Der Kick mit dem Ball

Die Geschichte des Fußballs

Florian Reiter

Der Kick

mit dem Ball

Die Geschichte des Fußballs

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in

der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN (eBook, epub) 978-3-940621-52-8

Lektorat: Waltraud Greczmiel

Grafisches Gesamtkonzept, Titelgestaltung, Satz und Layout:

Stefan Berndt – www.fototypo.de

www.vergangenheitsverlag.de

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen

und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung,

vorbehalten.

Inhalt

Wer hat’s erfunden?

Von Zuschauern, Zuhauern, Fans und Ultras

Ist DER Fußball ein Männersport?

Duelle, Derbys, Schlachten und Klassiker – wenn Fußball mehr als nur ein Spiel ist

Fußball, Macht, Politik – macht Fußball Politik?

Fußball und Kommerz – oder wie der Hirsch auf’s Trikot kam

Anhang – Fußball in Zahlen

Wer hat’s erfunden?

»Wer hat’s erfunden?« Die am lautesten »wir waren das, wir haben den Fußball erfunden« rufen, sind die Engländer. Unzweifelhaft haben die Engländer die Regeln des modernen Fußballs entwickelt und niedergeschrieben. Das war Mitte des 19. Jahrhunderts. Aber viel früher wurden bereits an verschiedensten Orten der Welt Bälle zum Vergnügen mit dem Fuß gespielt. Ballspielen ist ein Urtrieb, dem nicht nur wir Menschen verfallen sind. Auch Hund, Katz’ und Maus sind nicht zu stoppen, wenn etwas Ballähnliches in Reichweite kommt. Irgendein rundes, rollendes Ding, heute würde man es Ball nennen, hat sicher schon den Neandertaler zum spielerischen Dagegentreten verführt. Ob er mit seiner Sippe gegen eine Horde Homo Sapiens gekickt hat, ist allerdings durch keine Höhlenmalerei beurkundet. Man geht deshalb davon aus, dass der Neandertaler unseren direkten Vorfahren eher mit der Keule als mit dem Fußball begegnet ist.

Oft und gerne werden die Chinesen genannt, wenn es um die ersten Fußballspiele geht. Es gibt deutliche Hinweise, dass Huang-ti, der erste Herrscher Chinas, den Fußball bereits knapp 3.000 Jahre v. Chr. eingeführt hat. Das Spiel ts’uh kü (kü – der Ball; ts’uh – mit dem Fuß treten1 ) sollte seine Soldaten fit und agil halten. Im dritten Jahrhundert v. Chr. war Fußball dann längst keine militärische Übung mehr, sondern bereits Volkssport. Das erzählt jedenfalls ein altchinesischer Schriftsteller, der sogar so weit geht zu schreiben: »dass es in der Stadt Lin-Tsu niemanden gab, der sich nicht mit Hahnenkampf, Hunderennen oder Fußballspiel« beschäftigt habe.2

Genaue Regeln des altchinesischen Fußballspiels sind nicht überliefert. Erst aus der T’ang Dynastie (618 bis 906 n. Chr.) ist ein kompaktes Regelwerk des Fußballspiels überliefert. Darin sind bereits einige Parallelen zum modernen Spiel zu erkennen. Zwei Mannschaften, etwa zehn Mann stark, spielen auf zwei Tore. Wer mehr Tore schießt, gewinnt. Die Tore waren allerdings fünf Meter hoch. Über die Körpergröße und Sprungkraft der damaligen Torleute ist leider nichts überliefert. Aus einem Zitat des chinesischen Dichters Li Yu (50–136 n. Chr.) kann man schließen, dass das Fußballspiel damals einen ähnlich kultischen Status besaß, wie der moderne Fußball ihn heute fast überall auf der Welt genießt:

Rund der Ball, viereckig das Land,

gleich dem Bild von Himmel und Erde

Der Ball fliegt über uns wie der Mond

während sich zwei Mannschaften gegenüberstehen,

Spielführer sind ernannt und halten Platz

nach unveränderlichen Regeln.

Keinen Vorteil gibt es für Verwandte,

kein Platz ist für Parteilichkeit.

Dafür herrscht Entschluss und kaltes Blut

ohne jede Irrung und Unterlassung.

[…]3

Die Sieger der chinesischen Fußballspiele wurden mit Pokalen und kostbaren Stoffen reich belohnt. Für die Verlierer gab es Beschimpfungen und im schlimmsten Fall auch Prügel. Ein Motivationsproblem dürften die damaligen Kicker in China also nicht gehabt haben. Etwa 900 n. Chr. verlieren die Chinesen das Interesse am Fußballspiel. Es taucht jedenfalls nicht mehr in den Überlieferungen auf.

