Cover
 

Blanca Imboden

Wandern ist doof

Ein Kreuzworträtsel mit Folgen

WÖRTERSEH

 

Die Frankfurterin Conny hat bei einem Kreuzworträtsel zwölf Tage Ferien gewonnen. Ferien in der Schweiz. In der Urschweiz. Ferien im schwyzerischen Morschach. Der Gewinn kommt für die Hotelrezeptionistin, die gerade Liebeskummer hat, wie gerufen. Doch die Freude währt nur so lange, bis ihr klar wird: Diese Ferien sind als Wander- und Fastenreise für Singles ausgeschrieben. Conny will absagen, denn sie weiß genau: Wandern ist doof. Fasten ist doof. Und Männer sind erst recht doof. Dank der Überredungskunst ihrer Freundin Andrea fährt sie trotzdem hin. Im Gepäck ihre neu gekauften Wanderschuhe und die geliehenen Wanderstöcke, den Rucksack und die Thermosflasche. Im Herzen die Gewissheit: Das wird vor allem eines – verlorene Zeit.

»Man muss kein Wanderhasser sein, um dieses vergnügliche Buch zu lieben – spritzige, witzige, gute Unterhaltung!«

Tanja Kummer, Literaturexpertin, SRF 3

Was, wenn eine Frankfurterin eine Reise in die Schweiz gewinnt, die sie eigentlich gar nicht antreten möchte? Nein, es ist nicht das Nachbarland, das sie vor den geschenkten Ferien zurückschrecken lässt, sondern die Aussicht auf zwölf Tage Wandern und Fasten. Und dies auch noch in einer Gruppe von Singles. Aber – erstens kommt es anders und zweitens als man denkt. Wer sich auf dieses Buch einlässt, wird sich schon bald Wanderschuhe und Wanderstöcke besorgen. Eine amüsante, heitere Ferienlektüre! Alles zu den im Buch erwähnten Wanderungen findet sich unter: www.wandern-ist-doof.ch

 

Das Buch ist ein Dankeschön an meine
wunderschöne Heimat, die Zentralschweiz
.

Ich widme es
Bernadette Kälin-Wetterwald
aus Morschach
.

Sie veränderte mich: Aus einem eingefleischten
Bewegungsmuffel wurde ein Wandervogel.
Vor drei Jahren hätte ich tatsächlich selber noch
gesagt: »Wandern ist doof!«

Inhalt

Über das Buch

Über die Autorin Blanca Imboden

Wandern ist doof …

 1. Ferientag
Anfang der Urlaubszeit, 12 Buchstaben: FERIENBEGINN

 2. Ferientag
heftiger Regen, 11 Buchstaben: WOLKENBRUCH

 3. Ferientag
Schweizer Sonnenstube, 6 Buchstaben: TESSIN

 4. Ferientag
Figur aus »Wilhelm Tell«, 7 Buchstaben: GESSLER

 5. Ferientag
Berg oberhalb Morschachs, 12 Buchstaben: FRONALPSTOCK

 6. Ferientag
geschichtsträchtige Schweizer Wiese, 6 Buchstaben: RUETLI

 7. Ferientag
Schweizer Urkanton, 3 Buchstaben: URI

 8. Ferientag
Wallfahrtsort im Kanton Schwyz, 10 Buchstaben: EINSIEDELN

 9. Ferientag
Königin der Berge, 4 Buchstaben: RIGI

10. Ferientag
Schweiz, 1. August, 14 Buchstaben: BUNDESFEIERTAG

11. Ferientag
Stadt am Vierwaldstättersee, 6 Buchstaben: LUZERN

12. Ferientag
Stadt am Main, 9 Buchstaben: FRANKFURT

Ich danke ganz herzlich …

 

Meine Freundin Andrea hüpft barfuß auf meiner Dachterrasse herum wie ein modernes Rumpelstilzchen. Übermütig schreit sie auf die Straßen von Frankfurt hinunter: »Conny hat eine Reise gewonnen, eine Reise gewonnen, gewooonnen!«

Sie kann sich gar nicht wieder beruhigen. Andrea hat mir die Post mit heraufgebracht, und jetzt freut sie sich wie blöde, weil ich bei einem Preisausschreiben gewonnen habe. Es fällt ihr gar nicht auf, dass ich in ihren Jubel nicht einstimme.

Oder doch?

Sie verstummt plötzlich und bleibt vor mir stehen.

»Was ist los, Conny? Warum freust du dich nicht?«

Eine kleine unwillige Falte bildet sich zwischen ihren sorgfältig gezupften Augenbrauen und entstellt ihre sonst so harmonischen Gesichtszüge.

