DANIEL METCALFE

BLAUE DAHLIE, SCHWARZES GOLD

EINE REISE DURCH ANGOLA

AUS DEM ENGLISCHEN VON WERNER LÖCHER-LAWRENCE

»Eine belebende, die Augen öffnende und faszinierende Studie« 
FINANCIAL TIMES


»Metcalfe erkundet Angola auf der Straße und blickt so ins tiefste Innere einer Nation, in der Korruption und Vetternwirtschaft blühen und gedeihen … Dabei gelingt es ihm, Angolas Kolonialgeschichte, einschließlich der schockierenden Geschichte des portugiesischen Sklavenhandels, des Bürgerkriegs und des rasanten Aufstiegs der Neureichen, geschickt in seine Erzählung einzubinden … «
THE TIMES


»Ein neugierig machender, meisterhafter Auslandsbericht:  
das ebenso sorgfältig-­genaue wie packende Porträt eines zerrissenen Landes.«
SCOTSMAN

Die englische Originalausgabe ist unter dem Titel »Blue Dahlia, Black Gold.

A Journey Into Angola« bei Hutchinson erschienen

© Daniel Metcalfe 2013

1. Auflage 2015

© 2015 für die deutsche Ausgabe: DuMont Reiseverlag, Ostfildern

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Werner Löcher-Lawrence

Gestaltung: Herburg Weiland, München

Titelfoto: Mauritius Images/Alamy

Abbildungen im Buch: Daniel Metcalfe

Übersichtskarte: Gerald Konopik, DuMont Reisekartografie, Fürstenfeldbruck

eISBN 978-3-7701-9977-8

www.dumontreise.de

Für Lidia

INHALT

Einführung

Kapitel 1Auf der »Insel des Prinzen«

Kapitel 2Auf der Jagd nach Patrice: São Tomé

Kapitel 3Luanda: Von Seekühen und großen Banken

Kapitel 4Das erste Streichholz anreißen

Kapitel 5»Einhunderttausend eiserne Schläfer«: nach Benguela und Lobito

Kapitel 6Huambo: »Verhaften Sie die Polizei!«

Kapitel 7Der Flussgott: Immer noch wütend in Cuito Cuanavale

Kapitel 8Luanda und die halb offene Straße

Kapitel 9Die erstaunliche Königin Nzinga: Malanje und die Schwarzen Felsen

Kapitel 10  Saurimo und »Landplagen unbekannten Ursprungs, die sich auf unvorhersagbare Weise verhielten«

Kapitel 11  Nördliche Annäherungen: M’banza-Kongo, Stadt der Könige

Kapitel 12  Dunkle Mangos: Von Soyo nach Cabinda

Eine Bemerkung zu den Bantu-Namen

Glossar

Anmerkungen und Zitate

Danksagung

Weitere E-Books der Reihe

Einführung

Er hob die Krake aus dem Wasser und sah sofort, dass sie winzig war, ganz sicher nicht das Meeresungeheuer, gegen das er gekämpft hatte … War es der Tod, der dich so verkümmern ließ, oder waren es die dreißig oder vierzig Jahre, die ich gebraucht habe, um dich zu töten?

PEPETELA, A GERAÇÃO DA UTOPIA, LISSABON 1992

Tiere sind wundervolle nationale Symbole, besonders, wenn sie von Wirtschaftsjournalisten angeführt werden. China ist der Drache, der wie die boomende Wirtschaft den Stachelkopf reckt, Russland der Bär mit Fellmütze, der die Tatzen um ein Gasventil legt und es mit launenhafter Freude öffnet und schließt. Der indische Tiger wird von den Geschäftsleuten des Landes geritten: Wie bei einem Rodeo versuchen sie, den wilden, unaufhaltsamen Sprung des »Fortschritts« zu zügeln.

Was ist mit Afrika? Was geschieht, wenn es zu wachsen und zu knurren beginnt und die reiche Welt herausfordert? Im Moment gibt es eine ganze Reihe afrikanischer Länder, deren Tiere identifiziert und auf die Wirtschaftsseiten gebracht werden müssen, als Symbole der wachsenden Dominanz ihrer Länder.

Die weniger plakativen Journalisten sprechen von einem »umgekehrten Neokolonialismus«, wenn sich die eingeschüchterten Tiere der Kolonialzeit erheben und ihre Bändiger fressen. Es ist eine Geschichte, die in diesen Tagen wieder und wieder erzählt wird, als kämen die reichen Länder nicht so recht über den Umstand hinweg, dass sie nicht länger die Spitze bilden, sondern ihre ehemaligen afrikanischen Kolonien als Bittsteller besuchen, nicht als ihre Bosse. Das ist eine bittere Pille für das taumelnde Europa.

Angola ist ein riesiges Land im Südwesten Afrikas, zweimal so groß wie Texas. Es ist das erste durch eine europäische Macht – nämlich Portugal – kolonisierte afrikanische Land und blieb es länger als alle anderen. Jahrhundertelang gaben sich die Portugiesen größte Mühe, ausbeutbare Bodenschätze zu finden – Gold, Kupfer, Eisen –, kamen für gewöhnlich jedoch wütend und mit leeren Händen von ihren Vorstößen ins Landesinnere zurück. Also wandten sie sich dem Sklavenhandel zu, und das mit ungeheurem Erfolg. Über Jahrhunderte füllte er die königlichen Schatullen, und erst im 19. Jahrhundert gaben sie ihn nach Dezennien wachsender ausländischer Protestbekundungen wieder auf. Um die Zeit des Ersten Weltkriegs entdeckten sie Diamanten, in den 1950ern Öl, doch es war zu spät, das noch wirklich zu genießen: 1975 verließen die weißen Siedler das Land auf schmachvolle Weise, und Angola versank in einem drei Jahrzehnte währenden Bürgerkrieg. Danach schien das Land zur »Kriegsgeschundenheit« verdammt: Angola stand für Landminen, Blutdiamanten und Vertriebene.

Dennoch hat sich in den letzten zwanzig Jahren ein erstes Rinnsal hauptsächlich portugiesischer Rückkehrer in eine Flut verwandelt. Angezogen von der alten tropischen Kultur, die sie einmal genossen haben, nutzen sie die neuen sich bietenden Investitionsmöglichkeiten, nehmen Jobs an und prosten ihren neuen Arbeitgebern mit der Kameraderie lange verschollener Cousins zu.

Unbestreitbar geht zwischen Afrika und seinen früheren europäischen Kolonialherren etwas Dramatisches vor. Die Nachfrage nach Bodenschätzen erreicht immer neue Höhen, und das vielleicht nirgendwo mehr als in den ehemaligen portugiesischsprachigen Kolonien wie Mosambik, wo im Rovuma-Becken riesige Gasvorräte entdeckt wurden, und Angola, dessen massenhafte Ölreserven es auf eine Stufe mit Nigeria stellen, Afrikas größtem Ölproduzenten. Selbst São Tomé e Príncipe, ein winziger, kaum bekannter, ehedem portugiesischer Inselstaat, könnte an der Schwelle zu einem gewaltigen Ölsegen stehen, was die Wirklichkeit der beiden tropischen Eilande für immer verändern würde.

