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Carl-Ludwig Reichert

Blues

Geschichte und Geschichten

FUEGO

– Über dieses Buch –

Traurig und heiter im Sound, mitreißend und verführerisch im Rhythmus, ironisch, unsentimental und alltagsnah im Text – das war der Blues, als er von den Afroamerikanern erfunden wurde. Er wurde zur Basis für Jazz, Rock'n'Roll und alles, was später kam. Eine unterhaltsame und informative Geschichte des Blues, die es so selbst in seinem Mutterland noch nicht gibt.

 

Der Legende nach schließt jeder wirkliche Blues-Musiker an einer ganz bestimmten Kreuzung im Mississippi-Delta einen Pakt mit dem Teufel. Sonst bleiben musikalische Kreativität und Erfolg im Geschäft und in der Liebe aus. Wer aber die Höllenhunde des Blues auf seinen Fersen hatte, wie der legendäre Robert Johnson, dem noch die Rolling Stones einen ihrer größten Hits, ›Love in Vain‹, verdanken, den konnte schließlich nur ein eifersüchtiger Ehemann mit vergiftetem Whisky stoppen. Von dieser »devil's music«, die brave Gospel-Mädchen nicht singen durften und von der gläubige Mütter ihre Söhne – vergeblich – fernzuhalten versuchten, ist hier die Rede.

Der Autor, ein profunder Kenner, versteht es, aus der Geschichte des Blues und seiner Interpreten von den Anfängen bis zu den jüngsten Revivalbewegungen mit all ihren Kreuz- und Querverbindungen heraus die subtile und sublime Qualität dieser Musik anschaulich zu machen und auch beim Lesen zum Klingen zu bringen.

Einleitung: Blues – die Mutter (fast) aller Pop-Musik

Der Blues ist das Einfache. Deshalb ist er so schwer. Man kann ihn auf nur einer Saite spielen, wie Lonnie Pitchford, auf der Gitarre wie Robert Johnson oder Jimi Hendrix, dem Piano wie Pinetop Perkins oder Memphis Slim, allein wie Blind Blake oder Corey Harris, mit anderen wie die Memphis Jug Band oder The North Mississippi Allstars, sogar als voll instrumentiertes Orchester wie bei W.C. Handy oder Andy Kirk & His Clouds Of Joy – er bleibt immer erkennbar, gebunden an das wenig variable Schema der zwölf Takte, der drei, höchstens vier grundsätzlichen Harmoniewechsel der Akkordstufen I, IV, V, (IV) und I1 – und der Blue Notes, jenen zwischen den Tonarten schwebenden unkorrekten, aber unendlich aufregenden Zwischentönen, die ihn charakterisieren. Es gibt freilich immer wieder Ausnahmebluesmusiker, die sich nicht einmal daran halten. Doch ob sie nun acht, elf oder sechzehn Takte spielen oder in nur einer Harmonie – am Feeling, am einfühlsamen Spiel und an den Blue Notes wird man den Bluescharakter immer erkennen.

Seinen ohnehin vorhandenen Hang zum Metaphysischen drückt am Besten die bekannte Legende von der geheimnisvollen Kreuzung aus, zu der sich der noch unvollendete Bluessänger begeben muss. Dort wartet er, mit der Gitarre in der Hand, bis aus dem Nichts eine dunkle Gestalt hinter ihm auftaucht. Er dreht sich nicht um, auch nicht, wenn die Gestalt ihm die Gitarre aus der Hand nimmt, sie stimmt, ein paar komplizierte Bluesriffs darauf spielt und sie ihm wieder zurückgibt. Damit ist der Teufelspakt geschlossen und von nun an kann der Sänger den Blues vollendet auf der Gitarre begleiten – wie Robert Johnson oder all die anderen, denen man nachsagte, einen solchen Pakt eingegangen zu sein.

Rein musikalisch gesehen ist der Blues zunächst geradezu simpel und schematisch. Das macht es so schwer, ihn einfallsreich und interessant zu spielen. Denn dazu ist dann schon wieder eine erhebliche Virtuosität innerhalb des Genres nötig, wie die Einspielungen der Meister zeigen: ausgefeilte Pickingtechnik, Experimente mit offenen Gitarrenstimmungen, Übernahme von Einflüssen anderer Musikstile wie Gospel, Ragtime oder Techniken wie das Sliden, der Walking-Bass oder das Boogie-Ostinato in unendlichen Variationen.

Allerdings: Der Blues ist viel mehr als einfach nur ein Musikgenre und entzieht sich somit erfolgreich der grauen Theorie. Man hat ihn. Man singt und spielt ihn oder man hört dem zu, der ihn singt und spielt. Manche leben ihn, freiwillig oder unfreiwillig. Er ist Singular und Plural in einem – The blues got me und I got these blues. Er ist die Basis aller angloamerikanischen populären Musik, die sich nicht direkt aus der europäischen Folklore ableiten lässt. Er hat Geschwister in Afrika, Brasilien und Hawaii und er hatte ein Baby, das nannte man Rock 'n' Roll. Keine illustre Verwandtschaft, aber ehrliche Leute.

Viele seiner Abkömmlinge gingen ins Showbusiness: Boogie, Rhythm & Blues, Dixieland, Skiffle, Bluesrock. Einige studierten und wurden Intellektuelle: Jazz, Free Jazz. Andere zogen in die Metropolen und modernisierten ihn: Soul, Hip-Hop, Rap. Inzwischen taucht er manchmal sogar als Sample bei Moby oder in Technostücken auf. Wenn B.B. King und Eric Clapton ihn zusammenspielen, kauft ein Millionenpublikum das Album. Egal, was Puristen, Leute mit Geschmack, Kenner oder Fans davon halten. Vielleicht einfach nur, damit man ihn nachhaltig wahrnimmt, auch im einundzwanzigsten Jahrhundert.

Dessen definitiver Bluessänger stand freilich schon im späten Zwanzigsten fest: Captain Beefheart alias Don Van Vliet.

Als freilich damals in den Sechzigern ebenfalls Millionen eine Single der Rolling Stones mit dem Titel »Love in Vain« hören wollten, ahnte kaum jemand, dass es sich um einen Blues von Robert Johnson, dem großartigen Sänger und Gitarristen aus dem Mississippidelta handelte. Erst als Mitte der Neunziger Jahre ein weiteres, bis heute andauerndes Bluesrevival einsetzte, das sich insbesondere auf die archivalischen Schätze des Vorkriegsblues richtete, wurde zur allgemeinen Überraschung eine Gesamtaufnahme der Bluesklassiker von Robert Johnson über eine halbe Million mal verkauft. Pop als Blues? Blues als Pop? Einmal so, einmal anders?

