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Dritter Band der Sternensplitter-Trilogie

 

Geheimplan Quinto-Center

 

von Michelle Stern

 

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Kleines Who is Who

 

Atlan – der Lordadmiral braucht Antworten

Blogon – der Patriarch zögert zu lange

Chassika Aron – die Ara mag keine Ödplaneten

Dahim Abrahik Neffers – der Oberst ist untröstlich

Decaree Farou – eine blinde Frau steht am Abgrund des Wahnsinns

Der Bewahrer – ein komischer Kauz und eine lebende Positronik

Frenny Alexis – eine junge Frau, die offenbar keine lemurischen Schriftzeichen kennt

Gerry Hanaly – der Kommandant der TOLMAN wundert sich über Atlans innere Selbstgespräche

Haana Lamet – die Polizeichefin von Tahun arbeitet vorbildlich

Hoyka Kah – die USO-Generalin überschreitet Grenzen

Irina Tarasow – die Funk-Offizierin ist auf Atlans Seite

Kitti – eine verführerische Frau versucht Atlan um den Finger zu wickeln

Khelex Damitter – der Hauptkommissar liebt Musik und mehr

Kone-Bay – der Seelenberater sucht den Weg durchs Labyrinth

Kr’rom – der Zr’rak braucht Chronners und keine Skalitos

Lt’tek – der Organisator der Zr’rak steht im Dienst der Fußgeher

Markes Jonas – der Ertruser hört Musik

Miraana – sie ist ausgesondert und doch treu bis zum Ende

Motyra und Carion del Jemanth – die Arkoniden sind ein inniges Geschwisterpaar

Nelson Bhitt – ein Arzt sammelt Erstausgaben terranischer Gleiter

Paran ter Taseris – der Samwar-Arkonide legt Wert auf Etikette

Rodolfo Mbuto – ein Chefarzt fürchtet um seine Klinik

Sam Drew – der Medik-Agent befindet sich auf tödlichem Rundgang

Sr’rem – ein junger Zr’rak sucht das Zentrum des Universums

Taylor Waalis – ein verdächtiger Assistenzarzt macht Urlaub in der Milchstraße

Totthamir – der Galaktische Mediziner hat nichts als Drogen im Sinn

Buch 1
Feind ohne Gesicht

 

Prolog

 

Wahnsinn

 

Weißt du noch, wann der Tag war, an dem du wahnsinnig wurdest?

Du riechst die Frau mit dem Orangenschal. Du weißt, dass sie vor dir sitzt, auf der anderen Seite des Tisches. Ihre Stimme ergießt sich über dich, eine Kaskade aus Lauten und Mitgefühl … unverständlich. Vor dir liegen die Blutwolken Kantinors, vertikale Gebilde, zerfaserte Nebel.

Sie sagen, sie wollen dir Gutes, aber du weißt es besser. In deinen Schläfen spürst du die Schläuche, die sie dir durch die Haut zogen.

Tu es.

Die Stimme in deinem Kopf treibt dich unerbittlich. Deine Hände zittern.

Du riechst Rosen, Lilien, Chrysanthemen.

Verlier keine Zeit.

Deine Hand berührt kaltes Porzellan. Du weißt, wo dein Ziel ist. Du springst auf den Tisch, packst die Vase und zerschmetterst sie auf dem Kopf über dem Orangenschal.

Kapitel 1

 

Sam: Nachtschicht

 

»Bereit zum Rundgang, Sir«, gab der Roboter seine Klarmeldung. Sam Darrnet stand auf und streckte sich. Seine Beine waren steif vom langen Sitzen. Er blickte über die Phalanx an Monitoren hinweg, auf denen die einzelnen Zellen gezeigt wurden. Es sah ruhig auf der Station aus, trotzdem wünschte sich Sam weit fort, irgendwohin, wo es keine Irren gab, die nur darauf warteten, befreit zu werden und über ihn herzufallen.

»Alles in Ordnung, Sir?«, fragte der humanoid aussehende Roboter. Die mobile Kampfmaschine war ein Sondermodell, das durch seine kleinere, menschengroße Form und die hellen Farben weniger Furcht einflößend wirkte.

Sam zupfte nervös an seinem weißen Kittel. Warum war Tyrez ausgerechnet in dieser Schicht krank? Wenn sein Kollege sich nicht den Magen an irgendeinem intergalaktischen Menü verdorben hätte, hätte er nicht mit einer Robot-Einheit Dienst schieben müssen. Der GLADIATOR-M wurde nur aktiviert, wenn sie unterbesetzt waren.

»Zerbrich dir nicht deine Positronik, Glad«, gab er missgelaunt zurück. Das Modell war dank der zusätzlichen psychologischen Komponente ausgesprochen nervtötend.

Sam ging mit staksigen Schritten auf den Gang und sah durch die hohe, einseitig durchsichtige Front in die Zelle, die dem Aufenthaltsraum der Pfleger am nächsten lag. Ein Siganese schlief in einem knapp dreißig Zentimeter langen Bett. Bei der Ausbildung zum Gefühlsingenieur war der Mann in unerwarteter Weise über seine SERT-Haube mit der Positronik eines Roboters verschmolzen. Er hatte sich von diesem Unfall nicht mehr erholt. Im Schlaf war der Kleine friedlich, aber wenn er wach war, brauchte er stärkste Medikamente, um nicht in seiner Unterkunft zu wüten und sich selbst zu verletzen. Während seiner schlimmsten Schübe ließ er kein Möbelstück unverschont.

»Sie haben nur noch drei Wochen Dienst, Sir. Darf ich fragen, was Sie danach machen?«

Sam seufzte erneut. »Du hast keine echten Gefühle, Glad. Warum fragst du?«

»Ist Ihnen die Frage unangenehm?«

Es brachte nichts, sich auf eine Diskussion einzulassen. Das Einzige, was das kosten würde, waren Zeit und Nerven. Am besten antwortete er und ersparte sich unnötige Debatten.

»Ich gehe in den Pharma-Handel. Der Laden ist angemietet. Ich werde ein ruhiges, gemütliches Leben in Kartum verbringen. Und nun sei so gut und mach deinen Dienst lautlos.«

»Verstanden, Sir.«

Er sah sich nervös um. Der Gang lag ruhig vor ihm und es gab keinen Anlass, sich Sorgen zu machen. Seine Gedanken richteten sich auf die Zukunft. Es waren nur noch drei Wochen. Wenn er es schaffte, drei lächerliche Wochen zu überbrücken, war er der Hölle entkommen, die sein Dienst bei der United Stars Organisation für ihn darstellte. Es war nicht immer so gewesen, dass er die Klinik nur widerwillig betrat und das Ende der Schicht herbeisehnte. Vor dem Aufstand vor zwei Jahren hatte er für die USO gern in der Abteilung für Schwerstfälle gearbeitet. Damals hatte ein durchgedrehter Ertruser beschlossen, ihn als Boccia-Kugel zu benutzen. Für den Umweltangepassten hatte er nicht mehr gewogen als ein kleiner Junge.

»Essen sie gern Kinder, Sir?«

Sam drehte sich langsam zu der lautlos hinter ihm gehenden Maschine um und starrte in ihr stark vereinfachtes Gesicht. Im ersten Moment fehlten ihm die Worte. »Was hast du gesagt?«

Der Roboter hielt in seiner Bewegung inne. »Entschuldigung, Sir. Meine Positronik zeigt eine Fehlermeldung an.«

Die kleinen Augen des Roboters glühten rot auf und begannen zu flackern. Er hob den Waffenarm ruckelnd in Position. Das Vibro-Messer fuhr heraus und zielte auf Sams Gesicht.

