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Axel von Cossart

Kult um Nico

(Model, Aktrice, Chanteuse)





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

HEILIGE NICO

 

 

Nicos Bekanntheit (nicht „Popularität“, wie es ein japanischer Veranstalter formuliert haben wollte) gründete sich auf ihr Aussehen, ihre Lieder, ihr Leben, ihre Liebhaber und - die Drogen. Ein Kultstar, der seinem Publikum nicht nur wegen seines Talentes sondern vor allem auch mit seinen Problemen bekannt geworden ist.

Nico wurde ihrer Identität durch meist bekannte Männer gewahr. Viele Frauen ihres Alters sahen in der Heirat den im Leben anzustrebenden Status. Hierdurch erhielten sie eine neue Rolle, fixiert durch den Familiennamen des Ehemannes.

Nico, bei der Einzigartigkeit vor Anpassung rangierte, erlangte ihren Status mit anderen Mitteln. Sie versuchte, ihre Authentizitätskrise auf ihre Art zu lösen, lange bevor der „Feminismus“ andere Optionen bot. Zuerst einmal nahm sie einen männlichen Vornamen an und dann den Stil, der ihr am meisten zusagte, den des ruhigen, männlichen Homosexuellen, der öffentlich verschwiegen und mit verborgenem Privatleben ganz erlesen in der orthodoxen Gesellschaft über­lebt. Hier wurde ihr Andy Warhol zum Vorbild, ein beinahe Stummer inmitten kreischender Königinnen. „Ich ziehe es vor, ein Mysterium zu bleiben", meinte Warhol einem Ausspruch David Leans aus dem Jahre 1965 entsprechend: „Der Unterschied zwischen guten Schauspielern und großen Stars ist, daß gute Schauspieler alles offenbaren; große Stars dagegen bleiben geheimnisvoll."

 

Das „alpenfrische Covergirl“ der Fünfziger Jahre nahm Amphetamine, um Gewicht zu verlieren. Als "schwedische Prinzessin" rauchte Nico im Film „La dolce vita“ Marihuana, der "Andy Warhol-Superstar" schluckte in seiner Fabrik LSD, „um meinen Kopf zu finden". Die "Blutschwester von Jim Morrison" Nico aß in der Wüste Peyote-Knospen, um bezaubernde Visionen zu durchleben. Die "schönste Frau der Welt" spritzte sich Heroin, „weil ich zu viele Gedanken habe" und galt auch als der seine Nadeln durch den Zoll schmuggelnde Junkie.

Bald hatte sie in einem begrenzten Zirkel von Fixern und Suizid-Romantikern einen diesbezüglichen Namen. Es fanden sich unter ihren Begleitern und dem Anhängsel solche, die es toll fanden, mit Nico Drogen zu teilen oder sie mit einer neuen bekannt zu machen. Das gab eine gute Prominentenstory ab und Nico war irgendwie ganz anerkannt und gängig in ihren Kreisen - die „Königin der Junkies“.

Glaubhaft versicherte Nico, daß sie erst nach ihrer Zeit in der Factory Heroin genommen habe. Bis dahin sei alles nur undeutlich aus dem psychedelischen Wirrwarr zu ihr gedrungen, nie habe sie aber etwas Ungewöhnliches an irgend­jemandes Verhalten bemerkt.

„Man liest überall, daß Andy nie Drogen nahm. Aber das entsprach nicht der Wahrheit. Er schluckte Aufputschtabletten, eine Art Amphetamine, der Name ist mir entfallen. Er nahm Pillen. Er meinte zu mir, daß Pillen normal wären. Seine Mutter nahm sie, der Präsident der Vereinigten Staaten schluckte Pillen, weshalb es kein Problem darstellte. Er wollte eigentlich nur die Arzneien, ich aber wollte in mich gehen, in mich hineinschlüpfen. Brian Jones sagte, es wäre eine noch unentdeckte Welt, eine Innenwelt. Amerika und Rußland befehdeten sich im äußeren Raum, wir aber wollten in den inneren Raum. Wir waren keine Astro­nauten, sondern Intranauten. Andy sagte: ,Aber Nico, da ist nichts im Innern. Ich trage meine Seele auf dem Ärmel.' Dann nahm er irgendetwas, das ihn heftig antrieb, daß er das im Innern nicht mitbekam. Deshalb fühlte er sich vielleicht so ausgelaugt."

„Alles ist eine Droge, Kaffee ist eine Droge - och, welch ein Klischee. Musik ist eine Droge, Jim (Morrison) sagte, daß Gott eine Droge ist - was nicht so ein Klischee ist. Es ist eine Medizin, etwas, das dich von Krankheit heilt. Kaffee lindert deine Müdigkeit ... was habe ich noch genannt? Musik? Nun, Musik hilft dir über die Zeit, Gott beim Sterben, denke ich mal."

Die Drogen beeinflußten auch Nicos Stimmungen, einem Reporter teilte sie mit: „Sie werden geisttötend genannt, und ich mag das, daß ich meine Gedanken wegblasen kann."

„Alle sprechen bei ihr viel von Drogen, besonders Heroin", konstatierte ein sie in den letzten Jahren begleitender Musiker, „aber ich habe sie mehr als schreckliche Trinkerin in Erinnerung. Bier und weißer Wein in Unmengen, besonders Bier, flaschenweise, literweise. Damals hat sie damit angefangen, die Leute anzupöbeln. Alle fahren auf dieses "Moon Goddess"-Gerede ab, aber du hättest sehen sollen, wie sie hinter der Bühne gierig grabschte! Sie war eine richtige Alkoholikerin, diese Nico."

 

Wenn so viele ehemals mit Worten wie "Eleganz", "Scheu", "Würde", "Schön­heit", "göttliche Sinnlichkeit" oder "gertenschlanke Blume" über Nico sprachen, so ist es erstaunlich, später von ihr als Schläger, Streithahn und Ohrboxer zu lesen. Das hört sich eher an wie die kleine Christa in Lübbenau, die beim Spiel mit ihrem Vetter die Überlegene bleiben wollte: „Sie setzte sich ganz gewaltig in Szene. Nichts war wichtiger, bis sie völlig ihren eigenen Willen hatte." (Nicos Tante Helma) Nachvollziehbar ist, daß sich Nico nicht in der Gewalt hatte, wenn sie Bier trank. „Innerhalb zweier Stunden wandelte sich die „Mond-Göttin“ in einen Trunkenbold. Biertrinken gehörte auch zum gewöhn­lichen Bestandteil ihres späteren Daseins. Eine solche Zecherei führte zu ihrem Verlassen der Vereinigten Staaten von Amerika, aber es brauchte schon ein Süffigkeits-Mons­ter wie Morrison, um den ersten bekannt gewordenen Zwischenfall auszulösen." (John Densmore, Doors-Drummer)

 

Nicos Leben schien sich in Interviews abzuspielen, die allerdings nur wieder Varianten des beständigen Zwiegesprächs waren, das sie mit sich führte: Ein Mann und eine Frau sitzen still im Kontrollraum einer Radiostation. Er hat ein munteres Gesicht, ungefähr fünfundzwanzig. Sie ist in einem gewissen Alter, hat langes braunes Haar, das grau zu werden beginnt, trägt ein Herrenjackett und ein schwarzes Lederarmband mit silbernen Totenköpfen. Eine Platte liegt auf, ‚Femme Fatale‘. Gleich wird der Song zu Ende sein.

