flur.

Charles starrte den Steinklotz an, den er in den Obstgarten hinter dem Haus geschleppt hatte. Mit Hammer und Meißel begann er, den Granitblock zu bearbeiten. Er hämmerte wie besessen, zornig, erbarmungslos, als könne er dadurch den Verlust seines Vaters ungeschehen machen. Es wäre ihm lieber gewesen, seine Mutter wäre gestorben, aber Gott hatte ihm den Vater genommen. Er hatte ihn so geliebt, jetzt hatte er niemanden mehr.

»Was tust du da?«

Charles hatte seine Mutter nicht kommen hören.

»Ich mache einen Grabstein für Vater. Stat sua cuique dies. Jedem ist sein Tag bestimmt. Aus der ›Aeneis‹ von Vergil.«

Charlotte stellte sich hinter den Stein und fixierte Charles mit drohendem Blick. »Lass das sein, Charles. Ich habe das Gehämmere satt. Eine geschlagene Stunde haben sie gebraucht, um im Wohnzimmer den Sarg zu verschließen.«

»Ich will diesen Grabstein für Vater.«

Charlotte ging an ihrem Sohn vorbei, ohne ihn nochmals eines Blickes zu würdigen, und schritt durch den leicht abfallenden Obstgarten zum Haus zurück. »Ich habe bereits einen Grabstein in Auftrag gegeben, Charles«, sagte sie eisig, »tue einfach, was ich dir sage, und zieh dir was Anständiges an. Wir müssen zum Pfarrer.«

»Es tut mir leid, Madame Bartholdi«, sagte der junge Pfarrer und rieb sich verlegen die schmalen Hände, »aber wir können Ihren Ehemann nicht in geweihter Erde bestatten. Er hat gegen Gottes Gesetz verstoßen.« Seine Hände waren von einem zarten Weiß, als hätte er ein Leben lang nur Klavier gespielt und nie da draußen in der brütenden Hitze eine Erdscholle angefasst.

Charlotte war enttäuscht und blickte zu ihren beiden Jungen. Frédéric versuchte ihr zuzulächeln. Sie saßen in der kleinen Sakristei hinter dem Kirchenschiff. Der Raum war finster und mit dunklem Holz verschalt, an der Wand hingen Priestersoutanen in verschiedenen Farben, über der tiefen Eingangstür ein Kreuz.

»Mein Vater wollte nach Paris!«, schrie Charles plötzlich und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, »er hat den Zug nicht gehört, das ist alles!«

»Er hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen?«, fragte der Pfarrer leise. Er hob das Kinn leicht an und mimte den Allwissenden, als habe ihm der Heilige Geist etwas zugeflüstert.

Charlotte nahm eine Goldmünze aus ihrer Tasche und schob sie über den Tisch. »Das hat mein Ehemann hinterlassen.«

Der Pfarrer nahm die Goldmünze an sich. »Das ist tatsächlich kein Abschiedsbrief, Madame«, sagte er und drehte das Goldstück nachdenklich in seinen Klavierfingern. Nach einer Weile schaute er zu Charlotte Bartholdi hoch und sagte ehrfürchtig: »Das ist eine besonders großzügige Spende eines ehrenwerten Mitglieds unserer Kirche!«

Charlotte Bartholdi musterte ihn mit stiller Verachtung und warf ihren beiden Söhnen einen kurzen Blick zu. Schließlich sagte sie: »Ja, mein Mann war ein ehrenwertes Mitglied der Kirchgemeinde. Und ehrenwerte Mitglieder werden in der geweihten Erde innerhalb der Friedhofsmauern bestattet.«

»Ja, das ist Gottes Wille, Madame Bartholdi«, pflichtete ihr der Pfarrer bei und blickte einen Moment auf den gekreuzigten Jesus über der Tür, »danken Sie Gott, dass es schnell vorbei war, denn manchmal ist es ein Schrecken ohne Ende für die Angehörigen. Sie haben bestimmt gehört, dass Voltaire im Todeskampf seine Exkremente verschlungen hat.«

Charlotte Bartholdi verschlug es die Sprache. Noch einmal schaute sie zu ihren Söhnen, stand abrupt auf und nickte enerviert. Der Pfarrer erwiderte das Nicken und lächelte leicht säuerlich. Dann wollte er Charles über den Kopf streichen, doch dieser wich angewidert zurück.

»Dieb!«, zischte er.

Charlotte Bartholdi wollte ihren Jungen zurechtweisen, doch der Pfarrer wehrte gutmütig ab: »Ist schon gut, Madame, der Junge macht schwere Zeiten durch. Ich verzeihe ihm, und Gott tut es auch.«

Aber Charles dachte nicht im Traum daran, ihm zu verzeihen. Er würde ihn eines Tages bestrafen, fürchterlich bestrafen.