Sam erstarrte, wich zurück und zog seinen Kombistrahler. Wollte Glad ihm das Messer ins Auge stoßen?

»Nimm den Arm runter, Glad. Sofort.«

Die Maschine vor ihm gab einen ächzenden Laut von sich. Irgendetwas klickte im Inneren.

»Fehler … Gefahr … muss abschalten …« Die Stimme des Roboters verklang, die roten Augen erloschen. Jegliche Bewegung Glads erstarb. Die Kampfmaschine stand mitten im Gang wie ein Berg Altmetall.

Sams Herzschlag beruhigte sich nur langsam. Zögernd steckte er die Waffe wieder in das Holster und betrachtete den desaktivierten Gladiator von allen Seiten. Er hob den Armbandkom, stellte eine Verbindung zur Zentrale her und nannte seinen Namen und Dienstgrad. »Die Robot-Einheit hat sich desaktiviert. Könnt ihr jemanden schicken?«

Er ließ den Redeschwall der Angestellten über sich ergehen. Ob sie wenigstens schon jemanden losgeschickt hatte? Der zusammengesunkene Gladiator war ihm unheimlich. Er wirkte, als könne er jeden Augenblick wieder zum Leben erwachen und ihn angreifen.

Die Frau ging alle Einzelheiten der Fehlfunktion durch. Sie stellte mehr Fragen als ein imperialer Verhör-Agent und schien kein Ende zu finden.

»Nein, ich weiß auch nicht, was mit dem Ding los ist, und nein, es hat nie zuvor eine Fehlfunktion ge…« Er hielt inne.

Das Sicherheitsschott der Station gab einen feinen Summton ab und meldete Besuch. »Danke für Ihre schnelle Hilfe.« Ohne eine Reaktion seiner Gesprächspartnerin abzuwarten, beendete er die Verbindung und ging den Gang zum Schott hinunter. Er hörte das leise Klacken, als das Metall aufeinandertraf und sich hinter dem Besucher schloss. Vor ihm, unter dem Licht der Deckenleuchten, stand eine Frau. Ihr Gesicht zeigte in seine Richtung, doch er wusste nicht, ob sie ihn sehen konnte. Eine dunkle Blende aus Kunststoff lag als dünner Streifen über ihren Augen.

»Das ging aber schnell.« Er lächelte erleichtert und trat der hageren Frau entgegen. Seine Schritte wurden langsamer. Wenige Meter vor ihr verharrte er verunsichert. Warum stand sie nur in der Gegend herum?

»Der defekte Roboter ist da drüben«, sagte er langsam, während er sich über die Blende wunderte. Ob das ein modischer Trend aus Terrania war, der ihm entgangen war? Mit einem Kopfschütteln erinnerte er sich an eine Modeerscheinung vor einem Jahr, als für drei Monate viele jüngere Modeopfer mit Ell- und Kniebogenschützern in grellstem Pink unterwegs gewesen waren.

Die Fremde regte sich noch immer nicht. Sie wirkte so desaktiviert wie der Roboter. Er musterte sie genauer. Sie sah abgerissen aus, obwohl ihre Kleidung gepflegt wirkte. Ihre schwarzen Haare waren stumpf, und auf ihrem Kinn stach ein stecknadelgroßes Muttermal auf weißer, teigiger Haut hervor. Sie hielt etwas in der Faust, das er nicht erkennen konnte. Warum sagte sie nichts?

Die Frau hob ihre freie Hand zu der Blende über ihren Augen. Sie nahm sie ab.

Sam keuchte. »Was ist das?«

Langsam trat sie auf ihn zu. Der Anblick ihrer Augen ließ ihn erstarren. Sie hatte keine Augäpfel. Ihre Augenpartie war gerötet und zernarbt, die Lider in einer geraden Linie aufgeschlitzt. In den leeren Höhlen saßen Splitter, die im Licht der Deckenleuchte schimmerten wie Kristall. Er konnte den Blick nicht von ihrem Funkeln abwenden. Die Splitter verschoben sich, als hätten sie ein Eigenleben. Ein Bild spiegelte sich auf ihrer Oberfläche. Es wurde an den Kanten mehrfach gebrochen. Vor einem schwarzen Hintergrund flimmerte ein Ding, das er nicht erkennen konnte. Es wirkte durch und durch fremd und ließ ihn den Atem anhalten. Tentakelartige Auswüchse griffen um sich, und plötzlich flammte ein winziger Lichtpunkt über den Armen auf, wie ein Stern in der Schwärze des Alls.

Mit dem Bild ergriff ein Gefühl von Verwirrung von ihm Besitz. Es war, als würde sein Körper in dieses Bild hineingezogen, als sei es ein Transmitter in eine andere Dimension. Immer heller wurde das blinkende Licht. Es füllte sein Sichtfeld aus, schmerzte in den Augen und ließ ihn gegen seinen Willen irre lachen. Es klang, als lache da ein anderer, der verrückt geworden war.

Das enervierende Geräusch brachte ihn wieder zu sich. Warum fühlte er sich so euphorisch? Er ballte die Hände zu Fäusten. Ein Teil seines Verstandes wehrte sich gegen die Fremdgefühle, die ihn durchzuckten. Das war nicht real. Er konnte nicht über die entarteten Augen einer Frau in eine andere Welt tauchen.

Offensichtlich war die Fremde keine Technikerin, sondern eine Patientin, der es gelungen war, in seine Station einzudringen. Er musste sie festsetzen.

»Hände hoch!«, herrschte er die Frau an, während er den Blick mühsam abwandte. Seine Hand griff nach dem Kombistrahler an seiner Seite. Die Bewegung war anstrengend, als habe er eine Marathonstrecke hinter sich.

Die Fremde sprang auf ihn zu. Aus den geschlossenen Fingern ihrer Hand fuhr eine scharf gezackte Porzellanscherbe hervor. Ehe Sam sich schützen konnte, war sie bei ihm und fuhr mit der Scherbe in ihrer Faust über seine Kehle.

Schmerz durchzuckte ihn und verwandelte seine Welt von einem Augenblick zum nächsten in einen Albtraum. Er riss die Hand viel zu schwerfällig in einer schützenden Haltung hoch. Die Fremde zerrte ihn zu Boden. Röchelnd versuchte er, sie abzuwehren. Warme Flüssigkeit lief über seinen Hals. Es war Blut. Er wollte schreien, doch außer einem Gurgeln brachte er nichts heraus. Panisch schlug er nach der Angreiferin, aber sein Arm gehorchte ihm kaum noch und zuckte kraftlos nach vorn. Schmerz und Atemnot ließen ihn schwindeln. Über ihm schwankte das Gesicht der Frau mit den entstellten Augen. Ihre Umrisse verschwammen. Das Letzte, was er sah, waren zwei winzige Lichtpunkte, die in den kristallenen Splittern pulsten wie ferne Sonnen.

 

Decaree: Flucht

 

Du schlägst die Porzellanscherbe in den Geruch nach Desinfektionsmitteln. Es dauert nicht lange, bis die Gegenwehr erstirbt.

Weiter.

Es ist anstrengend, den Mann in der Desinfektionswolke hochzuzerren und ihm den Kittel auszuziehen. Mühsam schlüpfst du in die Ärmel. Nun ist sein Geruch der deine.

