cover image

Gustav Meyrink

Der Golem

Ein phantastischer Roman

Gustav Meyrink

Der Golem

Ein phantastischer Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
1. Auflage, ISBN 978-3-954185-82-5

www.null-papier.de/293

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Buch

Gu­stav Mey­rink – Über­set­zer und Au­tor

Ein Ge­dicht als Vor­wort

Schlaf

Tag

I

Prag

Punsch

Nacht

Wach

Schnee

Spuk

Licht

Not

Angst

Trieb

Weib

List

Qual

Mai

Mond

Frei

Schluß

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Buch

Der Go­lem – ein frü­her Schau­er­ro­man der un­be­kann­te­ren Art

Der na­men­lo­se Icher­zäh­ler träumt, ein Hand­wer­ker aus dem Pra­ger Get­to zu sein, der in zahl­rei­che Int­ri­gen ver­wi­ckelt wird, die ihn nicht nur des Mor­des be­zich­ti­gen, son­dern schließ­lich so­gar an sei­ner ei­ge­nen Exis­tenz zwei­feln las­sen. Es ent­steht ein im­pres­sio­nis­ti­sches Ve­xier­bild vor dem Hin­ter­grund der Sage um den Go­lem.

Ver­wirrt? - Vom Au­tor ge­wollt.

Par­al­le­len zu Kaf­kas un­glück­li­chen Fi­gu­ren lie­gen nah, auch hier sind die Han­deln­den nicht wirk­lich han­delnd, son­dern hilf­los ei­ner grund­los feind­li­chen Um­welt aus­ge­setzt. Mey­rinks Go­lem ist ein Ge­s­penst auf ver­schie­de­nen Wahr­neh­mungs­ebe­nen, das alle 33 Jah­re im Pra­ger Get­to auf­taucht, um Angst und Schre­cken zu ver­brei­ten.

Ein li­te­ra­ri­sches Ex­pe­ri­ment

Ich weiß nur, mein Kör­per liegt schla­fend im Bett, und mei­ne Sin­ne sind los­ge­trennt und nicht mehr an ihn ge­bun­den. – Wer ist jetzt ›ich‹, will ich plötz­lich fra­gen; da be­sin­ne ich mich, daß ich doch kein Or­gan mehr be­sit­ze, mit dem ich Fra­gen stel­len könn­te; dann fürch­te ich, die dum­me Stim­me wer­de wie­der auf­wa­chen und von neu­em das end­lo­se Ver­hör über den Stein und das Fett be­gin­nen. Und so wen­de ich mich ab.

Gustav Meyrink – Übersetzer und Autor

Gu­stav Mey­rink (1868 - 1932), ös­ter­rei­chi­scher Au­tor und Über­set­zer, war der un­ehe­li­che Sohn ei­nes Staats­mi­nis­ters und ei­ner Hof­schau­spie­le­rin.

Nach dem Be­such der Han­dels­aka­de­mie wur­de Mey­rink 1889 Mi­t­in­ha­ber, dann Al­lein­in­ha­ber ei­ner Bank. 1902 ging er bank­rott, ge­riet des­we­gen in Un­ter­su­chungs­haft und war ge­zwun­gen, sich für­der­hin trotz Frei­spruch zu re­ha­bi­li­tie­ren, was ihm nie ganz ge­lin­gen soll­te.

Aber 1897 kam es zu ers­ten ers­te li­te­ra­ri­schen Ver­su­chen und Ver­öf­fent­li­chun­gen. 1901 er­folg­te die ers­te nen­nens­wer­te Pub­li­ka­ti­on ("Der hei­ße Sol­dat") im Münch­ner Sim­pli­cis­si­mus. 1907 zog Mey­rink nach Mün­chen, wo er die bay­ri­sche Staats­bür­ger­schaft an­nahm.

Es er­folg­ten ers­te Über­set­zun­gen aus dem Eng­li­schen; haupt­säch­lich Charles Di­ckens und Ru­dyard Kip­ling.

Als ei­ner der ers­ten deut­schen­spra­chi­gen Au­to­ren ver­fass­te Mey­rink fan­tas­ti­sche Ro­ma­ne. Wäh­rend sein Früh­werk mit dem Spieß­bür­ger­tum sei­ner Zeit ab­rech­ne­te („Des deut­schen Spie­ßers Wun­der­horn“), be­fass­ten sich sei­ne spä­te­ren Wer­ke oft­mals mit über­sinn­li­chen Phä­no­me­nen und dem Sinn des Le­bens („Der Go­lem“, „Das grü­ne Ge­sicht“, „Der En­gel vom west­li­chen Fens­ter“).

1927 kon­ver­tier­te Gu­stav Mey­rink vom Pro­tes­tan­tis­mus zum Bud­dhis­mus.

Mey­rink war Mit­glied meh­re­rer Ge­heim­bün­de und be­haup­te­te, in te­le­pa­thi­schem Kon­takt mit Geis­tern zu ste­hen. Er nahm an spi­ri­tis­ti­schen Sit­zun­gen teil – ein Hob­by, dem vie­le In­tel­lek­tu­el­le des frü­hen 20. Jahr­hun­derts frön­ten.

»Mey­rink ver­band … eine au­ßer­or­dent­li­che Be­ga­bung für an­ti­bür­ger­li­che Sa­ti­re mit ei­ner nicht we­ni­ger aus­ge­präg­ten für mys­ti­sche Markt­schreie­rei.« (Gers­hom Scho­lem, Re­li­gi­ons­his­to­ri­ker)

Ein Gedicht als Vorwort

Der Go­lem (Det­lev von Li­li­en­cron)


Prag, das alte sa­gen­rei­che,
Barg schon vie­le Men­schen­weis­heit,
Barg schon vie­le Men­schen­tor­heit,
Auch den ho­hen Rab­bi Löw.

Rab­bi Löw war sehr zu Hau­se
In den Küns­ten, Wis­sen­schaf­ten,
Und be­son­ders in der schwar­zen,
In der schwe­ren Kab­ba­la.

So er­schuf er einen Go­lem,
Ei­nen holz­ge­schnitz­ten Men­schen,
Tat be­le­bend in den Mund ihm
Ei­nen Zau­ber­spruch: den Schem.

Un­ver­dros­sen, als sein Die­ner,
Muß der Go­lem fe­gen, ko­chen,
Kin­der wie­gen, Fens­ter put­zen,
Stie­fel wich­sen und so fort.

Nur am Sab­bath darf er ras­ten;
Nahm ihm dann der hohe Rab­bi
Aus dem Mund den Zau­ber­zet­tel,
Stand er stock­still au­gen­blicks.

Ein­mal hat er es ver­ges­sen,
Ein­mal, was ist da ge­sche­hen:
Ra­send wur­de, dwatsch der Go­lem,
Ein Ber­ser­ker ward der Kerl.

Bäu­me reißt er aus der Erde,
Häu­ser wuppt er in die Wol­ken,
Schleu­dert Men­schen in die Lüf­te,
Stülpt den Hrad­schin auf den Kopf.

Schon im An­zug war der Sab­bath,
Alle Ar­beit muß nun ru­hen.
Al­les flüch­tet, brüllt und ze­tert
Nach dem ho­hen Rab­bi Löw.

Der er­scheint; packt eben, eben
Noch den Toll­hans am Schla­fitt­chen,
Ist mit ihm bald oben, un­ten,
Bald auf Ber­gen, bald im Tal:

Wie ein Bän­di­ger, der dem Pfer­de,
Das sich bäumt und wirft und schüt­telt,
Ei­nen Kapp­zaum le­gen möch­te,
Und nun mit ihm tan­zen muß.

Hop­sa, hop­sa, was für Sprün­ge!
Aber end­lich glückts, er würgt ihn,
Zerrt den Schem ihm aus den Zäh­nen -
Und zer­schmet­tert liegt der Kerl.

Nicht noch ein­mal hat der Rab­bi
Ei­nen Go­lem sich ge­schnit­zelt,
Jede Lust war ihm ver­gan­gen:
All­zu klug ist manch­mal dumm

Die­ses Ge­dicht war nicht Be­stand­teil der ers­ten Ver­öf­fent­li­chung, son­dern wur­de vom Null Pa­pier Ver­lag hin­zu­ge­fügt.

Schlaf

Das Mond­licht fällt auf das Fu­ßen­de mei­nes Bet­tes und liegt dort wie ein großer, hel­ler, fla­cher Stein.

Wenn der Voll­mond in sei­ner Ge­stalt zu schrump­fen be­ginnt und sei­ne rech­te Sei­te fängt an zu ver­fal­len, – wie ein Ge­sicht, das dem Al­ter ent­ge­gen­geht, zu­erst an ei­ner Wan­ge Fal­ten zeigt und ab­ma­gert, – dann be­mäch­tigt sich mei­ner um sol­che Zeit des Nachts eine trü­be, qual­vol­le Un­ru­he.

Ich schla­fe nicht und wa­che nicht, und im Halb­traum ver­mischt sich in mei­ner See­le Er­leb­tes mit Ge­le­se­nem und Ge­hör­tem, wie Strö­me von ver­schie­de­ner Far­be und Klar­heit zu­sam­men­flie­ßen.