Es ist seltsam: Je öfter Angola in den Schlagzeilen auftauchte, desto größer wurde meine Entschlossenheit, herauszufinden, was sich dahinter verbarg. Es gibt, oder besser gab, eine wundervolle, wenn auch etwas feuchtkalte Bibliothek am Londoner Belgrave Square, wo jeder mit dem entsprechenden Interesse in die misslichen iberischen Abenteuer der Weltgeschichte eintauchen konnte. The Hispanic and Luso-Brazilian Council Library wurde mit dem kleinstmöglichen Budget betrieben, und ich rechnete sie in meinem Empfinden den Bibliotheken einer anderen Zeit zu, die von Luft und Liebe, sprich: intellektuellem Bestreben lebten. Traurigerweise hatten solche Orte im krisengeplagten England ihre Unantastbarkeit verloren, ihre Zeit lief aus.

Die Bibliothek am Belgrave Square schien das geistige Zuhause einer merkwürdigen Gruppe altmodischer Intellektueller zu sein, uralter chilenischer Aktivisten, eines goanischen Dichters, der auf sein königliches Portugiesisch stolz war, und einer geheimnisvollen kolumbianischen Erbin, die mitunter die Telefone abdeckte. Sich in die Bibliothek verirrende Schulklassen spotteten über das Fehlen des Internets und anderer moderner Errungenschaften. Aber genau diese Bibliothek brachte mir Angola näher, und über einige Monate genoss ich ihre Schätze und las alles, was ich über das Land, das portugiesische Seereich und die Auswirkungen des Kalten Krieges auf Afrika finden konnte. Meine Faszination für das ferne Angola wuchs immer noch mehr.

Man muss nur anfangen, sich über Angola zu informieren, um festzustellen, dass es eines der einzigartigsten und fesselndsten Länder ist, die man besuchen kann. Seine (Vor-) Geschichte ist angenehm weit entfernt vom Getue und Gewese der Wirtschaftsseiten. Angola war einmal ein Land der Piraten und Sklavenhändler, der Kapuziner und Missionare, früher synkretistischer christlicher Kulte und kunstvoller Geistermasken. Heute ist es die Heimat einer enormen Rassenvielfalt, auserlesener Art-déco-Architektur, eines hochfliegenden Idealismus und tödlichen Zynismus. Angola ist das Land, in dem Beatriz Kimpa Vita im frühen 18. Jahrhundert fast die Fremdherrschaft stürzte, indem sie durch São Salvador lief und behauptete, die Inkarnation des Heiligen Antonius von Padua zu sein. Ein Jahrhundert früher hätte die Armee Königin Nzingas die Portugiesen fast ins Meer getrieben. Später dann spielten der sozialistische Osten und der kapitalistische Westen ideologische Kriegsspiele, die das Land so gut wie auslöschten. Angola hat womöglich mehr Geschichte, als ein Land verdient.

In der Bibliothek am Belgrave Square lernte ich auch Rui kennen, einen Journalisten und Dichter aus einer wichtigen Umbundu-Familie, der sein Leben in Opposition zur herrschenden Partei Angolas verbracht hatte. Er karikierte, analysierte und schikanierte die Regierung in ihrer wahnsinnigen Kauforgie hinaus aus dem Krieg und hinein in das, was sie Demokratie nannte. Rui war rundlich und hatte etwas von einem Teddybär mit dem vagen Auftreten des englischen Akademikers einer lange vergangenen Zeit, bis hin zu den langgezogenen Vokalen. Rui war hochintelligent und hatte für Kriegsherren im Busch gedolmetscht.

Als ich ihn kennenlernte, trug er ein Exemplar von Caras mit sich herum, Angolas Version von OK!, deren glitzernde Starlets immer genug Stoff für eine Geschichte produzieren. In einem anderen Leben wäre Rui vielleicht Schauspieler geworden. Er war eine unverbesserliche Klatschtante und ein geborener Imitator, der aufs Wunderbarste die Tonfälle der Präsidenten-Mätressen und den aufgeblasenen Überschwang der Begleitkommentare im angolanischen Fernsehen nachahmte. Wenn er aus Angolas Hauptstadt Luanda nach London kam, sprudelten die pikanten Geschichten über die Superreichen seines Landes nur so aus ihm heraus. Alle sollten hören, was er über die gewieften Medienmogule, die Geschäftemacher und Ölmagnaten zu erzählen hatte, die den Reichtum des Landes auf ihre Bankkonten lenkten. Angolaner mit den entsprechenden Möglichkeiten waren der Gier verfallen.

Rui beschrieb eine Welt anmaßender Exzesse, mit Stretch-Landcruisern und juwelenbedeckten »Öl-Frauen«, die nach Lissabon zum Platinum-Card-Shopping fuhren, eine Welt, in der angolanische Geschäftsmänner und Geschäftsfrauen europäische Güter zusammenrafften wie neureiche Nachbarn beim Hinterhofverkauf. »Sehen Sie sich den an«, mokierte er sich und deutete auf das Foto eines grinsenden angolanischen Geldsacks in der Zeitschrift. »Sie würden nicht glauben, wie groß sein Anwesen ist. Er hat eine Statue, die echten Champagner pinkelt.« Oder, ein paar Seiten weiter: »Und der hier hat seinen eigenen belgischen Konditor hinter sich herlaufen.« Rui lachte sein trockenes Lachen und erinnerte sich an die eine oder andere Party. Sie beherrschten die Schlagzeilen, diese Öl-Frauen und neuen Aristokraten, dieser »umgekehrte Neokolonialismus«.

Wen kümmern schon die Erfolge der nationalen Energiegesellschaft, klagte Rui, wo doch nur wenige Angolaner daran beteiligt sind? Manchmal wurde er melancholisch. Was war aus dem Angola der gütigen Großväter geworden, der guten Feste und des Kizomba-Tanzes? Die Veränderungen machten ihn fassungslos. Wollte denn tatsächlich niemand mehr die von Nebelschleiern umspielten Berge des zentralen Hochlandes sehen, die üppigen Wälder im Norden? Wollte niemand mehr den Fisch und die Meeresfrüchte essen, wie es sie früher in den Lokalen am Strand gegeben hatte, zu erschwinglichen Preisen? Nein, die Leute wollten nur noch mit ihren Luxuswohnungen protzen und damit, wie ihr neuer Ölstaat die Welt eroberte.

»Die Ausländer kaufen in ihrem Hotel in Luanda ein absolut abscheeeuuuliches Club-Sandwich für 40 Dollar«, verkündete er staunend, »und haben keine Ahnung, dass sie gleich um die Ecke bei Dona Ana das Köstlichste überhaupt serviert bekommen, und das auch noch mit einem Lächeln, ja, würzige calulu de peixe in einer Tomatensoße mit Knoblauch, bacalhau, und dienstags feijão …« Im Geiste saß er dort, bei Dona Ana, als er das sagte.

Sein Land habe in den 1960ern und 1970ern für seine Unabhängigkeit gekämpft und Ideale gehabt, erklärte Rui. Damals hätten die Bessergestellten noch fremde Sprachen gesprochen, seien politisiert und auf Änderungen bedacht gewesen. Präsidentielle Vetternwirtschaft, unverdiente Profite und schnelle Reichtümer seien nicht Teil des Planes gewesen. Darum ging es in den Kriegen nicht.