Du gehst weiter, berührst eine Wand. Irgendwo vor dir muss es sein. Deine Finger tasten über die glatte Oberfläche, bis du den Deckel findest, ihn anhebst und zur Seite schiebst. Sensorpunkte liegen unter deinen Fingerkuppen. Ihre Anordnung ist immer gleich, und du findest dich schnell zurecht. Du gibst die Kombination ein. Der Alarm gellt auf und lässt dich zusammenfahren. Hinter dir hörst du, wie sich die Türen automatisch öffnen. Eine Irre schreit wirre Sätze und hämmert gegen Terkonitstahl.

Du nimmst den externen Zugang. Zweimal stoßen deine ausgestreckten Hände gegen die Wand, ehe du das nächste Eingabefeld findest und den Kode eintippst.

Hinter dir erklingen neue Schreie. Sie mischen sich mit dem gellenden Ton des Strahlenalarms.

Eine weitere Desinfektionswolke rennt an dir vorbei. Du hörst das Geräusch ihrer hastigen Schritte. Dich beachtet sie nicht. Gut so. Du wischst dir nachlässig eine Haarsträhne aus dem Gesicht und spürst eine warme Flüssigkeit. Es ist nicht dein Blut, das an deinen Fingern klebt.

Plötzlich steigt Furcht in dir auf, und du hältst inne. Deine Gedanken verwirren sich. Warum klebt fremdes Blut an dir?

Geh weiter.

Du greifst dir an den Kopf, zu den Schläuchen, an die schmerzenden Schläfen. Zweifel steigen in dir auf. Es ist falsch, du darfst nicht auf die Stimme hören, die dir befiehlt. Auf die grausame Stimme, die dir seit Wochen keine Ruhe lässt. Willst du wirklich tun, was sie verlangt, und weiter Unschuldige gefährden?

»Nein.«

Deine eigene Stimme ist dir fremd. Du weißt, dass du wahnsinnig bist. Es gibt kein Zurück. Du musst fliehen, solange du noch kannst. Die Stimme hat es dir immer wieder gesagt. Du weißt, dass die Stimme dir helfen will, auch wenn ihre Befehle unverständlich sind. Aber ohne sie hast du keine Chance. Wenn du stehen bleibst, ist alles verloren.

Tief atmest du ein und drängst die Zweifel zurück.

Du gehst die Treppe hinunter zum Gebäudeausgang. Die letzte Treppenstufe endet, dein Fuß knallt hart auf den Boden und du musst dich am Geländer festklammern, um nicht zu stürzen. Dein Knöchel schmerzt, aber er ist nicht ernsthaft verletzt und lässt sich vorsichtig bewegen. Du stößt mit den ausgestreckten Händen an die Wand und findest das nächste Eingabefeld.

Neben dir erklingt eine Stimme: »Was machen Sie da?«

Nicht aus dem Konzept bringen lassen.

Du ignorierst die Stimme. Mit geübten Griffen gibst du erneut den Kode ein. Die Sicherheitsschotte der Schleuse öffnen sich eins nach dem anderen.

Als du hinausgehen willst, ergreift eine Hand deine Schulter. Du ziehst den Ellbogen hart zurück, triffst auf etwas Weiches und spürst, wie ein Körper nachgibt. Der erstickte Schmerzlaut liegt dir in den Ohren und vermischt sich mit dem Alarm und dem Rufen von Menschen. Eile ist geboten. Bevor der Mann am Boden Verstärkung holt, musst du fort sein. Du hetzt hinaus. Frischer Nachtwind und der schwache Geruch blühender Rosen strömen dir aus dem Park entgegen. Du vergisst die Treppe vor dem Gebäude, stürzt hart, überschlägst dich und kommst mit schmerzender Schulter wieder auf die Füße. Die Rufe hinter dir klingen jetzt näher. Sie sind auf dich aufmerksam geworden. Du bist in Gefahr.

Renn!

Die Stimme ist wie der Schlag einer Faust in dein Gesicht. Du läufst geradeaus, auch wenn du weißt, dass du wieder stürzen kannst. Unter deinen Füßen knirscht Kies. Einige Meter kommst du voran, dann prallst du gegen einen Körper. Er riecht nach Schweiß und einem herbem Hauch von Montuswurzel. Die Stimme eines Mannes spricht zu dir, während seine Arme dich an der Hüfte festhalten.

»Gehen Sie lieber rein, Miss. In Sektion C gab es einen Ausbruch.« Du merkst, wie er in seinen Bewegungen innehält und seltsam steif wird. Er schweigt. Hat er die Splitter in deinen Augenhöhlen gesehen und das Blut?

Blitzartig gleiten deine Arme um seinen Körper, bis du findest, was du suchst. Deine Hand greift nach dem Kombistrahler im Holster an seiner Seite. Du reißt ihn hoch und schlägst damit zur Quelle der Stimme. Der Mann gibt einen dumpfen Laut von sich und lässt dich los.

Du rennst weiter, den Kombistrahler in der Hand. Unter deinen Sohlen spürst du harte Grashalme und den erdigen Boden einer Wiese.

Mehr nach rechts!

Über dir erklingt ein neues Geräusch und übertönt den Alarm. Triebwerke.

Mehrere Stimmen sind hinter dir. Du hörst erstaunte und zornige Rufe.

»Ein Raumschiff!«

»Scheiße, was soll das? Wo, bei Arkon, kommt das Ding her?«

»In Deckung! Das Schiff feuert!«

Etwas explodiert. Du spürst eine leichte Erschütterung im Boden und hörst einen Schrei.

»Da ist sie! Haltet sie auf!«

Zur Seite!

Du weichst wie befohlen aus und stellst dir vor, wie sie mit ihren lichtschnellen Strahlern auf dich anlegen und schießen. Du hast keinen Kampfanzug, der dich schützt. Schon der nächste Schuss kann dein Ende sein. Es ist vorbei.

Nein. Noch nicht. Du bist nicht mehr allein.

Dein Körper wird in die Luft gehoben und gleitet hinauf, als könntest du fliegen. Du hast es geschafft. Sie sind gekommen. Du bist in Sicherheit.

Kapitel 2

 

Atlan: Im Einsatz

 

Ich zog den Gleiter in den mittleren Strom der Fahrzeuge und beschleunigte. Zwei grellrote Schweber blieben hinter mir zurück.

Du wirst auffallen, wenn du dich nicht zusammenreißt, wisperte mein Extrasinn, als ich mich direkt hinter einen Lastgleiter setzte und an einer grellbunten Werbetafel vorbeirauschte, auf der mir das Erlebnis meines Lebens mit barbusigen Cyber-Frauen im Kokuuna-Club versprochen wurde. Es folgte ein weiteres Werbeholo, das für eine Firma warb, die Prospektoren für die schwierige Gewinnung von Howalgonium anheuern wollte. Die Schwingquarze waren eines der begehrtesten Güter der Milchstraße. Sie abzubauen war gefährlich und hatte schon viele vermeintliche Glücksritter das Leben gekostet.

Aufmerksam beobachtete ich die Gleiterströme. Die Flug- und Fahrzeuge Orbanas verkehrten in drei Ebenen. Über mir raste der Schnellverkehr, während unter mir am Grund der Straßenschluchten tief fliegende Gleiter und Schwebeplattformen auf Sightseeingtour entlangtingelten. In regelmäßigen Abständen lag ein schwerer Gleiter des SWD am Boden, um intervenieren zu können, falls es zu Abstürzen oder Feuergefechten kam.