D.J.: Heyyyy ... Hier ist Piccadilly Radio. Es ist jetzt zwanzig Uhr fünf­undvierzig, und hier bei mir im Studio ist sie tatsächlich, die femme fatale höchstpersönlich, die legendäre Nico, Sängerin der Kultband der Sixties, Velvet Underground, geschaffen vom Popart-Meister schlechthin, Andy Warhol... Will­kommen in Manchester, Nico!

Nico: (Pause) Dieses Lied ... ist nicht über mich ... Ich habe es nur gesungen ... vor langer Zeit.

D.J.: Stimmt, stimmt, okay. Nico, bevor wir uns darüber unterhalten, was du gerade machst und warum du in Manchester bist, können wir deine Karriere noch ein wenig zurückverfolgen, für unsere Hörer?

Nico: Wenn es sein muß.

D. J.: Du kommst ursprünglich aus Berlin, hab' ich gehört.

Nico (stöhnt): Oh ... (seufzt) ... Ja ... nun ... beinah ... irgendwie… nicht so ganz ...

D.J.: Nun - hm - diese Stadt hat ja einen besonderen Mythos… die Nazis, Cabaret und all das ... Wie war das denn?

Nico: Es hat mir nicht gefallen. Ich fand es alles ziemlich geschmacklos.

D. J.: Geschmacklos? Es so zu nennen, ist etwas ungewöhnlich.

Nico: Verstehst du ... übertrieben ... Diese Liza Minnelli kann den Mund nicht halten.

D.J. (verwirrt): Liza Minnelli? Oh, ja, ja ... Nein, ich meinte, als du jung warst, der besondere Mythos von Berlin?

Nico: Jung? Mythos?

D.J.: Nun, du weißt doch, man sagt, Berlin war irgendwie gefährlich, der Ort, an dem es geschah, oder so.

Nico: Oh ja, sehr viel Gefahr ... Die Gebäude stürzten um dich herum ein ... die Strassen voll Staub, du ersticktest…

D.J.: Oh je, Nico, das klingt ja echt schrecklich. Also, jedenfalls hast du in den Fünfzigern angefangen, als Model zu arbeiten?

Nico: Wir mußten auf dem Land leben. Nachts sah man, wie die Stadt brannte, der Himmel blutrot. …

D.J. (hüstelt): Der Krieg. Schlimme Zeit für beide Seiten.

Nico: ... Der Brandgeruch im Wind.

D. J.: Okay ... Hier ist Piccadilly Radio, und ich habe mich gerade mit Nico von den berühmten Velvet Underground unterhalten.

 

Nico, die "Garbo des Punk", die neue Art Superstar, der Einzelgänger, blieb am liebsten ohne Familiennamen und folglich ohne Verwandtschaft. „Wir soll­ten keine Ausweise benötigen. Sie sind dummes Zeugs... Wen kümmert es schon, wo irgendjemand geboren wurde."

Gerard Malanga (aus Warhols Factory) erinnert sich an eine Konzertreise nach Kanada: „Als wir ihr sagten, daß sie für die Ein- und Ausreise nach Kanada ihren Paß benötige, war sie keineswegs beglückt, weil sie annahm, wir wollten ihr Geburtsdatum erschnüffeln. Nico war sehr eigen, was ihr Alter anbelangte. Sie ließ den Paß mit Absicht zu Hause und stellte mit ihrer Eitelkeit das ganze Unterfangen in Frage. Wir mußten von der Straße runter und zu einem obskuren Grenzübergang. Wir versteckten sie dann hinten im Laderaum zwischen den Gitarren und Schlagzeug und schmuggelten sie - in beide Richtungen."

Nico hatte gerade die Musik gemacht, von der sie geträumt hatte („The Marble Index“, 1969). Sie sprach daher gerne mit ‚Twen‘, einem deutschen Magazin für Frauen ihres Alters - sie war gerade 30 geworden - über sich:

„Sind Sie seit den Fünfzigern in Deutschland gewesen?“

„Ich war dort nur auf Besuch bei meiner Mutter. Sie lebte in Spanien, wurde dann aber sehr krank. Wir sind gute Freunde. Ich habe einen Sohn, der im August acht Jahre alt wird. Sein Name ist Christian Aaron. Ich nenne ihn Ari: das bedeutet „kleiner Löwe“.

„Wie lautet sein Familienname?“

„Er trägt meinen Namen, weil sein Vater zu stolz ist, ihn anzunehmen.“

„Wie lautet dann Ihr Familienname?“

„Warum sollte ich das sagen? Es ist unwichtig. Ich habe diesen oder jenen Namen. Ich weiß, daß es auf diese Art ungesetzlich ist, aber es kümmert mich nicht.“

„Es tut mir leid. Aber wer ist der Vater des Sohnes?“

„Alain Delon. Zu dieser Zeit stand er im Zenit seiner Karriere. Jetzt befindet er sich in solch herabsetzenden Umständen, daß ich fast beschämt bin, daß er der Vater meines Kindes ist. Ich glaube nicht, daß er noch weiß, was er weiter tun soll. Als ich schwanger war, lebte ich in New York. Ich war sehr glücklich über das Baby. Es ist eine wundervolle Erfahrung für eine Frau, ein Kind zu haben. Es war sehr schwierig, für Ari zu sorgen. Ich mußte ihn überall mit hinnehmen. Dies ist kein Leben für ein Kind. Als er vor zwei Jahren krank wurde, brachte ich ihn zu seiner Großmutter, der Mutter von Alain Delon. Sie ist eine wunder­volle Frau und stellt sich ganz gegen das Verhalten ihres Sohnes. Ari lebt jetzt bei ihr und geht in eine Schule bei Paris. Er braucht diese Art der Fürsorge, weil er ein wildes Kind ist. Er wäre ein Krimineller geworden, wüchse er nicht mit einem Sinn für Ordnung auf.“