Ich hat­te über das Le­ben des Bud­dha Go­ta­ma ge­le­sen, ehe ich mich nie­der­ge­legt, und in tau­send Spiel­ar­ten zog der Satz im­mer wie­der von vor­ne be­gin­nend durch mei­nen Sinn:

»Eine Krä­he flog zu ei­nem Stein hin, der wie ein Stück Fett aus­sah, und dach­te: viel­leicht ist hier et­was Wohl­schme­cken­des. Da nun die Krä­he dort nichts Wohl­schme­cken­des fand, flog sie fort. Wie die Krä­he, die sich dem Stein ge­nä­hert, so ver­las­sen wir – wir, die Ver­su­cher, – den As­ke­ten Go­ta­ma, da wir den Ge­fal­len an ihm ver­lo­ren ha­ben.«

Und das Bild von dem Stein, der aus­sah wie ein Stück Fett, wächst ins Un­ge­heu­er­li­che in mei­nem Hirn:

Ich schrei­te durch ein aus­ge­trock­ne­tes Fluß­bett und hebe glat­te Kie­sel auf.

Graublaue mit ein­ge­spreng­tem glit­zern­dem Staub, über die ich nach­grü­b­le und nach­grü­b­le und doch mit ih­nen nichts an­zu­fan­gen weiß, – dann schwar­ze mit schwe­fel­gel­ben Fle­cken wie die stein­ge­wor­de­nen Ver­su­che ei­nes Kin­des, plum­pe, ge­spren­kel­te Mol­che nach­zu­bil­den.

Und ich will sie weit von mir wer­fen, die­se Kie­sel, doch im­mer fal­len sie mir aus der Hand, und ich kann sie aus dem Be­reich mei­ner Au­gen nicht ban­nen.

Alle jene Stei­ne, die je in mei­nem Le­ben eine Rol­le ge­spielt, tau­chen auf rings um mich her.

Man­che quä­len sich schwer­fäl­lig ab, sich aus dem San­de ans Licht em­por­zu­ar­bei­ten – wie große schie­fer­far­be­ne Ta­schen­kreb­se, wenn die Flut zu­rück­kommt, – und als woll­ten sie al­les dar­an­set­zen, mei­ne Bli­cke auf sich zu len­ken, um mir Din­ge von un­end­li­cher Wich­tig­keit zu sa­gen.

An­de­re – er­schöpft – fal­len kraft­los zu­rück in ihre Lö­cher und ge­ben es auf, je zu Wor­te zu kom­men.

Zu­wei­len fah­re ich em­por aus dem Däm­mer die­ser hal­b­en Träu­me und sehe für einen Au­gen­blick wie­der­um den Mond­schein auf dem ge­bausch­ten Fu­ßen­de mei­ner De­cke lie­gen wie einen großen, hel­len, fla­chen Stein, um blind von neu­em hin­ter mei­nem schwin­den­den Be­wußt­sein her­zutap­pen, ru­he­los nach je­nem Stein su­chend, der mich quält – der ir­gend­wo ver­bor­gen im Schutte mei­ner Erin­ne­rung lie­gen muß und aus­sieht wie ein Stück Fett.

Eine Re­gen­röh­re muß einst ne­ben ihm auf der Erde ge­mün­det ha­ben, male ich mir aus – stumpf­wink­lig ab­ge­bo­gen, die Rän­der von Rost zer­fres­sen, – und trot­zig will ich mir im Geis­te ein sol­ches Bild er­zwin­gen, um mei­ne auf­ge­scheuch­ten Ge­dan­ken zu be­lü­gen und in Schlaf zu lul­len.

Es ge­lingt mir nicht.

Im­mer wie­der und im­mer wie­der mit al­ber­ner Be­harr­lich­keit be­haup­tet eine ei­gen­sin­ni­ge Stim­me in mei­nem In­nern – un­er­müd­lich wie ein Fens­ter­la­den, den der Wind in re­gel­mä­ßi­gen Zwi­schen­räu­men an die Mau­er schla­gen läßt: es sei das ganz an­ders, das sei gar nicht der Stein, der wie Fett aus­se­he.

Und es ist von der Stim­me nicht los­zu­kom­men.

Wenn ich hun­dert­mal ein­wen­de, al­les das sei doch ganz ne­ben­säch­lich, so schweigt sie wohl eine klei­ne Wei­le, wacht aber dann un­ver­merkt wie­der auf und be­ginnt hart­nä­ckig von neu­em: gut, gut, schon recht, es ist aber doch nicht der Stein, der wie ein Stück Fett aus­sieht. –

Lang­sam be­ginnt sich mei­ner ein un­er­träg­li­ches Ge­fühl von Hilf­lo­sig­keit zu be­mäch­ti­gen.

Wie es wei­ter ge­kom­men ist, weiß ich nicht. Habe ich frei­wil­lig je­den Wi­der­stand auf­ge­ge­ben, oder ha­ben sie mich über­wäl­tigt und ge­k­ne­belt, mei­ne Ge­dan­ken?

Ich weiß nur, mein Kör­per liegt schla­fend im Bett, und mei­ne Sin­ne sind los­ge­trennt und nicht mehr an ihn ge­bun­den. –

Wer ist jetzt ›ich‹, will ich plötz­lich fra­gen; da be­sin­ne ich mich, daß ich doch kein Or­gan mehr be­sit­ze, mit dem ich Fra­gen stel­len könn­te; dann fürch­te ich, die dum­me Stim­me wer­de wie­der auf­wa­chen und von neu­em das end­lo­se Ver­hör über den Stein und das Fett be­gin­nen.

Und so wen­de ich mich ab.

Tag

Da stand ich plötz­lich in ei­nem düs­te­ren Hofe und sah durch einen röt­li­chen Tor­bo­gen ge­gen­über – jen­seits der en­gen, schmut­zi­gen Stra­ße – einen jü­di­schen Tröd­ler an ei­nem Ge­wöl­be leh­nen, das an den Mau­er­rän­dern mit al­tem Ei­sen­ge­rüm­pel, zer­bro­che­nen Werk­zeu­gen, ver­ros­te­ten Steig­bü­geln und Schlitt­schu­hen und vie­ler­lei an­de­ren ab­ge­stor­be­nen Sa­chen be­han­gen war.

Und die­ses Bild trug das quä­lend Ein­tö­ni­ge an sich, das alle jene Ein­drücke kenn­zeich­net, die tag­täg­lich so und so oft wie Hau­sie­rer die Schwel­le un­se­rer Wahr­neh­mung über­schrei­ten, und rief in mir we­der Neu­gier­de noch Über­ra­schung her­vor.

Ich wur­de mir be­wußt, daß ich schon seit lan­ger Zeit in die­ser Um­ge­bung zu Hau­se war.

Auch die­se Emp­fin­dung hin­ter­ließ mir trotz ih­res Ge­gen­sat­zes zu dem, was ich doch vor kur­z­em noch wahr­ge­nom­men und wie ich hier­her ge­langt, kei­ner­lei tiefe­ren Ein­druck. – –

Ich muß ein­mal von ei­nem son­der­ba­ren Ver­gleich zwi­schen ei­nem Stein und ei­nem Stück Fett ge­hört oder ge­le­sen ha­ben, dräng­te sich mir plötz­lich der Ein­fall auf, als ich die aus­ge­tre­te­nen Stu­fen zu mei­ner Kam­mer em­por­stieg und mir über das spe­cki­ge Aus­se­hen der Stein­schwel­len flüch­ti­ge Ge­dan­ken mach­te.

Da hör­te ich Schrit­te die obe­ren Trep­pen über mir vor­aus­lau­fen, und als ich zu mei­ner Tür kam, sah ich, daß es die vier­zehn­jäh­ri­ge, rot­haa­ri­ge Ro­si­na des Tröd­lers Aaron Was­ser­trum ge­we­sen war.

Ich muß­te dicht an ihr vor­bei, und sie stand mit dem Rücken ge­gen das Stie­gen­ge­län­der und bog sich lüs­tern zu­rück.

Ihre schmut­zi­gen Hän­de hat­te sie um die Ei­sen­stan­ge ge­legt, – zum Halt – und ich sah, wie ihre nack­ten Un­ter­ar­me bleich aus dem trü­ben Halb­dun­kel her­vor­leuch­te­ten.

Ich wich ih­ren Bli­cken aus.

Mich ekel­te vor ih­rem zu­dring­li­chen Lä­cheln und die­sem wäch­ser­nen Schau­kel­pferd­ge­sicht.

Sie muß schwam­mi­ges, wei­ßes Fleisch ha­ben wie der Axo­lotl, den ich vor­hin im Sala­man­der­kä­fig bei dem Vo­gel­händ­ler ge­se­hen habe, fühl­te ich.

Die Wim­pern Rot­haa­ri­ger sind mir wi­der­wär­tig wie die ei­nes Ka­nin­chens.

Und ich sperr­te auf und schlug rasch die Tür hin­ter mir zu. – –

Von mei­nem Fens­ter aus konn­te ich den Tröd­ler Aaron Was­ser­trum vor sei­nem Ge­wöl­be ste­hen se­hen.

Er lehn­te am Ein­gang der dunklen Wöl­bung und zwick­te mit ei­ner Beiß­zan­ge an sei­nen Fin­ger­nä­geln her­um.