Fragen, die nur mit einem deutlichen »Jein« beantwortet werden können. Denn wie das Wort »Pop« auch – das einerseits eine Abkürzung für Popular Culture ist und den gesamten Bereich populärer Vergnügungen umfasst, andererseits aber einfach Popular Music von der Heimatschnulze bis zur Noise-Avantgarde bedeutet – war der Begriff »Blues« von Anfang an mit einer Doppelbedeutung behaftet. Schuld daran war kein geringerer als sein angeblicher Vater W.C. Handy (1873 – 1958) selbst.

Dessen für Tanzkapellen komponierte Stücke, die er auf den Straßen von Memphis adaptiert, als Notenblätter veröffentlicht und als Blues betitelt hatte, lösten nämlich die erste Blueswelle in Amerika aus. Blues war hier analog zu Bezeichnungen wie Charleston oder Shimmy der Name für eine bestimmte Art von Tanzmusik, die mehr oder weniger nach dem Bluesschema funktionierte. Eher weniger, denn schon in seinen Riesenhit »St. Louis Blues« schrieb Handy abwechslungshalber eine Einleitung im Tangorhythmus hinein.

Von welchen Bluesarten soll also in der Folge die Rede sein? Vom Tanzblues, vom Bluestanz, vom Landeierblues oder von dem der Stadtstreuner, vom Blues im Bordell oder vom Revivalblues im Hörsaal oder Stadttheater? Lassen wir Experten sprechen, denn die blicken auch nicht ganz durch.

»Der Blues als eigenständige musikalische Form ist wahrscheinlich in den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg entstanden, doch der Stil und die ›Bluesstimmung‹ waren schon seit über hundertfünfzig Jahren Bestandteil der Musik der nordamerikanischen Neger. Ein Blues ist ein tiefempfundener Song von ganz persönlicher, gefühlsbestimmter Eigenart. Im Blues fanden die Gefühle der Negersänger in allen Teilen des amerikanischen Südens ihren Niederschlag, und als sich die regellose Vielfalt der Plantagenlieder langsam in lose Muster ordnete, wurde der Blues zu einem Teil des Negerlebens selbst.« So romantisierend und gefühlig konnte Samuel B. Charters noch in den 1950er Jahren schreiben, als er sein bis heute unverzichtbares Standardwerk Country Blues verfasste. Einen scharfen, witzigen Verstand, Showmanship und geschäftliches Kalkül wollte er seinen Protagonisten nicht so gern zuschreiben.

Auch Giles Oakley wandelte 1976 auf dem Pilgerpfad der großen Gefühle. Aber er sah schon mehr: »Für diejenigen, die versuchten, eine geordnete Frömmigkeit, eine anerkannte, allgemeingültige Handlungsnorm im Leben aufrechtzuerhalten, die wenigstens im Tod noch Freiheit bringen würde, war es die Musik des Teufels ... Aber für die, die ihn sangen und ihn auch heute noch singen, ist er eine Musik des Gefühls, der direkten Beobachtung und des Feststellens von dem, was ist, und nicht, was sein könnte, unverziert, unvollkommen und ohne Ansprüche.«

Davor schon hatte der Franzose Hugues Panassié charakteristische Züge von Bluestexten festgestellt: »Die Texte des Blues – die sich der Sänger oft selber ausdenkt – spiegeln die Lebenseinstellung der Schwarzen wider: Auf eine Melodie mit dramatischem Akzent werden häufig komische, humorvolle Texte gesungen; und mitunter begleiten dramatische Texte voll bitterer Wahrheit eine heitere Melodie.«

Der Blues, wie gesagt, ist schwer zu fassen. Nimmt man ihn zu eng, rutscht er zwischen den Fingern durch, definiert man ihn zu breit, landet man bei Sprüchen wie »Ois is Blues«, legt man ihn einseitig auf Gefühl, Protest oder Unterhaltung fest, macht er sich aus dem Staub. Aller Wahrscheinlichkeit nach ist der Blues eine besondere Haltung der Musik, der Welt, Gott und Teufel, den Mitmenschen und sich selbst gegenüber. Er definierte sich dann bei jedem einzelnen seiner Interpreten auf ganz besondere, eigenartige, individuelle Art. Ich werde deswegen keine eigene, nur scheinbar objektive Definition des Blues versuchen, sondern verschiedene prägnante Aussagen von Bluesmusikern zitieren, die in ihrer Gesamtheit eine Ahnung von der existentiellen Dimension des Blues ermöglichen. Hier sind einige davon. Die Schockierendsten gleich zu Beginn.

Lead Belly in der Einleitung zu »Good Morning Blues«:

 

»Now, this is the blues. Never the white man had the blues, 'cause nothing to worry about. Now you lay down at night. You roll from one side of the bed to the other all night long. You can't sleep. What's the matter? The blues has got ya! You git up and sit on your side of your bed in the morning, may have a sister and a brother, a mother and father around, but you don't want no talk out of them. What's the matter? The blues got ya! When you go and put your feet under the table, look down at your plate, got everything you wanna eat. With your shaky head you get up and you say: Lord, I can't eat, I can't drink. What's the matter? The blues got ya! Wanna talk to ya. Hear, what you got to tell em:

 

Good morning blues, blues how do you do?

Good morning blues, blues how do you do?

I'm dyin allright, good morning, how are you?«2

 

Schlechte Zeiten für weiße, angelsächsische Protestanten schon damals. Denn selbst den Blues zu haben, sprach ihnen einer wie Lead Belly, den sie aus dem Gefängnis gelassen hatten, um sein Repertoire von über fünfhundert Songs anzuzapfen und um sich in den Konzerten beim Anblick des ungeschlachten Mordbuben mit seiner Zwölfsaitigen gepflegt zu gruseln, glatt ab. Und jüngst setzte David Honeyboy Edwards in seiner Autobiographie The World Don't Owe Me Nothing noch eins drauf: »Because they're white, white musicians, when they play blues, they get the benefit of our music. They get more recognition for our music than we do. But then it makes blues more popular, too. I think a few different ways about it ... A lot of these white boys play the blues real good. Ain't but one thing about most of them though: most can't sing a thing.3« (HBE, S.196)

Alles klar? Von wegen. So schwarz, wie der Blues gern wäre, ist er nämlich vielleicht gar nicht. So, wie David Honeyboy Edwards selbst einen Schuss Indianerblut in seinen Adern hat, so multikulturell sind die Einflüsse, denen er entsprang: Afrikanisches sowieso, aber auch die Slide-Technik aus Hawaii, aus den Alpen und den Prärien die Jodler und wer etwa die Musik der brasilianischen Cangaceiros mit offenen Ohren hört, weiß auch nicht so recht, wer was von wem hat. Mit Sicherheit ist der Blues nicht von heute auf morgen als fertige Sing- und Spielweise entstanden, sondern über lange Zeiträume hin und unter spezifischen sozialen und kulturellen Bedingungen.

