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Jörg Link

SCHRECKMOMENTE
DER MENSCHHEIT

Jörg Link

Schreckmomente
der Menschheit

Wie der Zufall Geschichte schreibt

Tectum

Jörg Link

Schreckmomente der Menschheit.
Wie der Zufall Geschichte schreibt

 

Tectum Verlag Marburg, 2015

 

ISBN 978-3-8288-6211-1

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter

der ISBN 978-3-8288-3533-7 im Tectum Verlag erschienen.)

 

 

Lektorat: Volker Manz

 

 

Umschlagabbildung: Besuch Mussolinis bei Hitler im Führerhauptquartier Wolfsschanze bei Rastenburg (Ostpreußen) unmittelbar nach dem Attentatsversuch vom 20. Juli 1944 (Originalbeschreibung des Bundesarchivs), Bundesarchiv, Bild 146-1969-071A-03 / CC-BY-SA

 

 

 

Besuchen Sie uns im Internet

www.tectum-verlag.de

 

 

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Inhalt

Einführung

Teil I / »Am Ende hatten wir einfach Glück«

1.Am Rande eines Atomkrieges

2.27. Oktober 1962

»Vielleicht hat der Krieg oben schon begonnen«

3.26. September 1983

Der vermeintliche Erstschlag der USA

Teil II / War der Erste Weltkrieg unvermeidlich?

4.Zur Bewusstseinslage der Herrschenden

5.28. Juni 1914

Sarajewo hätte nicht stattfinden müssen

6.28. Juli 1914

Sinneswandel ohne Konsequenzen

Teil III / Wie ein Diktator durch »glückliche Zufälle« gerettet wurde

7.Hitler und das Prinzip »Risiko«

8.Zweifel am Risikokurs

9.28. September 1938

Ein Telefonanruf in letzter Stunde

10.5. November 1939

Mit halbem Herzen

11.8. November 1939

Dreizehn Minuten zu spät

12.Die lange Pause im Widerstand

13.13. März 1943

Ein Zündhütchen spielt Schicksal

14.21. März 1943

Wie von Ahnungen gehetzt

15.11. März 1944

Heute kein Zutritt

16.20. Juli 1944

Ein Zufall zu viel

Teil IV / Aus heiterem Himmel

17.Wenn die Natur zuschlägt

18.Asteroiden

Apophis und Toutakis lassen grüßen

19.Gammablitze

Die kosmischen Schneidbrenner

20.Supervulkane

Längst überfällig?

21.Seuchen

Vom »Patienten Zero« zur Menschheitsbedrohung

Die Rolle des Zufalls – ein Fazit

Dank

Über den Autor

Anmerkungen

Literatur

Bildnachweis

Einführung

»Die Geschichtswissenschaft neigt zuweilen dazu, Dinge für zwangsläufig zu halten, nur weil sie passiert sind.«1 Und entsprechend wird zu wenig berücksichtigt, welche andere Richtung die Ereignisse hätten nehmen können, wenn die Umstände oder auch schlicht der Zufall es »gewollt« hätten.

Waren sowohl das Attentat von Sarajewo als auch sein »Erfolg« wirklich unvermeidbar, quasi vorbestimmt? Wie sind die Misserfolge aller Attentate auf Hitler zu verstehen? Und hat uns nicht mindestens zweimal im Kalten Krieg nur ein glücklicher Zufall vor dem atomaren Inferno gerettet?

»Im Rückblick scheint das Geschehen unausweichlich gewesen zu sein«.2 Im Bewusstsein der Menschen gibt es offensichtlich eine »Macht des Faktischen« auch dergestalt, dass man einer eingetretenen Entwicklung im Nachhinein einen Sinn, eine Zwangsläufigkeit zubilligt. Viele Menschen neigen dazu, das, was jeweils geschehen ist, so zu deuten und damit auch zu akzeptieren, dass sich die Dinge auf dieser Erde eben in eine bestimmte Richtung entwickeln.3

Längerfristige Entwicklungslinien gibt es durchaus – siehe das atomare Wettrüsten nach dem Zweiten Weltkrieg hin zu einem »Gleichgewicht des Schreckens«. Kriege schienen damit an sich nicht mehr führbar bzw. vorstellbar. Dies hatte sich im Großen und Ganzen auch »bewährt« – sofern man davon absieht, dass die Menschheit auf einmal an zwei bestimmten Tagen der Jahre 1962 und 1983 kurz vor der atomaren Katastrophe stand, die nur durch ein hohes Maß an »glücklichem Zufall« vermieden wurde.

Das vorliegende Buch behauptet also nicht, dass Geschichte generell zufallsgesteuert abläuft. Aber in zahlreichen Momenten der Weltgeschichte hat der Zufall eine große Rolle gespielt und wird dies wohl auch in Zukunft tun.