War die rot­haa­ri­ge Ro­si­na sei­ne Toch­ter oder sei­ne Nich­te? Er hat­te kei­ne Ähn­lich­keit mit ihr.

Un­ter den Ju­den­ge­sich­tern, die ich Tag für Tag in der Hahn­paß­gas­se auf­tau­chen sehe, kann ich deut­lich ver­schie­de­ne Stäm­me un­ter­schei­den, die sich so we­nig durch die nahe Ver­wandt­schaft der ein­zel­nen In­di­vi­du­en ver­wi­schen las­sen, wie sich öl und Was­ser ver­men­gen wird. Da darf man nicht sa­gen: die dort sind Brü­der oder Va­ter und Sohn.

Der ge­hört zu je­nem Stamm und die­ser zu ei­nem an­dern, das ist al­les, was sich aus den Ge­sichts­zü­gen le­sen läßt.

Was be­wie­se es auch, wenn selbst Ro­si­na dem Tröd­ler ähn­lich sähe!

Die­se Stäm­me he­gen einen heim­li­chen Ekel und Ab­scheu vor­ein­an­der, der so­gar die Schran­ken der en­gen Bluts­ver­wandt­schaft durch­bricht, – aber sie ver­ste­hen ihn ge­heim­zu­hal­ten vor der Au­ßen­welt, wie man ein ge­fähr­li­ches Ge­heim­nis hü­tet.

Kein ein­zi­ges läßt ihn durch­bli­cken, und in die­ser Über­ein­stim­mung glei­chen sie haß­er­füll­ten Blin­den, die sich an ein schmutz­ge­tränk­tes Seil klam­mern: der eine mit bei­den Fäus­ten, ein an­de­rer nur wi­der­wil­lig mit ei­nem Fin­ger, alle aber von aber­gläu­bi­scher Furcht be­ses­sen, daß sie dem Un­ter­gang ver­fal­len müs­sen, so­bald sie den ge­mein­sa­men Halt auf­ge­ben und sich von den üb­ri­gen tren­nen.

Ro­si­na ist von je­nem Stam­me, des­sen rot­haa­ri­ger Ty­pus noch ab­sto­ßen­der ist, als der der an­dern. Des­sen Män­ner eng­brüs­tig sind und lan­ge Hüh­ner­hälse ha­ben mit vor­ste­hen­dem Adams­ap­fel.

Al­les scheint an ih­nen som­mer­spros­sig, und ihr gan­zes Le­ben lei­den sie un­ter brüns­ti­gen Qua­len, die­se Män­ner, – und kämp­fen heim­lich ge­gen ihre Ge­lüs­te einen un­un­ter­bro­che­nen, er­folg­lo­sen Kampf, von im­mer­wäh­ren­der wi­der­li­cher Angst um ihre Ge­sund­heit ge­fol­tert.

Ich war mir nicht klar, wie­so ich Ro­si­na über­haupt in ver­wandt­schaft­li­che Be­zie­hun­gen mit dem Tröd­ler Was­ser­trum brin­gen konn­te.

Nie habe ich sie doch in der Nähe des Al­ten ge­se­hen oder be­merkt, daß sie je­mals ein­an­der et­was zu­ge­ru­fen hät­ten.

Auch war sie fast im­mer in un­se­rem Hofe oder drück­te sich in den dunklen Win­keln und Gän­gen un­se­res Hau­ses um­her.

Si­cher­lich hal­ten sie alle mei­ne Mit­be­woh­ner für eine nahe Ver­wand­te oder zu­min­dest Schutz­be­foh­le­ne des Tröd­lers, und doch bin ich über­zeugt, daß kein ein­zi­ger einen Grund für sol­che Ver­mu­tun­gen an­zu­ge­ben ver­möch­te.

Ich woll­te mei­ne Ge­dan­ken von Ro­si­na los­rei­ßen und sah von dem of­fe­nen Fens­ter mei­ner Stu­be hin­ab auf die Hahn­paß­gas­se.

Als habe Aaron Was­ser­trum mei­nen Blick ge­fühlt, wand­te er plötz­lich sein Ge­sicht zu mir em­por.

Sein star­res, gräß­li­ches Ge­sicht mit den run­den Fischau­gen und der klaf­fen­den Ober­lip­pe, die von ei­ner Ha­sen­schar­te ge­spal­ten ist.

Wie eine mensch­li­che Spin­ne kam er mir vor, die die feins­te Berüh­rung ih­res Net­zes spürt, so teil­nahms­los sie sich auch stellt.

Und wo­von er nur le­ben mag? Was denkt er, und was ist sein Vor­ha­ben?

Ich wuß­te es nicht.

An den Mau­er­rän­dern sei­nes Ge­wöl­bes hän­gen un­ver­än­dert Tag für Tag, jahraus jahrein die­sel­ben to­ten wert­lo­sen Din­ge.

Mit ge­schlos­se­nen Au­gen hät­te ich sie hin­zeich­nen kön­nen: hier die ver­bo­ge­ne Blechtrom­pe­te ohne Klap­pen, das ver­gilb­te Bild auf Pa­pier ge­malt, mit den so son­der­bar zu­sam­men­ge­stell­ten Sol­da­ten. Dann eine Gir­lan­de ver­ros­te­ter Spo­ren an ei­nem schimm­li­gen Le­der­rie­men und an­de­res halb ver­mo­der­tes Ge­rüm­pel.

Und vor­ne auf dem Bo­den, dicht ne­ben­ein­an­der ge­schich­tet, so daß nie­mand die Schwel­le des Ge­wöl­bes über­schrei­ten kann, eine Rei­he runder ei­ser­ner Herd­plat­ten. –

Alle die­se Din­ge nah­men an Zahl nie zu, nie ab, und blieb wirk­lich hier und da ein­mal ein Vor­über­ge­hen­der ste­hen und frag­te nach dem Preis des einen oder an­dern, ge­riet der Tröd­ler in hef­ti­ge Er­re­gung.

In grau­en­er­re­gen­der Wei­se zog er dann sei­ne Lip­pen mit der Ha­sen­schar­te em­por und spru­del­te ge­reizt ir­gend et­was Un­ver­ständ­li­ches in ei­nem gur­geln­den, stol­pern­den Baß her­vor, daß dem Käu­fer die Lust wei­ter zu fra­gen ver­ging und er ab­ge­schreckt sei­nen Weg fort­setz­te.

Der Blick des Aaron Was­ser­trum war blitz­schnell von mei­nen Au­gen ab­ge­glit­ten und ruh­te jetzt mit ge­spann­tem In­ter­es­se an den kah­len Mau­ern, die vom Ne­ben­hau­se an mein Fens­ter sto­ßen.

Was konn­te er dort nur se­hen?

Das Haus steht doch mit dem Rücken ge­gen die Hahn­paß­gas­se, und sei­ne Fens­ter bli­cken in den Hof! Nur ei­nes ist in die Stra­ße ge­kehrt.

Zu­fäl­lig schie­nen die Räu­me, die ne­ben­an in der­sel­ben Stock­hö­he wie die mei­ni­gen lie­gen – ich glau­be, sie ge­hö­ren zu ei­nem wink­li­gen Ate­lier – in die­sem Mo­ment be­tre­ten wor­den zu sein, denn durch die Mau­ern hör­te ich plötz­lich eine männ­li­che und eine weib­li­che Stim­me mit­ein­an­der re­den.

Un­mög­lich konn­te das aber der Tröd­ler von un­ten aus wahr­ge­nom­men ha­ben! – –

Vor mei­ner Tür be­weg­te sich je­mand, und ich er­riet: es ist im­mer noch Ro­si­na, die drau­ßen im Dun­keln steht in be­gehr­li­chem War­ten, daß ich sie doch viel­leicht zu mir her­ein­ru­fen wol­le.

Und un­ten, ein hal­b­es Stock­werk tiefer, lau­ert der blat­ter­nar­bi­ge, halb­wüch­si­ge Loi­sa auf den Stie­gen mit an­ge­hal­te­nem Atem, ob ich die Tür öff­nen wer­de, und ich spü­re förm­lich den Hauch sei­nes Has­ses und sei­ne schäu­men­de Ei­fer­sucht bis her­auf zu mir.

Er fürch­tet sich nä­her zu kom­men und von Ro­si­na be­merkt zu wer­den. Er weiß sich von ihr ab­hän­gig wie ein hung­ri­ger Wolf von sei­nem Wär­ter und möch­te doch am liebs­ten auf­sprin­gen und be­sin­nungs­los sei­ner Wut die Zü­gel schie­ßen las­sen! – – –

Ich setz­te mich an mei­nen Ar­beit­s­tisch und such­te mei­ne Pin­zet­ten und Sti­chel her­vor.

Aber ich konn­te nichts fer­tig­brin­gen und mei­ne Hand war nicht ru­hig ge­nug, die fei­nen ja­pa­ni­schen Gra­vie­run­gen aus­zu­bes­sern.

Das trü­be, düs­te­re Le­ben, das an die­sem Hau­se hängt, läßt mein Ge­müt nicht still­wer­den, und im­mer tau­chen alte Bil­der in mir auf.

Loi­sa und sein Zwil­lings­bru­der Jaro­mir sind wohl kaum ein Jahr äl­ter als Ro­si­na.