Houston A. Baker Jr. beschrieb das in seiner unter Musikern viel zu wenig bekannten Untersuchung Blues, Ideology, and Afro-American Literature – A Vernacular Theory: »Die Blues sind eine Synthese ... Sie vereinigen Worksongs, weltlichen Gruppengesang, Field Hollers, geistliche Harmonien, sprichwörtliche Weisheiten, volkstümliche Philosophie, politische Kommentare, schlüpfrigen Humor, elegische Klagen und noch viel mehr, sie stellen ein Gemisch dar, das in Amerika immer in Bewegung gewesen zu sein scheint – und das die besonderen Erfahrungen von Afrikanern in der Neuen Welt ständig ausgebildet, geformt, verformt und durch neue ersetzt hat.« (Baker, S. 5)

Der Blues ist der entscheidende Beitrag der schwarzen Bevölkerung zur amerikanischen (Musik-)Kultur. Er ist zudem, um mit Baker zu sprechen, die Matrix afroamerikanischen Lebens überhaupt. »Die Matrix ist ein Punkt ständigen Inputs und Outputs, ein Netz aus einander überlagernden und sich kreuzenden Impulsen, die sich immer auf produktive Weise voran bewegen. Afroamerikanische Blues stellen solch ein vibrierendes Netzwerk dar.« (Baker, S. 4)

Genau auf diese Weise überlagern und ergänzen sich die individuellen Definitionen der Bluesinterpreten. Sie alle befinden sich innerhalb der Bluesmatrix.

Booker (Bukka) T. White: »The foundation of the blues is working behind a mule way back in slavery time.«4 (Oakley, Devil's Music S. 7).

Champion Jack Dupree: »You got a good woman and lose her, that's the beginning of the blues...«5 (Zum Autor, auf die Frage, was denn der Blues für ihn sei.)

Lightnin' Hopkins: »See, that's the blues- take your worry and twist it into a little story. Don't mean the worry goes away. It's like Mama putting an ointment after the bee bites you – takes away the terrible sting.«6

Willie Dixon: »The delivering of messages in a song is the blues, but today, people don't look into the song to get information. they just sing the the song for the musical qualitiy or rhythm quality and they never get the actual reason of the song. People have lost the original blues and the blues itself by the other creations that surround it. That's the reason I always say about music, the blues are the roots and the other musics are the fruits. Without the roots, you have no fruits so it's better keeping the roots alive because it means better fruits from now on. That's why I say the blues will always be because the blues are the roots of American music.«7

Sam Chatmon: »You know the blues partly come out of New Orleans and jazz, too. And they brought the blues down from church songs. And I'll tell you why the blues come about. It's a expression that a person have – he want to tell you something, and he can't tell you in his words, he'll sing it to you ...«8 (Sallis, The Guitar Players 1982)

 

Wenn man den Blues unter Respektierung seiner vielfachen Wurzeln individualisiert, wird klar, dass eine Bluesfrau und ein Bluesmann nur sein konnte, wer ihn entweder selbst erfand oder ihn sich durch kongeniale Interpretation aneignete und weiterentwickelte. Ob das im textlichen oder instrumentalen Bereich war, spielte dann kaum eine Rolle. Dass freilich dem Sänger und Interpreten in Personalunion der meiste Respekt gebührt, steht für mich und damit in diesem Buch außer Zweifel. Es sind die archaisch-anarchischen, fast mythischen Gestalten der Sängerinnen und Sänger aus der immer besser erforschten Frühzeit des Blues, denen besondere Beachtung gebührt, allen voran der dämonische Robert Johnson, aber auch die derbe Ma Rainey, die kaiserliche Bessie Smith, der kompakte Charlie Patton, der elegante Lonnie Johnson, der schlüpfrige Tampa Red oder der fingerfertige Blind Blake, um nur einige zu nennen. Damit ist nichts gegen rein reproduzierende Musiker und Interpreten gesagt, sie werden aber in dieser Darstellung nur eine Nebenrolle spielen.

Die Hauptrolle spielt ohnehin der Blues selbst. Denn er war und ist spätestens seit der letzten Jahrhundertwende die Basis der gesamten modernen amerikanischen Unterhaltungsmusik, vom Jazz bis zum Rock 'n' Roll, vom Schlager bis zum Musical. Obwohl seine Ursprünge nach wie vor im Dunkeln liegen und die Forschung inzwischen afrikanische Einflüsse (etwa aus Mali) stärker einbezieht, wird der Blues erst Ende des neunzehnten Jahrhunderts als eine Musikform greifbar, die die Gesamtheit der Erfahrungen und Gefühlsregungen schwarzer Menschen ausdrücken konnte. Zwei Hauptformen sind zu unterscheiden:

 

a) der städtische Blues, der in den dortigen Vergnügungsvierteln entstand und als Vaudeville-Blues meist von einer Jazzband mit einer Sängerin vorgetragen, bald auch von der Plattenindustrie auf sogenannten Race Records speziell für den schwarzen Markt produziert und verkauft oder von Einzelunterhaltern und kleinen Gruppen in Kneipen und Bordellen dargeboten wurde. Zentren waren u.a. Chicago, Kansas City, St. Louis, Dallas, Memphis und New Orleans.

 

b) der ländliche Blues, heute auch gern Downhome-Blues genannt, der von vagabundierenden Einzelsängern, Duos, String- oder Jugbands erfunden, professionell gegen Entgelt aufgeführt und auch schon sehr bald in kommerziellen Sessions von Talentsuchern der Plattenfirmen mitgeschnitten und auf den Markt gebracht wurde – ein Umstand, dem wir die günstige dokumentarische Lage für den älteren Blues verdanken. Er wurde aber wohl auch als privates Freizeitvergnügen praktiziert, zumindest bis zu dem Tag, an dem ein Folkloreforscher mit Aufnahmegerät vor der Tür stand ...

