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Jörn Seinsch

Ein Gott der Liebe?

Jörn Seinsch

Ein Gott der Liebe?

Wie Theologen die Bibel verfälschen

Tectum Verlag

Jörn Seinsch

Ein Gott der Liebe? Wie Theologen die Bibel verfälschen

© Tectum Verlag Marburg, 2015

ISBN: 978-3-8288-6227-2

(Dieser Titel ist zugleich als gedrucktes Buch unter
der ISBN 978-3-8288-3456-9 im Tectum Verlag erschienen.)

Umschlagabbildung: Renate Seinsch

Besuchen Sie uns im Internet

www.tectum-verlag.de

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Angaben sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Einer und Allen

Dann werdet ihr die Wahrheit erkennen,
und die Wahrheit wird euch befreien.
(Das Evangelium des Johannes 8,32)

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Ezechiel

Die Landnahme

Esau und Jakob

Mitleid und Barmherzigkeit

Der Psalter

Die Tiere

Die Offenbarung des Johannes

Nachwort: Eine Groteske

Abkürzungsverzeichnis

Zitierte Literatur

VORWORT

Im Jahre 2010 war Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen. Die beiden Bewerber um das Amt des Ministerpräsidenten – Amtsinhaber und Christdemokrat Jürgen Rüttgers (katholisch) sowie Herausforderin und Sozialdemokratin Hannelore Kraft (evangelisch) – trennte vieles, aber in einem waren sie sich einig: Beide wollten die Bibel als Urlaubslektüre mitnehmen (ideaSpektrum Regional 14/2010). Auch die beiden Spitzenkandidaten für die Nachfolge von Rüttgers als Landesparteivorsitzender der CDU, Armin Laschet und Norbert Röttgen, hatten die Bibel dabei (Kölnische Rundschau 25.10.2010). Ob sie inzwischen gelesen wurde? – Kaum. Der angesehene Theologe Gerhard von Rad (1901-1971) schrieb schon vor mehr als 40 Jahren:

(Die Bibel) ist auch bei den Menschen, die gerne lesen, völlig an den Rand geschoben. Die Wahrheit ist, daß auch die Belesensten und Gebildetsten unter uns sie kaum mehr kennen. (Das Buch der Bücher, Altes Testament S 11)

Das Erstaunliche aber ist, dass es selbst bei den Theologen nicht viel anders aussieht. Ich habe mich wiederholt mit Theologiestudenten unterhalten. Sie lesen durchaus eine Menge während ihres Studiums, eine Menge Sekundärliteratur! Von der Bibel selbst sind es meistens nur die Bücher Genesis, Exodus, Ijob, Psalter, Jesaja, das Evangelium, die Apostelgeschichte und der eine oder andere Paulusbrief. Doch selbst wenn diese Bücher vollständig gelesen wurden, was bei den Psalmen und Jesaja sicher die Ausnahme ist, hat man erst ein Viertel der Heiligen Schrift erfasst. Die ganz überwiegende Mehrheit der Christen kennt aber noch viel weniger, weil sie in der Schule, der Kirche oder bei Ansprachen nur die Verse zu hören bekommt, die der Redner ausgewählt hat.

Ich fragte einmal einen erfahrenen Hochschullehrer, wie viele der „Profis“, also der fertigen Theologen, die in der einen oder anderen Weise ihren Beruf ausüben, seiner Einschätzung nach die Bibel vollständig gelesen hätten. Seine Antwort: fünf Prozent.

*

Was folgt daraus? Muss man wirklich 40.000 Verse mit vielen verschrobenen Geschichten und so manchen altbackenen Sprüchen lesen, wenn die zentralen Inhalte – Wahrer Gott, ethische Gebote, ewiges Leben – allgemein bekannt sind? Bekannt ist vor allem auch die grenzenlose, umfassende Liebe und Barmherzigkeit, die zum Markenzeichen des biblischen Gottes gekürt wurde. Höchste Stellen und fachkundige Autoritäten haben das, wie wir noch sehen werden, immer wieder hervorgehoben.

Doch gesetzt, eine weltweit angesehene Organisation verspräche uns gegen entsprechende Pflichten die Erfüllung unserer Sehnsüchte und Sicherheitsbedürfnisse: Wäre es nicht angebracht, den Vertrag sorgfältig zu studieren? Freilich ist das Lesen umfangreicher Verträge sowie anderer Grundlagentexte nicht jedermanns Sache, und der Soziologe C. Northcote Parkinson („Parkinsons Gesetz“) hat auf den eigenartigen Umstand hingewiesen, dass der zeitliche Aufwand, den wir einer Angelegenheit widmen, oft im reziproken Verhältnis zu ihrer Bedeutung steht.

Bekanntlich hat sich aus dieser Verlegenheit von alters her ein ganzer Berufsstand entwickelt. Keine Institution, kein größeres Unternehmen ohne Vertreter, Vermittler, Instrukteure. Allerdings: Je geringer die Sachkenntnis des „Kunden“, umso höher ist der nötige Vertrauensvorschuss; denn rational entscheiden über die Objektivität und Lauterkeit des Mittlers hieße ja, sachverständiger als der Sachverständige zu sein.

In dem vorliegenden Buch wird der Leser deshalb nicht nur eine Bibel kennenlernen, wie er sie von Kanzel und Katheder nicht vernommen hat, er wird auch die spannende Frage verfolgen können, wie die berufenen Vertreter, also jene zumeist akademischen Lehrer, die die Bibel im Einzelnen erläutert und kommentiert haben, damit umgehen.

*

Die sieben Kapitel des Buches sind in den Jahren 2010-2013 entstanden und in der Reihenfolge ihrer Entstehung abgedruckt. Sie sind unabhängig voneinander und können in beliebiger Folge gelesen werden. Da die drei Kapitel EZECHIEL, DER PSALTER und DIE OFFENBARUNG DES JOHANNES sich auf einzelne Bücher der Bibel beziehen, die anderen Stücke, also DIE LANDNAHME, ESAU UND JAKOB, MITLEID UND BARMHERZIGKEIT sowie DIE TIERE übergreifende Themen abhandeln, kommt es in wenigen Fällen zu Überschneidungen bzw. der Wiederholung bereits zitierter Verse.

Der erste Abschnitt über Ezechiel war ursprünglich nicht als Auftakt zu einem Buch über die Bibel geplant, sondern entsprang dem Wunsch, es einmal genauer zu wissen. Ich hatte so konsternierende Dinge gelesen, dass der Punkt erreicht war, wo ich es nicht mehr beim üblichen Halb- und Viertelverstehen belassen wollte. War das alles so zu nehmen, wie es da steht, oder handelt es sich um Chiffren für etwas ganz anderes? Was sagen die Fachleute, die Exegeten und Kommentatoren? - Die Antwort gibt das erste Kapitel. Die Themen der sechs anderen Stücke stellten sich nach diesem „Erweckungserlebnis“ fast von selbst ein. Erschöpft sind damit die in Frage kommenden Gegenstände bei Weitem nicht. Z.B. verdient das bei festlichen Anlässen gern zitierte Buch Jesaja eine eigene Betrachtung; doch habe ich davon abgesehen, weil eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Furor Ezechiels den Leser vielleicht ermüdet hätte. Es lohnt sich aber allemal, bei der öffentlichen Erwähnung von Jesaja-Versen die Bibel aufzuschlagen und den Kontext nachzulesen.

