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Caspar de Fries

Redcliffe

Leben am Abgrund





BookRix GmbH & Co. KG
81669 München

Prolog

Name: Caspar de Fries

Buchautor und Schriftsteller

Zitat:  Wer zuletzt kommt, den bestraft das Leben

 

Texte und Bildmaterialien:

Caspar de Fries

Alle Rechte vorbehalten

Tag der Veröffentlichung: 29.05.2015

 

Die Handlung des Buches ist frei erfunden. Namentliche Übereinstimmungen wären rein zufällig.

 

Akteure der Handlung:

John Hudson

Elisabeth Beckford – Ziehmutter von John

Clara Manson – Freundin von John

Lilo Bortelli – Claras Chefin in der Bar

Joe Harper – Gang-Leader der Red-Cliffe 13

Der lange Charly – Mitglied Red-Cliffe 13

Kleiner Benjamin – Mitglied Red-Cliffe 13

Schweigsamer Jonathan – Mitglied Red-Cliffe 13

Phillipp Riveira – Vater von Carlos

Carlos Riveira – Anführer New-Red-Cliffe

Tobo – Mitglied New-Red-Cliffe

Schwester Amalie – Krankenschwester im Spital

Connie McJegger – Café-und Cocktailbarbesitzerin

James Underwood – Polizist von Scotland Yard

Rosana – brasilianische Hure

Caringa – brasilianische Hure

Lucas Bloodsworth – Hauptkommissar Yard

Dr. Tom Taylor – Arzt im Spital von Ratcliff

Sarah-Sue – Barmädchen

Tim Freemont – Kolonieminister

Henry Freeman – Kolonieinspektor

George Fulster – Kolonieinspektor

Paul Conan – Kolonieinspektor

Jerry Miller - Kolonieinspektor

Ben Gloster – Aufseher

John Harris – Aufseher

William Hubbard – Chefaufseher

Ester Abrahams – Gefangene

Mary Adams – Gefangene

Susannah Allen – Gefangene

Mary Allen – Gefangene

Fanny Anderson – Gefangene

Sarah Ault – Gefangene

Martha Baker – Gefangene

Mary Carroll – Gefangene

Jane Dundass – Gefangene

Mary Dakes – Gefangene

Elizabeth Evans – Gefangene

Anne George – Gefangene

Hannah Green – Gefangene

Ann Green – Gefangene

Mary Green – Gefangene

Jane Fitzgerald – Gefangene

George Bannister – Häftling

William Bell – Häftling

James Castle - Häftling

John Olsen – Kapitän der Britannia

Vorwort

 Nach den Verhältnissen in London wurde die Ortsangabe East-End zu einem Synonym für sozial Unterprivilegierte im Arbeiterviertel, während das West-End ein Synonym für die „bessere Gesellschaft“ ist. Hier befinden sich die Docks, an denen viele ungelernte Arbeitskräfte beschäftigt waren. Das East End entstand im 18. Jahrhundert, um 1750 als Ansammlung durchaus prosperierender Fabrikbezirke, wie Textilverarbeitung im Hinterland des Londoner Hafens, dazu Gruppierungen diverser Fabriken in Wapping, Limehouse Hafenviertel, Stepney, Poplar oder Whitechaple.

Als 100 Jahre später, um 1820, Englands Bevölkerungsexplosion losbrach, lockte die Hoffnung auf Arbeit Hunderttausende Menschen in Stadtviertel, die für diesen Andrang viel zu klein und zu eng waren. Überbevölkerung war die Folge.

Fast zur gleichen Zeit aber geriet die Wirtschaft des East-Ends in eine schwere Krise, da viele Fabriken dem technischen Fortschritt der großen Fabriken Nordenglands nicht folgen konnten und schließen mussten. Außerdem wanderten die neu entstandenen Hafenanlagen immer weiter flussabwärts und zogen Jobs aus dem alten Hafen ab. Um 1850 verfielen viele Stadtviertel im East-End zum Armenviertel und blieben das auch lange Zeit.Eine wichtige Rolle spielte der entlang der Themse vorherrschende Westwind.