An ih­ren Va­ter, der Hos­ti­en­bä­cker ge­we­sen, konn­te ich mich kaum mehr er­in­nern, und jetzt sorgt für sie, glau­be ich, ein al­tes Weib.

Ich wuß­te nur nicht, wel­che es war un­ter den vie­len, die ver­steckt im Hau­se woh­nen wie Krö­ten in ih­rem Schlupf­win­kel.

Sie sorgt für die bei­den Jun­gen, das heißt: sie ge­währt ih­nen Un­ter­kunft; da­für müs­sen sie ihr ab­lie­fern, was sie ge­le­gent­lich steh­len oder er­bet­teln. –

Ob sie ih­nen wohl auch zu es­sen gibt? Ich konn­te es mir nicht den­ken, denn erst spät abends kommt die Alte heim.

Lei­chen­wä­sche­rin soll sie sein.

Loi­sa, Jaro­mir und Ro­si­na sah ich, als sie noch Kin­der wa­ren, oft harm­los im Hof zu dritt spie­len.

Die Zeit aber ist lang vor­bei.

Den gan­zen Tag ist Loi­sa jetzt hin­ter dem rot­haa­ri­gen Ju­den­mä­del her.

Zu­wei­len sucht er sie lan­ge um­sonst, und wenn er sie nir­gends fin­den kann, dann schleicht er sich vor mei­ne Tür und war­tet mit ver­zerr­tem Ge­sicht, daß sie heim­lich hier­her kom­me.

Da sehe ich ihn, wenn ich bei mei­ner Ar­beit sit­ze, im Geis­te drau­ßen in dem wink­li­gen Gan­ge lau­ern, den Kopf mit dem aus­ge­mer­gel­ten Ge­nick hor­chend vor­ge­beugt.

Manch­mal bricht dann durch die Stil­le plötz­lich ein wil­der Lärm.

Jaro­mir, der taub­stumm ist, und des­sen gan­zes Den­ken eine un­un­ter­bro­che­ne wahn­sin­ni­ge Gier nach Ro­si­na er­füllt, irrt wie ein wil­des Tier im Hau­se um­her, und sein un­ar­ti­ku­lier­tes heu­len­des Ge­bell, das er, vor Ei­fer­sucht und Arg­wohn halb von Sin­nen, aus­stößt, klingt so schau­er­lich, daß ei­nem das Blut in den Adern stockt.

Er sucht die bei­den, die er stets bei­ein­an­der ver­mu­tet – ir­gend­wo in ei­nem der tau­send schmut­zi­gen Schlupf­win­kel ver­steckt – in blin­der Ra­se­rei, im­mer von dem Ge­dan­ken ge­peitscht, sei­nem Bru­der auf den Fer­sen sein zu müs­sen, daß nichts mit Ro­si­na vor­ge­he, von dem er nicht wis­se.

Und ge­ra­de die­se un­auf­hör­li­che Qual des Krüp­pels ist, ahn­te ich, das Reiz­mit­tel, das Ro­si­na an­treibt, sich stets von neu­em mit dem an­dern ein­zu­las­sen.

Wird ihre Nei­gung oder Be­reit­wil­lig­keit schwä­cher, so er­sinnt Loi­sa im­mer wie­der be­son­de­re Scheuß­lich­kei­ten, um Ro­si­nas Gier von neu­em zu ent­fa­chen.

Da las­sen sie sich schein­bar oder wirk­lich von dem Taub­stum­men er­tap­pen und lo­cken den Ra­sen­den heim­tückisch hin­ter sich her in dunkle Gän­ge, wo sie aus ros­ti­gen Faß­rei­fen, die in die Höhe schnel­len, wenn man auf sie tritt, und ei­ser­nen Re­chen – mit den Spit­zen nach oben ge­kehrt – bös­ar­ti­ge Fal­len er­rich­tet ha­ben, in die er stür­zen muß und sich blu­tig fällt.

Von Zeit zu Zeit denkt sich Ro­si­na, um die Fol­ter aufs äu­ßers­te an­zu­span­nen, auf ei­ge­ne Faust et­was Höl­li­sches aus.

Dann än­dert sie mit ei­nem Schla­ge ihr Be­neh­men zu Jaro­mir und tut, als fän­de sie plötz­lich Ge­fal­len an ihm.

Mit ih­rer ewig lä­cheln­den Mie­ne teilt sie dem Krüp­pel has­tig Din­ge mit, die ihn in eine fast irr­sin­ni­ge Er­re­gung ver­set­zen, und sie hat sich dazu eine ge­heim­nis­voll schei­nen­de, nur halb­ver­ständ­li­che Zei­chen­spra­che er­son­nen, die den Taub­stum­men ret­tungs­los in ein un­ent­wirr­ba­res Netz von Un­ge­wiß­heit und ver­zeh­ren­den Hoff­nun­gen ver­stri­cken muß. –

Ein­mal sah ich ihn im Hofe vor ihr ste­hen, und sie sprach mit so hef­ti­gen Lip­pen­be­we­gun­gen und Ges­ti­ku­la­tio­nen auf ihn ein, daß ich glaub­te, je­den Au­gen­blick wür­de er in wil­der Auf­re­gung zu­sam­men­bre­chen.

Der Schweiß lief ihm übers Ge­sicht vor über­mensch­li­cher An­stren­gung, den Sinn der ab­sicht­lich so un­kla­ren, has­ti­gen Mit­tei­lun­gen zu er­fas­sen.

Und den gan­zen fol­gen­den Tag lau­er­te er dann fie­bernd in Er­war­tung auf den fins­te­ren Stie­gen ei­nes halb ver­sun­ke­nen Hau­ses, das in der Fort­set­zung der en­gen, schmut­zi­gen Hahn­paß­gas­se liegt, – bis er die Zeit ver­säumt hat­te, sich an den Ecken ein paar Kreu­zer zu er­bet­teln.

Und als er spät abends halb­tot vor Hun­ger und Auf­re­gung heim woll­te, hat­te ihn die Pfle­ge­mut­ter längst aus­ge­sperrt. – – –

Ein fröh­li­ches Frau­en­la­chen drang aus dem an­sto­ßen­den Ate­lier durch die Mau­ern her­über zu mir.

Ein La­chen! – In die­sen Häu­sern ein fröh­li­ches La­chen? Im gan­zen Get­to wohnt nie­mand, der fröh­lich la­chen könn­te.

Da fiel mir ein, daß mir vor ei­ni­gen Ta­gen der alte Ma­rio­net­ten­spie­ler Zwakh an­ver­trau­te, ein jun­ger, vor­neh­mer Herr hät­te ihm das Ate­lier teu­er ab­ge­mie­tet – of­fen­bar, um mit der Er­wähl­ten sei­nes Her­zens un­be­lauscht zu­sam­men­kom­men zu kön­nen.

Nach und nach, jede Nacht, müß­ten nun, da­mit nie­mand im Hau­se et­was mer­ke, die kost­ba­ren Mö­bel des neu­en Mie­ters heim­lich Stück für Stück hin­auf­ge­schafft wer­den.

Der gut­mü­ti­ge Alte hat­te sich vor Ver­gnü­gen die Hän­de ge­rie­ben, als er es mir er­zähl­te, und sich kind­lich ge­freut, wie er al­les so ge­schickt an­ge­fan­gen habe: kei­ner der Mit­be­woh­ner kön­ne auch nur eine Ah­nung von dem ro­man­ti­schen Lie­bes­paar ha­ben.

Und von drei Häu­sern aus sei es mög­lich, un­auf­fäl­lig in das Ate­lier zu ge­lan­gen. – So­gar durch eine Fall­tü­re gäbe es einen Zu­gang!

Ja, wenn man die ei­ser­ne Tür des Bo­den­rau­mes auf­klin­ke, – und das sei von drü­ben aus sehr leicht, – kön­ne man an mei­ner Kam­mer, vor­bei zu den Stie­gen un­se­res Hau­ses ge­lan­gen und die­se als Aus­gang be­nüt­zen …

Wie­der klingt das fröh­li­che La­chen her­über und läßt in mir die un­deut­li­che Erin­ne­rung an eine lu­xu­ri­öse Woh­nung und an eine ad­li­ge Fa­mi­lie auf­tau­chen, zu der ich oft ge­ru­fen wur­de, um an kost­ba­ren Al­ter­tü­mern klei­ne Aus­bes­se­run­gen vor­zu­neh­men. –

Plötz­lich höre ich ne­ben­an einen gel­len­den Schrei. Ich hor­che er­schreckt.

Die ei­ser­ne Bo­den­tür klirrt hef­tig, und im nächs­ten Au­gen­blick stürzt eine Dame in mein Zim­mer.

Mit auf­ge­lös­tem Haar, weiß wie die Wand, einen gol­de­nen Bro­kat­stoff über die blo­ßen Schul­tern ge­wor­fen.