 

Entgegen der landläufigen Tanzmusik-Definition sind die Blues weder notwendigerweise langsam noch traurig. Sie umfassen das gesamte Spektrum menschlicher Lebensäußerungen, Freude, Trauer, Liebe, Hass, Witz, Ernst, Tragik, Komik, Lust und Leid. Eine Besonderheit der Texte ist in vielen Fällen ihre Doppeldeutigkeit, der sog. Double Talk, nicht nur im erotisch-sexuellen Bereich, sondern auch im politischen. Es war dies mit Sicherheit eine Selbstschutzstrategie, um nicht mit den jeweiligen Obrigkeiten in Konflikt zu geraten. Es muss in diesem Zusammenhang auch betont werden, dass der Blues weit unter- und außerhalb der bürgerlichen weißen und, soweit vorhanden, schwarzen Gesellschaftsschichten angesiedelt war, vor allem in der Zeit der Prohibition. Freilich erregte er gerade dadurch das Interesse junger, nicht konformer Weißer, die sich zunächst für die Musik begeisterten, bald aber auch den Lebensstil der schwarzen Protagonisten kopierten – bis heute.

Was die meisten Fans in ihrem Enthusiasmus freilich vergessen, ist, dass der Blues von individuellen Erfahrungen handelt, die einer Gemeinde von Eingeweihten mitgeteilt werden. Man kann die Musik zwar bis ins letzte Detail kopieren und spielen lernen, aber, wie der Deltabluesmusiker David Honeyboy Edwards oben lakonisch anmerkte, »sobald sie [die jungen weißen Bluesmusiker] den Mund aufmachen, ist der Ofen aus«. Edwards meinte junge Amerikaner, wohlgemerkt. Was er von dem urigen Mississippi-Denglisch-Geknödel hiesiger Muddy-Waters-Imitatoren halten würde, mag man sich lieber nicht vorstellen.

Die Bluesforschung in den USA ist in mehreren Wellen erfolgt. Pionieren wie John A. Lomax und seinem Sohn Alan, die im Kontext der Folksongs, der Cowboy-Folklore und der Gospelsongs den Blues entdeckt hatten und ihn vor allem in den Gefängnissen der Südstaaten sammelten, taten es in den Sechziger Jahren junge Enthusiasten nach, die sich auf die Spuren legendärer Sänger wie etwa Robert Johnson setzten, viele Überlebende ausfindig machten und neu aufnahmen. Seither werden verstärkt die regionalen Varianten des Blues untersucht, also etwa der Texas-Blues, der Piedmont-Blues, der Red-River-Blues u.v.a. In jüngster Zeit hat sich die feministische Forschung umfänglich mit den widerständigen Inhalten der Vaudeville-Blues von Sängerinnen wie Alberta Hunter, Bessie Smith, Ma Rainey oder Victoria Spivey beschäftigt und den Subtexten von Gewalt, lesbischer Sexualität und weiblichen Gegenstrategien zum Patriarchat der weißen wie der schwarzen Bosse nachgespürt.

Das Material dazu lieferten die wieder geöffneten Archive der privaten und öffentlichen Sammlungen, die dank der neuen Technologien der Digitalisierung und Entrauschung ein fast verschüttetes Erbe wieder gut hörbar machten. Der Erfolg der Robert-Johnson-Edition trug sicher ebenfalls dazu bei, dass seit 1995 die Bluessongs aus der Schellack-Epoche der Zwanziger bis Fünfziger Jahre wieder auf CD-Alben erhältlich sind. Die meisten sind zudem liebevoll und kompetent ediert.

Die Rezeption dieser Musik war zur Zeit ihres Entstehens in Deutschland kaum möglich. Die Race Records wurden nicht exportiert, alles Weitere verhinderte die Nazibarbarei. Deshalb ist bei uns die Vorstellung vom Blues immer noch stark geprägt von den Bluesinterpreten der Nachkriegszeit, insbesondere vom Chicago-Blues und von der amerikanischen Folksong-Bewegung um Pete Seeger, die eine puristische, dem Kunstlied zuneigende Interpretation traditioneller Songs für besonders authentisch hielt. Da Sänger wie Big Bill Broonzy, Josh White oder Dave van Ronk sich dieser Forderung des weißen Geschmacks in den Fünfziger Jahren anpassten, wurden sie zeitweise immens populär, verhinderten aber lange Zeit die Rezeption bodenständigerer Bluesmusiker von Slim Harpo bis Howlin' Wolf.

Auch der Rhythm & Blues wurde hierzulande fast ausgelassen, dem Dixieland-Revival der Dutch Swing College Band und Chris Barbers folgte gleich der Rock 'n' Roll eines Elvis Presley und des abtrünnigen Bluesmanns Chuck Berry, der es auf kleine weiße Mädels abgesehen hatte. Die Skiffle-Bewegung, eine Simplifizierung der Jugband-Musik, war ein spezifisch englisches Phänomen, für das im Wesentlichen der Name Lonnie Donegan stand und steht.

So stand einer akademisch-idealistisch-puristischen Jazzgemeinde europaweit ein kleines, ebenfalls zu jedweder Dogmatik neigendes Häuflein von Bluesenthusiasten gegenüber, das erhebliche Informationsdefizite aufwies. Manche davon wirken sich bis heute aus. Es ist daher die Absicht dieser Darstellung, einige Akzente anders zu setzen als bisher üblich.

Kapitel 1: Die Anfänge

Geschichtsschreibung ist immer eine Konstruktion, den Umständen der Zeit verhaftet, abhängig von der Interessenlage der Historiker und von ihrer gesellschaftspolitischen Haltung. Eine feministisch orientierte Forscherin wie Angela Davis fixierte sich jüngst auf städtische Sängerinnen wie Bessie Smith, Ma Rainey und Billie Holiday und stellte sie in ihrem Buch Blues Legacies and Black Feminism (1998) als Protagonistinnen im Kampf gegen das weiße wie das schwarze Patriarchat dar. Ein liberaler Patriarch wie John A. Lomax war in seinen Adventures of a Ballade Hunter (1947) an der authentischen Folklore der »Neger«, wie er seine Informanten noch unbefangen nannte, mehr interessiert als an deren Vorstrafen und sonstigen Lebensumständen, die scheinbar offen und unbeschwert ausgelebte Sexualität einmal ausgenommen. Man muss beide Positionen zusammen sehen, beide Bücher – und noch ein paar andere – gelesen haben, bei beiden Autoren vom ideologischen Gehalt weitgehend absehen, um vielleicht einen halbwegs realistischen Eindruck von der Lebenswirklichkeit der Bluessänger zu erhalten. Recherche vor Ort hilft heutzutage nicht mehr viel. Der Blues ist in den Südstaaten zu einem touristischen Spektakel geworden, der zwar die schwache Ökonomie der kleinen und mittleren Deltastädte leidlich am Laufen hält, dies aber um den Preis einer musealen Nostalgie und eines Purismus der reinen Blueslehre, der erst von einer gerade nachwachsenden, mit dem Blues erfreulich respektlos experimentierenden Jugend überwunden werden wird.