Die Buchanschaffungen der Bibliothek schienen in den 1970ern zum Erliegen gekommen zu sein, dem entscheidenden Moment, als dem müden portugiesischen Weltreich mit seinen umkämpften afrikanischen Kolonien Angola, Mosambik und Portugiesisch-Guinea nach langen Befreiungskriegen endlich die Unabhängigkeit versprochen wurde. Für Afrika war es eine Zeit brillanter Ideen: Selbstbestimmung, Marxismus, Négritude. Es war die Zeit der »Generation Utopia«, wie es ein angolanischer Schriftsteller nannte, und ihrer reinen Freiheitsideen. Aber die Freiheit kam mit Preisschildern, die niemand wollte.

Am Tag, an dem es seine Unabhängigkeit feierte, dem 11. November 1975, versank Angola in einem Krieg, der sich in verschiedenen Phasen bis 2002 hinzog. Das Land wurde ein Opfer des Kalten Krieges, seiner eigenen, unversöhnlichen Führer und seiner unerschöpflichen Ressourcen. Es schien ein Krieg ohne Ende, Angola verloren in einer ewigen Spirale, eine Zukunft ohne Waffen undenkbar.

Heute ist Angola ein überschäumendes, stolzes Land, das nicht gern über seiner Vergangenheit brütet. Es hat eine riesige Armee, die Leute hungern nach Reichtum und wollen sich innerhalb Afrikas beweisen. Über Nacht werden Vermögen gemacht, mit einem Zwinkern und einem Nicken des Präsidenten auf ausländische Bankkonten verschoben, und das ins Land fließende Ölgeld überhitzt die Wirtschaft. Währenddessen scheint Isabel dos Santos, die Tochter des Präsidenten und Afrikas erste weibliche Milliardärin, nach und nach Portugal zu übernehmen: Sie kauft Immobilien und Anteile an Banken, Telekommunikations- und Energieunternehmen. Der Prozentsatz der von Angolanern übernommenen an der portugiesischen Börse gelisteten Unternehmen steigt kontinuierlich, und das winselnde Portugal hat dem nichts entgegenzusetzen. Die Antwort der portugiesischen Regierung auf den Aufstieg ihrer ehemaligen Kolonie besteht darin, die eigenen Bürger zu ermutigen, dorthin auszuwandern und reich zu werden. Dreihunderttausend sind dem schon gefolgt.

Aber Angolas Reichtum wird übertrieben: Er ist eine Schimäre und auf einige wenige beschränkt. Das Land leidet unter einer erdrückenden, schändlichen Armut, wie es sie im übrigen Afrika kaum schlimmer gibt, dazu unter einer Bürokratie, die mitunter taub und blind zu sein scheint für die Drangsal des Großteils der Bevölkerung. Wie es ein angolanischer Freund später zynisch ausdrücken sollte: »Wenn du ein Schwein lange genug ohne Futter im Stall hältst, wird es so hungrig, dass es dir im Moment seiner Befreiung das Haus plündert.« Die meisten Angolaner haben keinerlei Möglichkeit, auf den Zug aufzuspringen, sie bekommen nur die Auswirkungen der Plünderung zu spüren, ohne an den Früchten von Öl, Frieden und Wirtschaftsboom teilhaben zu können.

Nach einigen Nachmittagen in der Bibliothek beschloss ich, Angola einen Besuch abzustatten. Vielleicht war es das Gefühl, dass das Land einen weitreichenderen Wendepunkt zwischen den Kontinenten verkörpert, eine gegenseitige Neuausrichtung von reicher Welt und Afrika. Der Reisende in mir wollte dieses Land sehen, das sich so ungestüm wandelte, die portugiesischen Konditoren, die auf ihrem Weg zur Arbeit durch die Elendsviertel kamen. Darüber hinaus wollte ich erkunden, wie die alltägliche Normalität in einer so schrecklich traumatisierten Welt aussah. Und sollte mir das alles nicht gelingen, konnte ich mich immer noch mit den wunderbaren Vanilletörtchen trösten, die in jede afro-portugiesische pastelaria gehören.

Ich fing an Portugiesisch zu lernen, Angolas wichtigste Sprache. Selbst viele Angolaner sprechen heute keine afrikanische Sprache mehr, was in den Ländern südlich der Sahara einzigartig ist. Sie verschmähen das Kimbundu und ziehen ihm das abgetragene, koloniale Relikt alter Zeiten vor. Portugiesisch unterscheidet sich ziemlich vom Spanischen und Französischen, sodass mir meine sowieso eher rudimentären Kenntnisse der beiden Sprachen nicht halfen, seinen nasalen, zischenden Geräuschbrei zu verstehen. Das Portugiesische ist entweder hässlich oder schön. Ich entschied mich für Letzteres und machte mich daran, die Sprache mit der naiven, fast schon zwanghaften Energie zu erlernen, die man für neue Hobbys mobilisiert. Ich kaufte Grammatikbücher, ging zu Fado-Konzerten, trieb mich in den madeirischen Cafés im Londoner Stadtteil Lambeth herum und probierte meine neu erworbenen Kenntnisse aus, mit wem immer es möglich war.

Ich brauchte so viel Vorbereitung wie nur möglich. Die Jahre des Kriegsrechts und der neue zügellose Materialismus haben das angolanische Alltagsleben unerbittlich und hart werden lassen, und wenn Rui zu glauben war, hatten sie auch die herzliche Großzügigkeit und den Witz, für den die Angolaner eigentlich bekannt waren, mehr als nur in Mitleidenschaft gezogen. Das Land ist im Vergleich zu 1975 kaum wiederzuerkennen und kann für Besucher so abweisend, feindselig und verschlossen sein, als würde es immer noch nach sowjetischen Maßgaben regiert.

Ich konsultierte einen Reiseführer über Angola, der den Besuch des Landes wie eine komplette Horrorgeschichte erschienen ließ, vom Moment der Landung auf dem Aeroporto Internacional Quatro de Fevereiro in Luanda an. Ins Land zu gelangen ist schwierig, Visa sind nur schwer zu bekommen, öffentliche Verkehrsmittel ein Problem, Hotelzimmer oft lange im Voraus ausgebucht, und alles ist sündhaft teuer. Wo kosten Hamburger vierzig und Hotelzimmer vierhundert Euro pro Nacht? Es ist so eine extreme Situation, dass man fast schon wieder darüber lachen kann. Für mich war es eine unwiderstehliche Herausforderung.

Ich wollte alle Zyniker widerlegen und zeigen, dass es mitten in diesem rauen, von Afrikabeobachtern doch so geliebten angolanischen Ölstaat nach wie vor etwas Ungewöhnliches, Einzigartiges gab, sich immer noch Beseeltheit finden ließ, es immer noch vorbehaltlose Freundlichkeit gab. Ich wollte den Teil des Landes aufspüren, der Platz hatte für einen nicht am Reichwerden interessierten Besucher, wollte beweisen, dass ich keinen Hubschrauber oder Land Rover mieten musste, um einen Fuß ins Innere des Landes setzen zu können. Wie die normalen Angolaner wollte ich reisen und mich nicht bei den missmutigen Geschäftsreisenden einreihen, die sich über die sechs Dollar für eine Cola in der Hotel-Lobby aufregten. Die würde ich mir sowieso nicht leisten können. Ich stellte mir vor, dass das Leben als freischaffender Autor in London eine ganz gute Vorbereitung auf mein Abenteuer war.