*

Die Zitierung von Bibelversen legt regelmäßig die Einheitsübersetzung zugrunde, obwohl diese z.T. geglättet und weniger schroff ist als etwa die Lutherbibel, die wie auch andere Übersetzungen im Einzelfall herangezogen wurden, wenn sie deutlicher waren. Auch die Schreibweise von Namen ist, um eine einheitliche Grundlage zu haben, der Einheitsübersetzung entnommen, so dass z.B. „Hiob“ als „Ijob“ erscheint und „Nebukadnezar“ oder „Nebukadrezzar“ als „Nebukadnezzar“.

Zur Zitierweise:

Bei der Zitierung von Bibelversen wird wie allgemein üblich zuerst die Nummer des Kapitels und anschließend, durch ein Komma getrennt, die des Verses vermerkt. Mehrere Verse werden durch Punkte getrennt, ggf. auch mit Bindestrich zusammengefasst.

14,8 heißt also: Kapitel 14 Vers 8
14,8.11 heißt: Kapitel 14 Verse 8 und 11
14,8-11 heißt: Kapitel 14 Verse 8 bis 11

Bei Abschnitten meines Buches mit übergreifenden Themen wird vor den Kapitelnummern das betreffende Buch der Bibel in der üblichen Abkürzung angegeben (siehe Abkürzungsverzeichnis), bei Abschnitten über ein bestimmtes Buch der Bibel ist das entbehrlich.

Bei der Zitierung von Sekundärliteratur erscheint im laufenden Text der Name des Verfassers und die Seitenzahl. Wird aus mehreren Büchern eines Autors zitiert, ist zusätzlich noch die Kurzbezeichnung des Schriftstückes angegeben.

Eine Besonderheit liegt mit dem seit 1974 bei der Württembergischen Bibelanstalt Stuttgart erscheinenden, umfangreichen Band „Lutherbibel erklärt“ vor, da die Erklärungen nicht von einem einzelnen Autor, sondern einem Kollektiv aus 51 Theologen stammen. Wegen seiner weiten Verbreitung im evangelisch-lutherischen Raum kann man die Schrift als offiziöses oder auch EKD-nahes Standardwerk für die bibellesende Gemeinde bezeichnen. Zwar will das Buch selbst kein Kommentar sein, zumal – wie es im Vorwort heißt – die Bibel keiner Erklärung bedarf, weil sie in ihren Grundaussagen jedem Leser einsichtig sei. Doch da die Heilige Schrift durchgehend, wenn auch mit Lücken an brenzligen Stellen, erläutert wird, ist die Bezeichnung „Kommentar“ durchaus angebracht. Zur Vereinfachung wird das Werk daher ohne Angabe des Verfassers als „Lutherbibel-Kommentar“ zitiert.

Und noch etwas: Wenn im vorliegenden Buch von Studenten, Christen oder Theologen die Rede ist, sind Menschen gemeint, nicht etwa Männer, da es sich zuerst um Gattungsbegriffe handelt, nicht um eine Art dieser Gattungen. Frauen sind also selbstverständlich eingeschlossen. Mit der „geschlechtergerechten Sprache“, also dem Partizip Präsens (Studierende), dem unsäglichen Binnen-I (ChristInnen) oder der jeweiligen Angabe zweier Genera (Theologen und Theologinnen) wäre zwar die quantitative Imposanz des Buches gewachsen, aber das wollte ich meinen Lesern (sic!) nicht zumuten.

*

Herrn Stephan Schenk und Frau Embla Dencker danke ich für Hinweise und Korrekturen, Herrn Guido Hackelbusch von der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Augustin für seine Hilfe bei der Literatur-Recherche. Nicht genug danken kann ich Herrn Dieter Langel, der als Studiendirektor für Deutsch der ideale Lektor war. Er hat den Text mehrmals durchgearbeitet und mich auf Rechtschreibfehler und stilistische Mängel aufmerksam gemacht. Dennoch etwa verbliebene Fehler sind allein von mir zu verantworten. Für die Aufnahme des Buches in das Programm des Tectum Verlages gilt mein Dank Herrn Dr. Heinz-Werner Kubitza, für die freundliche Zusammenarbeit seiner Projektbetreuerin, Frau Ina Beneke. Schließlich danke ich meiner Frau, die die Reinschrift des Manuskripts übernommen hat und bei der jahrelangen gemeinsamen Bibellektüre mein erster Gesprächspartner war.

*    *    *

EZECHIEL

Der Begriff „Israel“ im engeren Sinn bezieht sich auf das im Jahr 931 v.Chr., nach dem Zerfall des salomonischen Reiches, entstandene Nordreich, im Unterschied zum Südreich Juda; im weiteren Sinn meint „Israel“ das gesamte Land und Volk Israel, also Israel im engeren Sinn und Juda zusammen.

Wenn man im ersten Stock der Bonner Universität das Philosophische Seminar verlässt und an der Treppe vorbei zehn Meter geradeaus läuft, stößt man auf eine Tür, über der in großen weißen Buchstaben „Evangelisch-Theologisches Seminar“ steht. Jahrzehntelang habe ich diese Tür nicht wahrgenommen. Lag es an einer Verengung des Blickfeldes, oder hingen die Gedanken noch an den eben gewälzten philosophischen Problemen? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass es im Frühjahr 2003 anders war, und warum es anders war, das lag an Ezechiel!

Ezechiel, oder eingedeutscht Hesekiel, ist neben Jesaja und Jeremia einer der drei großen Propheten des Alten Testaments. Im Jahr 597 v.Chr. wurde er mit seinem König Jojachin und vielen anderen von Nebukadnezzar nach Babylonien verschleppt und bei Tel Abib an einem Euphrat-Kanal angesiedelt. Dort lebten sie anscheinend unbehelligt, aber voller Sehnsucht nach Jerusalem. Jojachins Vater, König Jojakim, hatte sich im Jahr 604 Nebukadnezzar unterworfen, war aber drei Jahre später wieder abgefallen, so dass der babylonische Herrscher 597 nach Jerusalem zog und die judäische Oberschicht deportierte.

Doch die Daheimgebliebenen fielen unter ihrem neuen König Zidkija (Zedekia) im Jahr 589 wieder von Babylon ab, worauf Nebukadnezzar erneut gegen Jerusalem zog und die Stadt nach eineinhalbjähriger Belagerung eroberte. Diesmal kannte er keine Gnade. Die Stadt samt Tempel wurde zerstört, Zidkija, der noch versucht hatte zu fliehen, geblendet und mit den Überlebenden nach Babylonien verschleppt.

Inzwischen, d.h. noch vor der Vernichtung Jerusalems, war Ezechiel von Jahwe zum Propheten berufen worden und zeigte sich als würdiges Sprachrohr seines Gottes. Wie seine Vorgänger Jesaja und Jeremia verfügte er über ein enormes Schimpf- und Drohpotenzial. Ob seine Worte wirklich v o r den Ereignissen verkündet oder nachträglich rückdatiert wurden, sei dahingestellt. Recht hatten die Propheten à la longue immer: Im Frieden prophezeiten sie wegen des Verfalls der Sitten großes Unglück; und Krieg oder andere Katastrophen waren die Strafe Gottes.