Die Überreste von Jean Charles Bartholdi lagen in einem Eichensarg, der in seinem Arbeitszimmer aufgebahrt war. Man hatte die einzelnen Körperteile getrocknet, in Kalk gelegt und in Leinensäcke verschnürt. Der Sarg war nun verschlossen, man hatte den Angehörigen den Anblick ersparen wollen – sie hatten keine Ahnung, was George Stephenson angerichtet hatte. Charlotte saß erschöpft, aber tapfer im üppig gepolsterten Armsessel ihres verstorbenen Gatten und nahm die Beileidsbezeugungen mit kurzem Nicken zur Kenntnis. Sie war ganz in Schwarz gekleidet und hatte den Schleier tief über das Gesicht gezogen.

Zahlreiche Menschen wollten den Angehörigen des Präfekturberaters von Colmar kondolieren. Sie betraten ehrfürchtig, fast schüchtern das Arbeitszimmer, waren im ersten Augenblick von der großen Bibliothek und all den Kostbarkeiten beeindruckt und schritten dann würdevoll zum Sarg, tunkten einen Zweig in Weihwasser und machten das Kreuzzeichen über dem vernagelten Sarg, der zur Hälfte mit einem schwarzen Seidentuch bedeckt war. Das obere Ende war frei. Dort hatte der Zimmermann ein bronzenes Kreuz in den Deckel geschlagen, Charlotte hatte das so gewünscht. Auf dem schwarzen Tuch standen zwei vergoldete Kerzenhalter, deren Füße mit Perlmutt verziert waren. Wachs träufelte in dicken Tränen auf das schwarze Grabtuch. Wie in Trance starrte Charlotte auf die kleiner werdenden Kerzen und dachte, dass auch das Leben mit jedem Tag kürzer wurde und schließlich erlosch. Sie hätte diesen Gedanken gern mit ihrem Ehemann geteilt. Jetzt wurde ihr erneut schmerzlich bewusst, dass dies nie mehr möglich sein würde. Charles und Frédéric standen wie kleine Wachsoldaten links und rechts von ihrer Mutter. Sie hatten sich nicht getraut, auf den süß-säuerlichen Geruch im Haus hinzuweisen, gegen den man beim Apotheker Chlor hätte kaufen müssen.

Die Fremde am Grab

»Da ist ein Land der Lebenden«, rief der Pfarrer und ließ seinen Blick über die zahlreichen Trauergäste schweifen, die zwischen den Gräberfeldern standen, »und da ist ein Land der Toten; und dazwischen gibt es eine Brücke, verfugt mit unseren Erinnerungen und guten Gedanken. Lasst diese Brücke stark sein, als Verbindung zu unserem geliebten Jean Charles Bartholdi.«

Über hundert Menschen wollten dem Präfekturberater von Colmar die letzte Ehre erweisen und folgten dem Sarg bis zum frisch ausgehobenen Grab auf dem Ladhof-Friedhof hinter der Kirche. Hier waren bereits zwei der vier Bartholdi-Söhne begraben; sie waren im Kindesalter gestorben. Als der Sarg langsam in das Erdloch hinuntergelassen wurde, hörte man ein klägliches Weinen. Doch niemand schaute sich um. Die Menschen waren es gewohnt, dass man starb und Abschied nahm, dass jede Erkältung die Lunge entzünden und den Tod bringen konnte.

Der Pfarrer ergriff als Erster den Zweig in der Weihwasserschale, die vor dem Grab aufgestellt war, und besprenkelte den Sargdeckel. »Der Herr ist mein Hirte, mir wird es an nichts fehlen. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führt mich zu frischem Wasser.«

Ein Trauergast nach dem andern verabschiedete sich vom toten Jean Charles Bartholdi. Als eine junge Frau vor das Grab trat und den Zweig benässte, begann sie zu weinen, zuerst leise, dann so herzergreifend und hemmungslos, dass es sie schüttelte. Es war dasselbe Weinen, das die Trauergäste zuvor schon gehört hatten. Die Frau mochte Mitte zwanzig sein, und ihre schmale Taille, die dünnen Beine und die blassen, zierlichen Gesichtszüge gaben ihr das fragile Aussehen einer engelhaften Gestalt. Das Haar hatte sie gescheitelt und am Hinterkopf verknotet. Nur ein paar blonde Locken fielen zur Seite.

»Wer ist das?«, flüsterte Charlotte Bartholdi unter ihrem Schleier. Die junge Frau missfiel ihr, ja beunruhigte sie.