Meine erste Station war allerdings nicht Luanda, sondern São Tomé e Príncipe, ein fast vergessener Inselstaat im Golf von Guinea, der nur einen kurzen Flug von Angola entfernt liegt. São Tomé würde mir einen ersten Eindruck des portugiesischen Kolonialerbes vermitteln, mit einer ähnlichen Küche, luftiger Holz-architektur, einer vergleichbaren Rassenvielfalt und all den Altlasten einer missbräuchlichen, offenen Kolonialherrschaft. So wie ich es mir zurechtlegte, würde São Tomé meine Pufferzone sein, mein Übergang vom erschwinglichen zum unmöglichen Afrika. Oder nehmen wir den sprichwörtlichen Frosch im Kochtopf als Analogie: São Tomé sollte mein Jacuzzi sein vor dem vulkanischen Schlammbad Angola.

Wie so oft war das Geld ein Problem. Mein Budget war vergleichsweise winzig, und ich hatte keine mächtige gute Fee, die mich im Notfall ausfliegen würde. Ich wollte mit einem Rucksack reisen, nicht mit einem Aktenkoffer, und fragte mich, ob mir die hartgesichtigen Bürokraten in der Londoner Botschaft wohl geglaubt hatten, als ich ein Touristenvisum beantragte. Aber drei Wochen später bekam ich es, saß plötzlich in einem Flugzeug und grübelte den Großteil des achtstündigen Fluges daran herum, wie ich es anstellen sollte, nicht schon eine Woche nach meiner Landung in Luanda bankrott zu sein. Nun, und wenn, würde ich eben nach Hause fliegen und als abgehetzter Wirtschaftsjournalist enden.

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Santomeische Kolonialarchitektur, nach dem Regen

Kapitel

1

Auf der »Insel des Prinzen«

Es ist wie ein Zauberland, der Traum eines wilden Malers.

HENRY NEVINSON, A MODERN SLAVERY

Es war so, wie sie es beschrieben hatten: eine Wand aus Dunst, die mich beinahe in die Kabine zurückwarf, eine heiße grüne Feuchtigkeit mit einem Unterton von Bremsflüssigkeit. Wir traten aus dem Flugzeug, schnappten nach Luft, wo es keine zu geben schien, und staksten die Treppenstufen hinunter. Als wir das Terminal erreichten, waren unsere Hemden alle schweißnass gefleckt.

Der Flughafen von São Tomé war wenig mehr als ein tropisches Dampfbad. Fast ein bisschen zu schnell von den unsichtbaren Abfertigern draußen bestückt, brachte ein Förderband das angeschlagene, mitgenommene Gepäck herein. Die Passagiere nahmen ihre Sachen – von meinem Rucksack keine Spur. Ich hatte halb damit gerechnet, nachdem mich ein alter São-Tomé-Reisender mit guten Ratschlägen eingedeckt hatte. Ich solle am Flughafen keine Wunder erwarten, hatte er gesagt.

»Was meinen Sie mit Wundern …?«

»Dass Ihr Gepäck ankommt.«

Dementsprechend hatte ich vorgesorgt und eine kleine schwarze Tasche mit dem Nötigsten für eine Woche im tropischen Wetter gepackt, mit Malaria-Tabletten, einer Zahnbürste, Socken und ein paar Hemden. Nichts Besonderes, aber genug, um mich die Zeit bis zur nächsten Maschine eine Woche später überstehen zu lassen. Ich schwang mein Handgepäck über die Schulter und machte mich auf nach Príncipe, der kleineren und wohl bezaubernderen der beiden Hauptinseln.

Mein Zwischenstopp auf São Tomé e Príncipe war nicht unbedingt eine logische Station auf dem Weg nach Angola. Die Insel São Tomé liegt 1 250 Kilometer von Luanda entfernt, und es gibt nur wenige Verbindungsflüge. Überhaupt liegt der Archipel so weit ab von allen Routen, dass sich keine Durchreisenden auf ihn verirren. Dennoch war ich dem Impuls gefolgt, hier eine Art Fenster hinein nach Angola finden und einen ersten Eindruck des Lebens unter dem großen Schatten der Kolonialmacht Portugal gewinnen zu können.

Jahrhundertelang ist die von Armut gezeichnete, verführerische Inselgruppe São Tomé e Príncipe mit ihren afrikanischen Schwesterkolonien Angola und Kap Verde mitgewachsen, diente als Zwischenstation und Sklavenlager, als Quelle von Reichtümern und gelegentlich auch Verlusten. Heute hat das Land keine Möglichkeit, mit der Art Gesellschaft zu konkurrieren, wie sie sich in Angola entwickelt. Ich hatte die Vorstellung gehabt, auf den Inseln so etwas wie ein angolanisches Paralleluniversum vorzufinden. Theoretisch ist São Tomé ebenfalls ein Ölland, holt es aber noch nicht aus dem Meeresboden, weshalb noch Hoffnung besteht.

São Tomés politische Klasse redet seit Jahren von einem riesigen Ölfund, hat eine »reine Wirtschaftszone« in seinen Gewässern ausgewiesen und die großen Ölgesellschaften aufgefordert, Ange-bote für Bohrkonzessionen zu machen. Dann würden hier alle zu Millionären, doch es ist nicht so, als ob deswegen jemand den Atem anhielte. Trotzdem scheint es mit den Verhandlungen langsam voranzugehen, und es besteht Grund zu der Annahme, dass die Insulaner, die traditionell von ihren Kakaopflanzen und dem Auf und Ab des Schokoladenmarktes leben, an der Schwelle einer mächtigen und womöglich sehr hässlichen Umwälzung stehen.

Noch ist von São Tomé e Príncipe wenig über den Golf von Guinea hinaus zu hören. Der Name liegt einem leicht quer im Mund, besonders als Engländer, und wenn man ihn Reiseveranstaltern gegenüber erwähnt, denken sie nicht selten, man will sie auf den Arm nehmen. Aber warum sollte auch jemand von diesen Inseln gehört haben? Es ist ein winziger auf dem Äquator gelegener Archipel mit einer Bevölkerung von knapp zweihundertausend Menschen, dessen nächste Nachbarn auf dem afrikanischen Kontinent kaum als Bezugspunkte taugen, und abgesehen davon, dass es einer der schönsten, üppigsten, natürlichsten und sichersten Orte dieser Welt ist, die man besuchen kann, mit dem architektonischen Erbe von New Orleans und der natürlichen Schönheit des Amazonas, ist es, neben seiner Unbekanntheit, so schwer wie teuer zu erreichen. Seit Arthur Eddington hier 1919 den Beweis der Relativitätstheorie erbrachte, hat São Tomé e Príncipe keine Nachrichten mehr produziert, die von Interesse für die Welt gewesen wären. Selbst noch die gelegentlichen Militärputsche sind weniger interessant als die Viertelfinalergebnisse eines olympischen Tischtennisturniers.