Ich drosselte die Geschwindigkeit ein wenig und vergrößerte den Abstand. Trotz der Ausweichautomatik hatte der Extrasinn recht. Die Mission war wichtig und das Letzte, was ich brauchte, war eine weitere Auseinandersetzung mit dem SWD – dem Sozialen Wohlfahrts-Dienst des Planeten Lepso. Der Name war nicht mehr als ein schlechter Scherz. Es kam durchaus vor, dass Wesen, die mit dem SWD aneinandergerieten, auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Die obskure Polizeitruppe hatte keineswegs die Aufgabe für Recht und Gesetz zu sorgen, sondern sicherzustellen, dass die größten Schurken der Galaxis ungestört ihre zwielichtigen Geschäfte abwickeln konnten – zum finanziellen Nutzen der lepsotischen Machthaber.

Vor mir projizierte das Kommunikationssystem ein Bild von Hoyka Kah in einen Teil der transparenten Glassitkuppel. Die kahlköpfige paronische USO-Generalin trug einen Gesichtsausdruck zur Schau, der ihren verletzlich wirkenden Körper Lügen strafte. Ihre hellbraunen Augen zeigten Entschlossenheit. Die Stimme war wie immer kollegial, aber distanziert.

»Willkommen in Orbana, Lordadmiral. Der Einsatz läuft wie geplant. Ich schicke die neuesten Daten samt dem Zielpunkt. Wir konnten bislang eine Gleiteranflug- und eine Deflektorschirmortung ausfindig machen. Darüber hinaus ist eine Anmessung aktivierter Gravo-Paks an den Kampfanzügen möglich. Mehr scheinen die Topsider nicht zu besitzen.«

»Haben Sie Meldung von unserem Agenten vor Ort erhalten?«

»Aktys-Chrum hat wie vereinbart eine kurze Meldung abgesetzt, Lordadmiral. Wir haben Status Grün.«

Aktys-Chrum war einer der wenigen Topsider, die derzeit im Dienst der USO standen. Er hatte als Doppelagent agiert und den topsidischen Terroristen einen entscheidenden Hinweis gegeben, damit sie einen beladenen Transportgleiter der USO stehlen konnten. Dank eines versteckten Peilsenders in der Außenhülle des Gleiters und mehreren unter der Ware wussten wir genau, wo sich unser Eigentum befand. Wir hofften, den Anführer der Terroristen festsetzen zu können, wenn er die Beute in Augenschein nahm. Da wir trotz aller Ermittlungen noch immer nicht wussten, wo das eigentliche Hauptquartier des Gegners lag, war das die günstigste Gelegenheit, an den Kopf der Gruppe zu kommen.

Hoyka Kah schien noch etwas sagen zu wollen, schwieg dann aber.

Sie würde dir sicher gern einen Vortrag darüber halten, dass du dich beim anstehenden Einsatz zurückhalten solltest, vermutete der Extrasinn. Aber da du ihr Vorgesetzter bist, verzichtet sie auf diese Bevormundung.

Zu schade, dass ich nicht auch dein Vorgesetzter bin, gab ich lakonisch zurück und wandte mich wieder Hoyka Kah zu: »Möchten sie noch etwas hinzufügen, Generalin?«

Ihre Stimme klang gepresst, als koste es sie Mühe, auf eine Äußerung zu verzichten. »Nein, Lordadmiral. Ich werde meinen Gleiter in Kürze verlassen. Wir treffen uns am Zielpunkt.«

Sie beendete die Verbindung.

Aufmerksam las ich die überspielten Daten, der Gleiter änderte seinen Kurs und verließ den Hauptverkehrsstrom.

Bald schon ließ ich das Geflimmer der Werbeholos hinter mir und kam in eine Gegend, die einen harten Kontrast zur Innenstadt von Orbana bot. Heruntergekommene Bauten lagen teils eingestürzt wie Skelette aus minderwertigem Stahl im gelbbraunen Sand der Wüste. Keiner kümmerte sich um sie. Das einstige Industrieviertel war wie ausgestorben und gehörte zu den zahlreichen Randbezirken des Molochs, die niemanden mehr interessierten.

Daran sind du und Ronald Tekener nicht unschuldig, kommentierte der Extrasinn. Dort drüben lag einmal eine der bestgehenden Inkrosinfabriken des Planeten. Die Drogen waren der Garant für den Wohlstand ihrer Produzenten, bis Tekener meinte, einer jungen Dame helfen zu müssen. Dank ihm und der UHfgbogawB ist in diesem Viertel nicht mehr viel los.

Ich stolperte kurz über den Begriff UHfgbogawB, bis ich begriff, dass der Extrasinn die UHB meinte, die auf Lepso eine Filiale führte. Er hatte bereits vor Jahren auf seine unnachahmbare Art logisch analysiert, dass die »Unabhängige Hilfsorganisation für Bedrängte« unter Ronald Tekener eigentlich den Namen UHfgbogawB tragen sollte: Unabhängige Hilfsorganisation für gut betuchte oder gut aussehende weibliche Bedrängte.

Du solltest aufhören, diese Abkürzung zu verwenden. Ich habe dir schon einmal zu verstehen gegeben, dass dieser Name zwar logisch nachvollziehbar, aber wenig eingängig ist.

Der Extrasinn schwieg sich aus, während der Gleiter im Zentrum der Trostlosigkeit anzukommen schien und seine Geschwindigkeit automatisch drosselte. Ich landete im Schatten einer verfallenen Lagerhalle und überprüfte auf der Systemanzeige am Handgelenk die Funktionen meines Kampfanzugs. Alle Systeme waren grün. Allerdings würde ich sie nicht in ihrer Gesamtheit nutzen können, wenn ich nicht zum Fanal auf den Ortungsschirmen meiner Feinde werden wollte. Besonders ärgerte es mich, dass ich meinen Deflektorschirm nicht benutzen konnte. Unsichtbarkeit wäre ein großer Vorteil gewesen.

Das Chrono im Multifunktions-Armband stand auf 15.43 Uhr terranischer Standardzeit. Für 16.00 Uhr war der Großangriff geplant, den ich nicht verpassen durfte.

Es war ungewöhnlich, dass die um Autarkie bemühte topsidische Regierung ein Hilfegesuch an die United Stars Organisation gestellt hatte. Der Kampf gegen die Terrororganisation schien ihr über den Kopf gewachsen zu sein. Umso wichtiger war ein Erfolg, bot er doch die einmalige Chance, die Beziehungen zwischen Orion-Delta und der USO nachhaltig zu verbessern.

Meine Positronik zeigte im Visier des Helms freie Bahn an. Ich bewegte mich in den Schatten der Ruinen und kletterte über eine Außenmauer. Der Anzug passte sich dabei farblich der Umgebung an. Kameradrohnen entdeckte ich keine. Zielstrebig näherte ich mich, von einer Deckung zur nächsten, dem noch einigermaßen gut instand gehaltenen Fabrikgebäude, in dem die Beute von den Terroristen deponiert worden war. Die Topsider waren in erster Linie auf Waffen und Kampfanzüge aus gewesen, die wir vermeintlich zu verschiedenen Geheimstationen auf Lepso hatten liefern wollen. Diese Aktion war glaubwürdig. Unsere Agenten auf dem Planeten brauchten hin und wieder Nachschub, und im Allgemeinen stellte es kein großes Problem dar, Waffen an den Ordnungshütern vorbei auf den Planeten zu bringen.