„Ihre Lieder scheinen aus Ihrer Seele gerissen zu sein.“

„Ja, ich habe auch schon darüber nachgedacht. Meine Songs sind nicht gerade persönlich. Aber ich kann mich eigentlich mit überhaupt nichts identifizieren, nicht mal mit mir. Ich bin ein Nomade, wie in meinem Lied ‚Frozen Warnings‘. Das ist wohl mein Lieblingslied auf der Schallplatte.“

„Wie sind Sie zur Musik geraten?“

„Über Bob Dylan, den ich vor sechs Jahren in Paris traf. Ich fing damit an, alle seine Lieder zu singen - When the Ship Comes In, mein Favorit und The Times They Are a 'Changin, Mr. Tambourine Man natürlich und It Ain’t Me, Babe ...“

„Haben Sie ihn kürzlich gesehen?“

„Er hat sich zurückgezogen. Er macht in Familie. Ich kann ihm das nicht vor­werfen. Was sonst kann er jetzt machen. Wenn du dein gesamtes Leben als Tramp zugebracht hast, wird es nach einer Weile verdammt kalt, und du hast es über, draußen zu sein. Er kann ein Familienleben führen und immer noch genug Geld machen. So lebt er also auf diese Weise.“

„Ich glaube, Sie kennen auch Leonard Cohen?“

„Ja. Ich fürchte ihn ein wenig. Er verhält sich mir gegenüber immer merk­würdig. Jedes Mal wenn ich ihn sehe, muß ich ihn zurechtweisen. Er meint immer, ich wäre die ideale Freundin für ihn und daß ich seine Frau werden sollte oder so. Ich spreche nicht gerne darüber, aber er macht daraus kein Geheimnis. Ich mag ihn als Person, solange er mir keinen Antrag macht.“

„Sie haben viele Dinge gemacht und so viele Erfahrungen gesammelt. Was ist geplant und wieviel spontan?“

„Ich denke nie darüber nach. Die Dinge geschehen. Wirklich. Ich habe keine Motive. Wenn ich Ihnen sage, daß ich ein Texter wurde, meine ich nicht, daß ich dies so wollte. Eines Tages hatte ich ein Lied, und das war der Beginn. Alles geschieht irgendwie. Es gibt keine Zufälligkeiten, alles ist prädestiniert. Ich bin sehr fatalistisch.“

„Was erhoffen Sie sich für die Zukunft?“

„Halten Sie mich nicht für eingebildet, aber ich hoffe, daß es mir gelingen wird, alle meine Gedanken und mich entweder in der Musik oder im Film zum Ausdruck zu bringen. Daß sich dadurch die Dinge verändern.“

Es blieb der Nachwelt überlassen, nachdem sie der Tod mitten aus dem spanischen Sommer des Jahres 1988 gerissen hatte, die näheren Fakten ihres Lebens festzustellen. Nico (Christa Päffgen) kam während eines Urlaubs auf Ibiza bei einem Fahrradunfall ums Leben: "Spät eines Morgens, am 17. Juli, sagte mir meine Mutter, daß sie wegen Marihuana in die Stadt müßte. Vor dem Spiegel wickelte sie einen schwarzen Schal um ihren Kopf. Sie starrte richtig­gehend in diesen hinein und machte sich einige Mühe, daß der Schal auch richtig saß. Sie fuhr mit dem Fahrrad den Berg hinunter. 'Ich bleibe nicht lange.' Als sie aus dem Hause ging, war es früher Nachmittag, etwa 13 Uhr, und der heißeste Tag des Jahres, 35 Grad." (Ari)

Der Taxifahrer, der sie an der Seite der steilen Straße fand, das Rad, dessen Räder sich nicht mehr drehten, mußte vier Krankenhäuser anfahren, bevor man sie aufnahm. Im ersten verweigerte man dies, weil es sich um einen Ausländer handelte, beim dritten hielt man es nicht für einen Notfall - sie sah aus wie ein Beatnik, war wohl nur zu lange in der Sonne gelegen. Sie war bei Bewußtsein, konnte aber nicht sprechen. Man bettete sie auf eine Trage, und eine Kran­kenschwester diagnostizierte: Sonnenstich. Am nächsten Tag untersuchte sie ein Arzt. Sie hatte ein Blutgerinnsel im Gehirn, was durch Injektionen behandelt werden sollte. Doch konnte man keine Vene finden. Sie hatte nicht mehr viele solche Blutleiter zur Verfügung. Es wurde ihr selber immer schwerer, sie zu finden; sie verschwanden unter der Oberfläche der Haut, weshalb sie sich zu­letzt in ihre Hände spritzte - bei einer Junkie-Berühmtheit eine sehr auffällige Sache. Sie mußte ihre Narben mit Stoff-Fetzen bedecken, besonders wenn das Publikum bis vor die Bühne kommen konnte.

Nico starb offiziell am 18. Juli 1988 um 20 Uhr. Der Leichnam wurde schließ­lich zur Einäscherung nach Berlin geflogen.

- Ein nicht ganz unspektakuläres Ende eines spektakulären Lebens.

 

November 1981: Christa Päffgen, früher Fotomodell, Schauspielerin, Sängerin bei Velvet Underground und Muse in Andy Warhols Factory, lebt zurück­gezogen in der grauen englischen Industriemetropole Manchester. Ein Rock-Manager ergreift diese Gelegenheit: Alan Wise, alias Dr. Demetrius. Er heuert Backgroundmusiker an, mietet einen alten Lieferwagen und organisiert für die Sängerin eine Auftrittsfolge durch Italien, die allerdings in einem Desaster endet.

In den folgenden sechs Jahren tourt Nico mit wechselnden Bands durch die Welt - mit mäßigem Erfolg. Oft verschreckt Nico ihr Publikum, doch manchmal, in ihren besten Momenten, verzaubert sie es - vor allem, wenn sie ihre Musiker hinter die Bühne schickt und a capella singt oder sich selbst an ihrem Instrument begleitet. Nie war sie besser, als wenn sie allein an ihrem Harmonium saß und eins ihrer beunruhigenden Lieder sang, mit Anklängen an Volksweisen, Ländler oder Bach-Choräle - mit einer Stimme, die so unvorstellbar tief war, daß es an eine Wagner-Parodie grenzte. Es gab Momente, da wurde selbst die blasierteste Zuhörerschaft, mit den Verrücktheiten der modernen Pop-Ereignisse überfüttert, in dieser finsteren Umarmung festgehalten. Ihre Stimme schien schwer zu tragen, jedes Wort in die Länge gezogen, jede Silbe wog bedeutend und zählte. Ein Kritiker empfand, "daß sie die Zuhörer mit ihrem göttlich sinnlichen, aber sexlosen Aussehen hypnotisierte." Ein anderer schrieb, daß sie "wie ein fremdes Wesen aussah und sich auch so anhörte".