Entsprechend im Dunkel liegt die jüngere Geschichte des Landes. Nach der Unabhängigkeit 1975 hat São Tomé e Príncipe sechzehn Jahre in einem Balanceakt zwischen dem sozialistischen Osten (die DDR schenkte ihm eine Brauerei) und dem kapitalistischen Westen verbracht (der etliche Darlehen gab, von denen nur wenige zurückgezahlt wurden), doch nichts konnte nach dem Niedergang der Sowjetunion nach 1989 den wirtschaftlichen Kol-laps verhindern. Selbst Taiwan, die größte finanzielle Stütze des Archipels, vermag es nicht zu verhindern, dass das Land von einer Krise in die nächste taumelt. São Tomé hat versucht, die Verluste im Kakaohandel damit zu kompensieren, internationale Sex-Chat-Lines durch seinen Hauptort zu leiten, ist aber immer noch hoffnungslos abhängig von seiner Gebergemeinde.

Abgesehen von seinen Geldgebern ist São Tomé heute hauptsächlich Briefmarkensammlern bekannt, gewissen reichen portugiesischen Flitterwöchnern und den unheilbar Neugierigen, für die Vergessenheit und Abseitigkeit noch nie ein Grund waren, der gegen einen Besuch spricht. Ich nehme an, ich selbst gehöre zu Letzteren. Dieses Land war einmal ein Hafen für Piraten, Sklavenhändler, Kakao- und Kaffeebarone, heute ist es ein Tor ins Nichts, und das reichte mir.

Der Versuch, Reiseaufträge von Medienunternehmen zu bekommen, ist mitunter ein merkwürdiges Unterfangen. Selbst die wirtschaftlich erfolgreichsten Reiseziele stoßen nicht selten auf steinerne Ablehnung, und so freute es mich umso mehr, als eine überregionale Zeitung unbekümmert einen Reisebericht über São Tomé e Príncipe annahm. Der Haken, oder besser: die Erwartung, war dabei, dass ich im wahrscheinlich luxuriösesten Hotel des Landes absteigen sollte, einem abgeschlossenen Resort, das kaum etwas mit dem Rest des Landes zu tun hatte. Dennoch wollte ich die Gelegenheit nicht empört von mir weisen, ein so merkwürdiger Beginn für meine Reise es auch sein mochte, wie ein kurzes, üppiges Festmahl vor langen Wochen mit nichts als Dosenthunfisch. Erst das Auenland, dann Mordor. Wenigstens bekam ich so die Gelegenheit, die Insel Príncipe zu besuchen, die hundertvierzig Kilometer von São Tomé, meinem Landeort, entfernt lag.

Nachdem ich mein Handgepäck an eine uralte Waage im Terminal gehängt hatte, kletterte ich an Bord einer wenig überzeugenden Dornier 228, eines winzigen zweimotorigen Flugzeugs, das sich mal hierhin, mal dorthin neigte, als ich zu meinem Platz stolperte. Ich war fast schon froh, dass mein Gepäck verloren gegangen war. So schien es sicherer. Dem Flugzeug gelang es jedoch, einen günstigen Aufwind zu erwischen, und es hob ab, wurde von vorbeiwehenden Böen mühelos hin- und hergeworfen und ließ sich endlich wie eine Schwalbe auf einem Luftstrom nieder. Ich lehnte mich zurück und sah durch ein Bullauge auf das türkisfarben glitzernde, mit gewundenen Korallenriffen gesprenkelte Meer hinunter. Innerhalb von Minuten schon tauchte Príncipe auf, eine bewaldete, aus dem Wasser wachsende Fantasie mit seltsam aufragenden Klippen, die picos heißen, und bunten, auf dem Wind kreisenden Vögeln. Dieses kleine Stück Land schien nicht in unsere moderne Welt zu gehören, und mich beschlich das Gefühl, in einen H.G.-Wells-Roman geraten zu sein.

Am Flughafen wartete ein Mann vom Hotel auf mich, und bald schon holperten wir mit einem breit bereiften Jeep über eine rissige Straße tief hinein in den Dschungel, in den die Inselbewohner ein- oder zweiräumige Hütten gebaut hatten, Holzwürfeln gleich, in allen möglichen leuchtenden Farben bemalt und hoch auf Stelzen, vermutlich, um aus dem dichten Unterholz ins Licht zu ragen. »Wegen der Feuchtigkeit«, meinte der Fahrer. Jemand anders sagte mir später, wegen der Buschratten.

Das Hotel stand bei einem Damm zu einem kleinen Inselchen, und jeder Gast hatte seine eigene strohgedeckte Hütte. Auf der einen Seite lag das endlose azurblaue Meer, auf der anderen ein überbordender Wald, der all die Wunder dieses fremden Landes barg. Es war genau das, was sich Flitterwöchner wünschten. Mir wurde leicht flau im Magen. Im Übrigen fehlten mir Kleider zum Wechseln, was das Management des Hotels noch äußerst nervös machen sollte, als der Premierminister mit seiner Entourage zu einem Aufenthalt kam. Ich warf mein dürftiges Gepäck in meine neue Unterkunft und machte mich daran, die Gegend zu erkunden. Dazu bat ich Addi, einen der Angestellten, mir eine der roças, der großen Plantagen, zu zeigen, die diese Inseln bedeckten.

Die roças waren über Jahrhunderte die bestimmenden Kräfte der Inseln gewesen. Wie die großen karibischen Zuckerplantagen waren sie die Motoren des wirtschaftlichen Wachstums, machten ihre nicht auf ihnen lebenden Besitzer reich und ließen die Arbeiter verzweifeln. Die Arbeiter waren Sklaven, und Angola, der ganzjährige Versorger der Neuen Welt, beschaffte das menschliche Futter. Die Sterblichkeitsrate war so hoch, dass die Plantagenbesitzer ständig Nachschub brauchten und sich auch noch Jahrzehnte, nachdem die Sklaverei auf dem Festland abgeschafft war, auf die alten Netzwerke verließen.

Addi grinste amüsiert über meine Bitte. Die Gäste gingen gewöhnlich nicht weiter als bis zur Schranke, das war die Grenze. Er erzählte mir, dass seine Eltern ein Stück Land einer nahe gelegenen Farm beackerten, einer heruntergekommenen alten fazenda, nicht weit den Hang hinauf. Wenn wir eine roça besuchen wollten, mussten wir mit Quad Bikes über unbefestigte Wege weiter durch den Dschungel.