»Meis­ter Per­nath, ver­ber­gen Sie mich, – um Got­tes Chris­ti wil­len! – fra­gen Sie nicht, ver­ber­gen Sie mich hier!«

Ehe ich noch ant­wor­ten konn­te, wur­de mei­ne Tür aber­mals auf­ge­ris­sen und so­fort wie­der zu­ge­schla­gen. –

Eine Se­kun­de lang hat­te das Ge­sicht des Tröd­lers Aaron Was­ser­trum wie eine scheuß­li­che Mas­ke her­ein­ge­grinst. –

Ein runder, leuch­ten­der Fleck taucht vor mir auf, und im Schein des Mond­lich­tes er­ken­ne ich wie­der­um das Fu­ßen­de mei­nes Bet­tes. Noch liegt der Schlaf auf mir wie ein schwe­rer, wol­li­ger Man­tel und der Name Per­nath steht in gol­de­nen Buch­sta­ben vor mei­ner Erin­ne­rung.

Wo nur habe ich die­sen Na­men ge­le­sen? – Atha­na­si­us Per­nath?

Ich glau­be, ich glau­be vor lan­ger, lan­ger Zeit habe ich ein­mal ir­gend­wo mei­nen Hut ver­wech­selt, und ich wun­der­te mich da­mals, daß er mir so ge­nau pas­se, wo ich doch eine höchst ei­gen­tüm­li­che Kopf­form habe.

Und ich sah in den frem­den Hut hin­ein – da­mals und – – ja, ja, dort hat­te es ge­stan­den in gol­de­nen Pa­pier­buch­sta­ben auf dem wei­ßen Fut­ter:

ATHANASIUS PERNATH.

Ich hat­te mich vor dem Hut ge­scheut und ge­fürch­tet, ich wuß­te nicht warum.

Da fährt plötz­lich die Stim­me, die ich ver­ges­sen hat­te, und die im­mer von mir wis­sen woll­te, wo der Stein ist, der wie Fett aus­ge­se­hen habe, auf mich los, gleich ei­nem Pfeil.

Schnell male ich mir das schar­fe, süß­lich grin­sen­de Pro­fil der ro­ten Ro­si­na aus, und es ge­lingt mir auf die­se Wei­se, dem Pfeil aus­zu­wei­chen, der sich so­gleich in der Fins­ter­nis ver­liert.

Ja, das Ge­sicht der Ro­si­na! Das ist doch noch stär­ker als die stumpf­sin­ni­ge plap­pern­de Stim­me; und gar, wo ich jetzt gleich wie­der in mei­nem Zim­mer in der Hahn­paß­gas­se ge­bor­gen sein wer­de, kann ich ganz ru­hig sein.

I

Wenn ich mich nicht ge­täuscht habe in der Emp­fin­dung, daß je­mand in ei­nem ge­wis­sen, gleich­blei­ben­den Ab­stand hin­ter mir die Trep­pe her­auf­kommt, in der Ab­sicht, mich zu be­su­chen, so muß er jetzt un­ge­fähr auf dem letz­ten Stie­gen­ab­satz ste­hen.

Jetzt biegt er um die Ecke, wo der Archi­var Sche­ma­jah Hil­lel sei­ne Woh­nung hat, und kommt von den aus­ge­tre­te­nen Stein­flie­sen auf den Flur des obe­ren Stock­wer­kes, der mit ro­ten Zie­geln aus­ge­legt ist.

Nun tas­tet er sich an der Wand ent­lang, und jetzt, ge­ra­de jetzt, muß er, müh­sam im Fins­tern buch­sta­bie­rend, mei­nen Na­men auf dem Tür­schild le­sen.

Und ich stell­te mich auf­recht in die Mit­te des Zim­mers und blick­te zum Ein­gang.

Da öff­ne­te sich die Türe, und er trat ein.

Nur we­ni­ge Schrit­te mach­te er auf mich zu und nahm we­der den Hut ab, noch sag­te er ein Wort der Be­grü­ßung.

So be­nimmt er sich, wenn er zu Hau­se ist, fühl­te ich, und ich fand es ganz selbst­ver­ständ­lich, daß er so und nicht an­ders han­del­te.

Er griff in die Ta­sche und nahm ein Buch her­aus.

Dann blät­ter­te er lan­ge drin her­um.

Der Um­schlag des Bu­ches war aus Me­tall, und die Ver­tie­fun­gen in Form von Ro­set­ten und Sie­geln wa­ren mit Far­be und klei­nen Stei­nen aus­ge­füllt.

End­lich hat­te er die Stel­le ge­fun­den, die er such­te, und deu­te­te dar­auf.

Das Ka­pi­tel hieß ›Ib­bur‹, ›die See­len­schwän­ge­rung‹, ent­zif­fer­te ich.

Das große, in Gold und Rot aus­ge­führ­te Ini­ti­al ›I‹ nahm fast die Hälf­te der gan­zen Sei­te ein, die ich un­will­kür­lich über­flog, und war am Ran­de ver­letzt.

Ich soll­te es aus­bes­sern.

Das Ini­ti­al war nicht auf das Per­ga­ment ge­klebt, wie ich es bis­her in al­ten Bü­chern ge­se­hen, schi­en viel­mehr aus zwei Plat­ten dün­nen Gol­des zu be­ste­hen, die im Mit­tel­punk­te zu­sam­men­ge­lö­tet wa­ren und mit den En­den um die Rän­der des Per­ga­ments grif­fen.

Also muß­te, wo der Buch­sta­be stand, ein Loch in das Blatt ge­schnit­ten sein?

Wenn das der Fall war, muß­te auf der nächs­ten Sei­te das ›I‹ ver­kehrt ste­hen?

Ich blät­ter­te um und fand mei­ne An­nah­me be­stä­tigt.

Un­will­kür­lich las ich auch die­se Sei­te durch und die ge­gen­über­lie­gen­de.

Und ich las wei­ter und wei­ter.

Das Buch sprach zu mir, wie der Traum spricht, kla­rer nur und viel deut­li­cher. Und es rühr­te mein Herz an wie eine Fra­ge.

Wor­te ström­ten aus ei­nem un­sicht­ba­ren Mun­de, wur­den le­ben­dig und ka­men auf mich zu. Sie dreh­ten sich und wand­ten sich vor mir wie bunt­ge­klei­de­te Skla­vin­nen, san­ken dann in den Bo­den oder ver­schwan­den wie schil­lern­der Dunst in der Luft und ga­ben der nächs­ten Raum. Jede hoff­te eine klei­ne Wei­le, daß ich sie er­wäh­len wür­de und auf den An­blick der Kom­men­den ver­zich­ten.

Man­che wa­ren un­ter ih­nen, die gin­gen prun­kend ein­her wie Pfau­en, in schim­mern­den Ge­wän­dern, und ihre Schrit­te wa­ren lang­sam und ge­mes­sen.

Man­che wie Kö­ni­gin­nen, doch ge­al­tert und ver­lebt, die Au­gen­li­der ge­färbt, – mit dir­nen­haf­tem Zug um den Mund und die Run­zeln mit häß­li­cher Schmin­ke ver­deckt.

Ich sah an ih­nen vor­bei und nach den kom­men­den, und mein Blick glitt über lan­ge Züge grau­er Ge­stal­ten mit Ge­sich­tern, so ge­wöhn­lich und aus­druck­s­arm, daß es un­mög­lich schi­en, sie dem Ge­dächt­nis ein­zu­prä­gen.

Dann brach­ten sie ein Weib ge­schleppt, das war split­ter­nackt und rie­sen­haft wie ein Erz­ko­loß.

Eine Se­kun­de blieb das Weib vor mir ste­hen und beug­te sich nie­der zu mir.

Ihre Wim­pern wa­ren so lang wie mein gan­zer Kör­per, und sie deu­te­te stumm auf den Puls ih­rer lin­ken Hand.

Der schlug wie ein Erd­be­ben, und ich fühl­te, es war das Le­ben ei­ner gan­zen Welt in ihr.

Aus der Fer­ne ras­te ein Ko­ry­ban­ten­zug her­an.

Ein Mann und ein Weib um­schlan­gen sich. Ich sah sie von wei­tem kom­men, und im­mer nä­her braus­te der Zug.

Jetzt hör­te ich den hal­len­den Ge­sang der Ver­zück­ten dicht vor mir, und mei­ne Au­gen such­ten das ver­schlun­ge­ne Paar.

Das aber hat­te sich ver­wan­delt in eine ein­zi­ge Ge­stalt und saß, halb männ­lich, halb weib­lich, – ein Herm­aphro­dit – auf ei­nem Thro­ne von Perl­mut­ter.

Und die Kro­ne des Herm­aphro­di­ten en­de­te in ei­nem Brett aus ro­tem Holz; dar­ein hat­te der Wurm der Zer­stö­rung ge­heim­nis­vol­le Ru­nen ge­nagt.

In ei­ner Staub­wol­ke kam ei­lig hin­ter­drein­ge­trap­pelt eine Her­de klei­ner, blin­der Scha­fe: die Fut­ter­tie­re, die der gi­gan­ti­sche Zwit­ter in sei­nem Ge­fol­ge führ­te, sei­ne Ko­ry­ban­ten­schar am Le­ben zu er­hal­ten.

Zu­wei­len wa­ren un­ter den Ge­stal­ten, die aus dem un­sicht­ba­ren Mun­de ström­ten, et­li­che, die ka­men aus Grä­bern, – Tü­cher vor dem Ge­sicht.