Waffen nach Lepso schmuggeln ist, wie Eulen nach Athen tragen, belehrte mich der Extrasinn mit einem altterranischen Spruch.

Ich wollte gerade zu einer zynischen Ergänzung ansetzen, als ich die beiden Schatten auf dem Dach über mir sah.

Versteck dich!, warnte der Extrasinn fast zeitgleich.

Ich warf mich in einen Gebäudeeingang und presste mich mit gezogenem Kombistrahler an die Wand. Eine quälend lange Minute verging, in der ich meinem schnellen Herzschlag lauschte. Der Wind pfiff am Gebäudeeingang vorbei und wirbelte Staub und Sand auf. Die heiße Luft machte selbst mir zu schaffen, obwohl ich als Arkonide eigentlich kein Problem mit höheren Temperaturen hatte. Die Regulierung meines Anzugs hatte ich sehr niedrig eingestellt, um meine Feinde nicht unnötig auf mich aufmerksam zu machen. Obwohl wir sicher waren, dass die äußeren Wachen des Terroristenstützpunkts nicht über ausgefeilte Ortungsgeräte verfügten, war ich vorsichtig und benutzte auch die Antigravprojektoren nicht.

In Gedanken ging ich alle Wege zum Hauptgebäude durch. Es gab keine schnellere Möglichkeit, zum Zentrum vorzustoßen. Ich musste diese beiden Wachen ausschalten. An der linken Seite des Gebäudes hatte ich eine Leiter gesehen, die auf das Dach führte.

Ich sah kurz aus meiner Deckung heraus, konnte keinen der Wächter entdecken und rannte zu der Metallleiter. Hastig zog ich mich die Sprossen hinauf und verharrte, als ich einen Blick auf das Flachdach werfen konnte. Gut zehn Meter vor mir standen die beiden echsenartigen Topsiderwachen mit dem Rücken zu mir auf ihre kräftigen Stützschwänze gelehnt und unterhielten sich in abgehacktem Interkosmo. Im Gegensatz zu mir trugen sie keine Spezialanzüge, sondern waren in beigefarbene Gewänder gehüllt, die Schutz gegen den rauen Sand boten. Über diesen Gewändern trugen sie breite Gürtel, in denen Nadler steckten.

Schräg neben ihnen erhob sich ein Gebäudeaufsatz, der vermutlich einmal der Aufgang einer Treppe aus dem Inneren des Gebäudes gewesen war. Er wirkte wie eine verfallene Gleitergarage und ragte vor einem mit Positionsmarken gekennzeichneten Landeplatz auf. Obwohl auch die Topsider hohe Temperaturen gut aushalten konnten, standen sie in seinem Schatten und hatten sogar eine Sprühflasche mit Wasser auf einem Vorsprung stehen, um sich feucht zu halten.

Lautlos kletterte ich auf das Dach und schlich zu dem knapp zwei Meter hohen Gebäudeaufsatz. Ich musste die beiden möglichst schnell aus nächster Nähe ausschalten. Je länger ich den Paralysator einsetzte, umso wahrscheinlicher war, dass seine Energie angemessen wurde. Wenn die Topsider Alarm schlugen, konnte der gesamte Einsatz in Gefahr geraten.

Noch einmal atmete ich tief ein und erinnerte mich an die Lehren meines Ausbilders und väterlichen Freundes Fartuloon. Er hatte mir immer wieder gepredigt, dass gerade ein erfahrener Kämpfer niemals seine Schwächen vergessen durfte. Ich hatte in meinem über elftausend Jahre andauernden Leben mehr als ein Wesen gesehen, das durch seine eigene Arroganz besiegt worden war. Diesen Fehler wollte ich nicht machen.

Mit dem Ausatmen kam mein Angriff. Ich sprang hinter der Wand hervor und traf den ersten Topsider, noch ehe er sich umdrehen konnte. Dank seines Stützschwanzes stürzte er nicht sofort um, sondern blieb einen Augenblick lang wie eine braungrüne Statue mit wehenden Gewändern auf dem Dach stehen. Ich zielte auf den Zweiten, doch der hatte die Zeit genutzt, um herumzufahren und sich zur Seite zu werfen. Mein Schuss verfehlte ihn. Er griff nach einem Funkgerät an seinem Gürtel. Ohne nachzudenken, sprang ich vor und trat ihm das Gerät aus der Hand, ehe er es bedienen konnte.

Der Topsider schrie wütend auf und wischte mit seinem Stützschwanz herum. Ich sprang über den peitschenden Schwanz hinweg und hob den Kombistrahler, kaum dass ich wieder Boden unter den Füßen hatte. Mein Gegner legte mit dem Nadler an. Wir schossen gleichzeitig. Die Partikel des Nadlers wurden von der Schutzfunktion meines Anzugs abgehalten. Da der Prallschirm ebenso schwach eingestellt war, wie die Hitzeregulation, spürte ich die Schüsse der Hohlnadeln wie tastende Finger.

Der Topsider pfiff durch die verhornten Lippen und krachte nach hinten. Anklagend hob er die sechsfingrige Hand in die Höhe und wurde dann ebenso unbeweglich wie sein Kamerad. Aus großen Augen starrte er in die Luft. Er würde sich eine gute Stunde lang nicht regen können, wenn er auch alles sah und hörte.

Beeil dich, erinnerte der Extrasinn. Hoyka Kah muss jeden Moment losschlagen und du bist noch nicht auf Position.

Ich dachte an die Gleitereinheiten, die sich unter Deflektorschirmen vor dem SWD verbargen und auf ihren Einsatzbefehl warteten. Der Plan sah vor, Chraryt-Onkh, den Anführer der Terrorgruppe, möglichst zuerst ausfindig zu machen und ihn festzusetzen. Erst dann sollten die Einheiten losschlagen. Hastig zog ich die beiden Körper in den Sichtschutz der Gleitergarage.

Ich kletterte die Leiter hinunter und lief im Schatten weiterer Gebäude auf das Haupthaus zu, in dem laut unserem Topsider-Agenten die Zentrale der geheimen Zwischenstation lag.

Je näher ich kam, desto intensiver wurde der Geruch nach Chemie und Tod. Es stank nach verwestem Tier und Säure.

Was wurde in dieser Fabrik bloß hergestellt?, fragte ich den Extrasinn, als ich mich in einen weiteren Gebäudeeingang drückte. Gut zehn kleinere Gebäude lagen ringförmig um das Haupthaus verteilt. Einige von ihnen erinnerten entfernt an Silos. Zwischen ihnen standen im Herzen der Anlage mehrere Gleiter und zwei mit Abdeckplanen verhüllte Objekte.

Muurt-Wurm-Suppe, antwortete der Extrasinn prompt. Oder besser: Muurt-Wurm-Suppen-Ersatz.

Muurt-Würmer galten unter den Blues als eine höchst beliebte Delikatesse. Leider waren sie sehr selten und deshalb teuer. Ich versuchte, mir auszumalen, welche Tiere in Verbindung mit welchen dubiosen Chemikalien als Ersatz hatten herhalten müssen, damit irgendwer sich an diesem Ort eine Nase aus Howalgonium verdienen konnte.

Sieh dich lieber um, als dich mit Muurt-Wurm-Ersatz zu befassen.