Er ging voraus und befreite den Weg von Gestrüpp. Sein Hotel-T-Shirt war schnell schweißgetränkt, und meine eigenen Poren kämpften mit der dick aufgetragenen Anti-Mücken-Creme. Im Gegensatz zu dem druckreifen, makellos weißen Strand beim Hotel kamen wir schnell in die dunklen, klammen Tiefen eines lebendigen Dschungels, unter Kokospalmendächer über stehendem Wasser, umgeben von den hohlen Schalen abgestorbener Früchte. Eine Armee spinnenähnlicher Krabben huschte um unsere Füße, dahinter dichtes Blattwerk, Dschungeldickicht. Wir gingen weiter, und es wurde immer noch stiller um uns, nur unsere Schritte durchs Unterholz waren zu hören. Addi hob eine Hand und blieb stehen, sah mich an und hielt einen Finger vor sich hin, worauf sich die Stille mit dem Summen aggressiv klingender Bienen füllte. Addi gluckste, wir bogen auf einen anderen Pfad und wurden schneller.

Wir waren jetzt auf allen Seiten von Wald umgeben, der sich zu einem großartigen verwachsenen Dach über uns schloss. Da stand ein majestätischer Oca, aus dem Einbäume gemacht wurden, Bananenpflanzen mit riesigen wächsernen Blättern schienen in Höhenbereiche untergliedert, als wären sie mit Macheten bearbeitet worden. Die unteren Zweige hingen braun und welk nach unten, und alles war übervoll mit Leben. Ein garça oder Kuhreiher mit seinem gewundenen Hals stakste wie betrunken über den Pfad und hob sich anmutig in die Lüfte. Dann ließ die Enge des Dschungels nach, ich sah wildes Zuckerrohr, Kakao und sogar Kaffee. Diese drei Pflanzen, die der westlichen Welt so viel süßes Vergnügen geschenkt haben, sind die Herrlichkeit und der Ruin dieser Inseln. Generation um Generation angolanischer wie kapverdischer Sklaven wurde wegen ihnen hierher verschleppt und starb an Erschöpfung und Heimweh.

»Ich weiß nicht viel über das Leben auf den roças«, sagte Addi in seinem einfachen, kaum verständlichen Portugiesisch, »aber meine Mutter wurde auf einer geboren. Sie sagt, es war grausam. Ständig wurdest du bestraft. Sie schlugen dich, weil du geredet hattest, ließen dich die Peitsche spüren, wenn du ausruhen wolltest, und bestraften dich sogar fürs Essen. Castigo, castigo, castigo!«, sagte er und schnalzte mit den Fingern.

Wie so viele Santomeer war Addi das Kind kapverdischer Arbeiter oder serviçais, die von ihrem dürregeplagten Archipel geflohen waren und sich versklavt in der tropischen Hölle der santomeischen roças wiederfanden. Sie schafften es nie zurück auf die Kapverden, und ihre neue Heimat blieb ihnen ebenfalls fremd.

»Ah, aber das ist kein Problem mehr«, sagte Addi mit einem Achselzucken. »Die Zeiten sind vorbei. Heute ist es sehr léve-léve. Nicht wie auf São Tomé, wo es zu viele Leute gibt und zu viel Lärm.«

Léve-léve ist einer der nervigen Ausdrücke, denen man auf den Inseln ständig begegnet. Er bedeutet »locker-locker«, kein Problem, alles in Ordnung. Damit lässt sich leicht das Thema wechseln, eine Situation beruhigen und dem Besucher zeigen, dass alles zum Besten steht, auch wenn es das nicht tut. Hauptsächlich wird er von den Principeern benutzt, um sich vom weltlichen Lärm São Tomés und der politischen Macht zu distanzieren, die doch nur reine Anmaßung ist, wie die Principeer sagen.

Wir erreichten die alte Gemeindefarm, die heute in Kleinbauernhöfe unterteilt und ein »Ableger« der großen Farm war, der Roça Belo Monte ein Stück weiter den sich windenden, unbefestigten Weg hinauf. Das Hauptgebäude, ein vielfenstriger langer Kasten mit portugiesischen Kacheln, war mit Brettern vernagelt. Auf dem stoppeligen Gras davor spielten Jungen Fußball. Addis Familie arbeitete auf ihrem Stück Land und hackte wild wucherndes Laubwerk mit Macheten herunter. Die dumpfen Schläge hallten zu uns herüber.

Addis Vater richtete sich auf, drückte den Rücken durch und begrüßte seinen Sohn mit einem lauten »Yah«, wandte sich dann mir zu und sagte mit kehliger Stimme: »Trabalho - Arbeit.« Seine Frau stand bei ihm, ihre Brüste hingen frei herunter. Ihr schweißnasses Oberteil hatte sie ausgezogen und über den Zaun gebreitet. Sie hackte auch weiter auf das Laubwerk ein, ohne den Blick davon zu wenden. Ihr Los schien sich seit der Unabhängigkeit nicht verbessert zu haben.

Arbeit. Harte Arbeit. Das ist die unausweichliche Losung dieser Inseln. Was für eine Ironie, dass in einem sogenannten Paradies, wo Büsche und Bäume voller Früchte hängen und sich die Feldpflanzen selbst versorgen, der Staat São Tomé e Príncipe darauf verfiel, die Leute zum Anbau von Exportierbarem zu zwingen. Die Inseln wurden zum Modell für das Plantagensystem der Karibik. Hier stand seine Wiege. Ausdruck findet das alles im strengen Nationalethos: »Einheit, Disziplin, Arbeit.« Die roças – das Wort leitet sich vom portugiesischen roçar, roden – ab, bildeten den Motor dieses Ethos. Die Afrikaner, die von den Europäern für von Geburt an faul gehalten wurden, waren mit Arbeit zu zivilisieren. Wer in den afrikanischen Kolonien Portugals keiner ertragreichen Beschäftigung nachging, wurde zur Arbeit gezwungen. Was machte es da schon, dass den Menschen keine Zeit zum Gebet blieb und sie niemand das Lesen lehrte: Die Arbeit machte sie zu ehrenhaften Menschen.

Später fuhren wir mit Quad Bikes des Hotels nach Belo Monte, folgten den ockerfarbenen Straßen durch die Hügellandschaft und Kilometer um Kilometer Wald. Die Luft strich kühl um unsere Gesichter, über uns erstreckte sich ein milchweißer Himmel, und aus dem Wald stieg weicher Dunst auf. Affen schwatzten und suchten zwischen den Bananenstauden nach Essbarem. Weiter oben, wo die Kakao- und Kaffeepflanzen aufhörten, bildeten Kriechgewächse und blühende Büsche ein festes Dickicht. Und noch weiter oben, um die picos herum, erhob sich der ôbô, der Regenwald, mit seinen Marupiões- und Micondó-Bäumen und seinem fast olympischen Zauber.

Endlich erreichten wir eine Lichtung im Dschungel. Vor uns erhob sich das witzige (wenn es nicht so hässlich gewesen wäre) Tor der Roça Belo Monte. Da hatte sich ein portugiesischer Architekt einen Spaß gemacht und ein mittelalterlich anmutendes, bayrisch verspieltes Portal mit Türmchen und Zinnen geschaffen. Eine unheimlich wirkende Sklavenglocke hing in einem Glockenstuhl, der wie alles andere hier auch von Ranken und Blattwerk überwuchert wurde. Die roça selbst war ein Bild des Verfalls, ein offener grüner Raum, der von Unterkünften mit breiten Veranden und Ziegeldächern umgeben war. Da wohnten die Kleinbauern, unter denen das Land aufgeteilt worden war. Addi deutete in die Mitte und sagte aufgeregt: »Da, an der Stelle, ging ein serviçal, der es nicht mehr ertrug, zu seinem Boss, packte ihn beim Kragen und warf ihn ins Meer. Da, an der Stelle, auf der Roça Belo Monte.« Seine Augen leuchteten, und er grinste triumphierend, wobei ich nicht wusste, wie real der Hintergrund seiner Geschichte war.