Eine Notiz, Nicos sexuelle Ausstrahlung betreffend und ihre Stimme, die so schwer zu tragen schien, steuerte Ultra Violet (ebenfalls aus dem Warhol-Clan) bei: "Nico hat eine unisexuelle, atonale Stimme. Sie sieht wie ein Mädchen aus, mit langem blondem Haar, einem wohlgeschwungenen Mund, hohen Wangen­knochen, langen Wimpern und blassem, leuchtenden Make-up. Aber wenn sie singt, ist es schwer, diese Stimme näher einzuordnen. Man ist sich nicht sicher, ob sie singt, so wenig Leben entströmt ihrem Mund. Unbeweglich wie eine Statue wiederholt sie in einem relativ tiefen Timbre mit starkem Deutsch-Akzent Worte, die man wegen der Lautstärke der Band nicht verstehen kann."

Als Sängerin verdiente Nico nie viel Geld, und das wenige gab sie sofort aus. Sie besaß kein Haus, kein Auto, keinen Fernseher, nicht einmal Exemplare ihrer eigenen Schallplatten. So hatte sie gelebt, seit sie ein Teenager war; ein Leben, das auf die üblichen vertrauten Erleichterungen verzichtete. Die in ihren Tagen als Vogue-Modell zu tragenden Chanel-Kleider hatten schon lange geschlechts­neutralen schwarzen Hosen und Jacken Platz gemacht. Ihre Folgejahre wurden bestimmt wie von der hektischen Sorge des Fixers um Nachschub, der unerbitt­lichen Suche nach einer guten Connection.

Im Winter 1987 war Nico neuerlich unterwegs. Sie versuchte in dieser Zeit vom Heroin, der Modedroge, loszukommen, schien wieder auf dem Weg nach oben zu sein. Dann aber, im Juli 1988, war alles vorbei.

 

Ihre hoch oben über Prestwich gelegene Dachgeschoßwohnung war tadellos sauber. Nico saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf dem Bett, die Schreibmaschine auf ihren Knien, und arbeitete an ihrer Autobiographie. Das rücksichtslose Verlangen nach Selbstzerstörung hatte nachgelassen, und der alles umhüllende Deckmantel ihrer Abhängigkeit hatte sich gehoben. Sie war jetzt die unverheiratete Dame mittleren Alters von nebenan - die mit der interessanten Vergangenheit. Einmal in der Woche schaute sie beim Apotheker in der Nachbarschaft rein, wo sie ihr Methadonrezept einlöste; das legte sie dann wie eine Hausfrau mit anderen Einkäufen in ihren Fahrradkorb.

Aber immer noch beunruhigte sie die Nachbarn. Obwohl sie jetzt lächelte, wenn sie über das Vergnügen am Fahrradfahren und die Vorzüge einer gesun­den, praktischen Ernährung plauderte, verwiesen die silbernen Schädel auf ihrem schwarzen Lederarmband, der kleine Totenkopf aus Elfenbein an ihrem Hals und die nicht zu verbergenden Einstichnarben überall an ihren Händen und Armen auf ein von solcherlei mit Beschlag belegtes Leben.

 

Lutz Ulbrich, ein bemerkenswert attraktiver, blonder Gitarrist, der über­wiegend in Berlin gelebt hat und mit der angesehenen Gruppe „Ashra“ Musik gemacht hat: „Ich habe seit dem Alter von zwölf Jahren Gitarre in einer Band gespielt. In den frühen Siebzigern spielte ich in einer Gruppe namens „Agitation Free“, einer deutschen Avantgarde-Band, die in Freestyle "under­ground"-Musik machte, ein bißchen wie Pink Floyd. Wir spielten 1972 im Nahen Osten und trafen Hassad Debs, der Ferien machte. Er fand solchen Gefallen an uns, daß er versprach, für uns eine Tournee zu arrangieren, sobald er nach Paris zurückgekehrt war. 1973 erhielten wir eine Einladung zu einer kleinen Club-Tour in Frankreich. Es war ein Erfolg, so daß er uns bat, an einem Spezialkonzert in der Opéra Comique teilzunehmen, was wirklich ein schönes, altes Opernhaus im Zentrum von Paris ist. Es war ein Festival verschiedener Bands, so auch einer damals populären französischen namens „Crium Dele­rium“. Nico war der Hauptdarsteller. Es gab dann eine Party bei Hassad Debs. Nico war da, völlig magnetisch und ziemlich beeindruckend – eine bekannte Anwesende.

Wir wurden ihr vorgestellt, weil wir deutsch sprachen, was für sie irgendwie ungewöhnlich war. Ich saß mit den Jungens herum, als sie mich plötzlich an­starrte, herüberstolzierte und sagte: 'Komm mit mir, laß uns rausgehen und uns unterhalten.' Ich dachte, warum ich? Sie war dieser Star, und ich war, nun ... ein Gitarrist. Wir gelangten nach draußen, und sie meinte dramatisch: 'Ich fühle mich wie ein Roboter. Es sind da so viele Gedanken in meinem Kopf.' Das hat mich völlig überwältigt. Wie sollte ich darauf reagieren? Ich war 22 und sie 34. Es war bestimmt eine Art Verführung, wenigstens im Ansatz. Mir wurde das Gefühl vermittelt, daß sie gedankenverloren, aber nicht uninteressiert war. Ich fuhr mit der Gruppe nach Berlin zurück.

Einige Zeit später wurden „Agitation Free“ dann eingeladen, in Clermont Ferrand neben Nico und Kevin Cyone zu spielen. Ich wartete im Erste Hilfe-Zelt und einer aus diesen Hippie-Gruppen, die damals immer dabei waren, bot mir etwas Tee an. Sie hatten mir nicht gesagt, daß er mit LSD versetzt war. Ich wurde total high mit einer Tasse Tee. Ich versuchte, mich zu konzentrieren und klammerte mich verzweifelt an die Realität unseres Auftritts. Ich spielte meine Gitarre mit geschlossenen Augen. Als ich sie öffnete, saß Nico neben mir, als wäre sie immer schon da gewesen. Wir flirteten.