»Ich weiß es nicht, Charlotte«, sagte Cousin Alphonse, »vielleicht jemand von der Präfektur?«

Einige Trauergäste versuchten, die Frau zu stützen, doch als sie Charles erblickte, brach sie vollends zusammen und wurde ins Pfarrhaus geführt.

»Kennst du diese Frau?«, fragte Charlotte ihren Sohn.

»Nein«, antwortete Charles, »woher sollte ich sie kennen?«

»Als sie dich sah …«

»Ich kenne sie nicht«, wiederholte Charles unwirsch, »also lass mich!«

Plötzlich kam Charlotte die bronzene Uhr mit dem römischen Gott Bacchus in den Sinn. War Bacchus nicht der Gott des Rausches, der Ausschweifungen, der Trunksucht und des Lasters? Wieso hatte ihr Ehemann seinerzeit ausgerechnet diese Uhr als Hochzeitsgeschenk ausgewählt? Hatte er etwa eine dunkle, unbekannte Seite? Charlotte verwarf den Gedanken wieder und dachte, es sei unanständig, ihrem geliebten Mann etwas zu unterstellen, jetzt, wo er tot war. Die ganze Zeit ihrer Ehe hatte es nie einen Anlass für irgendwelche Vermutungen gegeben. Trotzdem plagte sie eine unbezähmbare Neugier, und sie fragte ihren Sohn erneut: »Kennst du diese Frau wirklich nicht?«

Charles warf ihr einen entnervten Blick zu und atmete tief durch.

»Wieso hat sie dich so angestarrt?«

»Frag sie doch!«, zischte Charles.

»Es war die Trauer, Charlotte«, versuchte Cousin Alphonse zu beschwichtigen, »die Trauer.«

Nachts, wenn Charlotte nun allein im ehelichen Schlafzimmer lag und sich stundenlang von einer Seite auf die andere wälzte, wünschte sie sich, Jean Charles wäre noch da, und sie könnte mit ihm über ihre Pläne reden. Wenn der Schmerz in ihrer Brust zu stark wurde, hasste sie ihren Ehemann. Wie ein Feigling hatte er sich aus dem Leben geschlichen. Doch wenn der Tag anbrach und die ersten Lichtstrahlen durchs Fenster fielen, vermisste sie ihn wieder. Sie hatte Angst, dass sie eines Tages die Erinnerung an ihn verlieren würde.

Auch ihre Söhne litten, oft besuchten sie gemeinsam das Grab ihres Vaters. Zuerst aber gingen sie zur Beichte, ihre Mutter wollte es so. Doch sobald Frédéric den Beichtstuhl betreten und den roten Vorhang hinter sich zugezogen hatte, verließ Charles leise die Kirche. Er hatte nichts zu beichten.

Auch an diesem Tag schlich Charles hinaus zum Friedhof, der gleich hinter dem Gotteshaus lag. Er wusste nicht, was ihn dazu drängte, vielleicht die Tragik, dass dies der einzige Ort war, wo er seinen Vater aufsuchen konnte. Es war nicht so, dass die Zeit alle Wunden heilte. Nein, die Zeit stahl die Erinnerung. Doch hier auf dem Friedhof fühlte Charles die Anwesenheit seines Vaters am stärksten. Hier schöpfte er Mut, Kraft, fühlte er sich verstanden, hier hatte er seinen Vater für sich allein.

Schon von weitem sah er die junge Frau, die vor dem Grab seines Vaters stand. Charles erkannte sie sofort und ging langsam auf sie zu. Dann hörte er ihr leises Weinen, das wie das verzweifelte Wimmern eines verletzten Kindes klang. Er blieb neben ihr stehen und starrte auf den Grabstein.

»Haben Sie meinen Vater gekannt?«, fragte er leise, ohne die junge Frau anzuschauen.

»Ja«, antwortete sie mit tränenerstickter Stimme.

»Darf ich Sie fragen, wie gut Sie ihn gekannt haben?«

»Wir standen uns sehr nahe«, flüsterte sie verlegen.

»Ich habe ihn auch sehr geliebt«, sagte Charles leise, »und ich liebe ihn mehr denn je.«

»Ich heiße Marie-Luce«, sagte die Frau und schnäuzte ihre Nase, »Sie können sich wohl nicht an mich erinnern. Es ist lange her, dass Ihr Vater mich mit Ihnen besuchte.«

»Sie haben ihn gut gekannt? Schon lange gekannt?«, fragte Charles irritiert.