»Kommen Sie«, sagte ich, »gehen wir hinein«, aber Addi wollte sich nicht von seinem Bike herunterbewegen. Etwas schien ihn zurückzuhalten.

Ich ging in die casa grande, das Haus des roceiro, des Roça-Bosses. Wie ein unbefugter Eindringling fühlte ich mich, wanderte über die knarzenden Holzdielen und ließ die Hand über die minzgrünen Wände gleiten, die mäandernden Verzierungen, die Vertäfelungen, das sich in die Höhe windende Geländer und all das andere dekorative Drumherum, das so fremd und fehl am Platz wirkte, wie es das wohl immer getan hatte. Warum hier niemand Unterschlupf gesucht und seine hölzerne Hütte gegen diese weiten Räume und Flure eingetauscht hatte, konnte ich nicht sagen. Es war, als hätte das alte, dunkle Haus das raue, überwucherte Land ringsum mit einem Fluch belegt.

Irgendwann war aus dem Haus eine Schule gemacht worden. Es gab eine Tafel mit Kreidezeichnungen von Pferden und Kaninchen, die mit der für die Kolonialzeit typischen Schreibschrift versehen waren, cavalo stand da und coelho - für Schüler, die ständig Ferien hatten.

Die Häuser auf dem hinteren Teil der roça hatten aus Palmblättern gewobene Dächer und waren von Fäulnisgeruch umgeben. Jungen mit nackten Oberkörpern und unentzifferbaren Narben auf der Brust liefen zwischen ihnen herum. Die Arbeiter heute waren zwar vom Roça-System befreit, wirtschaftlichen Erfolg hatte ihnen die Unabhängigkeit jedoch nicht gebracht, auch wenn die Zucker-, Kakao- und Kaffeeplantagen nach wie vor das landwirtschaftliche Rückgrat des Landes bilden. Nach dem Abzug der Portugiesen verkamen sie, finden sich aber noch überall auf den Inseln – schäbig, kaum mehr funktionsfähig, haben sie die Jahre überlebt.

Als die ersten portugiesischen Entdecker Anfang der 1470er hier ankamen, fassten sie den Plan, Zucker anzubauen. Da die Inseln unbewohnt waren, suchten sie sich ein, zwei willige Siedler. Den Großteil der benötigten Arbeiter aber bildeten im Mutterland unerwünschte Straftäter und Prostituierte, zu denen bald schon eine Handvoll jüdischer Kinder kam, die ihren Eltern weggenommen worden waren und später am Fieber starben. Wälder wurden gerodet, Zuckerrohr angebaut. Das geschnittene Rohr wurde zerstampft und zu Molasse und Zuckerlaiben verarbeitet, die den berühmten vulkanischen picos der Insel glichen und zu Konditoren in Amsterdam und Antwerpen verschifft wurden. Wie alle landwirtschaftlichen Produkte der Insel hatte auch der Zucker seine hohe Zeit, übertrumpft nur von Brasilien und bedroht durch die Angriffe holländischer Piraten.

Der Kaffee spiegelt das Erwachsenwerden der Inseln. Seit Ende des 18. Jahrhunderts wurde er angebaut und boomte von 1855 bis 1875. Im Jahr 1898 exportierte das Land noch 2 500 Tonnen, doch da war das Geschäft trotz der riesigen Menge bereits zum Tode verurteilt.

Der Kakao übertraf dann alles bisher Dagewesene und markierte Aufstieg und Fall des Archipels. Das späte 19. Jahrhundert war eine Zeit kolonialen Glanzes, in der die portugiesischen und kreolischen – mestiço – Kakaobarone ihre großen roças mit aufwendigen Gärten bauten. Sie lebten über ihre Verhältnisse, gaben prächtige Bälle und inspizierten, nach der letzten europäischen Mode gekleidet, ihre Besitztümer, für gewöhnlich finanziert mit Darlehen der Banco Nacional Ultramarino. São Tomé e Príncipe wurde zu einem Außenposten der Dekadenz, endlos weit entfernt von den Kulturzentren, die es nachahmte. Die hier geborenen Kakaobarone waren die Herren der Inseln, vermochten sich zwischen den Klassen hin- und herzubewegen und sprachen mit ihren Arbeitern ebenso gut Kreolisch wie in Lissabon Portugiesisch, wenn sie dort ihre gesellschaftlichen Runden drehten und ihre Kinder in den Schulen der Hauptstadt unterbrachten. Ein mestiço, Jacinto Carneiro de Souza e Almeida, wurde sogar zu einem visconde erhoben, was im englischen oder deutschen Adel eine so gut wie undenkbare Vorstellung gewesen wäre.

In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wuchs die europäische Nachfrage nach Kakako und Schokolade enorm an. Das Klima auf den Inseln war ideal, angemessen heiß und feucht, und es gab reichlich niedrig gelegenes Land. Portugal stellte sich der Herausforderung und fand Tausende neue Arbeiter für die Kakaobohnenernte. Allerdings begann sich Besorgnis zu regen, was die zweifelhaften Produktionsmethoden anging, und im frühen 20. Jahrhundert ging England Portugal wegen seines Contratado-Systems an.

Es war Henry Woodd Nevinson, ein charismatischer britischer Journalist, der die Kugel ins Rollen brachte. Nevinson war gut über dreißig, als er das Angebot von Harper’s Monthly Magazine annahm, für tausend englische Pfund etwas »Abenteuerliches« zu unternehmen. Seine anfänglichen Überlegungen, nach Arabien zu reisen, in die Anden oder in die Südsee, warf er am Ende für das tropische São Tomé e Príncipe über den Haufen. Berichte über Portugals unzulässige, aktive Nutzung von Sklavenarbeit gewannen an Brisanz, und Nevinson war genau die Art engagierter Journalist, wie ihn die Zeitschrift für solch ein Thema suchte.

Er fuhr nicht direkt nach São Tomé e Príncipe, sondern an die Quelle eines großen Teils des menschlichen Nachschubs, nach Angola. Ende 1904 erreichte er Luanda und brach ins Hinterland im Osten des Landes auf, woher viele der auf die roças von São Tomé e Príncipe verschickten Sklaven stammten. Die Versklavung fand auf verschiedene Weisen statt: durch provozierte Kriegshandlungen, Überfälle und Stammesfehden, ebenso oft aber auch durch lokale Häuptlinge, die Angehörige ihrer eigenen Stämme verkauften. Den Portugiesen war es egal, woher die Leute kamen. Männer, Frauen und Kinder wurden in Ketten gelegt und über den »Todespfad«, wie er genannt wurde, durch das zentrale Hochland in die Häfen an der Küste getrieben. Mit wachsender Entrüstung spürte Nevinson ihre Route aus dem Osten auf und stieß unterwegs auf die Knochen und Fußfesseln derer, die aus Erschöpfung zusammengebrochen oder exekutiert worden waren.