Ich tat, was der Extrasinn sagte, und entdeckte drei Wachen auf dem Dach des Hauptgebäudes und zwei weitere am Haupteingang. Mit der Optik des Kampfanzugs betrachtete ich sie näher, und die Positronik analysierte mehrere Strahlengewehre, die über den Rücken der Wachen hingen. Es handelte sich um Standardstrahler, wie man sie auf Lepso überall bekommen konnte.

Wieder bedauerte ich, meinen Deflektorschirm nicht einsetzen zu können. Unsichtbar hätte ich wesentlich größere Chancen gehabt, die Wachen zu passieren.

Halte dich an den Plan, ermahnte der Extrasinn.

Das hatte ich vor, entgegnete ich kühl. Es reizte mich, näher an das Gebäude heranzukommen, aber das war nicht meine Aufgabe. Ich sollte exakt dort sein, wo ich mich in diesem Moment befand. Den von Hoyka Kah übermittelten Daten zufolge gab es drei Ausgänge, und am südlichen – dem Hauptausgang – sollte ich mich postieren, um Chraryt-Onkh abzufangen oder auszuschalten, falls er das Gebäude auf diesem Weg verließ.

Noch einmal ließ ich mir das Bild seines vernarbten Gesichtes in das Visier einblenden. Trotz fotografischem Gedächtnis konnte es nicht schaden, die Reaktionszeit bei der Wiedererkennung zu verringern. Anschließend studierte ich meine Umgebung und konnte mithilfe des Anzugs keine Fluchtwege entdecken, die der USO bislang entgangen waren. Der Boden schien sandig, es gab nirgendwo Türen oder Schotte, die in die Tiefe führten, und um die Luft würden sich unsere Gleitereinheiten kümmern. Wichtig war ein schneller Zugriff, damit wir es nicht unnötig mit dem SWD oder den allgegenwärtigen Flugdrohnen der hiesigen Nachrichtensender zu tun bekamen.

Das Chronometer zeigte 15.59 Uhr terranischer Standardzeit an, als eine gewaltige Detonation das Gebäude vor mir erzittern ließ. Unser Agent hatte wie vereinbart einen Sprengsatz gezündet, der unter den erbeuteten Waffen und Ausrüstungsgegenständen versteckt gewesen war. Eine der Wachen auf dem Dach hatte unglücklich am Rand gestanden und stürzte in die Tiefe. Der lange Stützschwanz des Echsenartigen suchte in der Luft vergeblich nach Halt.

Hektische Geschäftigkeit brach plötzlich aus. Gut zehn weitere Topsider strömten mit gezückten Strahlengewehren und Nadlern aus dem sich öffnenden Gebäude. Zum Glück lief keiner von ihnen in meine Richtung. Ich stand im Schatten des Eingangs und beobachte mit gezogener Waffe die Echsenartigen. Chraryt-Onkh war nicht unter ihnen. Irgendwo neben mir sprangen auf dem Sandplatz Triebwerke und schwere Maschinen an. Noch ehe der Gleiter starten konnte, hallte ein schriller Ton über den Platz. Ortungsalarm. Unsere Kampfgleiter würden in weniger als zwei Minuten ankommen. Weitere Echsenwesen kamen heraus, die Planen wurden zur Seite gerissen und zwei schwere Abwehrstrahlenkanonen in Position gefahren. Es juckte mich in den Fingern, die Bediener der Kanonen unschädlich zu machen, aber ich durfte meinen Posten weder verraten noch verlassen. Chraryt-Onkh war zu wichtig.

Angespannt starrte ich zum Haupthaus hin. Ich sah einen Topsider mit einer Narbe im Gesicht und zielte – ließ die Waffe aber im letzten Moment wieder sinken. Auch wenn der Kämpfer seinem Anführer auf den ersten Blick zum Verwechseln ähnlich sah, war er es nicht.

In diesem Moment erklang vom Eingang des Hauptgebäudes her eine abgehackte Stimme in Interkosmo: »Ich weiß, dass Sie mich hören können. Brechen Sie Ihren Einsatz ab, oder einer Ihrer Agenten wird sterben!«

Ich schloss kurz die Augen, als ich das Bild sah, das sich mir bot. Aus dem Hauptgebäude schob sich der dicke, schuppige Leib Chraryt-Onkhs. Über die wulstige Stirn zog sich die lange Narbe, nach der ich bislang vergeblich Ausschau gehalten hatte. Er schob eine weißhäutige Geisel in einem schwarzen Kampfanzug ohne Helm vor sich her. Ein Nadler lag am Nacken der Frau. Sein Mund war zu einem debil wirkenden Grinsen verzogen.

Er hat Hoyka Kah, wisperte der Extrasinn.

Ich nickte schwach. Was ist da bloß schiefgelaufen?

Der Extrasinn blieb stumm, und ich musste mich entscheiden, wie ich weiter vorging. Von meiner Position aus hatte ich kein freies Schussfeld. Ein Gleiter lag mir im Weg. Sollte ich meine Deckung aufgeben? Ich überprüfte die Statusanzeige am Handgelenk, trat aus den Schatten und aktivierte meinen Schutz. Der Individualschirm sprang auf maximale Leistung. Langsam steckte ich die Waffe fort.

»Lassen Sie uns reden, Chraryt-Onkh«, sagte ich mit fester Stimme. Mein Blick blieb an Hoyka Kah hängen. Die kleine Paronerin schien keine Angst um ihr Leben zu haben. In ihrem Gesicht lagen Trotz und Wut. Vermutlich ärgerte sie sich über ihr Versagen und die Gefährdung der Mission.

Die Zunge des Rebellenanführers zuckte hinaus, als wolle er Sandfliegen fangen.

»Atlan da Gonozal. Ich hätte wissen müssen, dass dieser Angriff Ihr Werk ist.«

»Ersparen Sie uns pathetische Reden, und lassen Sie mich lieber wissen, was ich tun kann, um meine Agentin lebend und in einem Stück zurückzuerhalten.«

Dass Hoyka Kah weit mehr als eine gewöhnliche Agentin war, würde ich auf keinen Fall preisgeben. Der Terroristenführer durfte nicht einmal ahnen, was für einen Fang er gemacht hatte. Hoyka Kah kannte nicht nur den Zugang zur geheimen Station Quinto-Center, sie war auch meine derzeitige rechte Hand und Stellvertreterin. Es gab wenig, was sie nicht über die USO und ihre Mitarbeiter wusste.

Meine Hand lag in der Nähe meines Strahlers. Ich war nah genug heran, um zu schießen.

Noch eine Minute, bis die Gleiter über der alten Fabrik sein würden.

Das Maul des Topsiders öffnete und schloss sich hektisch. »Nehmen Sie die Hand von der Waffe weg, Arkonide, oder Ihr Gelegeweibchen ist Geschichte!«

Ich blinzelte und fragte mich, wie Chraryt-Onkh auf die absurde Idee kam, dass es sich bei Hoyka Kah um meine Gespielin handeln könnte.

Er hielt die Waffe an den haarlosen Kopf der Paronerin. Es galt, Zeit zu gewinnen.

Langsam hob ich die Hände. »Was fordern Sie?«

Der Topsider schob kurz die Nickhaut über die Augen. Sein braungrünes Gesicht verriet mir durch die Mimik nicht, was er dachte. »Ich verlange freien Abzug.«

Ich hörte die herannahenden Gleiter. Es war zu spät, ihren Einsatz abzublasen. Sie würden angreifen, und wenn das geschah, drehte Chraryt-Onkh vielleicht durch. Topsider waren gnadenlose Kämpfer, die oft lieber starben, als sich zu ergeben. Wirklich stoppen konnte man sie nur, indem man ihnen zuvorkam.