»Ja«, sagte Marie-Luce und wischte sich mit ihrem fein bestickten Taschentuch sorgfältig die Tränen aus dem blassen Gesicht. Das Tuch war stark parfümiert und verströmte den Duft von Ingwer und Zimt. Als sie knirschende Schritte im Kies hörten, drehten sie sich um. Frédéric kam auf sie zu.

»Kann ich Sie wiedersehen?«, fragte Charles hastig. Er liebte ihren Duft von Anfang an.

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee wäre«, sagte Marie- Luce, »ich arbeite in der Präfektur, beim Grundbuchamt, Jeannot hatte manchmal dort zu tun. So haben wir uns kennen gelernt.«

»Sie nannten ihn Jeannot?«, murmelte Charles überrascht.

»Ja«, flüsterte sie. Dann strahlte sie plötzlich. »Sie sehen Ihrem Vater so ähnlich. Sie erinnern mich an die Zeit, als ich in der Präfektur anfing. Er war ein bisschen – so wie Sie, ich war sechzehn.«

Frédéric blieb vor ihnen stehen. Marie-Luce verabschiedete sich mit einem scheuen Lächeln und verließ den Friedhof rasch in entgegengesetzter Richtung.

»Wer war diese Frau? Wir haben sie bereits an Vaters Beerdigung gesehen.«

»Ich weiß es nicht, Frédéric.«

»Wieso weint sie immer?«

»Wir sind nicht alle aus dem gleichen Holz geschnitzt. Ich denke, sie hat Vater sehr gemocht. Auch ich habe alles verloren, du hast noch eine Mutter.«

Charlotte stand etwas verloren im geräumigen Arbeitszimmer ihres verstorbenen Mannes und überlegte, ob sie etwas vergessen hatte. Vor dem Cheminée standen drei Reisekoffer. Frédéric und Charles betraten das Zimmer. Frédéric wollte den größten Koffer nehmen, doch Charles schubste ihn beiseite und meinte: »Mach dich nicht lächerlich, du bist schwächlich wie ein kleines Mädchen.« Charles hatte beinahe schon die Postur eines jungen Mannes. Er griff beherzt nach Frédérics Koffer und trug ihn hinaus.

Frédéric schien niedergeschlagen, und Charlotte machte eine abschätzige Bewegung in Richtung Tür. »Du kennst ihn ja.«

Frédéric seufzte und fragte dann: »Willst du dich nicht anders anziehen? Das Trauerjahr ist vorbei, du solltest das schwarze Kleid in den Schrank hängen und deinen Schleier wieder ablegen.« Er wollte ihr die schwarzen Handschuhe ausziehen, doch Charlotte zog ihre Hand zurück.

»Nein, Frédéric, nur der Tod kann mich von der Trauer befreien. Ich habe deinen Vater aufrichtig geliebt. Du wirst dich daran gewöhnen müssen, dass ich bis an mein Lebensende Schwarz tragen werde. Ich habe es anders versucht, aber ich kann nicht.«

Frédérics Blick fiel auf die Bronzeskulptur des sterbenden Löwen auf dem Schreibtisch seines Vaters.

»Du kannst ihn haben, Frédéric, ich möchte ihn nicht mehr sehen. Er erinnert mich zu sehr an mein eigenes Leid.«

Frédéric nahm den Löwen in seine Hände. »Wie kann ein Mensch eine derart bewegende Skulptur erschaffen? Onkel Alphonse sagte mir, das Original sei gigantisch, in Stein gehauen, irgendwo in der Schweiz. Wurde sein Schöpfer berühmt?«

»Ich weiß es nicht, Frédéric. Der sterbende Löwe erinnert an den Heldentod der während der Revolution getöteten Schweizergardisten in den Tuilerien. Dein Vater mochte diese Bronze, sie ist ein Andenken aus Luzern.«

»Warst du auch in der Schweiz?«

»Nein, dein Vater hat sie von einem Jahresausflug der Präfektur mitgebracht.«

Frédéric stellte die Bronze wieder auf den Tisch zurück.

»Möchtest du den Löwen nicht behalten?«, fragte Charlotte.

»Nein, Mutter, ich denke über einen eigenen Löwen nach. Aber er müsste noch größer sein, monumentaler. Er müsste schon von weit her sichtbar sein, wie die Pyramiden in Ägypten. Und er müsste mich unsterblich machen.« Den letzten Satz sprach Frédéric etwas kleinlaut.