Seinetwegen wurde alles, was stank, im Osten angesiedelt: Fabriken, die Farben und Lösungsmittel, Dünger, Knochenmehl, Klebstoff, Paraffin oder Streichhölzer herstellten, Schlachthöfe, Gerbereien und Fischzuchtanlagen. Die Fabriken vermehrten sich wie Pilze aus dem Boden. Die Docks, ursprünglich auf das Gebiet zwischen dem Tower und der London Bridge beschränkt, breiteten sich immer weiter aus. Man brauchte billige Arbeitskräfte, die mit ihren Familien in menschenunwürdige Behausungen gepfercht wurden, errichtet in ehemaligen Themsedörfern, von denen im viktorianischen Zeitalter nur noch die Namen übrig waren:

Whitechapel, Bethnal Green, Stepney. Das East End – so das allgemeine Gefühl – war topografisch, kulturell, spirituell und ökonomisch vom Rest Londons abgeschnitten. Die wenigen Journalisten und Soziologen, die sich überhaupt für diese Slumgebiete interessierten, verglichen die Bewohner mit afrikanischen Pygmäen und polynesischen Wilden. Das Geschehen dieses Buches spielt in Ratcliff, einem Teil von West-End. Der Name leitet sich von einem roten Sandsteinfelsen ab, der damals in den umliegenden Sümpfen gefunden wurde. Man nannte ihn Red-Cliffe.

Durch die Ansiedlung vieler Docks entstanden hier auch etliche preiswerte Herbergen, Bars, Bordelle, Konzerthallen und Opiumhöhlen. Die richtige Hintergrundkulisse für das horizontale Gewerbe, Kleinkriminalität und später auch schwere Verbrechen, wie die vielen Frauenmorde durch Jack the Ripper oder John Williams, einem Matrosen, beweisen.

In diesem Milieu wuchs auch der 18-jährige John Hudson auf, dessen Mutter eine Prostituierte und der Vater ein Matrose war, den John nie kennenlernte. Seine einzige Bezugsperson war die 70-jährige ehemalige Puffmutter, die John das Schreiben und Lesen beibrachte, und wie man sich durch kleine Diebstähle den Lebensunterhalt verschönte. John lernte frühzeitig sich körperlich zu behaupten und im Schutz einer Jugendgang sein Leben zu meistern.

Es existierten derzeitig vier dieser Gangs in East-End, die alle einen bestimmten Bezirk für sich behaupteten. Zwischendurch kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, bei denen es neben verschiedenen Verletzten auch tödliche Zwischenfälle zu beklagen gab. Die ermittelnde Polizei, der Scotland Yard, stand vor einem Berg des Schweigens. Nur der Weg „Zufall“ konnte die Beamten auf verschiedene Ermittlungserfolge bringen, um hier im „Sumpf der Verbrechen“ die neuen drakonischen mehrjährigen Strafen bis hin zur Todesstrafe durchzusetzen.

Die Gefängnisse nebst Gefängnisschiffe, sogenannte Hulks, der Themse waren bald überfüllt. Unter katastrophalen Bedingungen vegetierten die Gefangenen vor sich hin und wurden durch schlimme Krankheiten dezimiert.

Zum Ende des 18.Jahrhunderts suchte man in England dringend nach einer Dauerlösung für die Verbringung von Strafgefangenen. Seit 1611 hatte man Sträflinge nach Nordamerika verbannt, aber mit dem Beginn des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges 1775 und der Anerkennung der Vereinigten Staaten 1783 war dies nicht mehr möglich. Aus Angst vor Seuchen und Revolten berief der derzeitige Innen- und Kolonialminister Lord Sydney ein Expertenkomitee ein, das einen neuen Verbringungsort finden sollte. Man verfiel auf Bothany Bay in Australien, das nach Kapitän James Cook Berichten geeignet schien. Anfang 1787 wurden die ersten Straftäter, die man zur mehrjährigen Verbannung verurteilte – oft wegen vergleichsweise geringfügiger Verbrechen wie Diebstahl von Lebensmitteln – aus Kerkern und Hulks auf Sträflingstransporter gebracht, um als Strafgefangene die neue Kolonie Australien zu besiedeln. 

Ein Leben in den Tag

John Hudson, ein 18-jähriger junger Mann, kräftig gebaut, groß gewachsen, viele Sommersprossen, blond bis rothaarig, nach einem Stimmbruch eine tiefe Bassstimme, stand immer sehr früh am Morgen auf, um den Markthändlern beim Aufstellen ihrer Marktstände zu helfen und sich ein paar Penny zu verdienen. Er war ein freundlicher junger Mann, stets hilfsbereit und ein gern gesehener Helfer, denn er fragte nicht: „Was soll ich tun?“, sondern packte schweigend mit an und machte um diese geringfügige Tätigkeit kein besonderes Aufhebens.