Sie lebte zu dieser Zeit mit Philippe Garrel. Ich hielt ihn für einen außer­gewöhnlichen Menschen. Er hätte ein Vermögen machen können, wenn er fürs Fernsehen gefilmt hätte, aber er war völlig losgelöst und bewußt einzigartig und machte kuriose Filme für die große Leinwand. Sie lebten in einer ... ich kann es nur als Dachkammer beschreiben. Es war verkommen. Es gab keine Heizung, die Fenster waren zerbrochen - sie schienen schrecklich arm zu sein. Sie lud mich dorthin ein. Es war erbärmlich. Philippe lag im Bett, das aus seinem Mantel und einer Decke bestand. Der Geruch einer abgebrannten Kerze und der Gestank von Menthol-Zigaretten, die er dauernd rauchte, hing im Raum. Es gab Spuren von Heroin. Ich fühlte mich sehr unwohl, weil ich eine Art Gast war, der mit seinem Mädchen flirtete. Aber sie hatte keine richtige Affäre mit ihm. Es war mehr die Affäre von Heroin-Liebhabern - zusammen waren sie in Smack verliebt. Ich blieb nicht da und fuhr nach Berlin zurück."

 

Lutz Ulbrich galt von 1974 bis 1978 als Nicos Lebensgefährte. Sie lebten zusammen im Chelsea Hotel, und er begleitete sie bei ihren Gigs auf der Gitarre. Damals begann Nicos Heroinsucht. Als Lutz mit einer Szene, in der sich alles nur um Drogen dreht, nichts mehr zu tun haben wollte, trennten sie sich. Ulbricht wurde freischaffender Musiker, war mit der Organisation von Konzer­ten in Berlin beschäftigt.

Lutz Ulbrich trat mit ihr von Berlin aus in Kontakt. Der Ashra-Gitarrist hatte im Berliner Planetarium ein Fata Morgana-Festival organisiert und übertrug Nico die Komposition einiger Songs, die sie dort vortragen sollte. Anstatt dies über ihren Manager zu tun, buchte Nico ihre Musiker, Henry Laycock, James Young, Graham Dids, ohne Vermittlung.

Als es im Juni 1988 zu diesem Ereignis kam, hatte sie so gut wie nichts ge­schrieben. Ein Lied enthielt zwei Zeilen:

I, I will be seven

When we meet in heaven.

Die Musiker stöpselten, so gut es möglich war, zusammen und schufen etwas für die Gelegenheit Passendes. Ein Band des Konzerts wurde mit frühen 1980er-Sessions gemischt und im Jahre 1990 von einer holländischen Gesellschaft als Hanging Gardens vertrieben. Enthalten ist der letzte Song, You Forget To Answer, den Nico auf einer Bühne sang:

When I remember what to say

You will know me again

You do not seem to be listening

You do not seem to be listening

The high tide is taking everything

And you forget to answer.

 

„Ich ging in das Konzert und traf Christa in der Pause hinter der Bühne", berichtete Nicos Tante Helma. „Sie drehte sich eine Zigarette und sagte: 'Ich brauche das für die zweite Hälfte.' Ich fragte sie, was in der Zigarette war. 'Oh, Tante Helma, sei nicht so naiv.' Ich schluchzte, sie konnte meine Tränen sehen. Dann gab sie mir einen wunderschönen Ring mit einem surrealistischen Schmetterlings-Design, den sie einst in Spanien für ihre Mutter gekauft hatte, steckte ihn an meine Hand und sagte: 'Von nun an ist es deiner.' Ich trage ihn bis zum heutigen Tag. Rückblickend kann ich sagen, daß es wie ein Abschieds­geschenk war. Es war, als hätte das Schicksal mir erlaubt, sie ein letztes Mal zu sehen."

 

Die Beerdigung Christa Päffgens sollte in Berlin stattfinden. Lutz Ulbrich sollte sich darum kümmern, daß Nicos Leichnam von Ibiza nach Berlin geflo­gen wurde, wo man sie einäschern wollte. Er hatte einen Eintrag in ihrem Tage­buch gefunden: „Ich will verbrannt werden", daneben William Blakes Gedicht "Tyger, Tyger".

Alan Wise wünschte seine eigene Totenfeier für Nico. Er war ihr Manager, hatte ihre Karriere in den letzten sieben Jahren gesteuert, und jetzt würde er auch ihr Begräbnis ausrichten. Er informierte den ‚Melody Maker‘, daß am 6. August in der protestantischen Kirche in Holmfirth, Yorkshire, ein Gedenk­gottesdienst abgehalten werde. Dort las Alan Wise dann - vor einer berückten Gemeinde aus den Bandmitgliedern, ein paar Vandalen und einem Landstreicher in Anorak und Wollmütze - Lyrik.

 

„Sie hatte nicht an ihren Tod gedacht. Nico hatte viel, wofür sie leben konnte - sie hatte eine lebende Hölle überlebt, sie begann damit, ihr Methadon ab­zusetzen, und sie hätte es wohl in fünf Jahren schaffen können. Sie hatte Lieder, die sie komponieren wollte und Ari, für den sie sorgte. Ihre Songs der letzten zwanzig Jahre, insgesamt 38, beschäftigen sich zwar auch mit dem Tod, doch war ihr Sterben ein tragisches Ungeschick ... Sie lebte das Leben eines Bohé­mien und starb entsprechend. ... Die einzige Moral, die sich daraus ziehen läßt, ist: Werde nie in Spanien krank."

„Diese schrecklichen Klamotten haben sie umgebracht", überlegte Paul Morrissey. „Die schönste Frau der Welt wollte häßlich aussehen und trug diese miesen schwarzen Kleider, um sich zu verhüllen. Und das in dieser Backofen­hitze, radfahrend in dieser schweren schwarzen Kleidung, mit einem schwarzen Kopfschal - ich würde sagen, sie hat das Schicksal versucht, wüßte ich es nicht besser." Viva fügte hinzu: „Diese ganzen Jahre zu überleben und dann vom Fahrrad in den Tod zu fallen, klingt schon ein bißchen eigenartig. Als ich die Geschichte hörte, sagte ich: 'Ich wette, sie war einfach stoned.' Sie überlebte die meisten der anderen - Edie, Jim Morrison, Tim Hardin, viele der Factory-Leute, selbst Andy. Für die Drogen-Abuser ist sie eine Art hoffnungsvolle Botschaft. Sie ist jetzt ihre Heilige Nico."

 

Die Bestattungs-Feierlichkeiten fanden erst am 16. August in Berlin statt, wohin sich die Mitglieder ihrer letzten Gruppe und der Bluessänger Victor Brox, der Nico auf Ibiza als erster zum Singen ermutigt hatte, in einem Mercedes-Tourbus mit Video und Liegesitzen aufmachten, die Taschen voller 5-Pence-Stücke für die deutschen Zigarettenautomaten. Wie oft waren sie nicht an eben diesen Wachposten vorbeigefahren, an derselben schmuddeligen Cafeteria, in der es dasselbe schmuddelige Essen gab, an demselben russischen Panzer oben auf seiner Gedenksäule. Er schien die Stadt davor zu bewahren, wie irgendeine andere Eurometropole für stahlharte Technik-Teutonen zu werden. All die Typen, die sich dem Militärdienst entzogen, fanden in Kreuzberg Zuflucht und gehörten zu Nicos Publikum.