Und blie­ben sie vor mir ste­hen, lie­ßen sie plötz­lich ihre Hül­len fal­len und starr­ten mit Raub­tierau­gen hung­rig auf mein Herz, daß ein ei­si­ger Schreck mir ins Hirn fuhr und sich mein Blut zu­rück­stau­te wie ein Strom, in den Fels­blö­cke vom Him­mel her­nie­der­ge­fal­len sind – plötz­lich und mit­ten in sein Bet­te. –

Eine Frau schweb­te an mir vor­bei. Ich sah ihr Ant­litz nicht, sie wand­te es ab, und sie trug einen Man­tel aus flie­ßen­den Trä­nen. –

Mas­ken­zü­ge tanz­ten vor­über, lach­ten und küm­mer­ten sich nicht um mich.

Nur ein Pier­rot sieht sich nach­denk­lich um nach mir und kehrt zu­rück. Pflanzt sich vor mich hin und blickt in mein Ge­sicht hin­ein, als sei es ein Spie­gel.

Er schnei­det so selt­sa­me Gri­mas­sen, hebt und be­wegt sei­ne Arme, bald zö­gernd, bald blitz­schnell, daß sich mei­ner ein ge­spens­ti­ger Trieb be­mäch­tigt ihn nach­zuah­men, mit den Au­gen zu zwin­kern, mit den Ach­seln zu zu­cken und die Mund­win­kel zu ver­zie­hen.

Da sto­ßen ihn un­ge­dul­dig nach­drän­gen­de Ge­stal­ten zur Sei­te, die alle vor mei­ne Bli­cke wol­len.

Doch kei­nes der We­sen hat Be­stand.

Glei­ten­de Per­len sind sie, auf eine Sei­den­schnur ge­reiht, die ein­zel­nen Töne nur ei­ner Me­lo­die, die dem un­sicht­ba­ren Mund ent­strö­men.

Das war kein Buch mehr, das zu mir sprach. Das war eine Stim­me. Eine Stim­me, die et­was von mir woll­te, was ich nicht be­griff; wie sehr ich mich auch ab­müh­te. Die mich quäl­te mit bren­nen­den, un­ver­ständ­li­chen Fra­gen.

Die Stim­me aber, die die­se sicht­ba­ren Wor­te re­de­te, war ab­ge­stor­ben und ohne Wi­der­hall.

Je­der Laut, der in der Welt der Ge­gen­wart er­klingt, hat vie­le Echos, wie jeg­li­ches Ding einen großen Schat­ten hat und vie­le klei­ne Schat­ten, doch die­se Stim­me hat­te kei­ne Echos mehr, – lan­ge, lan­ge schon sind sie wohl ver­weht und ver­k­lun­gen. – – –

Und bis zu Ende hat­te ich das Buch ge­le­sen und hielt es noch in den Hän­den, da war mir, als hät­te ich su­chend in mei­nem Ge­hirn ge­blät­tert und nicht in ei­nem Bu­che! – –

Al­les, was mir die Stim­me ge­sagt, hat­te ich, seit ich leb­te, in mir ge­tra­gen, nur ver­deckt war es ge­we­sen und ver­ges­sen und hat­te sich vor mei­nem Den­ken ver­steckt ge­hal­ten bis auf den heu­ti­gen Tag. –

Ich blick­te auf.

Wo war der Mann, der mir das Buch ge­bracht hat­te?

Fort­ge­gan­gen!?

Wird er es ho­len, wenn es fer­tig ist?

Oder soll­te ich es ihm brin­gen? –

Aber ich konn­te mich nicht er­in­nern, daß er ge­sagt hät­te, wo er woh­ne.

Ich woll­te mir sei­ne Er­schei­nung ins Ge­dächt­nis zu­rück­ru­fen, doch es miß­lang.

Wie war er nur ge­klei­det ge­we­sen? War er alt, war er jung? – Und wel­che Far­ben hat­ten sein Haar und sein Bart ge­habt?

Nichts, gar nichts mehr konn­te ich mir vor­stel­len. – Alle Bil­der, die ich mir von ihm schuf, zer­ran­nen halt­los, noch ehe ich sie im Geis­te zu­sam­men­zu­set­zen ver­moch­te.

Ich schloß die Au­gen und preß­te die Hand auf die Li­der, um einen win­zi­gen Teil nur sei­nes Bild­nis­ses zu er­ha­schen.

Nichts, nichts.

Ich stell­te mich hin, mit­ten ins Zim­mer, und blick­te auf die Tür, wie ich es ge­tan – vor­hin, als er ge­kom­men war, und mal­te mir aus: jetzt biegt er um die Ecke, jetzt schrei­tet er über den Zie­gel­stein­bo­den, liest jetzt drau­ßen mein Tür­schild »Atha­na­si­us Per­nath« und jetzt tritt er her­ein.

Ver­ge­bens.

Nicht die lei­ses­te Spur ei­ner Erin­ne­rung, wie sei­ne Ge­stalt aus­ge­se­hen, woll­te in mir er­wa­chen.

Ich sah das Buch auf dem Ti­sche lie­gen und wünsch­te mir im Geis­te die Hand dazu, die es aus der Ta­sche ge­zo­gen und mir ge­reicht hat­te.

Nicht ein­mal, ob sie einen Hand­schuh ge­tra­gen, ob sie ent­blö­ßt ge­we­sen, ob jung oder runz­lig, mit Rin­gen ge­schmückt oder nicht, konn­te ich mich ent­sin­nen.

Da kam mir ein selt­sa­mer Ein­fall.

Wie eine Ein­ge­bung war es, der man nicht wi­der­ste­hen darf.

Ich zog mei­nen Man­tel an, setz­te mei­nen Hut auf und ging hin­aus auf den Gang und die Trep­pen hin­ab. Dann kam ich lang­sam wie­der zu­rück in mein Zim­mer.

Lang­sam, ganz lang­sam, so wie er, als er ge­kom­men war. Und als ich die Tür öff­ne­te, da sah ich, daß mei­ne Kam­mer voll Däm­me­rung lag. War es denn nicht hel­ler Tag noch ge­we­sen, als ich so­eben hin­aus­ging?

Wie lan­ge muß­te ich da ge­grü­belt ha­ben, daß ich nicht be­merk­te, wie spät es ist!

Und ich ver­such­te den Un­be­kann­ten nach­zuah­men in Gang und Mie­nen und konn­te mich an sie doch gar nicht er­in­nern. –

Wie soll­te es mir auch glücken, ihn nach­zuah­men, wenn ich kei­nen An­halts­punkt mehr hat­te, wie er aus­ge­se­hen ha­ben moch­te.

Aber es kam an­ders. Ganz an­ders, als ich dach­te.

Mei­ne Haut, mei­ne Mus­keln, mein Kör­per er­in­ner­ten sich plötz­lich, ohne es dem Ge­hirn zu ver­ra­ten. Sie mach­ten Be­we­gun­gen, die ich nicht wünsch­te und nicht be­ab­sich­tig­te.

Als ob mei­ne Glie­der nicht mehr mir ge­hör­ten!

Mit ei­nem Male war mein Gang tap­pend und fremd­ar­tig ge­wor­den, als ich ein paar Schrit­te im Zim­mer mach­te.

Das ist der Gang ei­nes Men­schen, der be­stän­dig im Be­grif­fe ist, vorn­über zu fal­len, sag­te ich mir.

Ja, ja, ja, so war sein Gang!

Ganz deut­lich wuß­te ich: so ist er.

Ich trug ein frem­des, bart­lo­ses Ge­sicht mit her­vor­ste­hen­den Ba­cken­kno­chen und schau­te aus schräg­ste­hen­den Au­gen.

Ich fühl­te es und konn­te mich doch nicht se­hen.

Das ist nicht mein Ge­sicht, woll­te ich ent­setzt auf­schrei­en, woll­te es be­tas­ten, doch mei­ne Hand folg­te mei­nem Wil­len nicht und senk­te sich in die Ta­sche und hol­te ein Buch her­vor.

Ganz so, wie er es vor­hin ge­tan hat­te. –

Da plötz­lich sit­ze ich wie­der ohne Hut, ohne Man­tel, am Ti­sche und bin ich. Ich, ich.

Atha­na­si­us Per­nath.

Grau­sen und Ent­set­zen schüt­tel­ten mich, mein Herz ras­te zum Zer­sprin­gen, und ich fühl­te: ge­spens­ti­sche Fin­ger, die so­eben noch in mei­nem Ge­hirn her­um­ge­tas­tet, ha­ben von mir ab­ge­las­sen.

Noch spür­te ich im Hin­ter­kopf die kal­ten Spu­ren ih­rer Berüh­rung. –

Nun wuß­te ich, wie der Frem­de war, und ich hät­te ihn wie­der in mir füh­len kön­nen, – je­den Au­gen­blick – wenn ich nur ge­wollt hät­te; aber sein Bild mir vor­zu­stel­len, daß ich es vor mir se­hen wür­de Auge in Auge – das ver­moch­te ich noch im­mer nicht und wer­de es auch nie kön­nen.