Wer aber nun erwartet, Jahwe hätte durch Ezechiel nach der ersten Vertreibung Worte des Trostes und der Hoffnung an das gebeutelte Volk gerichtet, sieht sich getäuscht, denn er beschließt die totale Vernichtung und lässt einen Sturm von Flüchen und Verwünschungen auf die Judäer niederprasseln.

Nachstehend einige Kostproben zur Einstimmung.

Darum sollen in deiner Mitte Väter ihre Kinder und Kinder ihre Väter fressen; (5,10)

Es soll ein Drittel von dir an der Pest sterben und durch Hunger
vernichtet werden in deiner Mitte, und das zweite Drittel soll durchs Schwert fallen rings um dich her, und das letzte Drittel will ich in alle Winde zerstreuen und will hinter ihnen her das Schwert ziehen. (5,12)

Hungersnot und wilde Tiere schicke ich gegen dich, damit sie dir deine Kinder rauben. Pest und Blutvergießen sollen über dich kommen. (5,17)

Mein Auge zeigt kein Mitleid, und ich übe keine Schonung, (7,4.9)

Und weil alle schuldig sind, wird keiner sein Leben festhalten können. (7,13)

… mein glühender Zorn trifft das ganze Volk. (7,14)

Ich führe die schlimmsten Völker herbei, (7,24)

… schlagt zu! Euer Auge soll kein Mitleid zeigen, gewährt keine Schonung! Alt und jung, Mädchen, Kinder und Frauen sollt ihr erschlagen und umbringen. (9,6)

… um Mensch und Tier in einem Blutbad zu vernichten, (14,19)

… dann wird sie, auch wenn sie dem Feuer entkommen, das Feuer verzehren. (15,7)

Ich mache das Land zur Wüste; (15,8)

Und sie sollen … dich steinigen und mit ihren Schwertern zerhauen … (16,40)

Ich will Feuer an dich legen, … Alle Gesichter sollen … versengt werden, … (21,3)

Verdoppelt wird das Schwert, ja verdreifacht. Ein Schwert zum Morden ist es, zum Morden, das gewaltige Schwert, das sie durchbohrt. (21,19)

Ich liefere dich grausamen Menschen aus, die ihr mörderisches Handwerk verstehen. (21,36)

Wie man Silber, Kupfer, Eisen, Blei und Zinn im Schmelzofen zusammentut und darunter das Feuer anzündet, um alles zum Schmelzen zu bringen, so will ich euch in meinem Zorn und Grimm zusammentun, will euch in den Ofen legen und euch zum Schmelzen bringen. (22,20)

… sie sollen mißhandelt und ausgeraubt werden. Die Volksversammlung soll sie steinigen und mit Schwertern in Stücke hauen.Ihre Söhne und Töchter soll man töten und ihre Häuser verbrennen. (23,46.47)

Obwohl nach Vollstreckung dieses „Gerichts“ fast alle tot sein müssen, ist „Gottes Zorn“ noch nicht verraucht, sondern richtig in Fahrt gekommen. In einem gewaltigen Rundumschlag rückt er auch allen Nachbarn Israels zu Leibe. Die einen werden ausgerottet, die anderen vernichtet, die dritten ausgemerzt. So geht es gegen Ammon, Moab, Edom, die Philister, Kereter und übrigen Küstenvölker, gegen Tyrus, Sidon und Ägypten. Das ganze Arsenal der Grausamkeiten und gegen Israel bewährten Todesarten wie Feuer, Schwert, Pest, wilde Tiere usw. wird auch gegen die genannten Länder aufgeboten, bereichert um die dauerhafte Verwüstung der Lebensgrundlagen und die Verfolgung bis in die Unterwelt.

Auffällig ist, dass mit Babylonien der Hauptfeind, der Zerstörer Jerusalems und Liquidator Judas fehlt, vermutlich weil Ezechiel schlecht Stimmung gegen seinen aktuellen Zwingherrn machen kann. Außerdem braucht Jahwe ein irdisches Vernichtungswerkzeug. Geradezu rührend sorgt er für Nebukadnezzar, als dieser bei dem Versuch scheitert, Tyrus, die der Küste vorgelagerte Inselstadt, zu erobern:

Menschensohn! (d.i. Ezechiel, JS) Nebukadnezzar, der König von Babel, hat sein Heer vor Tyrus schwere Arbeit verrichten lassen; alle Köpfe wurden kahl, und jede Schulter war zerschunden. Aber Tyrus hat ihn und sein Heer nicht belohnt für die Arbeit, die sie geleistet haben. Darum – so spricht Gott, der Herr: Ich gebe Nebukadnezzar, dem König von Babel, das Land Ägypten. Er wird seine Schätze wegschleppen; er wird alles plündern und reiche Beute machen. Das wird der Lohn seines Heeres sein. Als Belohnung für seine Arbeit gebe ich ihm Ägypten; denn sie haben für mich gearbeitet – Spruch Gottes, des Herrn. (29,18-20)

Was sind die Gründe für diese exorbitante Bestrafung der Nachbarn? „Götzendienst“ wie in Israel kann es ja nicht sein. Nun, neben der immer wieder zu lesenden Anschuldigung, diese Völker seien bei der sogenannten Landnahme, also der Eroberung ihres eigenen Landes vor rund 600 Jahren, nicht kooperativ gewesen, treten noch alle möglichen Vorwürfe. Doch plausibel sind sie nicht, vielmehr an den Haaren herbeigezogen.

Sicher, es ist schäbig, sich am Leid anderer zu delektieren, Schadenfreude zu bekunden oder wirtschaftliche Vorteile einzustreichen. Aber ist es nicht auch verständlich, wenn man immer wieder von Israel zu hören bekam: Wir sind das auserwählte Volk! Wir stehen unter dem Schutz unseres Gottes, der der Größte ist und alle anderen in den Sack tut. Wir wohnen in Städten, die wir nicht gebaut haben, weil Jahwe uns dieses Land gegeben hat. – Ist es da nicht geradezu menschlich, Haha zu schreien (25,3)?

Allerdings scheinen nicht alle diese verfluchten Nachbarvölker sofort vom Erdboden verschwunden zu sein; Gott denkt in anderen zeitlichen Dimensionen, wie man oben im Zusammenhang mit der 600 Jahre lang aufgesparten Rache sehen konnte. Deshalb kann z.B. der Lutherbibel-Kommentar im Fall Tyrus mit hörbarer Befriedigung feststellen:

Diese Drohung ist später durch Alexander von Mazedonien (333 v.Chr.) erfüllt worden; 250 Jahre wartete Gott! (S 1311)

Ab Kapitel 33 scheint sich Jahwe allmählich zu beruhigen. Als aber am fünften Tag des zehnten Monats im elften Jahr nach der ersten Verschleppung ein Flüchtling in Babylonien eintrifft und die Zerstörung Jerusalems mitteilt – Ezechiel weist beflissentlich darauf hin, die Nachricht schon am Vorabend durch die Hand des Herrn erhalten zu haben – holt Jahwe nochmals aus und befiehlt seinem Propheten:

Darum sag zu ihnen: So spricht Gott, der Herr: So wahr ich lebe, wer in den Ruinen ist, fällt unter dem Schwert, wer auf dem freien Feld ist, den werfe ich den wilden Tieren zum Fraß vor, und wer sich in den Burgen und Höhlen aufhält, stirbt an der Pest. (33,27)

Doch auch die wilden Tiere haben es nicht leicht. Bekamen sie soeben noch Menschenfleisch satt, so beschließt Jahwe nun in einem neuen Friedensbund:

Ich rotte die wilden Tiere im Land aus. Dann kann man in der Steppe sicher wohnen und in den Wäldern schlafen. (34,25)

Die Frage ist nur, wer noch da sein soll, um zu wohnen und zu schlafen. Aber davon lässt sich der Herr nicht beirren. Geradezu euphorisch schwärmt er vom neuen messianischen Reich, in dem die Israeliten in einem Garten des Heils leben, in Sicherheit vor anderen Völkern und Tieren, wo die Bäume und Felder fruchtbar sind, weil er immer für rechtzeitigen Regen sorgt.