Besondere Aufmerksamkeit verdienen geschichtliche Katastrophen, z. B. die beiden Weltkriege. Die neuere Geschichtsschreibung zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges hat viel Forschungsleistung erbracht, welche die verhängnisvolle Bedeutung des Zufalls deutlich werden lässt. Dagegen haben die Beinahe-Katastrophen der Gegenwart, z. B. die gerade noch verhinderten Atomkriege 1962 und 1983, die Menschen weniger beschäftigt, als dies von der Sache her angemessen gewesen wäre. Immerhin hätte den 55 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges hier das Zehn- oder Hundertfache gegenübergestanden – und diese Drohung besteht täglich weiter.

Insbesondere die Kuba-Krise 1962 zeichnet dabei ein wahrhaft verstörendes Bild, das einer der Hauptakteure, nämlich der damalige US-Verteidigungsminister McNamara, in einem Interview wie folgt formuliert hat:

»Am Ende hatten wir einfach Glück. Nur durch Glück wurde ein Atomkrieg verhindert. Wir standen so kurz (McNamara hält Daumen und Zeigefinger einen Millimeter auseinander) davor.«4

Was McNamara hier »Glück« nennt und was man – zusammen mit seinem Gegenstück »Pech« – ebenso gut »Zufall« nennen kann, hat es in der Menschheitsgeschichte schon oft gegeben. Während das Attentat auf John. F. Kennedy gleich beim ersten Mal gelang, sind alle – je nach Zählweise 20 bis 40 – Attentate5 auf Hitler fehlgeschlagen. Dabei war es manchmal (z. B. zweimal in einer Märzwoche 1943) nur ein winziges Zündhütchen, das versagte, oder es fehlten nur 10 Minuten. Auch beim Attentat von Elser 1939 waren es gerade einmal 13 Minuten – 55 Millionen Menschen haben im weiteren Verlauf des Zweiten Weltkrieges ihr Leben verloren.

Das vorliegende Buch greift solche Momente auf, in denen die Menschheit als Ganzes oder in Teilen auf dem Spiel stand. Es wird näher untersucht, wie sich der »Zufall« dabei konkret manifestiert hat. Für den einzelnen Menschen gewinnt dies Bedeutung dadurch, dass er sich der drohenden Gefahren bewusster wird und zwei Schlüsse ziehen kann: Zum einen sollte er durch Teilnahme an politischen Prozessen daran mitwirken, solche Gefahren möglichst abzuwenden – hier steht das Beispiel einer unbeabsichtigten bzw. fahrlässigen Auslösung eines Atomkrieges vor Augen. Zum anderen kann er verstärkt dafür Sorge tragen, dass sein Leben und das seiner Mitmenschen positiver und bewusster gestaltet wird, solange ihm Zeit dafür bleibt.

Was ist »Zufall«?

Unter »Zufall« soll das meist »im Einzelnen wohl kausal bedingte, aber absichtslose, unvorhergesehene, unbestimmbare, plan- oder regellose Zusammentreffen bzw. Eintreten von […] Ereignissen«6 verstanden werden. Es ist in diesem Zusammenhang irrelevant, ob Ereignisse kausal bedingt bzw. erklärbar sind, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen.

Vorgänge wie Würfeln, Spielkarten-Austeilen sowie das Rollen der Roulettekugel und der Kugeln beim Ziehen der Lottozahlen gelten allgemein als zufällige Abläufe. Andernfalls würde man die Ergebnisse ja auch nicht akzeptieren und im Zweifelsfall gegen die Lottoziehung sogar gerichtlich vorgehen. In Wirklichkeit gehorchen derartige Abläufe aber den Gesetzen der Physik. Deren konkretes Wirken – z. B. beim Rollen der Lottokugeln – ist allerdings so komplex, dass eine kausale Erklärung oder gar Vorhersage aussichtslos erscheint.

Oder zwei Personen sitzen zufällig in einem Eisenbahnabteil nebeneinander, die vorher noch nie Kontakt miteinander hatten, unterhalten sich, lernen sich näher kennen und heiraten.7 Dieses Kennenlernen und Heiraten ist insoweit zufallsgesteuert, als es ohne das zufällige Aufeinandertreffen im Abteil nicht hätte erfolgen können. Daran ändert auch nichts, dass Verhaltenswissenschaftler oder die beteiligten Personen selbst unter Umständen sehr wohl genaue Gründe angeben könnten, warum jede der beiden Personen gerade dieses Abteil gewählt hat. Objektiv wäre das Zusammentreffen im Sinne der Verhaltenswissenschaften damit also durchaus kausal erklärbar; im Erlebnis der Beteiligten ist und bleibt es aber ein – in diesem Fall glücklicher – Zufall.

Wenn der Mensch im Rückblick das Gefühl hat, dass »es ebenso gut auch anders hätte kommen können«, dann ist dies charakteristisch für solche Situationen. »Glück gehabt«, »Pech gehabt« sind typische Kommentare.