Charlotte lächelte müde. »Lass uns zu Bett gehen, Frédéric, es ist schon spät. Und morgen müssen wir früh aufbrechen.«

Mit einer Kerze stieg Charlotte in das unterirdische Gewölbe hinunter. Hier lagerten Kartoffeln und Äpfel für den Winter. Ihr Mann hatte auch ein paar Weine gelagert. Für besondere Gelegenheiten, wie er immer betonte. Eines Tages würden sie trinkreif sein, aber er würde nicht mehr da sein. Sie zog einen Reisekoffer unter einem Gestell hervor, der ihr aufgefallen war, als sie die Koffer für die Reise nach Paris heraufgeholt hatte. Er musste leer sein, und doch hatte sie den Eindruck, dass das nicht stimmte.

Sie ging mit dem Koffer in die Küche und öffnete ihn. Er war tatsächlich nicht leer, sondern zur Hälfte mit schwarz bedruckten Papierstreifen gefüllt: »provisoires«. Nach dem Finanzdebakel, das Frankreich vor über hundert Jahren mit dem Papiergeld des Schotten John Law erlebt hatte, war man skeptisch geworden und nannte diese Fünfhundert- und Tausend-Francs-Geldscheine »provisoires«.

Aber woher stammte das Geld? Wieso war es im Keller versteckt worden? Hatte sie all die Jahre das Bett mit einem Mann geteilt, der Geheimnisse hatte?

Charlotte blieb in dieser Nacht lange wach. Sie saß vor dem kunstvoll verzierten Sekretär ihres Ehemannes und dachte nach. Nach einer Weile klappte sie die Schreibplatte hinunter und stützte ihre Ellbogen darauf. Sie ließ ihren Blick über die zahlreichen kleinen Schubladen schweifen und öffnete schließlich die unterste Schublade auf der linken Seite. Papierkram, Notizen, Postkarten. Sie öffnete nun eine Schublade nach der andern. Heiratsurkunde, Heimatschein; sie nahm sich vor, die Dokumente endlich zu ordnen. Einem plötzlichen Impuls folgend, nahm sie zwei Schubladen vollständig aus dem Sekretär und griff mit der Hand in den Hohlraum. Sie ertastete einen Schieber und versuchte, ihn zu bewegen. In diesem Augenblick löste sich ein rechteckiges Stück eingelegtes Ahornholz aus der Front des Sekretärs. Mit beiden Händen bemühte sich Charlotte, das schmale Geheimfach herauszuziehen. Das Holz knarrte, als würde der Sekretär plötzlich mit Leben erfüllt. Die Schublade war schwer, und überrascht sah die Witwe von Jean Charles Bartholdi, weshalb: In ihr waren Goldmünzen gestapelt, unzählige Vierzig-Francs-Münzen mit dem Konterfei von Charles X. Langsam nahm Charlotte die Münzen heraus und stapelte sie erneut, nun auf der mit Leder überzogenen Schreibfläche. Die ersten Münzen waren wie neu, waren erst 1830 geprägt worden, doch je mehr Münzen sie herausnahm, desto älter wurde das Prägungsdatum.

Als zuletzt Sechzehn-Franken-Goldmünzen der Helvetischen Republik zum Vorschein kamen und Charlotte deren Prägedatum sah, erfasste sie ein kalter Schauer. War es möglich, dass ihr Gatte seit Jahrzehnten Gold gesammelt hatte? Und woher hatte er diese enorme Menge davon? Weshalb konnte er sich den Erwerb des Goldes leisten? Die Frage, die sie aber am meisten beschäftigte, war: Wieso hatte sie von alldem nichts gewusst? War es Gottes Wille, dass niemals ein Mensch einen anderen wirklich kannte, dass jeder verdammt war, in seiner Haut gefangen zu sein und im Grunde einsam zu bleiben?

Wer füttert die Schweine?

Nach qualvollen Monaten der Trauer und des Haderns wollte Charlotte ihrem verstorbenen Ehemann beweisen, dass sie auch ohne ihn bestehen würde, und bestieg mit ihren beiden Söhnen eine Kutsche nach Paris. In nur sechs Tagen würden sie die über fünfhundert Kilometer lange Strecke zurücklegen. Sie hatte Charles am frühen Morgen erklärt, dass er nun auch die Schule in Paris besuchen könne.

»Warum denn so plötzlich?«, hatte Charles misstrauisch gefragt.

»Bildung ist wichtig«, war Charlottes knappe Antwort.

»Und letzte Woche war Bildung nicht wichtig?«, fragte Charles gereizt.

»Bildung ist immer wichtig, Charles, aber nicht jeder kann sich Bildung leisten.«

»Und wieso hast du plötzlich das Schulgeld für mich beisammen?«

»Charles«, seufzte Charlotte, »ich bin müde.«

Frédéric fiel es nicht leicht, Colmar zu verlassen, er liebte seine Heimat. Er hatte keine Ahnung, was ihn in Paris erwartete, allein mit Charles. Er würde den Launen seines Bruders schutzlos ausgeliefert sein. Er wäre lieber mit seiner Mutter in Colmar geblieben und hätte Löwen gezeichnet.