Nach so vielen Schalmeienklängen ist es Zeit, wieder einen Kontrapunkt zu setzen. Unvermittelt wird Edom attackiert und das Kriegsziel mit wünschenswerter Klarheit umrissen:

Ich … vernichte alles, was sich dort bewegt und regt. (35,7)

Sollte die Devise moderner Kriegsführung – Schießen auf alles, was sich bewegt! – hierher stammen?

Nachdem Jahwe sich gegenüber Israels Nachbarn Luft gemacht hat, wird er wieder gnädig zu seinem Volk und will ihm sogar mehr Gutes erweisen als je zuvor, allerdings nicht um Israels willen, sondern ad maiorem Dei gloriam (36,22).

Hält er damit dem kategorischen Imperativ stand? – Kant: Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst.

Aber Jahwe ist mit solchen Kriterien nicht zu fassen. Er ist nicht nur allgütig, sondern auch allmächtig. Sogar die Toten weckt er wieder auf – freilich nur die des Hauses Israel – , schließt einen neuen Friedensbund, der diesmal ewig halten soll, verspricht die Wiedervereinigung des geteilten Landes sowie viele Kinder und blühende Landschaften.

Doch bevor das neue Israel besiegelt wird, holt Jahwe noch einmal die Kriegsfuchtel hervor. Weit entfernt, im äußersten Norden, hat er mit dem Fürsten Gog aus dem Land Magog einen Feind ausgemacht, der Israel eines Tages gefährlich werden könnte. Gog weiß zwar noch nichts von den eigenen finsteren Absichten, aber Jahwe schlägt Haken in Gogs Kinnbacken, um ihn auf die Spur zu setzen, provoziert und lockt ihn samt seiner ganzen Heeresmacht sowie verschiedenen weiteren Völkern nach Israel; denn alle sollen erkennen, wenn Er sich vor ihren Augen als heilig erweist.

In Israel werden sie von einem göttlichen Erdbeben empfangen. Verwirrt durch berstende Berge und stürzende Felsen schlachten sie sich gegenseitig ab. Neben Strömen von Blut sorgt Jahwe noch für die Pest, Wolkenbrüche, Hagel, Feuer und Schwefel, damit nichts schief geht. Schließlich wird Ezechiel beauftragt, alle Vögel und wilden Tiere herbeizurufen, um bei der Entsorgung zu helfen:

… kommt, und freßt Fleisch und trinkt Blut! Das Fleisch der Helden sollt ihr fressen, das Blut der Fürsten der Erde sollt ihr trinken. … Freßt euch satt am Fett, und berauscht euch am Blut meines Opfers, das ich für euch geschlachtet habe. … So zeige ich unter den Völkern meine Herrlichkeit. (39,17-21)

Die letzten neun Kapitel sind dem Aufbau des neuen Israel gewidmet mit erstaunlich detaillierten Anweisungen über den Bau des Tempels, den Kult und die Verteilung des Landes.

Wie man göttliche Massaker bewältigt

Wenn man das Buch Ezechiel unvoreingenommen gelesen hat und erschlagen ist von den Ungeheuerlichkeiten eines Wesens, das so gar nichts mit dem übermittelten Gottesbild zu tun hat, dann liegt die Frage nahe: Was steht eigentlich in den vielen Büchern, die es über die Bibel gibt, bzw. was sagen heutige Theologen dazu?

Ich habe vier verfügbare Kommentare eingesehen, zwei populärwissenschaftliche über die gesamte Bibel bzw. das Alte Testament und zwei fachwissenschaftliche speziell zum Buch Ezechiel, wovon der zweite neueste noch nicht vollständig ist und nur die Kapitel 1-24 erläutert, d.h. noch nicht die Drohsprüche gegen die fremden Völker.

Das 1970 erschienene Werk „Das Buch der Bücher – Altes Testament, Einführungen, Texte, Kommentare“ ist eine Gemeinschaftsarbeit mehrerer Wissenschaftler, eingeleitet durch den renommierten Theologen Gerhard von Rad. Auf 571 eng beschriebenen Seiten werden „die wichtigsten Texte des Alten Testaments“ abgedruckt und erläutert. Immerhin 15 Seiten (Bibeltext und Kommentar) entfallen davon auf das Buch Ezechiel.

Was sagen nun die Interpreten zu dem göttlichen Amoklauf, der sich über mehr als die Hälfte der 48 Kapitel des Buches Ezechiel erstreckt? Die Antwort ist einfach: Nichts! Zwar wird die Schuld Israels erwähnt, seine Sünden, die die Strafen Jahwes nach sich ziehen; aber über die maßlose, unbarmherzige Grausamkeit und Brutalität dieser Strafen wird kein Wort verloren. Schon die Auswahl des wiedergegebenen Bibeltextes ist merkwürdig. Dass es nur Teile aus 12 von 48 Kapiteln sind, mag dem geplanten Umfang des Werkes geschuldet sein. Dass aber gerade jene Kapitel fehlen, in denen die Strafen ausgebreitet werden, ist bezeichnend.

Diese einseitige Auswahl ist die häufigste, eleganteste, aber auch verlogenste Art der Bewältigung.

*

„Luther-Bibel erklärt. Die Heilige Schrift in der Übersetzung Martin Luthers mit Erläuterungen für die bibellesende Gemeinde“ heißt der voluminöse Band, den wir jetzt zu Rate ziehen wollen. Von über 2000 Seiten (Text und Erklärung) entfallen 86 auf Hesekiel (Ezechiel), und da die Erläuterungen jeweils seitlich neben dem Bibeltext angeordnet sind, liegen vom äußeren Rahmen her gute Voraussetzungen dafür vor, dass auch das zur Sprache kommt, was verniedlichend gern der „Zorn Gottes“ genannt wird.

Und in der Tat: Die Kommentatoren gehen in manchen Fällen nicht darüber hinweg. Nachstehend einige Beispiele bzw. Stichworte:

Zu den Versen 5,10-17, wo nach Jahwes Willen Väter ihre Kinder und Kinder ihre Väter fressen sollen, und wo er expressis verbis mitleid- und gnadenlos alle einem grausamen Tod durch Hunger, Pest, Schwert oder wilde Tiere weiht, heißt es lapidar:

Wer die Härte des Gerichts unerträglich findet (wer wohl? JS), denke an Jesu Kreuz! (S 1275)

Zu Kapitel 6, in dem wie in den folgenden das Wüten Jahwes weitergeht, lesen wir:

Im grauenvollen Gericht soll der lebendige Gott erkannt und erfahren werden. (S 1276)

Und:

Wir … sind den Gefahren preisgegeben, wenn Gott seine Hand abzieht. (S 1276)

Wird die Sache damit nicht auf den Kopf gestellt?