Entsprechende Situationen kommen im Leben außerordentlich häufig vor.8 Mit welchen anderen Verkehrsteilnehmern wir gleichzeitig auf der Autobahn unterwegs sind, entzieht sich sowohl unserer Kenntnis als auch unserer Einflussnahme; ein Unfall offenbart dann die Zufälligkeit des Aufeinandertreffens (hier durchaus auch wörtlich gemeint) zweier Verkehrsteilnehmer. So verhält es sich eigentlich immer, wenn wir unser Haus verlassen, neue Menschen kennenlernen oder Ereignissen ausgesetzt sind, die wir nicht vorhergesehen oder geplant haben. Wenn man sich dies bewusst macht, beschleicht einen rasch das Gefühl, man sei mit seinem Schicksal (verstanden als »das, was dem Menschen widerfährt«9) Zufällen ausgeliefert.

Wie mit dem Zufall umgehen?

Zufälliges Ausgeliefertsein ist nun kein absolut neuer, aber immer wieder neu irritierender Gedanke. Das Bewusstsein, dass sich der Einzelne in einer individuellen Lage oder aber als Teil einer massiv bedrohten Menschheit der jederzeit möglichen Auslöschung gegenübersieht, ist schon schwer genug zu ertragen und wird daher von den meisten Menschen auch verdrängt. Noch schwerer aber ist es für viele Menschen auszuhalten, dass dies in einem erheblichen Maße nach dem Prinzip des Zufalls geschehen kann, wie die dramatischen Beispiele dieses Buches zeigen.

Wie können Menschen diese Erkenntnis bewältigen? Viele Menschen finden Trost in einem trotz allem ungebrochenen Glauben an das Vorhandensein höherer Sinngebungen, die sich uns Menschen bei solchen zufälligen Katastrophen eben nur unvollkommen erschließen würden. Ist es aber wirklich tröstlicher, die in diesem Buch behandelten großen Katastrophen und die vielen »kleineren« unseres persönlichen Lebens als vorbestimmt und damit unvermeidbar zu verstehen? Das muss der einzelne Mensch letztlich mit sich selbst ausmachen.

Jedenfalls können oder wollen immer mehr Menschen sich mit dem Gedanken einer Vorherbestimmung nicht trösten lassen, da gerade durch solche Katastrophen wie z. B. die beiden Weltkriege mit ihren 72 Millionen Toten und den unsäglichen Konsequenzen auch für die Überlebenden der Glaube an eine vorherbestimmte Sinngebung verloren gegangen ist.

In ihren Augen kommt es in erster Linie darauf an, aus solchen Ereignissen die notwendigen Lehren zu ziehen und auf dieser Basis für strukturelle Begrenzungen solcher »Zufälle« Sorge zu tragen. Im politischen Bereich sind dies z. B. Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pressefreiheit, Völkerverständigung, Abrüstung, im gesellschaftlichen Bereich insbesondere Erziehung zur Humanität, Selbstverantwortung, Mitverantwortung, Zivilcourage.

Trotz aller Bemühungen wird in jedem Fall ein erhebliches »Restrisiko« bleiben – nicht nur bei den in diesem Buch geschilderten Katastrophen aus dem All. Hier bleibt dann nur die Konsequenz, jeden Tag des Lebens als wertvolles Geschenk des »Schicksals« zu sehen und zu nutzen. In diesem Sinne soll dieses Buch nicht nur aufrütteln, sondern auch ermuntern.

Zur Vorgehensweise des Verfassers

Das Buch gliedert sich in vier Teile. Als erster Teil wurden zwei Episoden aus dem Kalten Krieg ausgewählt. Sie stehen aus zwei Gründen am Anfang des Buches: Zum einen beleuchten sie Situationen, wie sie auch heute jederzeit auftreten können. Sie werfen den Leser gewissermaßen mitten hinein in die Gegenwart. Zum zweiten geben sie eine Vorstellung von dem größtmöglichen Schaden, den der Zufall verursachen kann, nämlich die Auslöschung der gesamten Menschheit binnen weniger Tage oder Wochen.

Die nächsten beiden Teile knüpfen an den Ersten und Zweiten Weltkrieg an – als den bislang größten von Menschen erlebten Katastrophen. Niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte hatte es Weltkriege gegeben. Wie dargestellt, hätte sie der Zufall verhindern oder – im Fall des Zweiten Weltkrieges – auch erheblich abkürzen können.

Der vierte und letzte Teil ist zufälligen Bedrohungen aus der Natur gewidmet. Neben den Auslöschungsvorgängen, die das irdische Leben in der Vergangenheit erfahren hat, wird auch die Frage nach der künftigen Bedrohung der Menschen gestellt.

Jedem der vier Teile ist ein Einführungskapitel vorangestellt. Es liefert Informationen zur Ausgangssituation und zu den Akteuren. Dann folgen typischerweise szenische Darstellungen der Einwirkung des Zufalls. Sie werden jeweils ergänzt durch Zusatzinformationen nach dem Motto »Wie es dazu kam« oder »Was sonst noch passierte«.