Chraryt-Onkh blickte nervös in den Himmel. Durch den Zoom der Optik sah ich die steile Falte, die sich auf seiner Stirn bildete. Er stand kurz davor, die Nerven zu verlieren. Seine verhornten Lippen zuckten.

Ich zog den Strahler und schoss. Punktgenau traf ich die flache Stirn des Rebellenführers, ehe er zu reagieren vermochte. Schüsse aus Gleitergeschützen krachten über den Platz, und ein Nebengebäude ging in Flammen auf.

Chraryt-Onkh stürzte zu Boden. Er stieß Hoyka Kah von sich und richtete seine Waffe auf sie. Der Schuss war nicht sichtbar. Hoyka Kah, die eben noch von dem Rebellen fortgetaumelt war, sackte plötzlich in sich zusammen und hielt sich den Bauch.

Ich fluchte und rannte auf sie zu. Um mich herum ließen sich Agenten aus den Luken mehrerer tiefer gegangener Gleiter herab und sicherten.

Ein Schusswechsel mit Energiewaffen entbrannte, doch schon, als ich Hoyka Kah erreichte, war es gespenstisch still geworden. Die Rebellen flohen oder waren paralysiert.

Der Anblick der auf dem Boden liegenden Hoyka Kah brannte sich in mein fotografisches Gedächtnis. Hatte ich einen Fehler gemacht? Sie war auf die Seite gefallen. Ich berührte sie über dem Kampfanzug an der Schulter und drehte sie vorsichtig herum. Als ich ihr Gesicht mit den leeren braunen Augen vor mir sah, schreckte ich zurück.

Für Hoyka Kah kam jede Hilfe zu spät. Sie war tot.

Soldaten der USO flankierten mich und bildeten einen lebenden Schutzwall. Ich brachte kein Wort heraus. Mir war, als seien die starren Augen der Generalin anklagend auf mich gerichtet. Als sei ihr Blick ein Fluch, der mich treffen sollte.

Sie haben es vermasselt, Lordadmiral, schien dieser Blick sagen zu wollen. Dieses Mal haben Sie verloren.

 

Atlan: Alarm in Quinto-Center

 

Ein unangenehm hoher, summender Ton holte mich in die Realität zurück. Mein Armbandkom hatte eine wichtige Nachricht per Hyperfunk empfangen. Ich schaltete den Signalton ab und setzte mich schwerfällig auf. Es dauerte einen Moment, bis ich mich orientiert hatte. Lepso und die Leiche Hoyka Kahs waren verschwunden. Ich befand mich auf einer Liege in einem Übungsraum von Quinto-Center und nahm den Virto-Helm ab, der mich in die simulierte Welt des Trainingsprogramms gebracht hatte. Er war Teil einer modernen Variante jener uralten Technik, die bereits vom arkonidischen Robotregenten angewendet worden war.

Hoyka Kah sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Warum haben Sie geschossen?«

»Warum lassen Sie sich gefangen nehmen?«

Ich wusste, dass meine Gegenfrage unlogisch war, und ärgerte mich, dass ich mich dazu hatte hinreißen lassen. Hoyka Kah war im Gegensatz zu mir nicht mit im Übungsprogramm gewesen. Ihr Auftreten war wie das aller anderen Wesen perfekt simuliert worden, während sie im Kontrollraum von Quinto-Center mein Vorgehen überwacht und analysiert hatte. Allein ich hatte mich geistig über die Helmkontakte auf dieser Mission befunden, und selbst wenn die Übung vielleicht so angelegt war, dass ich nicht darin glänzen konnte, hatte ich keinen Grund, Hoyka Kah verbal anzugreifen. Auch die Wirklichkeit wartete nicht immer mit positiven Lösungen auf.

Mit gemischten Gefühlen musterte ich die beweglichen Pigment-Tätowierungen an Hoyka Kahs Ober- und Unterarmen. Sie erinnerten mich an manchen Tagen an Symbionten, auch wenn es dafür keinen Grund gab. Der magnetische Körperschmuck wurde mittels eines Chips gesteuert und war der letzte modische Schrei auf Terra. Er war dank der ärmellosen, knapp geschnittenen schwarzen Uniform gut zu sehen und bildete verschlungene Muster und Symbole, über deren Bedeutung die Paronerin sich ausschwieg. Ihre Beine waren vernarbt, als hätte man sie aus Leichenteilen zusammengesetzt, und ihr rechter Oberarm bestand aus einer Art künstlichem Kokon aus transparentem Stahlplast, aber sie versteckte ihre körperliche Versehrtheit nicht in langen Kleidungsstücken. Mein Blick blieb kurz an der transparenten Prothese hängen, in der dünne silberne Fäden wie Stützstreben durch Fettgewebe und Knochen verliefen.

Hoyka Kah kniff ihre Lippen zusammen. Ihre Stimme war kühl.

»Die Übung war nicht erfolgreich. Wir sollten eine ausführliche Analyse machen und sie so bald wie möglich wiederholen.«

Ich verzichtete auf einen zweiten Kommentar und streckte mich stattdessen, was den Größenunterschied zwischen mir und der Paronerin noch deutlicher hervortreten ließ. Ich hatte nicht übel Lust, ihr zu sagen, wie wenig ich davon hielt, den Übungseinsatz zu wiederholen. Es gab wichtigere Dinge zu tun, und die Realität war die beste Schulung. Verstimmt rieb ich mir die Schläfe.

Du hast es selbst verordnet, erinnerte der Extrasinn viel zu vergnügt. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich ihm Schadenfreude unterstellt. Du hast es eigenhändig unterschrieben. Jeder USO-Agent muss seine Übungsmissionen machen, gerade dann, wenn er schon längere Zeit im Dienst ist. Das gilt auch für den Regierenden Lordadmiral persönlich, der mit gutem Beispiel vorangehen muss.

»Mein Schuss saß perfekt«, brachte ich wider besseren Wissens hervor. Warum verteidigte ich mich? Die Generalin war wohlauf und die Übung vorbei. Außerdem wusste ich nicht einmal, ob mein Verhalten tatsächlich falsch gewesen war. Vielleicht wäre Hoyka Kah auch gestorben, wenn ich gezögert hätte. Trotzdem setzte ich hinzu: »Eigentlich hätte der Topsider nicht mehr schießen können.«

Hoyka Kah versteifte sich. »Unterstellen Sie mir, die Simulation zu Ihren Ungunsten beeinflusst zu haben, Lordadmiral?«

»Nein«, sagte ich ein wenig zu schnell. Ich sah ein, dass es keinen Sinn hatte, mit ihr zu diskutieren. Was den Punkt Übungsprogramme anging, würde sie als Ausbildungsleiterin der USO so stur sein wie mein Extrasinn bei seinen Zurechtzuweisungen.

Wer ist hier stur?, hakte der Extrasinn nach. Ich kann dir mindestens 587 Milchstraßenbewohner in alphabetischer Reihenfolge aufzählen, die das von dir behaupten würden.

Lass es sein, oder ich singe in der Nasszelle.

Ich entspannte mich und wandte meine Aufmerksamkeit ganz auf Hoyka Kah.

»Wir wiederholen die Übung. Aber nicht in den nächsten Tagen. Die Einsatzanalyse machen wir morgen.« Trotz Zellaktivator fühlte ich mich müde und mir wurde bewusst, dass ich ungewöhnlich lange nicht mehr geschlafen hatte.

