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Norbert Hesse

Die Geschichten der Fliege Karin 1

Band 1





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

1. Merlin lernt eine Fliege kennen

Eines Tages war Merlin mit Artus, er war gerade sechs Jahre alt geworden auf dem Weg zu einem Teich. Er hatte nämlich zum Geburtstag am Vortag eine Angel bekommen, die er nun unbedingt ausprobieren wollte. Merlin zeigte ihm, wie man einen Angelhaken an die Schnur bindet und auch wie man einen Wurm auf den Haken macht, damit er fest ist und nicht beim ersten Versuch vom Haken rutscht. Als beide mit ihren Vorbereitungen fertig waren, suchten sie sich eine günstige Stelle und warfen ihre Angeln mit einem großen Schwung in den Teich - na ja, nicht die Angeln natürlich, sondern nur die Leine mit dem Haken und dem Wurm - ist doch klar, oder? - und setzten sich auf den Rasen einer Böschung. So saßen sie eine Weile und sahen dem Schwimmer zu, der leicht auf den kleinen Wellen des Sees tanzte. Nach einer Weile begann Artus unruhig zu werden und fragte, warum denn kein Fisch anbeiße, aber Merlin beruhigte ihn und meinte, dass man zum Angeln Geduld haben müsse. Also warteten sie geduldig, aber es biss kein Fisch an. Schließlich meinte Artus, ob sie nicht vielleicht den falschen Platz zum Angeln gewählt hatten. Also beschlossen sie, sich einen anderen Platz zu suchen und nachdem sie ihre Angeln eingeholt, ihre Sachen wieder in den mitgebrachten Beuteln verstaut hatten, gingen sie ein Stück um den See, bis sie eine Stelle fanden, die ihnen besser geeignet erschien, und warfen dort wieder ihre Angeln aus. So verging Stunde um Stunde mit dem Warten auf einen Fisch. Es war warm und Merlin musste dann wohl etwas eingenickt sein, als es ihn plötzlich auf der Stirn zu kitzeln begann. Noch halb im Schlaf wischte er mit der Hand über sein Gesicht und das Kitzeln hörte auf – aber nicht für lange. Nach ein paar Augenblicken hörte er ein leichtes Summen und es begann wieder zu kitzeln und wieder wedelte er mit seiner Hand vor seinem Gesicht hin und her. Auf einmal begann Artur zu lachen und sagte: „Es ist nur eine Fliege!“ Merlin öffnete die Augen und sah gerade noch, wie die Fliege von seinem Gesicht wegflog, einen kurzen Bogen beschrieb und auf einem Grashalm genau zwischen ihm und Artus landete. Artus hob seine Hand, wollte sie gerade erschlagen, als Merlin rief: „Halt, Artus!!!“ Seine Hand erstarrte und er sah ihn fragend an.

„Jedes Wesen, das lebt, hat ein Recht zu leben – auch eine Fliege!“

„Aber, sie belästigt Euch, weiser Merlin“, entgegnete er.

 „Das mag sein, aber vielleicht sucht sie, wie wir, ein ruhiges Plätzchen, um zu verschnaufen. Sieh sie dir erst einmal genau an. Schau, wie klein sie ist und nun sage mir, ist sie gefährlich? Hast du Angst, sie könnte dich töten oder verletzten?“

Artus beugte sich vorsichtig und langsam vor und schaute sich die Fliege, die damit begonnen hatte, ihre Beine zu putzen, genau an. Schließlich sah er Merlin an und meinte beschämt: „Nein, ich glaube nicht, dass sie mir etwas Böses will, dazu ist sie auch zu klein.“ Der alte Zauberer lächelte ihn an und sagte: „So ist es, Artus und doch vermögen auch kleine Dinge eine große Wirkung haben.“ Wie Recht er damit hatte, wurde ihm allerdings erst später klar. Artus wurde ganz aufgeregt, denn er vermutete, Merlin würde ihm nun eine Geschichte von Elfen und Gnomen und Zaubern erzählen.

„Sagt Merlin, welche kleinen Dinge haben eine große Wirkung? Wisst Ihr etwas darüber? Könnt Ihr mir eine Geschichte erzählen?“ Merlin winkte ab: „Für Geschichten ist es zu früh, jetzt wollen wir uns dem Angeln widmen!“ Wieder starrten sie schweigsam auf das Wasser und die Angel und warteten. Plötzlich zuckte Merlins Angel und der Schwimmer tauchte unter - einmal, zweimal, dreimal. Mit einem kräftigen Zug zog er die Angel an und begann dann langsam die Leine einzuholen. Artus, der alles beobachtet hatte, wollte aufspringen und ihm zu Hilfe kommen, aber Merlin wies ihn an, weiter bei seiner Angel zu bleiben und aufzupassen. Es war ein prächtiger Barsch, denn er da aus dem Wasser zog. Als der Fisch verstaut war, warf er seine Angel wieder aus und es dauerte nicht lang, da biss wieder ein Fisch bei ihm an und dann noch einer und noch einer. Artus, der das alles schweigsam verfolgt hatte, sah man seine Enttäuschung an und schließlich sagte er nur: „Ich glaube, Ihr benutzt einen Zauber, dass die Fische nur bei Euch anbeißen!“ Merlin versicherte ihm, dass hier kein Zauber am Werk und alles wohl ein reiner Zufall sei. Plötzlich hörte er wieder das Summen und spürte ein leises Kribbeln auf seiner linken Wange: Die Fliege war wieder da. Er scheuchte sie weg, aber gleich darauf saß sie wieder auf seiner Wange. Wann immer er sie wegscheuchte, im nächsten Augenblick ließ sie sich wieder auf seiner linken Wange nieder. So wedelte er immer hektischer mit der Hand um seinen Kopf, bis ihn plötzlich das laute Lachen von Artus innehalten ließ, der Merlins Bemühungen, die Fliege zu verscheuchen, beobachtet hatte.