 

Es war ein prächtiger Tag für eine Beerdigung, strahlend blauer Himmel, ungefähr 25 Grad. Der Friedhof Grunewald-Forst lag am Waldrand, draußen beim Wannsee. Ein beschaulicher Ort, der Geruch von Efeu und duftenden Sträuchern hing in der stillen Morgenluft. Der Gedenkstein, den Demetrius bestellt hatte, war nicht fertig geworden, es gab nur ein kleines Schild: "Päffgen 16.10.38 - 18.7.88." Die Urne wurde versenkt, ein paar Worte des altindischen Epos "Bhagawadgita" wurden gesprochen, aus einem Kassettenrecorder erklang Nicos Song

Mütterlein:

Liebes kleines Mütterlein

Nun darf ich endlich bei dir sein

Die Sehnsucht und die Einsamkeit

Erlösen sich in Seligkeit.

 

Nur wenige, die Nico früher gekannt hatten, standen an dem einen halben Quadratmeter großen und einen Meter tiefen Grab. Philippe Garrel, der Film­regisseur, ein schüchterner, zerknitterter kleiner Mann, war in geliehenem An­zug und Krawatte von Paris angereist. Doch aus Amerika, New York hatte keiner kommen können, nicht mal ein Blumenstrauß oder eine Nachricht. Nach der Zeremonie blieb man noch etwas im Café am Seeufer zusammen. Nicos Tante Helma bezahlte die Getränke und erzählte, wie hübsch "die kleine Christa" als Kind gewesen sei, wie sie immer bei ihrer Mutter war und wie gut es sei, daß sie an ihrer Seite begraben war.

Noch am Abend dieses Tages fand das Gedenkkonzert im Planetarium statt. Lutz hatte es organisiert, um die Friedhofs-Kosten bezahlen zu können. Jeder absolvierte einen kurzen Auftritt, Victor Brox stimmte mit einem Todes-Boogie ein. Dann wurde eine Aufnahme von Nicos letztem Konzert gespielt, das in demselben Gebäude stattgefunden hatte, wozu Lutz Sterne und kreisende Plane­ten schaltete.

„Größten Gewinn könnte ein Kerzengeschäft in der Nähe Nicos machen", meinte Andy Warhol. John Cale stimmte zu: „Kerzen, ja Kerzen. Überall Kerzen. Ich verstehe die Faszination nicht, aber daß es praktisch ist. Wo Nico auch wohnte, bei anderen Leuten - elektrisches Licht war vorhanden, aber Nico bestand darauf, stapelweise Kerzen zu kaufen, die sie in den Räumen verteilte und entzündete. „Es spart Geld“, erklärte sie. „Ich kaufte Kerzen, weil sie Sterne sind und ich bin ein Superstern. Kerzen machen Lichtsterne. Ein Raum ist ein Universum. Ich kann die Welt mikroskopisch aus der Distanz sehen. Die Kerzen sind meine Sterne. Waren Sie schon mal im Innern einer Kapelle? Notre Dame in Paris? Da sind tausende Kerzenlichter, Sterne im Universum der Kathedrale. Es ist so, daß wir das heilige Gefühl der Heiligen Mutter, Notre Dame, begreifen können.“

 

Nach jenem Planetarium-Konzert war Nico auf die Insel Ibiza geflogen. Wie viele ihrer Generation, die in den Kriegsjahren geboren wurden, empfand sie höchstens Unbehagen gegenüber ihrem Land und seiner schuldbeladenen Ver­gangenheit und blieb nie gerne lange dort. Sie sah sich selbst tatsächlich nicht mehr als Deutsche. Sie sprach Englisch, sie träumte Englisch, sie sang – meis­tens - Englisch.

 

„Ich möchte mit den Deutschen nicht in einen Topf geworfen werden. Ich habe mit ihnen in keinerlei Weise zu tun." Nico schämte sich ihrer Herkunft aus Nazi-Deutschland, weshalb sie diese zeitlebens verschleierte wie auch den Um­stand ihrer unehelichen Geburt.

Oft kam Nico auf den Tod ihres Vaters im Konzentrationslager Belsen zu sprechen, was einen deutschen Journalisten zur Frage veranlaßte, ob ihre Familie jüdisch wäre: „Nein, aber ich identifiziere mich mit dem jüdischen Volk. Es muß da einen jüdischen Familienzweig gegeben haben. Und die ersten Menschen waren Juden, nicht wahr?"

Nico selber gab vor, daß Bier in ihrem Blut lag. Einen verdutzten Fan ließ sie wissen: „Ich trinke gerne Bier, weil es mir meine Herkunft zurückbringt."

Und doch rührte sie eine bestimmte Biermarke nicht an, das "Kölsch", weil es aus ihrer Geburtsstadt Köln am Rhein kam. Schon der bloße Anblick von Kölschgläsern flößte ihr Entsetzen ein, die Gläser mit der eingebrannten Erken­nungsmarke der Familienbrauerei Päffgen aus der dortigen Friesenstraße brach­ten sie völlig aus der Fassung.

Nicos Ausweis-Name lautete Christa Päffgen, und diese Obergärige Haus­brauerei "Päffgen" blieb für immer mit ihrem Vater verbunden, der sie schmählich im Stich gelassen hatte. Tat sie Kölsch noch als "eau de Cologne" ab, so konnte sie sich indes nicht überwinden, den Namen "Päffgen" über die Lippen zu bringen.

Zwanzig Päffgens standen zurzeit von Christas (Nicos) Geburt im Kölner Telefonbuch. Einige davon Tanten und Onkel dieses verzweigten katholischen Familien-Gefüges; der Nachname "Päffgen" stammt ab von "Pfaffe". Einer der Vettern, den Christa erst spät in ihrem Leben traf, war der modernistische Maler C.O. Päffgen, ein anderer war Architekt. Aber Christa wurde unter diesen nicht als eine Päffgen anerkannt, und der Clan hatte so gesehen Recht, da sie ja unter Umgehung der Ehe-Gesetze zur Welt gekommen war.

Nico kannte ihren Vater nicht einmal. Dieser, ein sehr großer und gutaus­sehender Mann mit dem kaiserlichen Vornamen Wilhelm, war als Student auf der Suche nach der Naturseele in ferne Länder gezogen. Von ihm mag Christa ihre stattliche Größe (etwa 1.80 m), ihre weiten grauen Augen, ihr männlich ausgeprägtes Kinn und die Nackenlinie haben. „Er gab mir meine Größe und einen überaktiven Geist", sonst nichts außer Armut."