Charles hingegen war froh, von Colmar wegzukommen, in Paris standen seine Chancen, zu einem großen Kunstmaler heranzuwachsen, wesentlich besser. Er würde seiner Mutter noch beweisen, wer von ihren beiden Söhnen größeres Talent hatte; sie würden sich alle noch wundern. Auf jeden Fall hatte er keine Lust, in Paris das Kindermädchen für seinen jüngeren Bruder zu spielen.

Frédéric saß Charles in der Kutsche gegenüber. Sie hatten sich nichts zu sagen. Charles bemerkte, dass es Frédéric unangenehm war, wenn er ihn anschaute. Es schien ihm körperliche Schmerzen zu bereiten. Er hingegen war ruhig, manchmal lächelte er still vor sich hin und schaute zum Fenster hinaus. Frédéric versuchte, den Gesichtsausdruck seines älteren Bruders zu deuten: Er schien etwas zu genießen oder sich auf einen bevorstehenden Triumph zu freuen. Fieberhaft überlegte Frédéric, ob es mit ihm zu tun hatte und welche Boshaftigkeiten Charles ihm in Paris antun könnte. Als seine ängstlichen Fantasien überhandzunehmen drohten, versuchte er, an seinen Löwen zu denken, den mutigen, und konzentrierte sich auf die Mähne, das Maul, die Kopfstellung.

»Bezahlt jetzt Onkel Alphonse auch mein Schulgeld?«, fragte Charles.

Charlotte schreckte hoch. Sie hatte sich in Erinnerungen verloren, hatte an all die schönen Worte gedacht, die ihr Jean Charles Bartholdi geschrieben hatte, bevor sie zum ersten Mal allein am Flussufer spazieren gingen.

»Du sagtest, du hättest kein Geld. Hast du mich angelogen? Du hattest schon immer Geld, aber du wolltest es nicht für meine Schulausbildung vergeuden. Dann hat dich in der Nacht das schlechte Gewissen geplagt …«

»Wieso denkst du immer so negativ, Charles? Ich liebe dich. Bildung ist etwas vom Wichtigsten im Leben. Es öffnet Türen, es ermöglicht dir ein besseres Leben.«

»Ich habe dich gefragt, woher du das Geld hast.«

»Charles, es steht dir nicht zu, so mit deiner Mutter zu sprechen. Danke Gott, dass du nun die Schulen in Paris besuchen darfst.«

Die Pferde wurden unruhig und begannen zu scheuen. Man hörte die Peitsche und die Rufe des Kutschers draußen auf dem Bock. In der Ferne erklang ein giftiges Pfeifen, als würde gleich ein Dampfkochtopf explodieren. Jetzt sahen sie alle den schwarzen Koloss, der ihre Kutsche tosend überholte und dabei schwarzen Rauch ausstieß. Charlotte legte schützend die Hände vor die Augen ihrer Söhne. »Bloß wegschauen«, rief sie eindringlich, »bloß nicht hinausschauen, ihr würdet erblinden!«

Als die Eisenbahn am Horizont verschwunden war, hörte man wieder nur die Hufe der Pferde und das Knirschen der Räder auf dem Feldweg.

Charles befreite sich mit einer unwirschen Bewegung von der Hand seiner Mutter. »War das nicht etwas übertrieben?«

»Nein!«, echauffierte sich Charlotte, »die Eisenbahn raubt dir das Augenlicht, sie zerstört deine Sinne, und dann hast du ein ständiges Flimmern vor den Augen und siehst beim Lesen nur noch ein milchiges Durcheinander von fleckigen Buchstaben.«

Charles kicherte vor sich hin.

»Lach nur! Aber halte dir das nächste Mal die Ohren zu. Sonst platzt dir das Trommelfell, und du verlierst für immer das Gehör.«

»Frédéric«, lachte Charles, »die Gefahr ist vorbei. Du hast überlebt! Du kannst die Augen wieder öffnen.«

»Damit lässt sich nicht spaßen, junger Mann«, mischte sich der ältere Fahrgast ein, der Charlotte gegenübersaß, »die Eisenbahn kann üble Krankheiten verursachen. Sprachstörungen! Die massiven Erschütterungen zerstören das Zentralnervensystem, die Sprache wird schleppend, du verlierst mitten im Satz den Faden und stammelst nur noch zusammenhanglose Worte. Also hör auf deine Mutter!«

»In der Eisenbahn, die uns eben überholt hat, saßen viele Menschen«, bemerkte Charles.