Die beliebte Quizfrage nach dem historisch ersten Bluessong ist sinnlos. Von ihm existiert nämlich garantiert kein Tondokument. Die Frage nach der ersten Bluesaufnahme lässt sich hingegen stellen und irgendwann wohl auch beantworten. Sie hat aber schon im viel späteren Fall Doo Wop wenig gebracht: Der voreiligen Behauptung von Greil Marcus, es habe sich um »It's Too Soon to Know«, eine Aufnahme der Orioles gehandelt, wurde inzwischen oft und kompetent widersprochen, es wurden andere Kandidaten zuhauf ins Spiel gebracht, der letzte, allgemein einsichtige Beweis für ein Primat fehlt immer noch. Ganz ähnlich ist die Lage beim Blues. Kein seriöser Forscher wird sich auch nur auf ein genaues Datum seiner Entstehung festlegen wollen.

Immer weniger freilich ist man geneigt, die Fieldholler und Worksongs, der schwarzen Plantagensklaven im späten Achtzehnten und frühen Neunzehnten Jahrhundert als direkte Vorläufer des »echten« Blues darzustellen; sie gelten inzwischen als eigenständige Genres, die sich davor oder parallel dazu entwickelt haben. Immer fragwürdiger wird zudem die Ableitung aus einer einzigen Ursache, auch nicht aus einer nicht mehr gottergebenen, heidnisch-afrikanischen Widerstandshaltung der Unterdrückten, derenthalben man inzwischen gerne wieder synkretistisch den afrikanischen Bösewicht Légba statt des pferdefüßigen west-östlichen Teufels an der mythischen Kreuzung auftauchen lässt. Letztlich auch nicht haltbar ist eine Konzeption des Blues als Antigospelmesse, quasi als heidnischer Gegenpol schwarzen Christenglaubens, obwohl es für diese Interpretation immerhin einige Zeugnisse aus der schwarzen Mittel- und Unterschicht gibt. Die freilich entlarven sich bei genauerem Hinsehen als stinknormale Vorurteile, wie sie eben auch brave schwarze Bürger gegenüber dem Sittenverfall der Zeit hatten. Hält man sich an die wenigen Fakten, liest sich eine kurzgefasste Geschichte der schwarzen amerikanischen Musik etwa so:

Anfang des siebzehnten Jahrhunderts wurden die ersten schwarzen Sklaven nach Virginia verschifft. Unter zunehmend unmenschlichen Bedingungen entwickelte sich eine rigide Sklavenhalterökonomie in den südöstlichen Staaten Nordamerikas. Musik und Tanz waren ein in den meisten Fällen geduldetes Ventil, das zudem die gewünschte Reproduktion von Nachwuchs förderte. Zwar war in den nördlichen Staaten die Sklaverei schon 1807 offiziell abgeschafft worden, doch die Südstaaten hielten an ihr fest. 1831 kam es zum ersten Sklavenaufstand unter Nat Turner. 1843 fand die erste öffentliche Minstrelshow in Virginia statt. Minstrelshows waren eine Art derb-komischer Revue mit stark formalisierten Rollen, in der die Schwarzen meist von angemalten weißen Schauspielern dargestellt wurden. Aus den Minstrelshows stammten auch viele der spöttischen und abschätzigen Bezeichnungen für Schwarze wie Jim Crow – geschrieben 1828 als Jump Jim Crow von einem Schauspieler namens Rice, der Name wurde später Synonym für Rassenhass und Segregation – oder Pickaninny, Niggah, Abraham Lincum, Coon usw. Neben den Virginia Minstrels oder den Ethiopian Serenaders waren es vor allem die Christy Minstrels, die sich auch in England anhaltender Beliebtheit erfreuten. 1852 leitete Harriet Beecher-Stowes sentimentaler Roman Uncle Tom's Cabin eine Bewusstseinsveränderung in bürgerlichen Kreisen zugunsten der Schwarzen ein. Es bedurfte aber des Bürgerkriegs von 1861 bis 1865, bis von den siegreichen Nordstaatlern die Sklaverei offiziell abgeschafft wurde. Gleich im Jahr darauf wurde der Ku-Klux-Klan, die Organisation der unverbesserlichen Rassisten, gegründet, allerdings auch der erste weltberühmte schwarze Chor, die Fisk Jubilee Singers, dessen akademisch korrekter Gospelgesang ein etwas sehr keimfreies Bild schwarzamerikanischer Religiosität unter Auslassung jeglicher Ekstase vermittelte.

Über eine Tatsache kann es keine Diskussion geben: die Spirituals sind älter als die Blues. Schon 1867 erschien eine erste Sammlung in Buchform, betitelt: Slave Songs of the United States. 1890 stieg Columbia Records ins Geschäft ein, später verantwortlich für viele maßgebende Bluesaufnahmen. Aus dieser Zeit datieren auch die ersten schriftlichen Aufzeichnungen bluesähnlicher Songtexte, allerdings ohne Hinweise auf die Gesangsphrasierung oder die begleitende Musik.

1892 verwüstete erstmals der gefürchtete Baumwollschädling Boll-Weevil die Felder von Mexiko bis zum Mississippidelta. 1898 kam Hawaii zu den Vereinigten Staaten. Es brach eine Welle der Musikbegeisterung für die hawaiianischen Stahlsaitenzauberer aus. Die Steel-Guitar, 1889 erfunden, wurde von Musikern wie Joseph Kekuku meisterhaft traktiert. Der Anekdote nach soll er die Slide-Technik schon 1884 als junger Mann auf der Kamehameha Boys School erfunden haben, als ihm der Kamm aus dem Hemd und auf die Gitarre fiel. Es ist ziemlich wahrscheinlich, dass die Slide-Technik auf diesem Weg in die Countrymusik und von da aus in den Blues gelangte. Ob es eine Sonderentwicklung im angeblich von äußeren Einflüssen abgeschnittenen Mississippidelta gegeben hat, wo man auf einsaitigen Instrumenten wie dem Diddley-Bow slidete, ist auch nach neuesten Untersuchungen, etwa von Gerhard Kubik, nicht sicher, wird aber Musikwissenschaftler und Ethnologen noch lange beschäftigen.