Der „Träumer“ Wilhelm Päffgen wurde Soldat, traf auf das Mädchen eines anderen Glaubens, ein Kind des Protestantismus, und prompt wurde Christa geboren. Das erste Krächzen der Tochter von Wilhelm und Margarete (Grete) Päffgen erfolgte am 16. Oktober 1938.

 

Der Vater mußte mit der Wehrmacht in den unseligen Krieg, man löste die Ehe, und Nico galt als Bastard. Grete war damals 28 Jahre alt. Modebewußt färbte sie ihr kastanienbraunes Haar blond und trug es mit der dazumal beliebten bogigen Hochfrisur; ein nach dem (von den Weltkriegs-GIs zum beliebtesten Pin-up-Girl gekürten, deren Beine Fox bei Lloyds für 1 Millionen Dollar ver­sicherte) US-Starlet als "Betty Grable" bekannt gewordener Look. Gretes Kenn­zeichen waren des Weiteren die hochgezogenen Wangenknochen mit der regel­mäßigen Struktur und dem ballonförmig feinen Fleisch, was die Familie als "Apfel-Backen" bezeichnete. Um deren Wirkung noch herauszustreichen, schminkte sich Grete ihre vollen Lippen; auch den offenen Ausdruck, ihren "weichen Blick" gab sie an Christa weiter, die damit zum Mannequin etwa wie geboren war.

Drei Wochen nach ihrer Geburt im Krankenhaus wurde das Baby (Nico) als Katholikin getauft, "der heuchlerischen Familienehre wegen". Man nannte das Kind Christa, „die Tochter Christus“. "Ein nettes kleines Nazi-Baby", bezeich­nete sich Nico selber einmal.

Da ihre Mutter Grete Päffgen geschieden wurde, mußte sie die 1.000 Mark-Prämie für das erste Kind zurückzahlen, ungleich den 20.000 anderen Kölner Müttern dieses Vorkriegsjahres.

 

Als der von ihr getrennt lebende Vater des Kindes in den Krieg zog, wurden zudem die Hilfen zum Lebensunterhalt knapper und endeten im Jahre 1942 gänzlich, als es auch noch aus Paris hieß: "Gefallen".

In Wirklichkeit hatte es sich so verhalten, daß Wilhelm Päffgen vom eigenen Kommandeur erschossen worden war. In einen Hinterhalt geraten, hatte ihm ein französischer Heckenschütze eine Kopfverletzung zugefügt. Man brachte den Soldaten Päffgen in ein Militärhospital. Die Kugel war durch die Schläfe ins Gehirn gedrungen, was zwar nicht den Tod zur Folge hatte, aber einen offen­sichtlichen Gehirnschaden. Wilhelm Päffgen hätte sogar operativ gerettet wer­den können, doch wünschten die Deutschen damals nicht die Last solcher Be­hinderter. Hierzu gab es eindeutige Anordnungen, und der diensthabende Offi­zier tat nur seine Pflicht, als er Wilhelm Päffgen erschoß. So stimmte es also in gewisser Weise, wenn Nico vorgab, daß die Nazis ihren Vater umgebracht hät­ten.

 

Nach Beendigung der kriegerischen Auseinandersetzungen hatte sich Nico immer wieder eine Heirat ihrer Eltern vorgestellt. "Sie waren so ineinander ver­liebt. Es war - auch wegen der unterschiedlichen Körpergröße (Mutter 1.60 m) - eine Vater-Tochter-Beziehung." Ihr ganzes Leben suchte sich Nico Phantom-Familien nach dem Muster des gewünschten Elternpaares und nannte etwa Jim Morrison oder Bob Dylan „meine Brüder".

Mit dem Wegfall der Alimente-Zahlungen und dem britischen Bombenhagel auf Köln war Grete, geb. Schulz, gezwungen, bei ihrer Familie Unterschlupf zu suchen. In einem Dorf südöstlich Berlins, nach Polen hin lebten Gretes Mutter und Vater.

 

Bevor sie eine Päffgen geworden war, gehörte die 1910 geborene Grete zur vielköpfigen Familie der Schulz. Neben ihren sorgenden Eltern hatte Grete vier Brüder und drei Schwestern, die mit wechselvoller deutsch-polnischer Ge­schichte ebenfalls in Bromberg aufwuchsen.

Die Schulz-Familie ist bis zu den Szlachta aus dem polnischen Adel zurück­zuverfolgen. Gretes Vater erzählte, daß sein Großvater um 1820 herum seinen Lebensunterhalt als Tanzmeister für junge aristokratische Damen verdient hatte. So schickten die Adligen Pawlowski ihre Tochter zum Meister Schulz, und Lehrer und Schülerin verliebten sich ineinander. Als sie heirateten, wurde die Tochter vom betitelten Vater enterbt, so daß es hieß, daß sie ein mühsames, arbeitsreiches Dasein zu fristen hatten.

Einige von Nicos Melodien, so erzählte sie später einem amerikanischen Fanzine, hörten sich wie die Stücke an, die ihr Großvater spielte, als er den jungen Ladies das Tanzen beibrachte, „bevor sie sich ins Ghetto tanzten".

Die Vereinigte Preußische Kirche hatte Bromberg, einen strebsamen Markt­flecken am Vistula Fluß, der sich bis in die Baltische See ergießt, zu einem Bollwerk des evangelischen Glaubens zum Osten hin gemacht. Auch nachdem sie westwärts gezogen waren, blieben die Schulzes protestantisch; ebenso war Grete als solche geboren worden und Protestantin geblieben.

Ihr Unheil begann, so ihre Familie, mit der Einheirat bei den katholischen Päffgens, die Grete nicht als eine der ihren anerkannten, sie vielmehr für eine schmarotzende Klette hielten, die Grete enterbten und behandelten, wie es schon ihrer Urgroßmutter mit dem Tanzlehrer ergangen war.

In der kopfreichen Schulz Familie, bestehend aus acht Kindern, stellte die Mutter von Nico, Grete, den dritten Abkömmling. Ihre „beste Freundin“ war die Nummer fünf, das um vier Jahre jüngere Mädchen Helma. An diese, erwachsen gewordene, Helma wandte sich Grete zuerst, als sie Köln den Rücken kehrte. Diese war auch verheiratet gewesen und mit einem kleinen Kind und ohne Ehemann zurückgeblieben, wie Millionen von Frauen, die ihre Partner im Kriege verloren hatten.