»Du solltest sie sehen, wenn sie in Paris ankommen«, sagte Charlotte streng, »sie wirken völlig benommen, verwirrt, einige werden sogar den Verstand verloren haben.«

»Deine Mutter hat recht, junger Mann. Die Eisenbahn bringt den Tod. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Die Geschwindigkeiten sind nun mal viel zu hoch. Der menschliche Körper ist dafür nicht gebaut. Als Gott den Menschen erschuf, gab es schließlich noch keine Eisenbahnen. Leuchtet das nicht ein? Oder gab es im Garten Eden etwa eine Eisenbahn?«, meldete sich wieder der Mann.

»Mein Vater«, widersprach Charles, »hat mir alles über Eisenbahnen erzählt, er hat nicht an diese Märchen geglaubt. Mein Vater war ein belesener und gescheiter Mann!«

»Die Eisenbahn«, sagte Charlotte bitter, »hat unserer Familie kein Glück gebracht. Wir werden nie eine Eisenbahn besteigen, und ihr werdet auch nie an der Börse spekulieren. Ihr seid sensibel, habt Talent, Ideen, Visionen, ihr könnt eines Tages große Künstler werden und Bedeutendes schaffen. Doch meidet die Aktienmärkte, und besteigt nie eine Eisenbahn!«

Frédéric fühlte den Schweiß, der sich an seinem Rücken bildete und das Hemd verklebte. Wie sollte er im Internat bloß allein mit Charles klarkommen?

Charles spürte Frédérics Unwohlsein, und ja, er würde seinen kleinen Bruder bestrafen, für all die Kränkungen, die er während seiner gesamten Jugend in Colmar erlitten hatte. »Vater sagte, dass reiche Leute die Eisenbahn hassen, weil dort der einfachste Bauer dem höchsten Adligen begegnet«, sagte er und suchte den Blick seines Bruders. Doch dieser versuchte, sich auf den Löwen zu konzentrieren.

Der ältere Mann lachte. »Seit wann kann sich ein Bauer eine Eisenbahnfahrt leisten? Und wohin will er denn fahren?« Der Mann prustete vor Lachen, und sein dicker Bauch wackelte. »Das macht nun wirklich keinen Sinn, mein Junge.«

»Mein Vater sagte, die Leute würden dank der Eisenbahn mehr verdienen als früher und könnten sich dann Vergnügungsreisen leisten, etwa an die Küste. Sie würden einfach so zum Spaß reisen.«

»Und wer füttert zu Hause die Schweine? Oder nimmt man die mit?« Herzhaft lachend klopfte sich der Mann auf die Schenkel. »Das wäre eine herrliche Geschichte für ein Lustspiel von Eugène Labiche.«

Charles schaute demonstrativ zum Fenster hinaus. Er hatte seinen Vater geliebt, er würde auch die Eisenbahn lieben. Und noch einiges mehr.

Die Straßen waren schlecht. Die Reisegesellschaft war ständigen Stößen und Gerumpel ausgesetzt, obwohl die neuen Blattfederungen gegenüber früher einiges verbessert hatten. Doch kaum eine Kutsche schaffte eine Fahrt von sechs Tagen ohne Zwischenfälle. Meistens brach eine Feder oder riss ein Aufhängungsriemen.

Entlang der Hauptverkehrsachsen gab es Pensionen, Wirtshäuser oder Herbergen, die gute, jedoch teure Unterkunft für die Nacht boten. Charlotte Bartholdi zog es vor, in den wenig komfortablen Poststationen zu übernachten. Seit ihr Mann gestorben war, hatte sie Angst, noch mehr zu verlieren. Und vielleicht wollte sie ihren beiden Söhnen auch das Elend vorführen, das einfachen Menschen blühte, wenn sie keine Schulen besuchten. So schliefen sie in den ersten Nächten in den Scheunen von Poststationen auf modrigen Strohsäcken. Die letzte Nacht hingegen verbrachten sie in einem Gasthof, der den vertrauten Komfort der einst vermögenden Familie bot. Man schlief in hohen Baldachinbetten, aß Rehrücken und genoss den kurzen Aufenthalt inmitten von kostbaren Chinoiserien. Dem älteren Mitreisenden, der sich in alles einmischte, wurde ein Mädchen für die Nacht angeboten – der übliche Zimmerservice für alleinstehende Männer auf der Durchreise.