In den Bemerkungen zu Kapitel 8 ist sogar von „Greuel(n)“ die Rede. Aber es sind nicht die Greuel, die Jahwes Hand über die Kinder Israel kommen lässt, sondern deren Götzendienst.

Zu Kapitel 11 heißt es, Jahwe werde „eine durch Gerichte gereinigte Gemeinde sammeln“, also nachdem Schmutz und Ungeziefer erbarmungslos ausgerottet sind. Das kommt uns bekannt vor, wie auch zu Kapitel 12 der Begriff „Auswanderung“ für den Vorgang der Verschleppung mit gezücktem Schwert im Rücken.

Zu dem Vorwurf in Kapitel 13,19, wo Jahwe den Israeliten vorhält, Menschen verschont zu haben, die nicht am Leben bleiben sollten, schweigt der Kommentar leider.

Zu Kapitel 14, wo „ausmerzen, vernichten, ausrotten“ die hervorstechenden Vokabeln sind, wo von einem göttlichen Blutbad für Mensch und Tier die Rede ist, hält der Exeget den „Trost“ bereit, „daß Gottes Gericht nicht ungerecht war“!

Dass Jerusalem keine israelische Gründung war, sondern von David erobert wurde (1 Chr 11,4), wird in Kapitel 16 angedeutet, im Kommentar vernebelt und mit dem schönen Satz angereichert:

Ohne Gottes Gnade wäre es (das Volk Israel, JS) nicht besser als die Heiden. (S 1289)

Im Übrigen heben die Interpreten wiederholt darauf ab, Gottes Gerichte seien nicht das letzte Wort, d.h. er lässt Israel und Jerusalem nicht völlig untergehen, auch wenn fast alle grausam vernichtet werden. Auf die Institutionen kommt es an, nicht auf die Menschen. Diese sind ersetzbar.

Unbeirrt von dem soeben noch vernommenen kollektiven Verdammungsurteil (17,21) oder dem in Kapitel 21,8 folgenden Vers:

Ich ziehe mein Schwert aus der Scheide und rotte bei dir die Gerechten ebenso wie die Schuldigen aus.

wird die Erläuterung von Kapitel 18 mit der Feststellung eingeleitet:

Gott richtet jeden nach seinem Tun und fordert Umkehr. (S 1295)

Im Kapitel 20 gibt es mit den Versen 25 und 26 insofern eine Besonderheit, als der Allmächtige, Allgütige und Allweise sich selbst den Boden unter den Füßen wegzieht, indem er seine Verantwortung für schlechte Gesetze und sogar für Kinderopfer einräumt, was den Kommentator sichtlich irritiert, obwohl auch für Kinder bei den obigen Vernichtungsorgien keine Ausnahme gemacht wurde (ich komme darauf zurück).

Dafür fällt ihm zu Kapitel 21, in dem es wieder richtig zur Sache geht, eine geniale apologetische Argumentationsfigur ein:

Wir fragen in Notzeiten: Wie kann Gott das zulassen? Wir sollten eher in Zeiten des Abfalls fragen: Wie kann Gott bei aller Lästerung so lange schweigen? (S 1301)

Nebenbei bemerkt: „zulassen“ hört sich nach Indolenz an. Davon kann keine Rede sein. Jahwe ist geradezu überaktiv, er befiehlt und handelt, auch wenn er sich etwa eines Nebukadnezzars als Henker bedient, denn:

Das Henkersschwert vollführt Gottes Gericht. (S 1302)

In der Erläuterung zu Kapitel 22 stehen, die Vorwürfe gegen Jerusalem betreffend, drei kurze Sätze, die an Dreistigkeit schwer zu überbieten sind:

Götzendienst und Mord sind nur zu oft Schwestern. (S 1304)

Dass e i n e Religion der anderen Götzendienst vorwirft, ist eine bekannte Erscheinung. Im Judentum kapriziert sich das gegenüber den Christen auf die Person Jesus, der nicht als Messias anerkannt und im Talmud wüst beschimpft wird. Der Islam sieht in der Gottessohnschaft Jesu eine unüberbietbare Gotteslästerung. Was folgt daraus? Kann man sich gegenüber den Anbetern von Baal oder Astarte so aufs hohe Ross setzen, wenn man eben noch das allgemeine Schlachtgebot gefeiert hat?

Wer seinen Gott vergißt, ist zu jeder Bosheit fähig. (S 1304)

Es ist ein alter Topos, dass die Christen (und Juden) mit ihrem Glauben und den Zehn Geboten beanspruchen, festen Boden unter den Füßen zu haben, während sie die „Ungläubigen“ unter Rechtfertigungsdruck stellen, weil bei diesen angeblich alles erlaubt ist. Dazu wäre manches zu sagen. Ich will es hier bei einem Zitat des jüdischen Religionsphilosophen Ben-Chorin belassen: alle Mörder in Auschwitz und Treblinka waren getaufte Christen … (16.5.1987)

Auch Mord und Unzucht sind verwandt. (S 1304)

Vulgo: Wer fremdgeht, ist ein potenzieller Mörder!

Zur Zeit der Niederschrift dieser Zeilen sind viele sexuelle Übergriffe von Priestern und anderen Vertrauenspersonen an ihren Schützlingen bekannt geworden. Mögen diese Vorgänge noch so widerlich sein: Sind nicht die Täter verführte Verführer? Wie dem auch sei, ein Mord ist im Zusammenhang mit diesen Missbrauchsfällen nicht bekannt geworden, und m.E. ist es auch völlig abwegig, hier von einer Verwandtschaft zu sprechen.

Im Kapitel 25 beginnt Das Gericht über die Völker, mit dem die göttlichen Barbareien fortgesetzt werden. Um die Aufmerksamkeit des Lesers nicht zu ermüden, gehe ich nur noch auf weniges ein, denn die Art des Umgangs mit diesem – wie die Schönredner gern sagen – „sperrigen Text“ dürfte deutlich geworden sein. Man nennt die Dinge zwar nicht beim Namen und übergeht vieles, z.B. die wiederholte Anweisung Jahwes, kein Mitleid zu haben; aber man blendet nicht alles Widrige aus, sondern findet es in Ordnung, weil Gottes Gerichte eben, wie schon gesehen, nie unbegründet sind (S 1306). Deutlich ist bei der Vernichtung der anderen Völker die Genugtuung des Interpreten zu spüren, obwohl die Sünden dieser Völker diffus sind: Hochmut, Reichtum, Geschäftsklugheit, Profitierung von der Zerstörung Jerusalems, Schadenfreude oder angeblich offene Rechnungen aus der Zeit der „Landnahme“. Manchmal wird sogar die Politik der Gegenwart beeinflusst. In dem kurzen Kapitel 25 (17 Verse) heißt es u.a. zu Ammon:

… ich rotte dich aus … ich vernichte dich.

zu Moab und Seir:

…ich (will) die Flanke … aufreißen, so daß es bei ihm keine Stadt mehr gibt …

zu Edom:

…ich vernichte darin Mensch und Tier und mache es zur Wüste.

zu den Philistern:

Ich will jetzt meine Hand gegen (sie) ausstrecken, ich will die Kereter (eine Gruppe der Philister, JS) ausrotten und die übrigen Völker an der Küste vernichten.