Ein besonderer Akzent bei der Frage »Wie es dazu kam« liegt auf der verhängnisvollen Rolle falscher Führungsentscheidungen.10 Ausgehend von Erkenntnissen und Prinzipien der wissenschaftlichen Führungslehre werden Ziele, Instrumente und Abläufe von Führungsprozessen kritisch beleuchtet. Dabei wurde der Wert der im Buch angesprochenen Führungsgrundsätze und -prinzipien oftmals schon frühzeitig erkannt und – siehe die USA – nutzbar gemacht, auch wenn die heute verwendeten Begriffe andere sind. Hier werden Ansatzpunkte erkennbar, wie Spannungszustände (hätten) vermieden werden können, die den Hintergrund für die Zufallsepisoden darstellen.

Aus diesen Hinweisen zur Vorgehensweise wird bereits ersichtlich, dass das Buch eine interdisziplinäre Herausforderung darstellt.

Es kam darauf an, im Zusammenhang mit dem Zufall eine möglichst umfassende Perspektive auf das menschliche Leben – Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – einzunehmen. Hierzu erschien die Einbeziehung beider Weltkriege, damit zusammenhängend der Führungslehre, der neueren nuklearen Bedrohung sowie der Bedrohungen aus der Natur sinnvoll. Die letztgenannte Thematik wiederum beinhaltet Bezüge sowohl zur Astronomie als auch zur Geologie und Biologie.

Konzeptionell ist eine mehrfache Zuordnung des Buches möglich. Vom Thema her gehört es zunächst in die Bereiche Geschichte und, im weiteren Sinne, Geschichtsphilosophie: Stehen sonst oft Einflussfaktoren der Geschichte wie z. B. Persönlichkeiten oder Strukturen im Blickfeld, wird hier nun ergänzend der Zufall als Einflussgröße betrachtet. Die Zufallsabhängigkeit wächst mit der Fehlerhaftigkeit der politischen Führungsprozesse, die zu einem unnötigen Spannungsaufbau führt. Die Analyse der Führung Wilhelms II. und Adolf Hitlers mittels bestimmter Aspekte der Führungslehre ist daher geeignet, die historische Analyse zu vertiefen.

Das Buch möchte ein breiteres Publikum ansprechen und erreichen. Auch durch die interdisziplinäre Ausrichtung und die Quellenauswahl trägt es Züge von Wissenschaftsjournalismus. Neue Sichtweisen sollen eröffnet und größere Zusammenhänge aufzeigt werden, die im zunehmend spezialisierten Wissenschaftsbetrieb leicht verloren gehen können.11

Teil I

»Am Ende hatten wir einfach Glück«

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Atompilz des Atombombenabwurfs auf Nagasaki am 9. August 1945

1.

Am Rande eines Atomkrieges

Die meisten Menschen können – oder wollen – sich einen Atomkrieg nicht vorstellen. Wer die Bilder von Hiroshima gesehen hat, wird sie zu dieser Haltung beglückwünschen.

Der Ort der atomaren Detonation stellt sich nämlich dar als die Hölle auf Erden:12 Der mehrere tausend Grad heiße Lichtblitz hinterlässt in Sekundenschnelle riesige Heerscharen erblindeter und ganz oder teilweise verkohlter Menschen. Für viele von ihnen könnte die Aussage gelten: Die Überlebenden beneiden die Toten. Soweit sie nicht sofort buchstäblich verdampft sind, noch leben und sich bewegen können, schleppen sie sich hilflos umher. Gleichzeitig werden unglaublich starke radioaktive Strahlen freigesetzt, denen die Menschen – je nach Abstand von »Ground Zero« – sofort oder nach Tagen, Wochen, Jahren und Jahrzehnten zum Opfer fallen. Den Rest erledigt die Druckwelle, die Menschen und Fahrzeuge durch die Luft wirbelt sowie Gebäude zum Einsturz bringt, unter denen Menschen begraben werden. Der von der Explosion aufgewirbelte radioaktive Staub schließlich erreicht mit Wind und Regen als sogenannter »Fallout« auch Gegenden, die möglicherweise viele Tausend Kilometer entfernt sind.

Die Gesamtzahl der Toten hängt wesentlich von der Stärke der Kernwaffe ab. Um nur die Größenordnung zu beleuchten: Atombomben der Stärke von Hiroshima (ca. 15 KT = Kilotonnen herkömmlichen Sprengstoffes) können 100.000 Menschen sofort töten und weitere 100.000 in den Jahren und Jahrzehnten danach. Eine Wasserstoffbombe kann bis zu tausendmal stärker sein und – über einer Millionenstadt gezündet – sicherlich mühelos das Zehnfache an Verlusten bewirken. Dem Grauen sind buchstäblich keine Grenzen gesetzt.

Dabei betrachten wir hier »nur« eine einzige Kernwaffenexplosion. Will man sich auf die für die 60er-Jahre bekannt gewordenen Planungen und Studien beziehen, so war damals mit Hunderten von Kernexplosionen und bis zu 15 Millionen Toten allein in Deutschland zu rechnen.13

Inwieweit Deutschland danach noch bewohnbar gewesen wäre, muss offenbleiben.

Aber warum müssen wir uns heute überhaupt noch mit derartigen Szenarien befassen? Ist der Kalte Krieg nicht seit einem Vierteljahrhundert vorbei?