1899 kam mit dem Ragtime Scott Joplins die nächste Popwelle. Drei Jahre später entstanden Aufnahmen einer schwarzen Gesangsgruppe für die Firma Victor. Sie nannte sich The Dinwiddie Colored Quartet.

Schon lange vor der Jahrhundertwende, ab 1877, hatte in den Südstaaten, wo immerhin drei Viertel der schwarzen Bevölkerung lebte, der Prozess der Rediskriminierung begonnen und war durch die juristische Formel »separate but equal« (getrennt aber gleichgestellt) abgedeckt. Sie wurde unter dem Deckmantel des föderalen Systems – und ohne, dass der ohnehin desinteressiert gewordenen Norden eingegriffen hätte – so rabiat ausgelegt, dass sich in manchen Gegenden die Verhältnisse der Sklavenzeit in leicht modernisierter Form faktisch neu etablierten. Schwarze lebten meist als sogenannte Sharecroppers in halbfeudaler Abhängigkeit. Von dem Ertrag des gepachteten Landes durften sie gerade das Existenzminimum für sich behalten und waren ansonsten der paternalistischen Willkür der weißen Herren bis hin zu sexueller Gewalt und Lynchjustiz schutzlos ausgeliefert. Kein Wunder, dass sich unter diesen Verhältnissen der Blues machtvoll entwickelte.

Musikalische Talente sammelten sich nun in den ersten rein schwarzen Minstrel Shows wie den Georgia Minstrels, den Young Colored Minstrels oder den Mahara Minstrels, denen auch der junge Handy angehörte und deren Chef er später wurde.

1912 wurde zum Schlüsseljahr für den Blues. Innerhalb kurzer Zeit kamen drei gedruckte Bluestitel auf den Markt: »Memphis Blues« von W.C. Handy, »Nigger Blues« von Leroy White sowie »Dallas Blues« von Lloyd Garret & Hart A. Wand. Spitzfindige Tüftler wie zuletzt Francis Davis führen gelegentlich an, dass im Jahr davor schon der auch heute noch geläufige Hit »Oh You Beautiful Doll« erschienen war, dessen Anfang im zwölftaktigen Bluesschema steht. Wie dem auch sei, jedenfalls lösten der »Memphis Blues«, der eigentlich »Mr. Crump« hieß und anlässlich dessen Wahlkampfs um das Bürgermeisteramt in Memphis geschrieben worden war, sowie W.C. Handys »St. Louis Blues« von 1914 eine Tanzwutwelle sowohl in den Großstädten wie in den ländlichen Gebieten aus, die auch 1920 noch anhielt, als der »Crazy Blues« von Mamie Smith erschien. Es war dies übrigens das Jahr, in dem die Frauen das Wahlrecht erhielten. Die Musikindustrie reagierte auf den Erfolg von »Crazy Blues« mit der Einführung der sogenannten Race Records, Schallplatten, die speziell für die schwarze Bevölkerung produziert wurden. Die Erfindung des aufziehbaren Phonographen ermöglichte das Abspielen der Victrola-Platten auch in ländlichen Gebieten ohne Stromversorgung. Schwieriger waren die Tonaufnahmen selbst. Obwohl bald mehrere Verfahren zur Verfügung standen, setzte sich auch im heißen Süden das Mitschneiden auf Wachsplatten durch. Diese mussten dann in Kühlschränken gelagert werden. Viele Aufnahmen wurden durch die Hitze beschädigt. Man ging daher dazu über, alle wichtigen Stücke zweimal einspielen zu lassen. Ansonsten verfuhr die Musikindustrie wie auch heute noch: wahllos. Wer fünf eigene Blueskompositionen vorweisen oder zumindest behaupten konnte, wurde auf Verdacht aufgenommen. War es kein Hit, musste der Sänger wieder auf die Baumwollfelder zurück, denen er zu entkommen gehofft hatte.

Kein Wunder, dass Erfolgsmuster vielfach kopiert und gerade dadurch entwertet wurden. Papa Charlie Jackson hatte es 1924 noch gut. Sein »Lawdy Lawdy Blues« war einer der Ersten, die den Weg aufs Wachs fanden. Ebenfalls 1924 nahm Ed Andrews in Atlanta auf seiner zwölfsaitigen Gitarre seinen stilistisch einwandfreien »Barrelhouse Blues« auf. Zwei Jahre später folgte Blind Lemon Jeffersons »That Black Snake Moan«. Und danach war kein Halten mehr.

Bluesgeschichte, soweit wir sie kennen, ist vor allem die Geschichte der erhaltenen Aufnahmen. Sie sind die primären Quellen. Denn selbst hinter dem schlimmsten Rillenrauschen der einzigen noch vorhandenen Schellackplatte wird eine Person hörbar, die in ihrer Zeit gelebt und eben dieses Dokument produziert hat.

Die Frage der Authentizität ist damit freilich noch lange nicht beantwortet. Fast alle frühen Tondokumente waren bereits kommerziell orientierte, auf Verkauf an ein modebewusstes Publikum getrimmte Produkte. Und wie wir Woche für Woche aus den Hitparaden schmerzlich erfahren, ist es nicht immer die beste Musik, die es ganz nach oben schafft. Einen Überblick ergibt nur das Hören möglichst vieler Aufnahmen. Das ist aber erst seit ein paar Jahren wieder allgemein praktikabel geworden, seit im Zuge des CD-Booms viele Firmen ihre Archive durchforsteten und Labels wie Yazoo und Document Records sorgfältig zusammengestellte Sampler oder gar das Gesamtwerk vieler Interpreten durch digitale Bearbeitung in sehr akzeptabler Tonqualität neu hörbar machten.

Das nicht genug zu lobende Vorhaben von Document Records, einer Initiative des österreichischen Sammlers Johnny Parth, ist es gar, alle jemals erschienenen Bluesaufnahmen digital zu konservieren. Hunderte von Alben mit teilweise aberwitziger Musik liegen bereits vor und harren der Analyse durch die Fachleute, aber auch der Entdeckerfreude der Liebhaber, die über das Delta und Chicago hinaus zu hören in der Lage sind. Die Materiallage ist somit besser denn je, zumal endlich auch wieder Field-Recordings veröffentlicht werden, also Aufnahmen, die vor Ort in nichtkommerziellen Zusammenhängen entstanden.