Außerdem kommt fünfmal das Wort „Rache“ vor – für den Kommentar keiner Bemerkung wert. Dafür hebt er den Gaza-Streifen hervor. Dort hatten sich um 1200 v.Chr. die Philister angesiedelt (vorher Kanaaniter): „Um 1000 v.Chr. beherrschten die Philister das westjordanische Palästina. Mit ihnen geriet das sich konstituierende Israel in Konflikt.“ (Reclams Bibellexikon S 393). Im Kommentar liest sich das so:

Die Philister sind, von Kreta kommend, verhältnismäßig spät an der Südwestküste des Landes gelandet. Bekannt sind die Kämpfe Simsons, Sauls und Davids mit ihnen. Die Grenze zu Juda war offen. Deshalb hörten die Kämpfe nie auf. Es ist der heutige „Gazastreifen“. Nach Gottes Verheißung gehört er Israel. (S 1311)

Ob Allah das auch so sieht?

Weiter geht es mit dem Herrlichen Vernichtungsfeldzug, allein drei Kapitel gegen Tyrus, vier gegen Ägypten und zwei gegen Magog. Besonders alles Hohe, Prächtige, Erhabene ist Jahwe ein Dorn im Auge, denn das sind Attribute, die nur ihm und allenfalls seinen Auserwählten zustehen. Alle anderen haben demütig zu dienen, wie es schon dem armen Esau und seinen Nachkommen auf den Weg gegeben wurde. Ausdrücklich hebt der Exeget unter Bezug auf Jesaja 2,11ff hervor:

Alles Hohe soll erniedrigt werden. (S 1321)

Aber wir brauchen die Erläuterungen nicht mehr im Einzelnen zu verfolgen, obwohl noch manches Klein- und Großod zu entdecken ist. Die Art der Bewältigung ist klar geworden: rechtfertigen, relativieren und – wenn es gar nicht anders geht – auslassen. Einen zwiespältigen Trost gibt es immerhin mit den letzten Bemerkungen zum Abschnitt „Das Gericht über die Völker“:

Allen Weltmächten, den schon gefallenen wie den noch stehenden, muß der Prophet Grablieder singen. Über Israel aber darf er bald (Kap 37) ein Osterlied anstimmen. Denn als das Volk der Verheißung und des Heils für alle Welt hat es durch Gottes Plan durch das Gericht hindurch eine herrliche Zukunft. (S 1323)

*

Wenden wir uns der nächsten Auslegung zu, die 1996 in der Reihe „Das Alte Testament Deutsch. Neues Göttinger Bibelwerk“ erschien. Verfasser ist der Universitätsprofessor für Altes Testament Dr. theol. Karl-Friedrich Pohlmann. In zwei Bänden mit 631 Seiten und rund 3000 Fußnoten hat er einen neuen Kommentar und eine neue Übersetzung des Ezechiel-Buches vorgelegt. Wo, wenn nicht hier, kann ein interessierter und im christlichen Abendland aufgewachsener Leser Antworten auf die Fragen erwarten, die sich jedem aufdrängen müssen, der nicht durch Weihrauch oder Obskurantismus benebelt ist?

Leider folgt schon bald die erste Ernüchterung, obwohl der Autor zweifellos über großen Scharfsinn und eine immense Bibelkenntnis verfügt. Aber wofür verwendet er diese Fähigkeiten? Er verwendet sie ganz überwiegend dazu, philologisch-technischen Fragen nachzugehen. Er untersucht also, ob der Text aus e i n e m Guss ist oder in mehreren Stufen entstanden, ob verschiedene Autoren beteiligt waren, ob er in einem zeitlichen Zusammenhang verfasst wurde, ob ursprüngliche Teile herausdestilliert werden können, welche Beziehungen zu anderen Büchern der Bibel bestehen usw., Beispiel:

Möglicherweise enthält 7,6 f. Reste eines ursprünglichen Textes, der anstelle von 7,10.12 oder in Kombination mit darin jetzt noch erhaltenen Aussagen die weiteren Darlegungen in 7,10-27 einleitete. Daß Aussagen in V. 7 (vgl. zu „Zeit“ und „Tag“) leicht variiert in V. 10 und 12 zu lesen sind, spricht jedenfalls dafür, daß der in 7,8.9* sondierte „Vorspann“ hier unter Anwendung des „Prinzips der Wiederaufnahme“ Fußnote 489 verklammert wurde: Die Hinweise auf das nahe Ende, die Zeit etc. waren als ursprüngliche Einleitung zu 7,10-27* vorgegeben; der spätere „Vorspann“ 7,8.9* wurde nun so eingebunden, daß die betreffenden Hinweise als Kopf des Vorspanns zu lesen standen, worauf ihre Wiederholung hinter 7,8.9* zwecks Ein- bzw. Überleitung zu 7,10 - 27* notwendig wurde. Dafür, daß in V. 7b alpha die im Vergleich zu V. 12a alpha ursprünglichere Formulierung erhalten ist, spricht möglicherweise, daß in Ez 12,23 mit „nahe sind die Tage“ unverkennbar ein Rückbezug auf das „nahe ist der Tag“ in 7,7 vorliegt Fußnote 490. Der Verweis auf das kommende „Ende“ Fußnote 491 (V.6) taucht möglicherweise nach der Einschaltung von V. 8 a alpha beta.9 deswegen nicht mehr in der Überleitung zum Folgenden auf, weil damit in V. 6 das nun die neue Textfolge insgesamt abdeckende Thema genannt ist. (S 115/116)

Alles, wie gesagt, sehr scharfsinnig, penibel, bewundernswert; aber nicht das, was hier interessiert. Hier interessiert, wie ein kanonisierter Teil der Heiligen Schrift mit dem Selbstverständnis des Christentums in Einklang gebracht wird. Natürlich wird auch diese Frage berührt, aber eher indirekt. Im Blickpunkt stehen dabei die Gerechtigkeit und die Frage, wie Jahwe sein Ziel erreicht.

Was die Gerechtigkeit betrifft, so finden wir im Buch Ezechiel, wie ähnlich auch in anderen Teilen der Bibel, folgende Aussagen:

a. Nur wer sündigt, soll sterben. Ein Sohn soll nicht die Schuld seines Vaters tragen und ein Vater nicht die Schuld seines Sohnes. Die Gerechtigkeit kommt nur dem Gerechten zugute, und die Schuld lastet nur auf dem Schuldigen. (18,20)

b. Nach ihrem Verhalten und nach ihren Taten habe ich sie gerichtet. (36,19)

c. Ihre (der Ehebrecherinnen und Mörderinnen) Söhne und Töchter soll man töten und ihre Häuser verbrennen. (23,47)

d. Alt und jung, Mädchen, Kinder und Frauen sollt ihr erschlagen und umbringen. (9,6)

e. Ich ziehe mein Schwert aus der Scheide und rotte bei dir die Gerechten ebenso wie die Schuldigen aus. (21,8)

f. Wenn der Gerechte sein rechtschaffenes Leben aufgibt und Unrecht tut, muß er dafür sterben … Wenn sich der Schuldige von dem Unrecht abwendet, das er begangen hat, und nach Recht und Gerechtigkeit handelt, wird er sein Leben bewahren. (18,26)

g. Wenn (der Gerechte) im Vertrauen auf seine Gerechtigkeit Unrecht tut, dann wird ihm seine ganze (bisherige) Gerechtigkeit nicht angerechnet. Wenn (der Schuldige) sein sündhaftes Leben aufgibt, wird ihm keine der Sünden, die er früher begangen hat, angerechnet. (33,13-16 gerafft)

Die individuelle Verantwortung (a + b) steht unserem ethischen Empfinden am nächsten. Unbehagen bereitet die kollektive Haftung, sei es als Familienmitglied (c) oder als Volksgenosse (d + e), obwohl sie in der Neuzeit keineswegs ausgestorben ist; man denke nur an Vertriebene, die – ganz unabhängig von persönlicher Schuld – für andere büßen mussten. Auch im heutigen Israel wurden palästinensische Familien wiederholt gezwungen, die Zerstörung ihrer Häuser als Repressalie für die Gewalttat eines ihrer Mitglieder hinzunehmen, von deren Terroranschlägen gar nicht zu reden.