Das hätte man denken können und hat es in weiten Teilen der Öffentlichkeit auch getan – bis Anfang 2014. Im Zusammenhang mit der russischen Besetzung der Krim und der Unterstützung der Separatisten in der Ostukraine ist blitzartig deutlich geworden, dass der Kalte Krieg nicht ein für alle Mal der Vergangenheit angehört. Vielmehr sind auch heute noch – und wieder – Zuspitzungen möglich, wie sie nachfolgend in den Episoden des Kalten Krieges und des Ersten Weltkrieges geschildert werden. Und während bei der Kuba-Krise der Zufall als glücklicher in Erscheinung trat, spielten 1914 in Sarajevo böse Zufälle eine verhängnisvolle Rolle, die am Ende den Ausbruch des Ersten Weltkrieges mit begründeten.

Es lohnt sich daher doppelt, in einem knappen Überblick der historischen und der aktuellen Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses nachzugehen, wie sie sich seit dem Zweiten Weltkrieg ergeben hat.

Beginn des Kalten Krieges

Wenn man etwas genauer hinsieht, setzte der Kalte Krieg keineswegs plötzlich und auch nicht erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges ein. Es gab Vorstufen zu dieser Entwicklung, und die Auseinandersetzungen zwischen den Alliierten z. B. im Zusammenhang mit dem Warschauer Aufstand im August 1944 oder der Konferenz in Jalta im Februar 1945 ist von kundigen Zeitgenossen und der Forschung längst in diesem Sinne interpretiert worden.14

Besonders aufschlussreich für diese Frage sind die Ausführungen von Averell Harriman, der zunächst Sonderbeauftragter Roosevelts bei Churchill und Stalin war, bevor er im Herbst 1943 den Posten des amerikanischen Botschafters in Moskau übernahm. Er kam dadurch in besonders engen Kontakt zu Stalin und Molotow und muss wohl als ein Experte für die Beurteilung des sich verändernden Ost-West-Verhältnisses angesehen werden.

Seine Ausführungen in diesem Punkt sind unmissverständlich: »Polen sollte der Prüfstein für das sowjetische Verhalten in der Nachkriegswelt werden«.15 Es gab eine ganze Reihe von Reibungspunkten, aber Polen hatte eine herausragende Bedeutung, zumal der Westen wegen Polen gegen Hitler angetreten war. Die westliche Forderung nach einem freien und demokratischen Polen stieß auf ein sowjetisches Verhalten, das grundlegende Unterschiede im Werte- und Zielsystem der Alliierten offenbarte.16 Und Harriman stellt fest, dass dieses grundlegende Problem bereits seit Beginn seines Dienstantrittes in Moskau bestand. Insofern wäre das Offenkundig-Werden eines sich inhaltlich abzeichnenden Bruches im Ost-West-Verhältnis mindestens auf Ende 1943 vorzuverlegen.

Natürlich war aber während der ganzen Zeit des Krieges klar, dass es formal nicht zum tatsächlichen Bruch kommen sollte bzw. konnte, solange Deutschland nicht besiegt war. Die Auseinandersetzungen um die Unterstützung des Warschauer Aufstandes, der sich Stalin verweigerte, und um die Behandlung Osteuropas in Jalta sind da ebenfalls nur Menetekel an der Wand.

Erheblich deutlicher wurde die drohende Ost-West-Spaltung dann am 12. Mai 1945 von Churchill angesprochen, kaum dass der Krieg mit Deutschland beendet war. In einer Botschaft an den neuen amerikanischen Präsidenten, Harry S. Truman, spricht er von einem »Eisernen Vorhang«, der in Europa niedergegangen sei, und verweist dabei auf das Szenario, dass russische Truppen in kürzester Zeit an die Nordsee und den Atlantik vordringen könnten, wenn sie wollten. Ein Jahr später wiederholte Churchill diese Gedanken auch öffentlich in seiner Rede in Fulton, USA.

Während Churchill zu jenem Zeitpunkt aber schon nicht mehr im Amt war, hatte die Rede Trumans am 12. März 1947 vor beiden Häusern des amerikanischen Kongresses großes Gewicht. Er sprach vom notwendigen Kampf gegen totalitäre Regierungsformen und Kommunismus und machte damit vor aller Welt den Beginn des Kalten Krieges publik.

Die nächsten wichtigen Marksteine in dieser Auseinandersetzung waren die Berlinkrise 1948/49 und der Koreakrieg 1950–1953. In beiden Konflikten wurde auf westlicher Seite auch bereits die Option des Ersteinsatzes von Atomwaffen intensiv diskutiert. Sogar den Präventivkrieg gegen die Sowjetunion konnten sich einige US-Strategen vorstellen, solange diese atomar selbst noch nicht gerüstet war.

Wie die Entwicklung zwischen den Supermächten in der Hochphase des Kalten Krieges weiterging, lässt sich grob an den nachfolgenden Episoden ablesen. Sie verdeutlichen, wie nahe die Welt gelegentlich am Rande eines Atomkrieges lavierte. Es wird auch ersichtlich, welche psychologischen, politischen und rüstungstechnologischen Faktoren dabei eine Rolle gespielt haben.