Diesen kleinen Job vermittelte ihm die 70-jährige Elisabeth Beckford, die bereits um drei Uhr in der Nacht im Gemüsegroßmarkt die Gemüsekisten für den Abtransport zum Wochenmarkt füllte, von wo sie dann zum Marktbeginn von etlichen Pferdefuhrwerken abgeholt wurden. Dieser Moment verschaffte ihr bei dieser schweren Arbeit etwas Pause, um ihren sehr gekrümmten und schmerzenden Rücken etwas zu strecken und kräftig durch zu schnaufen.

Die alte Elisabeth, inzwischen im Rücken etwas gekrümmt, und der 18-jährige John lebten in Ratcliff am Rande der Narrow Street auf der Wapping Waterfront in einer kleinen zugigen Dachwohnung, wo der Wind durch die zwei Räume pfiff, oder sich der Regen einen Weg durch die brüchigen Dachpfannen des Hauses suchte. Die Wapping Waterfront war die Flaniermeile des Rotlichtbezirks, dort wo die Dockarbeiter, Matrosen und Gelegenheitsarbeiter ihr schwer verdientes Geld in den Bars, Bordellen und sonstigen Amüsierbetrieben verjubelten.

Die alte Elisabeth gehörte früher selber dem horizontalen Gewerbe an. Sie war eine der führenden Puffmütter im großen Hurenhaus, welches durch eine Unachtsamkeit des Personals abbrannte. Ihr Wort hatte lange Zeit in der Amüsierbranche Gewicht, man hörte auf sie, ihre soziale Ader zu den „in die Tage gekommenen Huren“ plus unehelichen Anhang war weit bekannt.

Doch inzwischen änderten sich die familiären Machtverhältnisse im Rotlichtbezirk durch die Kontrolle verschiedener Klein-und Großganoven, die auch hier beim Straßenstrich kräftig die Hand aufhielten und bestimmten, wer eine „Hurenlizenz“ bekam und wer nicht. Die Althergebrachten standen im Abseits und ihre Meinung war überflüssig. Dubiose Geschäfte, Gewalt und Gier hießen die neuen Attribute. Wer sich dieser neuen Situation nicht anpasste, ging unter.

Für John war dieses Leben ganz normal und alltäglich. Der morgendliche Marktjob brachte ihm neben ein paar Penny auch eine Tüte mit Kuchen- und Brotresten und ab und zu eine Flasche mit frischer Milch ein. Am Abend tummelte er sich in den einschlägigen Bars, klaute hin und wieder den Matrosen oder Dockarbeitern die Geldbörse, prügelte sich mit einem Mitglied der New-Rat-Cliffe, oder vermittelte die eine oder andere Hure an einen Freier, um mit diesen Einnahmen seinen sehr kargen Lebensunterhalt zu bestreiten.

Am Tag traf er sich mit seinen Freunden der Jugendgang Red-Cliffe 13, die älteste Jugendbande vor Ort. Die dreizehn stand für dreizehn Mitglieder, eine Tradition, die schon viele Jahre überdauerte. Fiel ein Mitglied der Gruppe aus, ob durch Polizeigewahrsam, Tod, Krankheit oder sonstiger örtlicher Veränderung, konnte die Lücke durch ein neues Vollmitglied geschlossen werden. Ansonsten galt immer noch die lange Warteliste.

John Hudson fühlte sich in dieser Gruppe wohl, man respektierte ihn auch wegen seiner überlegten Weitsicht, sein Wort hatte Gewicht, man hörte auf ihn.Die Jungen dieser Gruppe hatten keine Eltern, oder kannten sie nicht. Ihre Mütter waren Huren, Animierdamen, oder lebten in der Gosse, Frauen, die nicht immer so genau wussten, mit wem sie sich als nächsten einließen. Ihre geborenen Produkte gehörten Vorort zum Straßenmüll und wuchsen meist bei einer schon ausrangierten Dame auf, die froh war, jemanden zu haben, der ihnen den Schnaps aus dem nahen Laden heranschleppte, oder mit einigen Penny den Lebensunterhalt versüßte.

Im Moment hatte Red-Cliffe 13 Ärger mit einer neu entstandenen Gruppe aus einem Heim für straffällige Jugendliche, die aus dieser Anstalt so nach und nach entweichen konnten. Sie begingen Überfälle bei älteren Menschen, Einbrüche in Geschäften, oder prügelten grundlos auf andere Jugendliche ein. Sie nannten sich New-Red-Cliffe und bekamen unglaublichen Zulauf von Zugezogenen aus dem Bereich der Asiaten und Südamerikaner. Die Polizei schnappte den einen oder anderen dieser Kleinganoven, schaffte es aber nie, an die wirklich Schuldigen zu kommen.