Auch die Verse f und g bereiten Bauchschmerzen. Wir denken vielleicht an Jesu Worte zu dem einsichtigen Verbrecher am Kreuz:

Amen, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein. (Lk 23,43)

oder an Luthers „sola fide“! (Allein durch den Glauben.)

Aber in den Versen f und g geht es nicht um das ewige Leben, sondern um das irdische. Trotzdem: Kann es gerecht sein, wenn es nicht auf die Quersumme, sondern den letzten Stand der Dinge ankommt? Wenn der Schweinehund am Ende seines Lebens den Glauben entdeckt und der Anständige abfällt, weil er nicht glauben kann? Sind im Grunde Ethik und Glaube nicht inkommensurable Größen? Warum haftet dem Unglauben bis heute etwas Ruchloses an?

Wie dem auch sei, unbestreitbar ist, dass sich die obigen Dikta widersprechen; oder was sagt der Professor für Altes Testament Pohlmann dazu?

Ich schicke voraus, dass es sich bei den im Kommentar enthaltenen Wertungen wohl nicht um solche des Verfassers handelt, sondern um ausdrückliche oder unterstellte Wiedergaben des Ezechiel-Textes. Wenn also z.B. auf Seite 141 vom

… nach allem nun Jahwes ausreichend begründeten zornigen Entschluß zum mitleidlosen Vorgehen …

die Rede ist, so gehe ich z. G. Pohlmanns davon aus, dass nicht dieser, sondern der Autor des Ezechiel-Buches resp. Jahwe selbst die mitleidslose Vernichtung des ganzen Volkes (7,13) für ausreichend begründet hält. Dass aber persönliche Bemerkungen Pohlmanns nicht schlechthin fehlen – und eine Unterscheidung für den Leser deshalb nicht immer auf der Hand liegt –, werden wir noch weiter unten sehen.

Was nun die Antinomie zwischen kollektiver und individueller Schuld betrifft, so schreibt Pohlmann, es lasse sich nicht bestreiten, dass man im alten Israel längst mit der Vorstellung überindividueller Schuldverhaftung vertraut war; aber ein Kausalnexus zwischen den Generationen sei nicht mehr nachvollziehbar gewesen (S 264). Und:

Gegen das die elende Wirklichkeit erklärende Modell der übergreifenden Schuldverhaftung setzt der für 18,14-20 zuständige Theologe seine Konzeption der individuellen Schuldverhaftung. Diese Konzeption implizierte eine grundsätzliche Umzentrierung bisherigen Ordnungsdenkens. Hier steht nicht mehr, wie nach älterer Vorstellung, der einzelne als derjenige vor Augen, der eingebunden in die allgemeine Ordnung für diese Ordnung mitverantwortlich ist, also auch mitbetroffen ist, wenn diese Ordnung von anderer Seite gestört oder gefährdet wird. Eine solche Ordnung rückt offensichtlich gar nicht mehr in den Blick. Der einzelne verwirklicht jetzt nur noch für sich Ordnung. (S 273)

Hier drängen sich mindestens zwei Fragen auf:

Ist die Heilige Schrift, die Gottes Wort oder zumindest seine Inspiration enthalten soll, ist diese Schrift, zumal in Kernaussagen wie hier, genauso zeitbedingt wie andere Schriften aus dem Altertum?

Wie stimmt dieser Paradigmenwechsel von der kollektiven zur individuellen Schuld mit den oben unter c - e wiedergegebenen Versen überein?

Auf die erste Frage werde ich noch zurückkommen, zur zweiten bietet Pohlmann in einer über viele Seiten gehenden, kurvenreichen Argumentation gleich mehrere Antworten an:

Von einem bestimmten Punkt an, einem „point of no return“, ist Jahwe nicht mehr ansprechbar (S 142); vulgo: er hat die Nase voll und haut alle und alles kurz und klein.

Die Verse 14,12-14, in denen es heißt:

… wenn ich … Mensch und Tier ausrotte und wenn in diesem Land die drei Männer Noach, Daniel und Ijob leben würden, dann würden nur diese drei um ihrer Gerechtigkeit willen ihr Leben retten … sollen eine vorausgeschickte, 21,8f (s.o. unter e) korrigierende Klarstellung sein! (S 322)

Unschuldige werden von Jahwe „selbstverständlich“ nicht in das Totalgericht mit einbezogen. (S 143)

In umfassenden Katastrophen werden alle ausnahmslos die Betroffenen sein, zumal es streng genommen keine unschuldigen und gerechten Menschen gibt. (S 323/143)

Noch Fragen? Es hieße die Intelligenz des Lesers zu beleidigen, wenn ich das Hanebüchene dieser Rabulistik noch einmal herausstellen würde.

Aber wir müssen uns noch der Auslegung der Verse f und g zuwenden, Versen, die sich nicht widersprechen, aber durch ihre Radikalität befremden bzw. ungerecht erscheinen.

Da sie sich im Wesentlichen gleichen, verweist Pohlmann bei den Versen 33,13-16 auf die Kommentierung zu 18,26-28, so dass wir es nur mit den Ausführungen auf den Seiten 273-275 zu tun haben.

Er schreibt, die alte Regel, wonach der Gerechte zum Leben gehört habe, der Ungerechte aber zum Tode, sei im Verlauf der Geschichte als zu starr empfunden worden und musste deshalb verfeinert werden. Hier wird ihm sicher keiner widersprechen. Aber was macht er daraus? Dem ehemals Gerechten zeigt er die kalte Schulter:

… der Abkehr auch des Gerechten von seiner Gerechtigkeit (mußte) Rechnung getragen werden.

und wendet sich ganz dem Reumütigen zu. Für die „Sünder“ – gemeint ist der Abgefallene – bleibt nur der Tod, doch die „Unschuldigen und Bußfertigen“ werden leben, ohne Rücksicht auf die Vergangenheit. Zum Abschluss versteigt er sich gar zu dem Satz, das Hauptanliegen dieses Abschnitts sei, Jahwe als einen Gott zu vermitteln, der das Leben wolle, dem alles daran liege, Leben zu erhalten! Aber das Ignorieren der Vergangenheit zeigt: Es geht nicht um Gerechtigkeit, und das Todesurteil für den Apostaten beweist: Es geht nicht um Leben. Es geht um Stabilisierung der Macht, um Unterwerfung, um orientalischen Despotismus.