Die nukleare Drohung

Die nuklearen Waffen wurden auf beiden Seiten ständig weiterentwickelt. Dabei kam es einerseits zu den größten Sprengköpfen von Dutzenden Megatonnen, andererseits aber auch zu tragbaren Raketenwerfern für den einzelnen Infanteristen. Von stationären Atomminen bis zu Raketen, die von getauchten U-Booten abgeschossen werden konnten, reichte das Spektrum des Schreckens. Heute geht man davon aus, dass die USA über etwa 7.000, Russland über etwa 8.000 nukleare Sprengköpfe verfügen.17 Die Zahlen der anderen Atommächte liegen zwar weit darunter, haben aber dennoch eine hohe Brisanz. Ein Nuklearkonflikt im Nahen und Fernen Osten ist leider nicht unvorstellbar und würde – trotz kleinerer Zahlen an Waffen – immer noch eine verheerende Katastrophe bedeuten.

Seit Anfang 2014 sind die Ost-West-Spannungen neu aufgeflammt. Beide Seiten schieben sich gegenseitig die Schuld an dieser Entwicklung zu. Russland argumentiert, der Westen versuche eine immer weitere militärische Einkreisung Russlands zu erreichen. Dies aber widerspreche zahlreichen Erklärungen zu Anfang der 90er-Jahre. Die Argumentation der westlichen Seite läuft darauf hinaus, dass freie Völker selbst bestimmen könnten, welchem Bündnis sie angehören wollten. Das Beispiel der Annexion der Krim zeige, dass Moskau Veränderungen der Grenzen sogar mit Gewalt betreibe.

Wenn man auf Dauer miteinander in Frieden leben will, muss sicherlich die Argumentation beider Seiten Berücksichtigung finden,

Die im Folgenden dargestellten Episoden des Kalten Krieges wie auch des Beginns des Ersten Weltkrieges mahnen, dass auf dem Nährboden großer Spannungen jederzeit unglückliche Entwicklungen möglich sind, die eigentlich niemand gewollt oder vorhergesehen hat.

Im Atomzeitalter könnten solche Zufälligkeiten den Untergang der Menschheit bedeuten.

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Geheime Karte der CIA, welche die Reichweiten der Atomraketen dokumentiert, die auf Kuba im Rahmen der Kubakrise stationiert wurden

2.

27.Oktober 1962
»Vielleicht hat der Krieg oben schon begonnen«

Kuba-Krise 1962: Seit knapp zwei Wochen haben sich die Spannungen zwischen den beiden Atommächten USA und Sowjetunion täglich verschärft, weil auf der Insel Kuba erstmals sowjetische Atomraketen entdeckt worden sind. Sie können das amerikanische Festland in Minuten erreichen. Die USA haben eine Seeblockade um Kuba errichtet; kein Schiff mit Kriegsgerät darf passieren. Da wird am 27. Oktober in den Gewässern um Kuba das sowjetische U-Boot B-59 unter dem Kommando Valentin Sawizkis von einem amerikanischen Zerstörer mit Wasserbomben angegriffen.18 Die Besatzung wird von den Detonationen so sehr durchgeschüttelt und psychisch unter Druck gesetzt, dass die Offiziere den Einsatz der äußersten Mittel erwägen. Neben 21 konventionellen Torpedos verfügt B-59 über einen Nukleartorpedo, der fast die Sprengkraft der Hiroshimabombe hat. Der Kommandant lässt diesen Torpedo zum Abschuss vorbereiten:19

»Vielleicht hat der Krieg oben schon begonnen. Wir werden sterben, aber wir werden alle mitnehmen.«

Es folgt eine Beratung mit den übrigen Offizieren. Am Ende fällt die Entscheidung gegen den Einsatz des Nukleartorpedos.

Was bei einem atomaren Angriff des sowjetischen U-Bootes auf die vier US-Kriegsschiffe (drei Zerstörer und der Flugzeugträger »Randolph«) als Folge zu erwarten gewesen wäre, liegt auf der Hand. Ein atomarer Schlagabtausch wäre so gut wie unvermeidbar gewesen, zumal am gleichen Tag noch andere Zuspitzungen der Kuba-Krise erfolgten:20

Zur Klärung der Frage, wie weit die Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba schon fortgeschritten war, hatte Präsident Kennedy am Vormittag einen weiteren U2-Aufklärungsflug über Kuba genehmigt. Dieses Flugzeug wurde von einer SAM-Raketenbatterie abgeschossen, wobei der Pilot ums Leben kam.

Ebenfalls am Morgen schon war das Strategic Air Command in erhöhte Einsatzbereitschaft versetzt worden. Dies bedeutete u. a., dass sich 60 B52-Bomber mit jeweils vier Atombomben in der Luft für einen sofortigen Angriff auf die Sowjetunion bereithielten.

Ohne Kenntnis des US-Militärs positionierten die Sowjets drei Cruise-Missiles mit Atomsprengköpfen gegen die amerikanische Basis Guantanamo.