Es ist wie ein Ne­ga­tiv, eine un­sicht­ba­re Hohl­form, er­kann­te ich, de­ren Li­ni­en ich nicht er­fas­sen kann – in die ich sel­ber hin­ein­schlüp­fen muß, wenn ich mir ih­rer Ge­stalt und ih­res Aus­drucks im ei­ge­nen Ich be­wußt wer­den will – –

In der Schub­la­de mei­nes Ti­sches stand eine ei­ser­ne Kas­set­te; – in die­se woll­te ich das Buch sper­ren und erst, wenn der Zu­stand der geis­ti­gen Krank­heit von mir ge­wi­chen sein wür­de, woll­te ich es wie­der her­vor­ho­len und an die Aus­bes­se­rung des zer­bro­che­nen Ini­tia­len ›I‹ ge­hen.

Und ich nahm das Buch vom Tisch.

Da war mir, als hät­te ich es gar nicht an­ge­faßt; ich griff die Kas­set­te an: das­sel­be Ge­fühl. Als müß­te das Ta­st­emp­fin­den eine lan­ge, lan­ge Stre­cke voll tiefer Dun­kel­heit durch­lau­fen, ehe es in mei­nem Be­wußt­sein mün­de­te, als sei­en die Din­ge durch eine jah­res­große Zeit­schicht von mir ent­fernt und ge­hör­ten ei­ner Ver­gan­gen­heit an, die längst an mir vor­über­ge­zo­gen!

Die Stim­me, die nach mir su­chend in der Fins­ter­nis kreist, um mich mit dem fet­ti­gen Stein zu quä­len, ist an mir vor­bei­ge­kom­men und hat mich nicht ge­se­hen. Und ich weiß, daß sie aus dem Rei­che des Schla­fes stammt. Aber was ich er­lebt, das war wirk­li­ches Le­ben, – dar­um konn­te sie mich nicht se­hen und sucht ver­geb­lich nach mir, füh­le ich.

Prag

Ne­ben mir stand der Stu­dent Cha­rou­sek, den Kra­gen sei­nes dün­nen, fa­den­schei­ni­gen Über­zie­hers auf­ge­schla­gen, und ich hör­te, wie ihm vor Käl­te die Zäh­ne auf­ein­an­der­schlu­gen.

Er kann sich den Tod ho­len in die­sem zu­gi­gen, ei­si­gen Tor­bo­gen, sag­te ich mir, und ich for­der­te ihn auf, mit hin­über in mei­ne Woh­nung zu kom­men.

Er aber lehn­te ab.

»Ich dan­ke Ih­nen, Meis­ter Per­nath«, mur­mel­te er frös­telnd, »lei­der habe ich nicht mehr so viel Zeit üb­rig; – ich muß eilends in die Stadt. – Auch wür­den wir bis auf die Haut naß, wenn wir jetzt auf die Gas­se tre­ten woll­ten – schon nach we­ni­gen Schrit­ten! – – Der Platz­re­gen will nicht schwä­cher wer­den!«

Die Was­ser­schau­er feg­ten über die Dä­cher hin und lie­fen an den Ge­sich­tern der Häu­ser her­un­ter wie ein Trä­nen­strom.

Wenn ich den Kopf ein we­nig vor­bog, konn­te ich da drü­ben im vier­ten Stock mein Fens­ter se­hen, das, vom Re­gen über­rie­selt, aus­sah, als sei­en sei­ne Schei­ben auf­ge­weicht, – un­durch­sich­tig und höcke­rig ge­wor­den wie Hau­sen­bla­se.

Ein gel­ber Schmutz­bach floß die Gas­se her­ab, und der Tor­bo­gen füll­te sich mit Vor­über­ge­hen­den, die alle das Nach­las­sen des Un­wet­ters ab­war­ten woll­ten.

»Dort schwimmt ein Braut­bu­kett«, sag­te plötz­lich Cha­rou­sek und deu­te­te auf einen Strauß aus wel­ken Myr­ten, der in dem Schmutz­was­ser vor­bei­ge­trie­ben kam.

Dar­über lach­te je­mand hin­ter uns laut auf.

Als ich mich um­dreh­te, sah ich, daß es ein al­ter, vor­nehm ge­klei­de­ter Herr mit weißem Haar und ei­nem auf­ge­dun­se­nen, krö­ten­ar­ti­gen Ge­sicht ge­we­sen war.

Cha­rou­sek blick­te eben­falls einen Au­gen­blick zu­rück und brumm­te et­was vor sich hin.

Un­an­ge­neh­mes ging von dem Al­ten aus; – ich wand­te mei­ne Auf­merk­sam­keit von ihm ab und mus­ter­te die miß­far­bi­gen Häu­ser, die da vor mei­nen Au­gen wie ver­dros­se­ne alte Tie­re im Re­gen ne­ben­ein­an­der hock­ten.

Wie un­heim­lich und ver­kom­men sie alle aus­sa­hen!

Ohne Über­le­gung hin­ge­baut stan­den sie da, wie Un­kraut, das aus dem Bo­den dringt.

An eine nied­ri­ge, gel­be Stein­mau­er, den ein­zi­gen stand­hal­ten­den Über­rest ei­nes frü­he­ren, lang­ge­streck­ten Ge­bäu­des, hat man sie an­ge­lehnt – vor zwei, drei Jahr­hun­der­ten, wie es eben kam, ohne Rück­sicht auf die üb­ri­gen zu neh­men. Dort ein hal­b­es, schief­wink­li­ges Haus mit zu­rück­sprin­gen­der Stirn; – ein andres da­ne­ben: vor­ste­hend wie ein Eck­zahn.

Un­ter dem trü­ben Him­mel sa­hen sie aus, als lä­gen sie im Schlaf, und man spül­te nichts von dem tücki­schen, feind­se­li­gen Le­ben, das zu­wei­len von ih­nen aus­strahlt, wenn der Ne­bel der Herb­sta­ben­de in den Gas­sen liegt und ihr lei­ses, kaum merk­li­ches Mie­nen­spiel ver­ber­gen hilft.

In dem Men­schen­al­ter, das ich nun hier woh­ne, hat sich der Ein­druck in mir fest­ge­setzt, den ich nicht los­wer­den kann, als ob es ge­wis­se Stun­den des Nachts und im frü­he­s­ten Mor­gen­grau­en für sie gäbe, wo sie er­regt eine laut­lo­se, ge­heim­nis­vol­le Be­ra­tung pfle­gen. Und manch­mal fährt da ein schwa­ches Be­ben durch ihre Mau­ern, das sich nicht er­klä­ren läßt, Geräusche lau­fen über ihre Dä­cher und fal­len in den Re­gen­rin­nen nie­der, – und wir neh­men sie mit stump­fen Sin­nen acht­los hin, ohne nach ih­rer Ur­sa­che zu for­schen.

Oft träum­te mir, ich hät­te die­se Häu­ser be­lauscht in ih­rem spuk­haf­ten Trei­ben und mit angst­vol­lem Stau­nen er­fah­ren, daß sie die heim­li­chen, ei­gent­li­chen Her­ren der Gas­se sei­en, sich ih­res Le­bens und Füh­lens ent­äu­ßern und es wie­der an sich zie­hen kön­nen, – es tags­über den Be­woh­nern, die hier hau­sen, bor­gen, um es in kom­men­der Nacht mit Wu­cher­zin­sen wie­der zu­rück­zu­for­dern.

Und las­se ich die selt­sa­men Men­schen, die in ih­nen woh­nen wie Sche­men, wie We­sen – nicht von Müt­tern ge­bo­ren, – die in ih­rem Den­ken und Tun wie aus Stücken wahl­los zu­sam­men­ge­fügt schei­nen, im Geis­te an mir vor­über­zie­hen, so bin ich mehr denn je ge­neigt zu glau­ben, daß sol­che Träu­me in sich dunkle Wahr­hei­ten ber­gen, die mir im Wach­sein nur noch wie Ein­drücke von far­bi­gen Mär­chen in der See­le fort­glim­men.

Dann wacht in mir heim­lich die Sage von dem ge­spens­ti­schen Go­lem, je­nem künst­li­chen Men­schen, wie­der auf, den einst hier im Get­to ein kab­ba­la­kun­di­ger Rab­bi­ner aus dem Ele­men­te form­te und ihn zu ei­nem ge­dan­ken­lo­sen au­to­ma­ti­schen Da­sein be­rief, in­dem er ihm ein ma­gi­sches Zah­len­wort hin­ter die Zäh­ne schob.

Und wie je­ner Go­lem zu ei­nem Lehm­bild in der­sel­ben Se­kun­de er­starr­te, in der die ge­hei­me Sil­be des Le­bens aus sei­nem Mun­de ge­nom­men ward, so müß­ten auch, dünkt mich, alle die­se Men­schen ent­seelt in ei­nem Au­gen­blick zu­sam­men­fal­len, lösch­te man ir­gend­ei­nen win­zi­gen Be­griff, ein ne­ben­säch­li­ches Stre­ben, viel­leicht eine zweck­lo­se Ge­wohn­heit bei dem einen, bei ei­nem an­dern gar nur ein dump­fes War­ten auf et­was gänz­lich Un­be­stimm­tes, Halt­lo­ses – in ih­rem Hirn aus.

Was ist da­bei für ein im­mer­wäh­ren­des, schreck­haf­tes Lau­ern in die­sen Ge­schöp­fen!