Doch einmal abgesehen von der Schuldnerschaft: Zur Gerechtigkeit gehört auch eine gerechte, d.h. angemessene Strafe. Nun verlangt niemand für ein archaisches Gemeinwesen ein so ausdifferenziertes Sanktionssystem wie bei einem zivilisierten Staat der Neuzeit. Aber jeder, der das Alte Testament gelesen hat, weiß, wie schnell Jahwe mit Todesurteilen bei der Hand ist. Auch im Buch Ezechiel gibt es praktisch nur e i n e Strafe, die sich lediglich durch die Art ihrer Vollstreckung unterscheidet; ob also erschlagen, verbrannt, gesteinigt wird oder ein langsamer Hungertod eintritt.

Für Pohlmann ist das alles kein Grund, die Gerechtigkeit Jahwes in Frage zu stellen. Wie es sich für einen wissenschaftlichen Kommentar gehört, werden alle Bezüge kühl und sachlich herausgearbeitet. Lässt sich doch einmal eine persönliche Bemerkung nicht umgehen, weil es um das Abscheulichste geht, das wir kennen, sieht das so aus:

Daß auch die Kinder als an den Vergehen mitbeteiligt gelten und somit nicht geschont werden können (V.6), ist eine für uns nicht nachvollziehbare Vorstellung; sie ist jedoch im AT auch sonst belegt (z.B. Numeri 16,27). (S 144)

Der leichten Distanzierung folgt schnell ein „jedoch“, und der Tat selbst wird eine Zwangsläufigkeit untergeschoben.

Noch an manch anderer Stelle mündet Textanalyse in Rechtfertigung. So heißt es z.B. auf Seite 335:

… die katastrophalen Entwicklungen 587 v.Chr. sind … nicht Auswirkungen göttlicher Willkür, sondern Ergebnis seines gerechten und zielgerichteten Ordnungswillens.

Auf den Gedanken, den brutalen Ausrottungsfeldzug als Ausfluss göttlicher Ordnungsliebe zu sehen, wäre man so leicht nicht gekommen; aber eigentlich hat Pohlmann recht: Wenn alle tot sind, kann keiner mehr für Unordnung sorgen.

Mögen die vielen Widersprüche und Ungereimtheiten im Buch Ezechiel auch mit der Entstehung und Überlieferung des Textes zusammenhängen, entscheidend war die Frage, wie das überlieferte Gottesbild mit der Realgeschichte zu vereinbaren war, konkret: Wie konnte Nebukadnezzar das auserwählte Volk des Allmächtigen vernichten?

Die Vernichtung war nicht zu bestreiten, die Auserwähltheit Israels nicht und die Allmacht erst recht nicht. Unter keinen Umständen durfte – wie Pohlmann immer wieder betont – der Untergang Judas ein Sieg Babels und seiner Götter über Jahwe sein! Deshalb musste die Schuld Israels hochgeschrieben und Nebukadnezzar als Werkzeug Jahwes zur Bestrafung Israels hingestellt werden. Noch das grausamste Geschehen musste von ihm befohlen und herbeigeführt sein – jedenfalls nach Auffassung der israelischen Priesterkaste im sicheren Babylonien. Die Leidtragenden, d.h. unmittelbar Betroffenen, haben vielleicht anders darüber gedacht.

Auch der Plan zur totalen und unbarmherzigen Vernichtung der Nachbarn ist für Pohlmann kein Anlass, irgendwelche ethischen Erwägungen anzustellen; aber der Halbvers 26,17 über Tyrus

… du und deine Bewohner, die alle ihre Nachbarn in Schrecken versetzten.

bewegt ihn dazu, auf einer halben Seite (381) nicht weniger als viermal von „Terrormächten“ zu sprechen!

Der drohende Ansehensverlust Jahwes dient auch als Motiv für die Vernichtung der Fremdvölker. Dass die oben genannten Gründe nicht überzeugen, wurde schon gesagt. Besonders deutlich zeigt sich das an dem beschimpften Ägypten. Pohlmann räumt selbst ein, dass

Hinweise auf konkrete Vergehen an Jahwes Volk ebenso fehlen wie Vorwürfe von Hohn, Spott oder Verachtung (so die Vorwürfe an die Nachbarvölker Ez 25 ff). (S 406)

Im Gegenteil: Es gab

bei Bemühungen seitens Judas und Israels, sich gegen assyrische und dann babylonische Eroberungsgelüste zur Wehr zu setzen bzw. aus dem Joch fremder Oberherrschaft auszuscheren, von ägyptischer Seite fast regelmäßig Rückendeckung und Unterstützung; (S 400)

Ägypten hat sogar nach Jeremia 37,5-9 während der Belagerung Jerusalems einen Entlastungsangriff unternommen. Trotzdem ist für den Exegeten wegen angeblich widergöttlicher Überheblichkeit und Selbstdarstellung

Jahwes geplantes Vorgehen begründet und nachvollziehbar. Jahwe wird dieses Ungeheuer völlig vernichten. Wie kann er mit einer Chaosmacht auch anders umgehen! (S 406)

D.h. für Pohlmann ist es akzeptabel, dass ein Land für eine Haltung der Selbstüberhöhung, wie sie mehr oder weniger jede Großmacht der Weltgeschichte ausgezeichnet hat, und wie sie vor allem den Gründungsmythos des auserwählten Volkes kennzeichnet, verwüstet wird, Mensch und Tier ausgerottet werden.

Man muss das nochmal mit Abstand betrachten: Ein Mann im Exil, bei dem man den Verdacht nicht loswird, von der psychologischen Kriegsführung seines Zwingherrn eingekauft zu sein, der jedenfalls eher das Sprachrohr Nebukadnezzars als eines Übergottes zu sein scheint, ein solcher Mann macht das, was man heute als Volksverhetzung bezeichnen würde. Und für einen deutschen Professor der theologischen Wissenschaft ist das begründet, nachvollziehbar und alternativlos!

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Sehen wir uns nunmehr den vierten und letzten Kommentar an, der allerdings, wie schon erwähnt, nur für die Hälfte des Buches Ezechiel vorliegt, d.h. die ersten 24 Kapitel umfasst, die insbesondere die Drohsprüche gegen Juda und Jerusalem enthalten. Der Band erschien im Jahr 2002 in der Reihe „Neuer Stuttgarter Kommentar, Altes Testament“ im Verlag Katholisches Bibelwerk und versteht sich „als wissenschaftlich fundierter Kommentar in einer für Laien verständlichen Sprache“. Verfasser ist der Universitätsprofessor für Altes Testament, Franz Sedlmeier.

Während ich diese überleitenden Zeilen schreibe, habe ich noch keine Seite des neuen Buches gelesen, bin aber voller Erwartung und Hoffnung, neue Aufschlüsse über Ezechiel zu erhalten, zumal es sich gut fügt, nach einem Vertreter der evangelischen jetzt einen der katholischen Fakultät zu hören.

Das Buch beginnt mit der einnehmenden Feststellung:

… Gott, in dessen Auftrag Ezechiel redet und handelt, ist abgründig ohnegleichen, ein fremder und unbegreiflicher Gott. (S 11)

Aber hält es sich auch an diese Unbegreiflichkeit? Keineswegs! Wir erhalten vielmehr ein genaues Charakterbild, wie ich später noch ausführen werde.