Ich hob den Armbandkom und rief die Nachricht ab, die mich mit ihrem Summton in die Realität zurückgeholt hatte. Auf dem winzigen Display stand nur ein Wort: Paris.

Es war ein Kodewort, das mich erstarren ließ. Immer wieder las ich es, obwohl ich nur zu gut wusste, was es bedeutete.

»Was haben Sie?« Die Stimme der Paronerin änderte sich. Sie klang besorgt. Mein Entsetzen stand mir wohl ins Gesicht geschrieben.

»Paris«, flüsterte ich. »Es ist passiert.«

Hoyka Kahs Augen weiteten sich. Ihre Kiemen zwischen Jochbein und Hals verfärbten sich eine Nuance dunkler, und ihre Stimme bekam einen harten Klang. »Ich werde den Alarm und das Notfallprogramm auslösen. Wir müssen umgehend den Sicherheitsstandard erhöhen und vom Schlimmsten ausgehen.«

»Tun Sie das. Ich vereinbare einen Termin mit der Tahun-Polizei.« Es galt, unverzüglich aufzubrechen.

Decaree Farou war entführt worden.

Kapitel 3

 

Atlan: Tahun

 

Nur wenige Stunden später saß ich im Besprechungsraum der TOLMAN und wünschte mir, meine Gedanken würden zur Ruhe kommen. Ich hatte mich in den fast leeren Raum zurückgezogen, der maximal zehn Personen Platz bot und dessen Mobiliar lediglich aus einem Konferenztisch und einem Holovid-Würfel bestand. Vor mir war ein Holo von Decaree Farou aufgebaut, und das Gesicht der Frau, die über zehn Jahre meine Geliebte gewesen war, sah mich mit verhärmter Miene an. Es war eine der letzten Aufzeichnungen, die ich von Decaree in Quinto-Center besaß. Damals hatte sie nicht nur angefangen, durch die Sternsplitter irreale Dinge zu sehen, sondern sich phasenweise auch mit dem zu identifizieren, was sie sah.

Ich liebe sie noch immer, schoss es mir durch den Kopf. Obwohl ich gehofft habe, dass es vorbei ist.

Du verwechselst Liebe und Mitgefühl, hielt mir der Extrasinn vor.

Nachdenklich stütze ich das Kinn auf die Hände und dachte darüber nach, ob der Extrasinn recht haben konnte. Seit dem Erhalt des Kodeworts quälten mich tausend Fragen, auf die ich keine Antwort wusste. Wer hatte Decaree entführt, und wohin hatte er sie gebracht? War sie überhaupt noch am Leben? Litt sie, wurde sie gefoltert?

Das Schott des Konferenzzimmers öffnete sich, und Hoyka Kah trat ein. Ich richtete mich auf und sah ihr entgegen. Statt einer Begrüßung äußerte ich meinen Unmut.

»Warum sind Sie nicht in Quinto-Center geblieben? Wir sollten das Hauptquartier nicht kopflos zurücklassen.«

Hoyka Kah war als meine rechte Hand und Stellvertreterin prädestiniert, die Führung während meiner Abwesenheit zu übernehmen, und gerade in dieser Situation war es wichtig, dass sie vor Ort war.

Die Paronerin setzte sich in einen der Pneumositze und sah mich eindringlich an. Ihre hellbraunen Augen schienen direkt in meine Seele zu blicken.

»Ich wollte Sie unter vier Augen sprechen, um Ihnen meine Gründe persönlich vorzutragen, Sir. Offen gestanden traue ich es Ihnen nicht zu, das vorliegende Problem auf adäquate Weise zu lösen.«

Ich wollte zu einer heftigen Antwort ansetzen, doch der Extrasinn hielt mich zurück. Du hast sie nicht umsonst zu deiner rechten Hand gemacht. Was taktische Analysen betrifft, ist sie noch immer ungeschlagen, also nimm ernst was sie sagt.

»Wie kommen Sie darauf?«, fragte ich gepresst.

»Liegt das nicht auf der Hand? Ihre Beziehung zu Decaree Farou ist … kompliziert.«

Ich dachte an den Tag zurück, als Decaree die Splitter erhalten hatte. Im Februar 3122 war die USO durch die Solare Abwehr auf eine ungewöhnliche Lebensform aufmerksam geworden, die sich selbst als Flexion verstand und wie ein silberfarbener, zähflüssiger Metallteppich aussah. Flexion hatte sich nur über Bilder mitteilen können, und Decaree war es gelungen, eine besonders intensive Beziehung zu ihm herzustellen. Das Wesen hatte sich als Teilstück einer Einheit entpuppt, die sich aus einer Vielzahl von Strukturos und Formfreunden zusammensetzte. Es selbst zählte sich zu den Strukturos. Wenn diese Einheit nicht schnellstmöglich hätte wiederhergestellt werden können, wäre ein ganzer Sternensektor vernichtet worden, da das Unal, wie sich Strukturos und Formfreunde in der Gesamtheit nannten, einen starken Selbstzerstörungsimpuls besaß.

Decaree hatte damals alles riskiert und bei der Zusammenführung den Transport der Strukturos bewerkstelligt. Dabei war sie mit ihnen verschmolzen. Ich hatte die fremde Wesenheit zwingen müssen, Decaree freizugeben, doch sie war nach dem Erlebnis nicht mehr dieselbe gewesen. Ihre Augäpfel waren verschwunden, und statt ihrer hatten Splitter des Unal in den leeren Augenhöhlen gesteckt. Ein Teil ihrer Seele schien im Austausch auf der Strecke geblieben zu sein.

Es hat schon vorher angefangen, warf der Extrasinn ein. Decaree hat gefürchtet, dich zu verlieren, nur deshalb hat sie so viel riskiert. Sie hat gespürt, wie sie altert, während du wie ein Monolith Jahrtausende überstehst.

Es stimmte. Decaree hatte sich bereits zuvor verändert und ihre eigenwillige Handlung, sich den Strukturos als Transportmittel anzubieten, war nur der Gipfel eines Felsmassivs gewesen. Bereits im Mai 3119 hatte ihre Risikobereitschaft stark zugenommen. Im Glauben, mit mir mithalten zu müssen, hatte sie fast einen Krieg zwischen dem Solaren Imperium und dem Carsualschen Bund provoziert.

Die Paronerin riss mich aus der Erinnerung. »Ich werfe Ihnen Befangenheit vor, Lordadmiral.«

Hoyka Kahs Direktheit verblüffte mich. Gleichzeitig war ich dankbar für ihre Offenheit. Ich wusste, dass sie neidisch auf Decaree gewesen war, oder zumindest nicht verstand, wie eine Frau wie Decaree, die in der USO als Sekretärin angefangen hatte, zu meiner rechten Hand hatte werden können. Böse Zungen behaupteten nach wie vor, Decaree habe sich nach oben geschlafen, doch sie missachteten die Qualifikationen, die meine Geliebte gehabt hatte. Hoyka Kah hätte mir gegenüber zwar nie behauptet, dass Decaree vor allem in meinem Bett Karriere gemacht habe, aber sie verstand die Beförderung außerhalb der strengen Hierarchie der USO nicht und verachtete darüber hinaus eine persönliche Beziehung unter Mitarbeitern. Für sie lenkte eine solche Partnerschaft immer von den eigentlichen Aufgaben ab.