„Was gibt es da zu lachen, Artus. Schau auf deine Angel!“

„Es sieht zu lustig aus, weiser Merlin, wie ihr da mit euren Händeln wedelt und Euch dabei fast den Hut vom Kopf haut,“ lachte er.

Schließlich stimmte auch Merlin in sein Lachen ein, denn er hatte wohl recht, er muss gar zu komisch ausgesehen haben, wie er da mit den Händen um seinen Kopf herumfuchtelte. Der nächste Fisch, der wiederum an seiner Angel anbiss und nicht an der von Artus’, ließ sie die Fliege vergessen. Fisch um Fisch biss bei Merlin an, aber keiner an der Angel von Artus. Er schwieg zwar, hielt seine Angel weiter in den See, aber sein Gesicht spiegelte seine Enttäuschung wieder, und dass er immer noch glaubte, hier wäre Magie im Spiel. Plötzlich hörte Merlin wieder das Summen: die Fliege!

Als er so nach der Fliege Ausschau hielt, fiel ihm etwas sehr Merkwürdiges auf.

Er sah, wie sie sich von Links näherte, aber sie landete diesmal nicht auf seiner Wange, sondern beschrieb einen Bogen vor seinem Gesicht und flog wieder davon. Kurz darauf war sie wieder da, kam nahe an ihn heran, beschrieb wieder einen Bogen, drehte ab und flog wieder davon. Als das mehrere Male passierte, versuchte Merlin der Fliege bei ihrem Davonfliegen mit den Augen zu folgen. So ging das eine ganze Weile: Sie kam heran, beschrieb einen Bogen und flog nach links davon. Merlin begann nachzudenken: „Was wäre, wenn … Ach Quatsch, es ist nur eine Fliege.“ Trotzdem setzte sich in seinem Kopf langsam ein Gedanke fest: „Was wäre, wenn diese Fliege mir etwas mitteilen will …“

Als die Fliege diesmal wieder herankam, streckte er langsam seine Hand aus. Und siehe da, sie landete direkt auf seinem Handrücken, faltete die Flügel zusammen und sah ihn an. Wirklich, sie sah ihn an!!!

Merlin war nicht schlecht erstaunt. Schließlich drehte sie sich um, lief seine Hand entlang bis zu den Fingerspitzen und flog wieder los. Er folgte ihrem Flug und sah, wie sie auf eine Baumgruppe zusteuerte, dann verlor er sie aus dem Blick. Als ob sie bemerkt hatte, dass er sie nicht mehr sehen konnte, drehte sie um und kam zurück, ließ sich auf seiner immer noch ausgestreckten Hand nieder, drehte sich zu ihm herum und sah ihn mit ihren großen Facettenaugen an. Und das Spiel begann von Neuem, Abflug Richtung Baumgruppe und Rückkehr. Das war nun wirklich sehr merkwürdig. Als sie dann wiederum los flog Richtung Baumgruppe, sah Merlin sich diese etwas genauer an und dann sah er es. Unter der Baumgruppe konnte man im Schatten der Zweige im Wasser die Fische sehen. Es war, als ob sie dort warteten, und nur auf Artus warteten. Nach kurzem Überlegen gab er Artus ein Zeichen, er solle seine Angel einholen und wies auf die Baumgruppe, dabei legte Merlin den Zeigefinger auf die Lippen, um ihm anzuzeigen, dass er nicht reden sollte. Er verstand, holte seine Angel ein und ging auf Zehenspitzen Richtung Baumgruppe. Auf ein Zeichen blieb er stehen und warf seine Angel wieder aus, ganz in der Nähe der Stelle, an der die Fische im Wasser standen. Und wirklich es dauerte nicht lange, da biss der erste Fisch bei Artus an. Er strahlte vor Freude, holte ihn rasch ein, steckte einen neuen Regenwurm auf die Angel und warf diese wieder aus. Fisch um Fisch holte er so aus dem Teich und bald hatte er die doppelte Anzahl von Merlins Fischen zusammen. Merlin sah ihm zu und freute sich für ihn, als er plötzlich wieder das Summen hörte. Es war die Fliege, die sich diesmal aber nicht auf seiner Hand niederließ, sondern auf seiner rechten Wange. Er spürte das Kribbeln auf der Haut, als sie sich auf ihren sechs Beinen in Richtung seines Ohres zu bewegte.

„Wurde auch langsam Zeit, alter Mann!“ hörte er plötzlich eine leise Stimme.

 Tja, so war das, als Merlin die Fliege Karin kennenlernte. Natürlich wissen die meisten Leute nicht, dass Merlin eine Fliege im Hut hat, die auf ihn aufpasst, und das ist gut so. Also, nicht verraten – es soll ja ein Geheimnis bleiben.