John und seine Red-Cliffe 13 trafen sich in einer alten Frachtschute am Rande der Docks und besprachen ihre neuen Probleme.

„Hört mal Jungs“, meinte John, „diese neue Gang will uns hier aus Ratcliff vertreiben. Wie ich hörte, wollen sie uns sogar bei der Polizei verpfeifen. Die neuen Gesetze für kleinen Diebstahl, Mundraub oder kleine Einbrüche kommen ihnen sehr entgegen. Sie sollen zur Folge haben, dass man die gefassten Täter auf die neuen Kolonien verbannt, aus England verjagt. Erst pfercht man sie in diese Gefängnisschiffe, um sie dann viele Monate über den Ozean zu schippern, wo sie am anderen Ende der Welt für England neues Land urbar machen sollen. Man fragt nicht, ob die Häftlinge zu Unrecht eingesperrt wurden, sondern man betrachtet sie als Müll der Straße. Ich vermute, unsere so ruhige Zeit in Ratcliff ist vorbei.“

„Was ist urbar machen?“

„Soweit ich das von Elisabeth weiß, sollen die Sträflinge Straßen und Siedlungen bauen, Ackerflächen roden, alles, was vorher noch nicht da war, also urbar machen.“

„Ich hörte, dass einige Polizisten ohne Uniform sich unter die Gäste in den Bars mischen.  Sie unterscheiden sich gar nicht von den Dock- oder Fabrikarbeitern. Also passt auf, wem ihr die Geldbörse klauen wollt, die Typen warten nur darauf, dass sie einen von uns erwischen“, meinte Joe Harper, der 17-jährige eigentliche Leader der Gruppe.

„Aber wovon sollen wir denn in den nächsten Tagen leben? Wir sind auf die paar geklauten Pennys angewiesen“, meinte der lange Charly, dessen Nachnamen keiner kannte.

„Dann komm in den frühen Morgenstunden und helfe mit die Buden und Stände auf dem Markt aufzubauen“, sagte John Hudson.

„Nö, so früh stehe ich nicht auf, das ist mir zu anstrengend. Ich werde einfach aufpassen. So schnell passiert schon nichts.“

„Wenn ihr weiterhin Geldbörsen klaut, dann leert sie schnell hinter der nächsten Ecke und werft sie dann direkt weg. Bares Geld ist kein Beweis“, erkannte Joe Harper.

Kurzes Schweigen; irgendwie kam heute kein richtiges Gespräch auf.

„Morgen habe ich einen kleinen Job in Connys neuer Café-und Cocktailbar“, sagte John, „ deshalb komme ich die nächsten Tage weniger in die Narrow Street. Wenn was sein sollte, ab mittags bin ich dort für fünf Stunden hinter der Theke.“

„Willst du jetzt ein ordentliches Leben führen?“

„Ich möchte mir etwas Geld sparen, um vielleicht mal nach Amerika auswandern.“

„Was willst du denn in Amerika? Wie man von den Seeleuten hört, werden dort auch nur die Arbeiter ausgenutzt.“

„Ich träume oft davon, mal etwas Eigenes zu haben“, sinnierte John, „genug zu essen, ein kleines Haus, genügend Geld zum Überleben, dazu eine eigene Familie.“

„Du hast doch die alte Elisabeth und uns als Familie“, klagte der kleine Benjamin, gerade dreizehn Jahre alt, mit einer etwas weinerlichen Stimme.

„Ach Bennie, ihr seid ja auch meine Familie, aber irgendwann sind wir keine Jugendlichen mehr, dann sind wir Erwachsene, dann klauen Jugendliche unsere Geldbörse, willst du das?“

„Ich möchte, das unser Leben sich nicht verändert, das alles so bleibt, wie es ist.“

Die Jungen nickten vor sich hin, kauten auf einem Grashalm, den sie von den wenigen Graspflanzen, die überall auf der Frachtschute wuchsen, abrissen. Das Wasser der Themse gluckerte unter dem alten Schiff, als die verlängerten Bugwellen eines vorbeikommenden 2-mastigen Seglers unter das alte Schiff schlugen.

John hatte recht, dachten einige von ihnen, die beschauliche Zeit ist vorbei, aber wo sollen wir dann bleiben? Wir sind nur der Rest vom Abschaum, vom Straßenmüll.