»Ihr könnt jetzt wählen«, sagte Charlotte nach dem Essen zu ihren Söhnen, »wenn ihr ein gutes Leben wollt, braucht ihr Bildung, Wissen. Ihr müsst einen richtigen Beruf erlernen. Ihr müsst erfolgreich sein! Aber seht euch vor: Euer Eigentum wird nie sicher sein, und wenn es nicht in die Hände von gemeinen Dieben fällt, wird es euch die Regierung wegnehmen. Erschafft etwas, was euch niemand wegnehmen kann. Erschafft Unsterbliches!«

Frédéric nickte. »Ich werde einen gigantischen Löwen erschaffen, so groß wie ein Berg, aber es wird kein sterbender Löwe sein, sondern ein kämpferischer Löwe, einer, der nie aufgibt!«

Charles lachte leise. »Viel Spaß, Frédéric. Vielleicht kriegst du in Paris eine Anstellung als Zeichner im Zoo.«

Charlotte warf ihrem Ältesten einen strafenden Blick zu.

Dieser zuckte mit den Schultern. »Ich werde mir eine eigene Welt erschaffen, Frédéric, aber meine Mutter wird sie nicht sehen, denn sie wird nur Augen für deinen Löwen haben.«

Die letzte Tagesfahrt in der Kutsche war schockierend. Überall sah die Reisegesellschaft verlumpte Gestalten die Straßen entlangziehen. Alle wollten nach Paris – Missernten und Geldentwertung hatten sie ruiniert. Ihre letzte Hoffnung waren die stickig heißen Industriehallen in der Umgebung der großen Stadt. Die Bauern, die wegen geschuldeter Pachtzinsen von ihren Feldern vertrieben worden waren, hatten kein Geld für eine Kutschenfahrt, geschweige denn für eine Übernachtung. Sie schliefen in den Wäldern und ernährten sich von Beeren und dem getrockneten Fleisch, das sie von ihren Höfen mitgenommen hatten. Mit ihnen hatten sich Hunderttausende von Verzweifelten in ganz Europa auf den Marsch zu den Hochöfen der neuen Industrien gemacht.

»Werden die alle Arbeit finden?«, fragte Frédéric skeptisch.

»Nein«, antwortete Charlotte leise, »immer mehr gibt es jetzt Maschinen, die Menschen ersetzen, Maschinen, die länger arbeiten können als sechzehn Stunden am Tag, Maschinen, die nie müde oder krank werden, Maschinen, die all diese Menschen eines Tages erneut vor dem Nichts stehen lassen werden.«

»Was wird dann aus ihnen?«, fragte Frédéric besorgt.

»Ich weiß es nicht, Frédéric. Gib acht, dass du nicht dazugehörst.«

»Sie werden aufbegehren«, mischte sich Charles ein, »sie werden sich zusammenschließen und holen, was man ihnen verwehrt. Sie haben nichts zu verlieren. Sie werden eine gerechtere Welt fordern und dafür kämpfen!«

Charlotte missfiel das Ungestüme, das Radikale in Charles’ Entwicklung. »Haltet euch da raus! Revolutionäre werden erschossen, und die Geschichte vergisst sie.«

Der Junge im Regen

Das Arbeitszimmer des Schuldirektors im Pariser Collège Louis-le-Grand stank nach alter Wäsche und säuerlichem Wein. Inmitten verglaster Buchvitrinen, die bis zur Decke hinaufreichten, saß ein etwas älterer, bärtiger Herr hinter einem wuchtigen Schreibtisch. Dr. Junot war schlank wie eine Bohnenstange, sein Gesicht war eingefallen, als fehlten ihm die Wangenknochen.

»Nehmen Sie Platz, Madame Bartholdi, womit kann ich Ihnen dienen?«, begann er.

»Ich möchte das Schulgeld für meinen Sohn Charles bezahlen. Ich möchte nicht, dass Zweifel über unsere Bonität aufkommen. Ich habe das Geld mitgebracht.«

Dr. Junot hob abwehrend die Hand. »Es ist schon beglichen, Madame.«

»Wie ist das möglich?«, fragte Charlotte. Sie spürte einen sanften Kälteschauer, es war ihr unheimlich, aber sie wusste nicht, wovor sie sich fürchtete.

»Wer hat das Schulgeld für Charles bezahlt?«

»Unsere Schule hat einen guten Ruf, Madame. Es gibt immer wieder Ehemalige, die das honorieren und Geld spenden, damit talentierte Jugendliche, die sich unsere Schule nicht leisten könnten, trotzdem studieren können.«

»Dann hat also ein ehemaliger Schüler …«

»Nein, Madame, diese Person hat unsere Schule nie besucht. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen. Danken Sie Gott, dass es in diesen kaltherzigen Zeiten noch Menschen gibt, die Gutes tun. Jetzt liegt es nur noch am Willen Ihrer beiden Söhne, ob sie hier reüssieren.«