Ebenfalls erfunden haben könnten die Maya und Azteken das Fußballspiel. Leider haben die spanischen Invasoren nicht darauf geachtet, genug einheimische Zeitzeugen am Leben zu lassen, so dass diese Theorie heute über keine größere Lobby mehr verfügt. Es sind jedoch noch sehr viele Ballspielfelder der Maya und Azteken erhalten.

Das am besten dokumentierte Spiel der Azteken ist das »Steißballspiel«. In diesem Spiel durfte der Ball nur mit der Hüfte, dem Steiß und dem Hintern getroffen werden. Das legt die Vermutung nahe, dass den Azteken das Fußballspielen bereits bekannt war, aber schon zu einfach vorkam. Südamerikanische Ballzauberer eben. Steißball war ein Spiel, das extreme Körperfertigkeit und Fitness voraussetzte. Also war es eher nichts für ungeübte Amateure. Deshalb gab es damals bereits die ersten Profiballspieler. Nicht überliefert ist, ob diese auch lukrative Werbeverträge erhalten haben und ihren Namen permanent in Stein meißeln mussten.

Ein Fußballfeld der Mayas aus dem 8. Jahrhundert n. Chr. in Copan / Honduras

Auch die antiken Griechen und Römer spielten bereits den Ball mit dem Fuß. Aber weder die Griechen noch die Italiener rufen deshalb: »Wir haben den Fußball erfunden«. Die Italiener tun dies nur, wenn sie auf den mittelalterlichen Calcio aus Florenz verweisen. Dieses Spiel wird etwa 1460 zum ersten Mal in Gedichten erwähnt. Auch heute noch ist die italienische Bezeichnung für Fußball Calcio. Das florentinische Spiel weist bereits eine Menge Parallelen zum heutigen Fußball auf, auch wenn Ähnlichkeiten zu Rugby und American Football überwiegen. Zwei Mannschaften stehen sich auf einem Spielfeld gegenüber. Eine Mannschaft besteht aus Angreifern, Verteidigern, Läufern und Zerstörern. Sinn und Zweck des Spiels ist es, den Ball über eine Linie am Kopfende des Spielfeldes zu befördern. Genau wie beim American Football also. Aber im Gegensatz zum Football war Ballspielen mit der Hand beim Calcio verpönt: Denn es ist eine dumme und unschöne Art Ihn (den Ball) mit der Hand zu werfen; […]. Vor dem, der mit den Händen vorgeht, hüte man sich, denn er ist von schwacher Natur.4

Die Spieldauer betrug eine Stunde. Die Mannschaft, die den Ball am häufigsten über die gegnerische Linie beförderte, war der Sieger. Das berühmteste historische Calcio-Spiel fand 1530 in Florenz statt. Das besondere an dem Spiel war, dass Florenz zu dieser Zeit von den Truppen Karls V. belagert wurde. Den feindlichen Kanonen zum Trotz spielten die Florentiner Jugendlichen ihr Fußballspiel. Genutzt hat es im Endeffekt nichts, aber geärgert haben dürfte sich »Karl Fünf« schon mächtig, als er sich das Fußballspiel ansehen musste. Seit dem 400. Jubiläum dieses Spiels, also seit 1930, wird jedes Jahr ein Calcio auf dem historischen Spielfeld, der Piazza di Santa Croce gespielt. Die vier historischen Florentiner Stadtteile spielen hier den Sieger aus. Der Ehrgeiz zu gewinnen ist groß und hat zu immer extremerer Brutalität im Spiel geführt. Deshalb ist es seit 2008 verboten, Spieler mit Vorstrafen einzusetzen. Ob diejenigen Spieler, die sich noch nie haben erwischen lassen, weniger brutal zu Werke gehen, wird die Zukunft zeigen. Dass es sich beim Florentiner Calcio nicht um »Damenhalma« und bei der Teilnahme um eine freiwillige Leistung handelte, wusste schon 1688 der römische Dichter Giovanni Camillo Peresio. Dieser beschrieb dem Kardinal Francesco Maria den Florentiner Calcio:

»Nach Art des Spielmachers beim Calcio, der den Ball geschickt in luftiger Höhe hält, um die (Tor-)Jagd aufzumachen und voranzupreschen, so läuft darauf der feurige Läufer nach vorn. Aber der Zerstörer greift ohne Umschweif handgreiflich mit Schulterrammen und -drücken an, dass mehr als ein Stoß auf Kreuz oder Flanke niedergeht; Herr, jeder macht dies hier aus freien Stücken.5

Fußballspiel auf der Piazza S.Croce in Florenz. Radierung (o.J.) von Jacques Callot (1592–1635)