Was die Amerikaner ebenfalls nicht wussten: Zahlreiche sowjetische Mittelstreckenraketen auf Kuba mit gewaltigen atomaren Sprengköpfen waren an diesem Tag bereits einsatzbereit.

Und schließlich bedrängte Fidel Castro die Sowjets an diesem Tag, einen Atomschlag gegen die USA durchzuführen.

Auf diese Gesamtsituation kann die nachfolgende, oft zitierte Aussage des damaligen amerikanischen Verteidigungsministers McNamara am ehesten bezogen werden: »Am Ende hatten wir einfach Glück. Nur durch Glück wurde ein Atomkrieg verhindert. Wir standen so kurz (McNamara hält Daumen und Zeigefinger einen Millimeter auseinander) davor.«21 Und Steininger formuliert: »Der […] 27. Oktober 1962 hätte zum schwärzesten Tag in der Geschichte der Menschheit werden können.«22

Wenn man hier aus berufenem Mund erfährt, dass der Untergang der Menschheit – oder zumindest sehr großer Teile davon – eine Frage des bloßen Zufalls war, muss man zunächst einmal innehalten. Eine solche Erkenntnis ist schwer zu verarbeiten. Die spontane Reaktion der meisten Menschen wird man so ausdrücken können: Es kann doch nicht sein, dass sich das Leben auf der Erde in Jahrmilliarden, das menschliche Leben in Jahrmillionen und die menschliche Zivilisation in Jahrtausenden entwickelt hat, um dann in Sekunden aufgrund zufälliger Abläufe vernichtet zu werden. Der Planet Erde wird ganz oder in Teilen unbewohnbar, weil einige amerikanische und sowjetische Schiffsoffiziere die Konsequenzen ihres Handelns nicht übersehen oder ignoriert haben.

Wie man heute weiß, lag die Entscheidung über die Reaktion auf den Angriff mit Wasserbomben de facto tatsächlich bei dem Kommandanten des sowjetischen U-Bootes – immerhin war sein Funkkontakt zu Moskau unterbrochen.23 An sich hätte er – so die gängige Vermutung – für den Einsatz seiner Torpedos Genehmigungen gebraucht: für die konventionellen seitens des Marine-Oberkommandos, für den nuklearen seitens des Verteidigungsministeriums. Da beides durch den Ausfall der Funkverbindung nicht möglich war, musste er allein entscheiden. Dabei gab es für den Einsatz des Nuklear-Torpedos eine zusätzliche Sicherheitsbarriere. Ein spezieller Sicherheitsoffizier war für die Bewachung des Nuklear-Torpedos zuständig; darüber hinaus mussten drei Personen gleichzeitig einen speziellen Code zur Freigabe des Abschusses eingeben.

Wir stoßen hier auf ein erstes wichtiges Element zur Eindämmung verhängnisvoller Zufälle: Man muss möglichst mehrere strukturelle Beschränkungen einbauen, wie sie auch hier eingerichtet worden waren (Genehmigung per Funk, Sicherheitsoffizier, dreifache Code-Sicherung). Eine Sicherung allein genügt nicht, wie der Ausfall der Funkverbindung zeigt. Für den glücklichen Ausgang am Ende soll der Einspruch des zweiten Offiziers an Bord, Wasili Archipow, ausschlaggebend gewesen sein.24

Man kann nur hoffen, dass sowohl die amerikanische als auch die sowjetische Seite – und alle weiteren Atommächte – aus diesen Vorfällen alle notwendigen Konsequenzen zur Begrenzung von Zufällen gezogen haben. Sicher ist dies jedoch keineswegs, wie noch im dritten Kapitel dieses Buches deutlich werden wird.

Es gibt aber noch einen ganz anderen Aspekt, wie die Rolle von Zufälligkeiten der oben beschriebenen Art minimiert werden kann und muss. Geschichtliche Entwicklungen bahnen sich an; gefährliche Situationen entstehen nicht über Nacht. Erst wenn sich ein genügend großes Gefahrenpotenzial aufgebaut hat, kann ein Funke genügen, die Explosion herbeizuführen. Instabile, aufgeladene politische oder militärische Situationen sind das Terrain, auf dem sich der Zufall besonders leicht auswirken kann. Man könnte diese Faktoren als »Zufallsbeschleuniger« bezeichnen. Dies werden gerade die nachfolgenden Kapitel über den 26. September 1983 sowie den Ausbruch des Ersten Weltkrieges noch verdeutlichen. Aber auch in der Kuba-Krise hat dieser Aspekt eine wichtige Rolle gespielt.

Erst durch den wechselseitigen Verlust an Vertrauen und Vabanquespiel einer Seite konnte die Situation des 27. Oktobers 1962 entstehen.