Die Library of Congress etwa hatte seit den Dreißiger Jahren John A. Lomax beauftragt, mit Aufnahmegeräten in den Süden zu fahren und dort in Gefängnissen und in den kleinen Ortschaften Aufnahmen zu machen, sein Sohn Alan setzte dieses Praxis in den Fünfziger Jahren erfolgreich fort. Vater und Sohn Lomax entdeckten Bluesgrößen wie Lead Belly oder Fred McDowell und edierten reihenweise klassische Aufnahmen, die auch heute noch unverzichtbar sind. Serien wie Sounds of the South oder Southern Journey sollten mindestens ebenso freudig rezipiert werden wie die spektakuläre und gern überbewertete Anthology of American Folk Music von Harry Smith, die den Folkies der Sechziger Jahre einen eher beliebigen Hauch von Ahnung vermittelte, welche Schätze amerikanischer Musik es noch zu heben galt. Im Großen und Ganzen beruhigend ist die Beobachtung, dass sich die folkloristischen Bluesaufnahmen der Amateure und Nebenberufssänger stilistisch doch nicht allzu sehr von denen der – allerdings meist viel elaborierter und trickreicher spielenden – Professionellen unterscheiden. So ist es auch nicht nötig, heutzutage einen Scheinwiderspruch zwischen beiden Phänomenen zu installieren, wie es noch die Folkpuristen der Sechziger gerne taten. Mit dem Ergebnis übrigens, dass seinerzeit einige Sänger eine recht profitable Mimikry entwickelten. So trat das Schlitzohr Lightnin' Hopkins im Rollkragenpullover und mit Zupfgitarre in einen Hörsaal, um sich als Folknik mit Sonnenbrille abfilmen zu lassen. Zu sehen auf der DVD 502 von Yazoo.

Auch Big Bill Broonzy, der damals schon eine heftige Rhythm-&-Blues-Phase hinter sich hatte, stellte seine elektrische Gitarre hin, verbreitete die Behauptung, er sei der letzte echte Bluesmann, der die letzten vierzig Jahre auf den Baumwollfeldern verbracht habe, und wandelte sich stracks zum akustischen Edelzupfer. Sein Kollege Josh White hatte schon vorher mit Witz und Geschmack den Folkie gegeben und auch Brownie McGhee und Sonny Terry kamen aus ihren Theaterklamotten, die sie bei den umjubelten Tennessee-Williams-Aufführungen von Cat on a Hot Tin Roof am Broadway trugen, lebenslang nicht mehr heraus. Sogar der bekennende Elektriker John Lee Hooker lieferte ein paar Folkblues-Alben ab, nicht einmal seine schlechtesten. Auch Muddy Waters hatte noch 1960 ein Folksinger-Album aufgenommen, obwohl er längst ein ausgefuchster Elektrogitarrist war. Deswegen bleibt festzuhalten, dass auch im Blues eine gewisse Skepsis allem gegenüber geboten ist, was sich als »urig«, »ehrlich« und »bodenständig« verkauft.

Ein weiteres ideologisches Konstrukt dürfte übrigens auch die in den Sechziger Jahren so beliebte Bluessession gewesen sein. Bei weitem nicht jeder, der da im Studio oder auf offener Bühnen auf die anderen Anwesenden losgelassen wurde, mochte wirklich mit ihnen den Blues spielen. Wer Ohren hat, der hört das selbst noch in den Aufnahmen. Die Geschichte der medialen Inszenierung des Blues von den in deutschen Fernsehstudios nachgebauten Gefängnisplantagen bis zu Brother Where Art Thou ist ebenfalls noch nicht geschrieben.

Die Geschichte des Blues ist also auch die Geschichte seiner Ideologie und seiner Ökonomie, der Profite und der Schwindeleien, mit denen Blueserfinder skrupellos um ihre Urheberrechte betrogen wurden und derer, die die Unwissenheit der Musiker schamlos ausbeuteten. Eine derartige Wirtschafts- und Kriminalgeschichte des Blues steht ebenfalls noch aus, ebenso eine fundierte Rezeptions- und Sozialgeschichte. Ansätze dazu finden sich am ehesten in den Büchern von Robert Springer Authentic Blues (1985) und Fonctions sociales du blues (1999).

Seit der epochemachenden Studie Country Blues von Samuel B. Charters aus dem Jahr 1959 arbeiten sich die Autoren vor allem am Material und an den Biographien der Musiker ab, wobei sich das Interesse der Forschungen inzwischen auf immer kleinteiligere Räume und vom Delta weg auch in alle anderen Regionen verlagert hat, von Georgia bis Kalifornien, vom Piedmont bis nach Texas. Mit Akribie und manchmal detektivischen Mitteln jagten Bluesermittler wie der Journalist Gayle Dean Wardlow in den letzten Jahrzehnten den wenigen, versteckten Lebenszeichen obskurer Bluesleute nach oder fanden sensationelle Dokumente, wie die Sterbeurkunde von Robert Johnson. Sein Buch Chasin' that Devil Music berichtete 1998 von der Jagd nach Bluesphantomen wie den beiden Willie Browns und wie hinter dem Phantasienamen King Solomon Hill durch intensive Recherche und eine publizistische Kontroverse schließlich ein wirklicher Mensch greifbar wurde, nämlich der Sänger und Gitarrist Joe Holmes (ca. 1897 – ca. 1949). Die Bluesgeschichte seiner Interpreten und Aufnahmen ist ein Prozess, der noch lange nicht beendet ist und der Mitarbeit Vieler bedarf.

Bluesgeschichte ist aber zudem noch die Geschichte der Erzählungen seiner Protagonisten über sich selbst und ihre Kollegen. Der vergleichsweise sehr uneitlen und offenen Autobiographie des Komponisten W.C. Handy, Father of the Blues kommt dabei immer noch eine Schlüsselstellung zu. Zumal er – vom etwas angeberischen Titel einmal abgesehen – ehrlicherweise nicht die Urheberschaft am Blues selbst beanspruchte. Er beschrieb vielmehr in einer oft zitierten Passage seines Buches, wie er ihn zum ersten Mal hörte:

»Eines Nachts dann in Tutwiler, als ich am Bahnhof auf einen Zug wartete, der neun Stunden Verspätung hatte und eingenickt war, da packte mich das Leben auf einmal an der Schulter und rüttelte mich auf. Ein dürrer, schlaksiger Schwarzer hatte, während ich duselte, angefangen, neben mir Gitarre zu spielen. Sein Anzug bestand aus Fetzen; seine Zehen schauten aus den Schuhen heraus. Sein Gesicht spiegelte etwas von den traurigen Verhältnissen der Zeitläufte wider. Beim Spielen drückte er ein Messer an die Saiten der Gitarre, eine Spielweise, die von hawaiianischen Gitarristen populär gemacht worden war, die ein Stück Stahl benutzten. Der Effekt war unvergesslich. Auch sein Song berührte mich unmittelbar:

 