 

Frau Helma Wolff war damals 28 Jahre alt und verfügte über all die anmu­tigen und ausgeglichenen Züge der Schulzes. Jeden Werktagmorgen verließ Helma ihre "eineinhalb Zimmer" inmitten von Schöneberg, um zu ihrer Arbeit als Sekretärin bei einer militärischen Einrichtung zu fahren. Für ihren Sohn Ulrich (Ulli) hatte sie einen Kindergarten gefunden. Nun wurde ihre Routine durch das plötzliche Erscheinen Gretes - Koffer in der einen Hand, Christa an der anderen - auf der Türschwelle unterbrochen. Ulli war gerade mal sechs Monate älter als seine Kusine, weshalb sie das halbe Zimmer zusammen nahmen. Die Mütter taten es ihnen gleich und teilten sich den verbliebenen Raum. „Nicht gerade Lebensraum", scherzte Helma, doch so hatten sie wenigs­tens vorübergehend etwas Schutz vor der stetig wachsenden Pest des Krieges.

Die Bombardements durch die Alliierten wurden immer heftiger, weshalb der Vater und die Mutter der Schwestern brieflich einen sofortigen Umzug in ihr gefälliges Heim vorgeschlagen hatten. Eine Woche darauf nahmen Christa und ihre Mutter den Dampfzug durch das Havelland südöstlich von Berlin und gelangten so ins etwa 90 Kilometer entfernte Lübbenau.

„Ich liebe die Natur, ich mag Wälder und Hügel und Wüsten und Bomben­krater. Städte sind am schönsten, wenn sie zerstört sind", äußerte Nico im Jahre 1978 einem Journalisten gegenüber. Hügel und weite Flächen sollten in den kommenden Jahren ihr Leben bestimmen. Vor den Fenstern der nach Lübbenau ratternden Bahn zogen Wälder und nichts als Wälder vorüber, Kiefern, Birken, Fichten. Der Krieg verlor an Gewicht, je länger die Gleise der Spree folgten. „Krieg kommt in die Stadt, nicht aufs Land", meinte sie zu ihrer Mutter.

Hundert Kilometer vor Berlin wurde der Zug vor der Signalbox 'Lbn' von keinem geringerem als Gretes Vater in seiner Eigenschaft als Bahnhofsvorsteher zum Aussteigen angehalten.

Heute geleitete Albert Schulz in seiner schmucken Uniform seine Tochter mit ihrem Kind über die Gleise in die Güterbahnhofstraße Nr. 4, wo sie in einem zweistöckigen Gebäude aus rotem Backstein, das die Reichsbahn nahe dem Frachthof errichtet hatte, bis zum Kriegsende leben sollten. „Es war ein enormes Haus, wenigstens vier Stockwerke mit einem riesigen Hof", wollte Nico noch wissen. „Nun, nicht so ganz, aber als Kind erhöhen sich die Häuser", präzisierte Ulrich, später ein distinguierter Architekt. „Ich kann es genau sagen: Es waren da vier Räume, plus der Nebenräume, ein großer Hof und ein schöner Garten, in dem die Kinder spielen konnten. Zudem war dort wenig Verkehr und Gefahr durch die Züge", beschrieb es Christas Tante Helma.

Christa (Nico) war in der Tat von Zügen angetan, wobei es auch blieb. Wann immer sie einen zu sehen bekam, wies sie etwa ihren Manager darauf hin, der sich dann bemüht zeigte, zum hundertsten Male dem „Oh schau nur, ein Zug! Das erinnert mich an meine Kindheit, weißt du!" interessiert zuzuhören.

Noch mehr Gefallen fand Nico am anderen Ende des Hauses, an einem Ort tausendmal aufregender als alle Züge - dem Friedhof. Das Land hinter dem Haus war mit zwei Kirchen verbunden. Efeubehängte melancholische Engel, Bäume und Sträucher vervollständigten die kirchliche Garten-Symmetrie und boten Vögeln und kleinen Mädchen schattigen Schutz.

Christa war jeden Tag an diesem paradiesischen Ort zu finden.

„Sie verbrachte dort so viel Zeit und ging dabei einfach nur umher", erinnerte sich Ulrich. „Ich weiß gar nicht, was sie daran fand, ich glaube, es war die Ruhe. Auf der anderen Seite des Hauses befand sich diese ganze Maschinerie und die Bewegung, aber hier war alles natürlich, und für Kinder barg das ein gewisses Mysterium."

Dieses Mysterium erfuhr mögliche Belebung durch eine gerade stattfindende Beerdigung, insgesamt von unwiderstehlicher Anziehungskraft.

Lebte man in der Güterbahnhofstraße erst zu viert: - Christa (Nico), Grete und deren Eltern, so stießen, nachdem auch in Berlin das Leben zur Hölle wurde, noch Tante Helma mit ihrem Sohn Ulli dazu.

Die beiden Schulz-Schwestern verbrachten weiterhin die Wochentage mit Arbeit, Helma bei der Militärdienststelle und Grete (Nicos Mutter) fand in einer anbei gelegenen Fabrik für Flugboote eine Beschäftigung.

 

Albert und Bertha Schulz, ein Modell-Ehepaar, waren schon ihren eigenen acht Kindern vorbildliche Eltern gewesen.

Bertha führte jetzt auch für ihre Enkelkinder einen ordentlichen Haushalt und brachte ihrem Ehemann den Hinkelmann mit einer warmen Mahlzeit über die Gleise ins Stellwerkhäuschen. Dieser war für die Kinder nur noch "Opi", nahe beieinander liegende Augen und ein dünner Mund verbargen einen freundlich-heiteren Charakter.

Bis kurz vor dem Ruhestand blieb Albert Schulz geschmeidig und aktiv; er starb im Alter von 93 Jahren in Lübbenau. Vor allem auch war er ein bemer­kenswerter Erzähler, der die Vorstellungskraft der Kinder mit Geschichten aller Art entflammte.

„Er war ganz wundervoll darin und ihm zu lauschen war der unterhaltsamste Teil des Tages", begeisterte sich Ulrich.

Dazu sollte man wissen, daß es damals nur wenige Bücher gab, keine Comics für Kinder, keine Zeitschriften, einen langweiligen Radioservice und natürlich kein Fernsehen. Kino war zwar sehr populär, aber nicht in Lübbenau - darauf mußten wir warten, bis wir zurück in Berlin waren. So war Opi unser Quell der phantastischen Vorstellungen."

Als Nico sich daran machte, Liedtexte zu Gladiatoren, Drachen, Falknern, Jägern und dem Land der Nibelungen aufzusetzen, blieb der Großvater ihr Ausgangspunkt.

 

 

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