Mehr noch: Schon auf dem Weg dahin war dem Zufall erneut immer wieder Tür und Tor geöffnet. Der Weg zum 27. Oktober sei daher ebenfalls kurz beleuchtet.25

Der Weg zum 27. Oktober 1962

Die Insel Kuba war bis 1959 de facto ein Vorposten der USA; Wirtschaft, Politik und Leben auf Kuba standen unter massivem amerikanischem Einfluss. Daher war das amerikanische Entsetzen groß, als 1959 Fidel Castro die Herrschaft übernahm und – nicht ohne »Mitschuld« der USA – eine zunehmende Annäherung an die Sowjetunion vornahm. Frühzeitig schmiedete die US-Seite Pläne in Richtung Sabotage, Gegenputsch, Mordanschläge und militärische Invasion, die dann 1961 in der missglückten »Schweinebucht-Invasion« kulminierten.

Kuba hatte für beide Seiten im Kalten Krieg sowohl eine global-politische als auch militärstrategische Bedeutung. Global-politisch wurde Kuba zum sozialistischen Leuchtfeuer insbesondere für Mittel- und Südamerika. Militärstrategisch sah Chruschtschow die 1962 im Geheimen betriebene Stationierung von Atomraketen auf Kuba unter zwei Aspekten: Zum einen sollte sie die USA von einer erneuten Invasion abhalten, zum anderen fand sie direkt vor der Haustür des Gegners statt und bot so eine extrem kurze Vorwarnzeit – ähnlich wie nach Meinung Chruschtschows die US-Atomraketen in der Türkei zu sehen waren.

Am 15. Oktober zeigten US-Luftaufnahmen erstmals im Bau befindliche Raketenstellungen auf Kuba. Von Anfang an wurde von US-Seite die Option einer Invasion in Betracht gezogen – nicht wissend, dass Chruschtschow genau für diesen Fall ein Dutzend atomarer Kurzstreckenraketen vorgesehen hatte, was also ebenfalls frühzeitig und höchstwahrscheinlich die Entfesselung eines atomaren Schlagabtausches bedeutet hätte. Einen solchen atomaren Schlagabtausch befürchtete Kennedy bereits am 19. Oktober auch für den Fall, dass die Sowjets als Reaktion auf eine Invasion Kubas gewaltsam gegen Berlin vorgehen würden. Am 23. Oktober diskutierte er mit seinen Beratern intensiv die Vorbereitung eines totalen Nuklearkrieges mit der Sowjetunion; man wolle dies zwar nicht, würde es aber im Zweifelsfall tun müssen.26

Ob also Invasion Kubas durch die USA oder Blockade bzw. Invasion West-Berlins durch die Sowjetunion – in jedem Fall war in diesen Tagen bereits das nukleare Inferno als Drohung sichtbar. Selbst für den Fall, dass (zunächst) nur ein US-Luftangriff auf Kuba erfolgen würde, wurde die Gefahr gesehen, dass die Sowjets noch Gelegenheit haben und nutzen würden, einige Atomraketen auf das amerikanische Festland abzuschießen. Auch die Seeblockade, für die sich Kennedy am Ende entschied, barg eine Reihe von Risiken, wie ja auch gerade der eingangs geschilderte Vorfall vom 27. Oktober zeigt. In der Woche zwischen dem 19. und dem 27. Oktober fanden fieberhafte Beratungen und diplomatische Bemühungen auf beiden Seiten statt, die dann am Ende die Katastrophe um Haaresbreite verhindern konnten.

Eine richtige und wichtige Konsequenz aus diesen Geschehnissen – aber auch aus den späteren Ereignissen vor dem 26. September 1983, auf die im nächsten Kapitel eingegangen wird – waren die Abrüstungsabkommen. Bereits 1963 kam es zum Abzug der amerikanischen Mittelstreckenraketen aus der Türkei, wie es Chruschtschow und Kennedy während der Kuba-Krise in einem geheimen Briefwechsel vereinbart hatten.27 Eine deeskalierende Funktion kam auch der Einrichtung direkter Kommunikationsverbindungen zwischen den beiden großen Machtzentren zu. Im Juni 1963 wurde das berühmte »Rote Telefon« in Betrieb genommen – zunächst über Fernschreiber, ab 1970 auch über Satellit.

Der Aufbau bedrohlicher Gefahrenpotenziale konnte dadurch zumindest abgeschwächt werden. Auch Gemeinschaftsprojekte wie die Internationale Raumstation ISS stellen vertrauensbildende und damit Katastrophen verhindernde Maßnahmen dar. Möglichst viele derartige Maßnahmen geben dem Zufall keine so große Chance mehr und können in diesem Sinne als »Zufallsbarrieren« verstanden werden.

Man kann feststellen:

Niemand wollte den atomaren Schlagabtausch. Er stand nichtsdestoweniger unmittelbar bevor. Wie die Zuspitzung an diesem Tag ausgehen würde, war völlig offen – für alle Beteiligten. Am Ende war es, wie der damalige Verteidigungsminister betonte, ein glücklicher Zufall.

3.

26. September 1983
Der vermeintliche Erstschlag der USA

1983: Der Kalte Krieg hat sich in den letzten Jahren durch eine Spirale wechselseitigen Misstrauens und beiderseitiger Eskalationen immer weiter zugespitzt und einen Höhepunkt der Spannungen erreicht. Insbesondere die Furcht vor einem atomaren US-Erstschlag beherrscht das Denken der Sowjets,28 29