Nie­mals sieht man sie ar­bei­ten, die­se Men­schen, und den­noch sind sie früh beim ers­ten Leuch­ten des Mor­gens wach und war­ten mit an­ge­hal­te­nem Atem – wie auf ein Op­fer, das doch nie kommt.

Und hat es wirk­lich ein­mal den An­schein, als trä­te je­mand in ih­ren Be­reich, ir­gend­ein Wehr­lo­ser, an dem sie sich be­rei­chern könn­ten, dann fällt plötz­lich eine läh­men­de Angst über sie her, scheucht sie in ihre Win­kel zu­rück und läßt sie von jeg­li­chem Vor­ha­ben zit­ternd ab­ste­hen.

Nie­mand scheint schwach ge­nug, daß ih­nen noch so viel Mut blie­be, sich sei­ner zu be­mäch­ti­gen.

»Ent­ar­te­te, zahn­lo­se Raub­tie­re, von de­nen die Kraft und die Waf­fe ge­nom­men ist«, sag­te Cha­rou­sek zö­gernd und sah mich an. –

Wie konn­te er wis­sen, wor­an ich dach­te? –

So stark facht man zu­wei­len sei­ne Ge­dan­ken an, daß sie im­stan­de sind, auf das Ge­hirn des Ne­ben­ste­hen­den über­zu­sprin­gen wie sprü­hen­de Fun­ken, fühl­te ich.

»– – – wo­von sie nur le­ben mö­gen?« sag­te ich nach ei­ner Wei­le.

»Le­ben? Wo­von? Man­cher un­ter ih­nen ist ein Mil­lio­när!«

Ich blick­te Cha­rou­sek an. Was konn­te er da­mit mei­nen!

Der Stu­dent aber schwieg und sah nach den Wol­ken.

Für einen Au­gen­blick hat­te das Stim­men­ge­mur­mel in dem Tor­bo­gen ge­stockt, und man hör­te bloß das Zi­schen des Re­gens.

Was er nur da­mit sa­gen will: »Man­cher un­ter ih­nen ist ein Mil­lio­när!?«

Wie­der war es, als hät­te Cha­rou­sek mei­ne Ge­dan­ken er­ra­ten. Er wies nach dem Tröd­ler­la­den ne­ben uns, an dem das Was­ser den Rost des Ei­sen­ge­rüm­pels in flie­ßen­den, braun­ro­ten Pfüt­zen vor­bei­spül­te.

»Aaron Was­ser­trum! Er zum Bei­spiel ist Mil­lio­när, – fast ein Drit­tel der Ju­den­stadt ist sein Be­sitz. Wis­sen Sie es denn nicht, Herr Per­nath?!«

Mir blieb förm­lich der Atem im Mund ste­cken. »Aaron Was­ser­trum! Der Tröd­ler Aaron Was­ser­trum Mil­lio­när?!«

»Oh, ich ken­ne ihn ge­nau«, fuhr Cha­rou­sek ver­bis­sen fort, und als hät­te er nur dar­auf ge­war­tet, daß ich ihn fra­ge. »Ich kann­te auch sei­nen Sohn, den Dr. Was­so­ry. Ha­ben Sie nie von ihm ge­hört? Von Dr. Was­so­ry, dem – be­rühm­ten – Au­gen­arzt? – Vor ei­nem Jahr noch hat die gan­ze Stadt be­geis­tert von ihm ge­spro­chen, – von dem großen – – Ge­lehr­ten. Nie­mand wuß­te da­mals, daß er sei­nen Na­men ab­ge­legt und frü­her Was­ser­trum ge­hei­ßen. – Er spiel­te sich ger­ne auf den wei­t­ab­ge­wand­ten Mann der Wis­sen­schaft hin­aus, und wenn ein­mal auf Her­kunft die Rede kam, warf er be­schei­den und tief­be­wegt so mit hal­b­en Wor­ten hin, daß sein Va­ter noch aus dem Get­to stam­me, – sich aus den nied­rigs­ten An­fän­gen her­aus un­ter Kum­mer al­ler Art und un­säg­li­chen Sor­gen em­por ans Licht habe ar­bei­ten müs­sen.

Ja! Un­ter Kum­mer und Sor­gen!

Un­ter wes­sen Kum­mer und un­säg­li­chen Sor­gen aber und mit wel­chen Mit­teln, das hat er nicht dazu ge­sagt!

Ich aber weiß, was es mit dem Get­to für eine Be­wandt­nis hat!« Cha­rou­sek faß­te mei­nen Arm und schüt­tel­te ihn hef­tig.

»Meis­ter Per­nath, ich bin so arm, daß ich es selbst kaum mehr be­grei­fe; ich muß halb­nackt ge­hen wie ein Va­ga­bund, se­hen Sie her, und ich bin doch Stu­dent der Me­di­zin, – bin doch ein ge­bil­de­ter Mensch!«

Er riß sei­nen Über­zie­her auf und ich sah zu mei­nem Ent­set­zen, daß er we­der Hemd noch Rock an­hat­te und den Man­tel über der nack­ten Haut trug.

»Und so arm war ich be­reits, als ich die­se Bes­tie, die­sen all­mäch­ti­gen, an­ge­se­he­nen Dr. Was­so­ry zu Fall brach­te, – und noch heu­te ahnt kei­ner, daß ich, ich der ei­gent­li­che Ur­he­ber war.

Man meint in der Stadt, ein ge­wis­ser Dr. Sa­vio­li sei es ge­we­sen, der sei­ne Prak­ti­ken ans Ta­ges­licht ge­zo­gen und ihn dann zum Selbst­mord ge­trie­ben hat. – Dr. Sa­vio­li war nichts als mein Werk­zeug, sage ich Ih­nen. Ich al­lein habe den Plan er­dacht und das Ma­te­ri­al zu­sam­men­ge­tra­gen, habe die Be­wei­se ge­lie­fert und lei­se und un­merk­lich Stein um Stein in dem Ge­bäu­de Dr. Was­so­rys ge­lo­ckert, bis der Zu­stand er­reicht war, wo kein Geld der Erde, kei­ne List des Get­tos mehr ver­mocht hät­ten, den Zu­sam­men­bruch, zu dem es nur noch ei­nes un­merk­li­chen An­sto­ßes be­durf­te, ab­zu­wen­den.

Wis­sen Sie, so – so wie man Schach spielt.

Gera­de so wie man Schach spielt.

Und nie­mand weiß, daß ich es war!

Den Tröd­ler Aaron Was­ser­trum, den läßt wohl manch­mal eine furcht­ba­re Ah­nung nicht schla­fen, daß ei­ner, den er nicht kennt, der im­mer in sei­ner Nähe ist und den er doch nicht fas­sen kann, – ein an­de­rer als Dr. Sa­vio­li – die Hand im Spie­le ge­habt ha­ben müs­se.

Wie­wohl Was­ser­trum ei­ner von je­nen ist, de­ren Au­gen durch Mau­ern zu schau­en ver­mö­gen, so faßt er es doch nicht, daß es Ge­hir­ne gibt, die aus­zu­rech­nen im­stan­de sind, wie man mit lan­gen, un­sicht­ba­ren, ver­gif­te­ten Na­deln durch sol­che Mau­ern ste­chen kann, an Qua­dern, an Gold und Edel­stei­nen vor­bei, um die ver­bor­ge­ne Le­bens­ader zu tref­fen.«

Und Cha­rou­sek schlug sich vor die Stirn und lach­te wild.

»Aaron Was­ser­trum wird es bald er­fah­ren; ge­nau an dem Tage, an dem er Dr. Sa­vio­li an den Hals will! Genau an dem­sel­ben Tage!

Auch die­se Schach­par­tie habe ich aus­ge­rech­net bis zum letz­ten Zug. – Dies­mal wird es ein Kö­nigs­läu­fer­gam­bit sein. Da gibt es kei­nen ein­zi­gen Zug bis zum bit­tern Ende, ge­gen den ich nicht eine ver­derb­li­che Ent­geg­nung wüß­te.

Wer sich mit mir in ein sol­ches Kö­nigs­läu­fer­gam­bit ein­läßt, der hängt in der Luft, sage ich Ih­nen, wie eine hilflo­se Ma­rio­net­te an fei­nen Fä­den, – an Fä­den, die ich zup­fe, – hö­ren Sie wohl, die ich zup­fe, und mit des­sen frei­em Wil­len ist’s da­hin.«

Der Stu­dent re­de­te wie im Fie­ber, und ich sah ihm ent­setzt ins Ge­sicht.

»Was ha­ben Ih­nen Was­ser­trum und sein Sohn denn ge­tan, daß Sie so voll Haß sind?«

Cha­rou­sek wehr­te hef­tig ab:

»Las­sen wir das – fra­gen Sie lie­ber, was Dr. Was­so­ry den Hals ge­bro­chen hat! – Oder wün­schen Sie, daß wir ein andres Mal dar­über spre­chen? – Der Re­gen hat nach­ge­las­sen. Vi­el­leicht wol­len Sie nach Hau­se ge­hen?«

Er senk­te sei­ne Stim­me, wie je­mand, der plötz­lich ganz ru­hig wird. Ich schüt­tel­te den Kopf.

»Ha­ben Sie je­mals ge­­­­­­­­­­­­­­­