Die Italiener haben also auch ein bisschen den Fußball erfunden. Wie sieht es eigentlich mit den Deutschen aus? Haben nicht vielleicht unsere Vorfahren das Fußballspielen erfunden? Darauf gibt es leider nur eine Antwort: ein klares »Nein«. Aber immerhin: »Ball« ist ein Wort germanischen Ursprungs. Unsere Vorfahren spielten gerne und häufig Ball. Beispielsweise das heute kaum noch ausgeübte »Sauballspiel«. Auch wenn heute noch viele Fußballexperten den Deutschen vorwerfen, bei den Fußball-Weltmeisterschaften 1982 und 1986 mit einer Art Sauballspiel bis ins Finale gekommen zu sein …

Kommen wir also wieder zur Mutter der Fußballnationen – den Engländern. Hier ist Fußball seit dem Mittelalter bekannt und urkundlich erwähnt. Allerdings sind die ersten schriftlichen Erwähnungen keine Spielberichte. Vielmehr sind es königliche Erlasse, die das Fußballspielen verbieten. Und zwar unter Strafandrohung. Das erklärt sich, wenn man etwas spätere Urkunden wälzt, in denen auch das damalige Fußballspiel thematisiert wird. Hierbei handelt es sich in der Regel um Gerichtsakten. So »rannte« beispielsweise 1581 der Freisasse Roger Ludford während eines Fußballspiels lediglich »nach dem Ball mit der Absicht, ihn zu treten, woraufhin Nicholas Martyn ihn mit der rechten Faust und Richard Turvey mit der linken Faust jeder einen Schlag versetzten«. An den Folgen verschied der Freisasse dann leider innerhalb der nächsten Viertelstunde.6 Ob der so teuer erkaufte Ballbesitz letztlich zum Sieg der Mannschaft der beiden Faustkämpfer führte, weiß man nicht. Aber an dieser und vielen weiteren Gerichtsakten lässt sich erkennen, dass es sich beim mittelalterlichen Volks-Fußballspiel oftmals um ein brutales Freizeitvergnügen gehandelt haben muss. Philipp Stubbes, ein puritanischer Pamphleteschreiber, sieht das 1583 übrigens genauso: »Der Fußball ist eher eine blutige, mörderische Beschäftigung, denn ein Spiel … Mal wird das Genick gebrochen, mal der Rücken, Arme oder Beine«.7 Die vom Fußball und seinen wilden Keilereien genervte Obrigkeit forderte das Volk auf, an Festtagen besser nützlichen Hobbys wie Bogenschießen nachzugehen. Denn eine Truppe Bogenschützen waren dem König im nächsten Krieg lieber, als eine Horde wilder Volksfußballer. »Unnütze und wertlose Spiele wie Fußball« waren deshalb bei »Strafe der Einkerkerung« verboten. 8

Genutzt haben diese ständig wiederkehrenden Verbote offensichtlich nichts. Nur so erklärt sich die permanente Wiederholung der einschlägigen Verbote. Fast jeder damals regierende König verfasste während seiner Amtszeit mehrere Erlasse wider den Fußball.

Feste und vor allen Dingen allgemein gültige Regeln gab es beim mittelalterlichen Fußball nicht. Oft standen sich an Feiertagen die Einwohner zweier Nachbarorte auf einer Wiese zwischen den Dörfern gegenüber. Es gab einen Ball. Und wer diesen Ball zuerst in das Stadttor des Nachbardorfes beförderte, war der Sieger. Weder die Anzahl der Mitspieler war festgelegt, noch gab es sonstiges störendes Regelwerk. Fairplay war auch noch nicht erfunden. So konnte sich eigentlich jeder Mitspieler am Ende als Sieger fühlen, der noch über alle Gliedmaßen verfügte.

Fußballspiel 1827. Lithografie (um 1830) von George Hunt

Das Spiel überdauerte unzählige Verbote und Jahrhunderte. Immer noch gab es keine verbindlichen Regeln für das Spiel. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde Fußball oft und gerne an den Eliteschulen in England gespielt. Allerdings spielten die Schulen nicht nach allgemein gültigen Regeln, sondern es gab eine Vielzahl unterschiedlicher Fußballspiele.

An der Schule in Rugby entstand 1845/1846 eine merkwürdige Abart des Spiels. Hierin ist noch viel von der körperbetonten Spielweise des ursprünglichen Volksfußballs der Engländer enthalten. Zusätzlich kommen die Hände der Spieler zum Einsatz und das Tor befindet sich ohne Torwächter in schwindelerregender Höhe. Diese Variante, Rugby genannt, wird auch heute noch weltweit gespielt. In Südafrika, Neuseeland und den Fidschi-Inseln ist Rugby heute sogar beliebter als der »echte« Fußball.