Goin' where the Southern cross the Dog,

Goin' where the Southern cross the Dog,

Goin' where the Southern cross the Dog.9

 

Der Sänger wiederholte die Zeile dreimal, wobei er auf der Gitarre die abgedrehteste Begleitung spielte, die ich je gehört hatte.«

Seltsamerweise wird der Hinweis auf Hawaii nicht immer zitiert oder übersetzt, so etwa in der deutschen Ausgabe von Giles Oakleys Bluesbuch. Sollte da etwa die Fiktion der Puristen aufrechterhalten werden, ein einsames Genie am Mississippi habe in einer trunkenen Nacht eine Flasche Whisky zerschmissen und mit dem Flaschenhals herumgespielt? Wie immer erweist es sich als nützlich, die Quellen selbst aufzusuchen. Denn die Story, die meist hier abbricht, war mitnichten zu Ende:

»Die Melodie blieb mir unvergesslich. Als der Sänger eine Pause einlegte, lehnte ich mich vor und fragte ihn, was der Text bedeutete. Er rollte mit den Augen, zeigte Anzeichen eines milden Amüsements. Vielleicht hätte ich es wissen müssen, aber er erklärte es mir trotzdem. Bei Moorhead trafen die Züge nach dem Osten und dem Westen aufeinander und kreuzten viermal täglich die nach dem Norden und Süden. Dieser Typ ging dorthin, wo der Southern den Dog kreuzte und es war ihm egal, wer das wusste. Er sang einfach über Moorhead, während er wartete. Das war nicht ungewöhnlich. Schwarze in den Südstaaten sangen über alles. Züge, Dampfer, Dampfpfeifen, Dampfhämmer, Flittchen, üble Bosse, widerspenstige Mulis – alle werden in ihren Songs thematisiert. Sie begleiten sich auf allem, was einen musikalischen Sound oder einen Rhythmus hervorbringen kann, egal ob Mundharmonika oder Waschbrett. Auf diese Art und mit diesem Material erzeugten sie die Stimmung für das, was wir heute Blues nennen.«

Handy selbst hatte sich schon als Jugendlicher einschlägig betätigt, woran er sich nun erinnerte: »Meine eigene Sympathie für diese Dinge fing damals in Florence an, als wir uns nicht zu schade waren, unter dem Fenster unserer Angebeteten Serenaden zu singen. Wir sangen, bis wir einen Kuss im Finstern ergattert hatten oder ein Glas voll guten, selbst angebauten Weins. Im Delta aber sah ich die Songs auf einmal mit den Augen eines heranreifenden Komponisten.« Handy war aber nicht bloß ein Musiker, der komponieren wollte, er war auch ein Geschäftsmann. Zwar war er nicht clever genug, das Hitpotential seines »Memphis Blues« sofort zu erkennen, sondern er verscherbelte ihn für ein paar Dollar, doch später kaufte er das Copyright wieder zurück. Und was er trotz seiner Ambitionen als seriöser Komponist sofort bemerkte, war die Anziehungskraft, die die einfache ländliche Musik auf die dortige Bevölkerung ausübte. Auch hier gab es ein eindringliches Schlüsselerlebnis:

»Ich beeile mich, zu gestehen, dass ich mich den niederen Formen der Folkmusik nur zögerlich zuwandte. Ich ging mit einer gewissen Furcht und wackligen Knien an sie heran. Wie viele andere Musiker, die ihr zunächst die kalte Schulter zeigten, hob ich zunächst die Augenbrauen und bezweifelte, ob sie das Richtige sei. … Aber wir leben, um zu lernen. Meine eigene Erleuchtung geschah in Cleveland, Mississippi. Ich leitete das Orchester für eine Tanzveranstaltung, als jemand eine seltsame Aufforderung hochschickte. Ob wir so etwas wie ›unsere Volksmusik‹ spielen könnten, stand auf dem Zettel. Das verblüffte mich. Die Männer der Gruppe konnten nicht ›simulieren‹ und ›abliefern‹ wie Minstrels. Sie waren alle gestandene Notisten. Also spielten wir für unseren anonymen Fan eine alte Südstaatenmelodie, eine, die eher sophisticated als volksnah war. Ein paar Minuten später kam eine weitere Anfrage. Ob wir etwas dagegen hätten, wenn eine schwarze Gruppe hier aus dem Ort ein paar Tänze spielen würde? Etwas dagegen haben! Das war lustig. Welcher Bläser würde schon etwas gegen eine bezahlte Schnauf- und Rauchpause haben?

Wir verdrückten uns elegant, als die Neuen kamen. Sie wurden angeführt von einem langbeinigen Schokoladenbuben und ihre Band bestand aus drei verschrammten Gitarren, einer Mandoline und einem ramponierten Bass. Die Musik, die sie machten, entsprach ziemlich genau ihrem Aussehen. Sie spielten einen dieser ewigen Zieher, die keinen klaren Anfang und kein Ende zu haben scheinen. Das Gezupfe produzierte eine verstörende Monotonie, aber es ging weiter und immer weiter, eine Art von Musik, die lang mit Zuckerrohrplantagen und Feldarbeitercamps assoziiert wurde.

Bum-Bum-Bum – ihre Füße stampften auf dem Boden. Ihre Augen rollten. Ihre Schultern wackelten. Und die ganze Zeit ging dieser kleine penetrante Zieher weiter. Er war nicht echt nervig oder unangenehm. Vielleicht ist »bedrückend« das richtige Wort dafür, aber ich fing an mich zu fragen, ob außer Kleinstadtsaufköpfen und ihrem Anhang sonst noch jemand darauf stünde. Die Antwort ließ nicht lang auf sich warten. Es regnete Silberdollars. Sie fielen auf den Boden zwischen die seltsam stampfenden Füße. Die Tänzer drehten durch. Dollars, Viertel-, Halbdollarmünzen – der Regen wurde heftiger und dauerte so lang, dass ich meinen Hals reckte, um besser zu sehen. Vor den Jungs dort lag mehr Geld, als meine neun Musiker für das ganze Engagement bekamen.

Da erkannte ich die Schönheit primitiver Musik. Sie hatten den Stoff, den die Leute wollten. Er traf den Kern. Ihre Musik bedurfte der Verfeinerung, aber sie enthielt das Wesentliche. Die Leute würden Geld dafür ausgeben. Die alte konventionelle Musik war in Ordnung und gut und hatte ihren Platz, aber es war keine Tugend, blind zu sein, wenn man gute Augen hatte. In dieser Nacht wurde ein Komponist geboren, ein amerikanischer Komponist.«