Sein mitreißendes Buch A Modern Slavery aus dem Jahr 1908 zeichnet nach, wie er herausfand, dass die »Kontraktarbeit« nichts anderes als Sklaverei war. Die Provision, die die portugiesische Verwaltung für den Verkauf eines Erwachsenen bekam, betrug nach Nevinsons Erkundungen fünfzehn bis zwanzig englische Pfund, ein Kind brachte fünf Pfund. In den Bestimmungen des »Vertrages«, der dem contratado (der ihn sowieso nicht hätte lesen können) so gut wie nie gezeigt wurde, hieß es, dass die Arbeiter neun Stunden pro Tag zu arbeiten hatten, sechs Tage die Woche, fünf Jahre lang. Und das unter schrecklichen Bedingungen. Sie wurden zu einem beweglichen Gut, das zusammen mit dem Besitz, auf dem sie arbeiteten, gekauft und verkauft werden konnte. Es ging ihnen genau wie ihren Vorgängern auf den römischen Latifundien, und ihre Verträge wurden nach fünf Jahren automatisch verlängert.

Während der Reisende heute die makellose Schönheit von Fauna und Flora São Tomé e Príncipes genießen kann, zeichnet Nevinson das Bild einer krank machenden Hölle. Die Strände und ihre überwältigenden Ausblicke hatten nichts Erfrischendes, es gab nur »die erstickende Hitze und die Wolken tropfenden Nebels in der Backofen genannten Jahreszeit«. Es war ein Land sintflutartiger Niederschläge und Fieber bringenden Regens. »Die Inseln«, schrieb Nevinson mit dem für ihn typischen Sarkasmus, »verfügen über genau die Art von Klima, das Menschen umbringt und Kakao und Bäume gedeihen lässt.«

Er bereiste den Archipel, sprach mit den roceiros, mit Bürokraten und Technikern, und obwohl ihm die taktische Trägheit des Amtsapparates Knüppel zwischen die Beine warf und es mindestens zu einem Attentatsversuch kam, vermochte er nachzuweisen, dass auch die Sklaverei blühte und auf etwa zweihundertdreißig roças (davon fünfzig auf Príncipe) Tausende von Sklaven schufteten. Die contratados starben in großer Zahl. Ein Arzt erzählte Nevinson, dass sie darauf hinzuwirken versuchten, dass Neuankömmlinge wenigstens die ersten drei oder vier Jahre überlebten, aber Kummer und Heimweh waren die größten Hürden. Wenn sie nicht von Krankheit oder zu viel Arbeit hingerafft wurden, starben die Menschen an ihrer tristeza, ihrer Traurigkeit, die fast zu einem medizinischen Begriff wurde.

Nevinson verließ São Tomé e Príncipe im Juni 1905 und kam etwa einen Monat später wieder zu Hause an. Er litt unter Malaria, Rheumatismus, nässenden Wunden und einer lodernden Entrüstung über das, was er gesehen hatte. Von August 1905 bis Februar 1906 erschienen seine Artikel unter dem Titel »Der neue Sklavenhandel« und beschrieben das Contratado-System so detailliert wie anschaulich. Seine Darstellung war so überzeugend, dass er die Brüder Cadbury in Zugzwang brachte, die 45 Prozent ihrer Bohnen aus São Tomé e Príncipe bezogen. Der führende Schokoladenhersteller des Vereinigten Königreichs stand im Ruf moralischer Rechtschaffenheit, und sein berühmtes Musterdorf Bournville außerhalb von Birmingham war der Weltführer in Sachen faire Arbeitsbedingungen, mit Läden, Erholungseinrichtungen und Kleingärten, einer Schule und einem Vortragssaal für die 3 310 beneideten Angestellten.

Während die glücklichen Arbeiter Bournvilles fahren konnten, wohin immer es ihnen gefiel, war es den serviçais – wie Roger Casement, der britische Konsul im belgisch-kongolesischen Boma, berichtete – »nicht erlaubt, die Plantagen zu verlassen. Sie bekommen nichts anderes zu sehen, haben immer die gleiche Arbeit, das gleiche Essen. Es gibt kein Entkommen aus ihrem erschöpfenden Alltag, es sei denn durch Krankheit oder Tod.« Ein Grundsatz bei Cadbury besagte, wer heiraten wollte, musste außerhalb von Bournville suchen. Auf den roças galt das Gegenteil. Die Pflanzer wählten die Partnerinnen für ihre Arbeiter aus, als paarten sie einen Hengst mit einer Stute. Die zukünftigen Partner entsprachen »nicht notwendigerweise den Wünschen des Einzelnen«, sagte Casement, »sondern eher den Zuchtzielen der summarisch Vereinten.« Stolz auf seine Abstinenz, bewusst und aufrichtig humanitären Prinzipien folgend, bot Bournville das genaue Gegenteil der Bedingungen, unter denen die Arbeiter der Cadbury-Zulieferer litten, und die Heuchelei war mit Händen zu greifen. William Cadbury muss jedoch zugebilligt werden, dass er eine eigene Untersuchung in Auftrag gab und auch selbst die Inseln besuchte. In seinem akribisch genauen Handbuch Labour in Portuguese West Africa bestätigte er Nevinsons Befunde. Portugals Reaktion darauf war natürlich abwehrend.

Kaum dass Nevinson gesundet war, engagierte er sich mit aller Macht in der Sache, argumentierte, redete, ging mit Leuten essen und schob und drängte, bis er Premierminister Ramsay MacDonald und den Schriftsteller John Galsworthy zu seinen Unterstützern zählen konnte. Er rief die Schokoladenhersteller zu einem Boykott auf, und drei der großen, Cadbury, Fry und Rowntree, willigten ein, gefolgt von den deutschen und Schweizer Firmen Stollwerck und Suchard.

Portugal beugte sich dem Druck. Sie stellten keine neuen contratados mehr ein und schickten einige zurück in ihre Heimat, doch das alles geschah nur halbherzig. Die meisten derer, die nach Hause geschickt wurden, waren ein paar Jahre später wieder auf den Inseln, und die Bedingungen dort waren in den 1920ern und 1930ern kaum besser als zuvor. Trotzdem, es war immerhin etwas, und wenn die Zwangsarbeit in den portugiesischen Kolonien auch erst 1961 abgeschafft wurde, war die Affäre doch ein Triumph für den ein Abenteuer suchenden Journalisten.

Als ich zurück ins Hotel kam, standen Barbara und Holger, die deutschen Manager, unter Hochspannung. Obwohl die Angestellten umhereilten, Glühbirnen austauschten und Veranden fegten, schien es mit den Vorbereitungen für den Besuch des Premierministers nicht gut voranzugehen. Die beiden Manager waren alte Hasen im Gastgewerbe. Sie erzählten mir, dass sie vor ihrer Entscheidung für Príncipe in Hotels in ganz Afrika gearbeitet hatten, wobei es ihnen im Moment hier offensichtlich nicht gefiel, da die Angestellten nicht taten, was ihnen gesagt worden war.