Diese gluckernden Geräusche waren ihnen vertraut, eher heimisch, sie gehörten zu ihrem Leben. Der Wind wehte die Gerüche der nahen Fischfabrik herüber, ein Duft, der ihnen ebenso wenig fremd war, wie das Kreischen mancher Hure, wenn sie mit ihrem Freier über den ausgemachten Obolus in Streit geriet. Der sonst sehr schweigsame Jonathan, 15-jährig, fragte in das allgemeine Schweigen hinein:

„Wie sollen wir uns denn nun gegenüber der New-Red-Cliffe verhalten? Ich für meinen Teil werde mich wehren und lasse mir nichts gefallen, mich verprügeln sie nicht.“

„Wir werden uns wohl merklich zurückhalten müssen“, sagte Joe Harper, „und sie beobachten. Wir müssen wissen, welche Personen zu ihnen gehören. Nur wenn es mit ihnen Ärger gibt, schlagen wir zurück, obwohl wir wenige Chancen besitzen. Macht keine Alleingänge, darauf warten sie doch nur. Wenn ihr alleine seid, geht ihr ihnen aus dem Weg. Sonst sind sie feige und verprügeln Leute nur in der Übermacht. Ihr Anführer heißt Carlos Riveira, ein Südamerikaner und widerlicher Typ. Seiner Familie gehört die „Spanische Bodega“. Vor ihm müsst ihr euch in acht nehmen, er trägt ein langes Klappmesser und spielt ständig damit. Ich konnte sehen, wie sein Vater den Polizisten Geld zusteckte.“

„Dann stehen die Polizisten doch auf deren Seite, wir können ihnen kein Geld geben.“„Wir brauchen ihnen auch keines zu geben, sondern wir dürfen ihnen keinen Grund geben uns zu verhaften. Von den „Hulks“ kommen nur wenige Gefangene zurück. Entweder krepieren sie an schlimmen ansteckenden Krankheiten, oder werden sofort in die Kolonien nach Übersee gebracht.“

„Habt ihr gesehen, jetzt gibt es auch eine richtige Chinesensiedlung. Sie haben dafür die alten Dockarbeiterhäuser übernommen.“

„Da kann doch kaum einer leben, die Dächer dieser Häuser haben mehr Löcher als meine Schuhsohlen.“

„Man erzählt sich, dass sie mit Opium handeln. In dem neuen Teehaus rauchen sie Wasserpfeifen mit Opium. Wenn man dort vorbeikommt, ist man von diesem Zeug total berauscht.“

Wieder entstand eine längere Schweigepause, weil jeder von ihnen seinen eigenen Gedanken nachhing. John schaute auf die Themse, beobachtete einen Fischreiher, wie er gerade einen gefangenen Fisch herunterwürgte. Plötzlich rief jemand seinen Namen:

Clara Manson, ein 16-jähriges Mädchen, hübsch, schlank, blond, sehr weiten blauen Arbeitskittel, stand vor der Bretterbohle, die auf die Frachtschute führte, und schaute erwartungsvoll auf den heran laufenden John Hudson.

„Du weißt nicht zufällig, wer das war?“

„Danke, dass du mir Bescheid gesagt hast.“

„Jungs“, rief John zur Red-Cliffe 13, „ich muss zum Spital, Elisabeth wurde überfallen. Bis später.“

Das kleine Spital war in dem Armenhaus von Ratcliff, ganz am Westende der Narrow Street, untergebracht. Im vorderen Bereich befanden sich die zwei Schwesternzimmer und die zwei Räume des einzigen behandelnden Arztes mit seiner einfachen OP-Ausstattung. Ein großer Raum, unterteilt durch Vorhänge, zeigte den Krankenpflegebereich für zwanzig Kranke.John meldete sich bei Schwester Amalie, eine ältere, aber sehr gütige Person.

„Bist du John Hudson?“

„John, dann komm mal mit, die alte Elisabeth erwartet dich schon sehnlichst.“

„Ich lasse euch beiden dann mal alleine. John, wenn du was brauchst, musst du mich rufen, ja?“

John hatte einen dicken Klos im Hals, und wusste nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. Ganz mühsam versuchte Elisabeth Beckford ihm etwas zu sagen:

John beugte sich ganz tief zu ihr herunter. Sie meinte:

Sie hustete und japste fürchterlich nach Luft. Ein Faden Blut lief ihr aus dem Mundwinkel.

Sie bäumte sich zum letzten Mal auf, ein Stöhnen verließ ihre eingetretene Brust, sie drückte John noch einmal fest mit der linken Hand und verstarb.

„John, wenn du etwas brauchst, dann wende dich an mich. Ich habe dieser Frau sehr viel zu verdanken. Vielleicht kann ich für sie, auch nach ihrem Tod, noch etwas wieder gutmachen.“