Andrea kann es nicht fassen, dass ich ihre Ausgelassenheit nicht teile, wo ich doch zum ersten Mal etwas gewonnen habe, und so stichelt sie: »Endlich machen deine blöden Kreuzworträtsel Sinn. Man kann damit Reisen gewinnen. Hut ab! Hätte ich nicht gedacht. Und die Schweiz, die ist doch total cool. St.Moritz, Arosa, Davos, Zermatt. Alles so mondän und elegant. Mitten in den Bergen trifft man die Promis der ganzen Welt.«

Andrea schwärmt jetzt, als müsste sie mir meinen Preis erst noch verkaufen. Aber während sie voller Freude auf der Dachterrasse herumhüpfte, habe ich mir die Unterlagen genauer angeschaut, und der Freudenschrei ist mir im Hals stecken geblieben.

»Nix mit St. Moritz. Ich habe eine Reise nach Morschach gewonnen«, dämpfe ich ihre Begeisterung.

»Morschach?«

Andreas Gesicht ist nun ein einziges Fragezeichen. Sie kramt sofort ihr iPhone aus der neuen Pradatasche mit Elfenaufdruck und tippt aufgeregt darauf herum. Ich mache mir Sorgen um ihre teuer manikürten Fingernägel. Sie beißt sich vor Aufregung auf die Unterlippe. Schließlich findet sie, was sie gesucht hat.

»Nein!!! Das ist irgend so ein Kuhdorf in den Schweizer Bergen! Da kannst du nicht hinfahren!«

Ihre Begeisterung ist in Sekundenschnelle von hundert auf null gesunken.

»Idyllisches Bergdorf … tausend Einwohner … Sonnenterrasse über dem Vierwaldstättersee …«, informiert mich Andrea weiter.

Ich lächle und bemerke etwas trotzig: »Klingt wunderbar nach Entspannung und Ferien. Keine Schickeria. Ideal für mich.«

Zugegeben, das sage ich jetzt nur, um Andrea ein wenig zu ärgern. So einfach lasse ich mir meinen Gewinn nicht madigmachen. Eigentlich möchte ich überhaupt nicht verreisen. Zermatt oder Morschach, das macht für mich im Moment keinen großen Unterschied. Ich will diesen Sommer zu Hause bleiben. Ich bin erst vor einem halben Jahr hier eingezogen und brauche Zeit für mich, Zeit, um anzukommen und meine Wunden zu lecken.

Andrea kann sich kaum erholen: »So ein winziges Bergdorf, das ist doch etwas für alte Leute oder Familien mit begrenztem Reisebudget. Dort sagen sich garantiert sämtliche Füchse und Hasen der Welt Gute Nacht. Nichts als Berge und Hügel! Du müsstest Kreuzworträtsel lösen, um nicht völlig zu verzweifeln.«

In letzter Zeit geht Andrea mir ab und zu auf die Nerven. Vor einem halben Jahr, als mein Freund mich verlassen hat und ich mit 35 Jahren privat und beruflich neu anfangen und dafür nach Frankfurt umziehen musste, da tat es mir unglaublich gut, von ihr bemuttert zu werden. Ich war verzweifelt und irgendwie gebrochen. Aber langsam müsste sie merken, dass ich wieder zu mir zurückgefunden habe und selber weiß, was gut für mich ist. Inzwischen fühle ich mich von meiner Freundin manchmal bevormundet und gegängelt. Je mehr sie mich bemuttert, desto renitenter werde ich, wie ein pubertierender Teenager.

renitent, 13 Buchstaben: WIDERSPENSTIG

»Ich werde diese Reise ganz bestimmt antreten. Das ist mein erster Gewinn überhaupt und sicher eine Art Zeichen. Ich brauche keinen mondänen Ferienort, für den ich eigens noch Garderobe kaufen muss. Du hast recht, ich werde sicherheitshalber ein paar Kreuzworträtsel einpacken«, erkläre ich mit resoluter Stimme. Und weil ich gerade dabei bin, aufmüpfig zu sein, rufe ich vor den Augen meiner völlig verblüfften Freundin bei dem Magazin an, um mitzuteilen, dass ich den Gewinn mit Freude annehme. Man erklärt mir, ich müsse die Reise bereits am 23. Juli antreten. Auch dazu sage ich ohne zu zögern Ja.

Andrea schüttelt den Kopf und greift sich verzweifelt in ihre blonde Stachelfrisur. Mir kommt das Lied vom kleinen grünen Kaktus in den Sinn, und ich muss lächeln. Das ärgert Andrea. Manchmal ist meine Freundin wirklich stachelig und gleichzeitig so liebenswert. Wie ein kleiner grüner Kaktus eben.

Jetzt ist Andrea erst mal eingeschnappt. Ich sei ja völlig beratungsresistent, hält sie mir vor. Und ob ich denn überhaupt freibekomme? Außerdem hätte ich keine Vorstellung, wie einsam ich mich in diesem Bergdorf fühlen würde.

»Ja, Mama«, sage ich schließlich entnervt. Darauf quetscht Andrea ihre Füße wieder in ihre neuen Designer-Schuhe und stöckelt davon.

abhauen, 9 Buchstaben: VERDUFTEN

Ich habe manchmal die Angewohnheit, in Kreuzworträtseln zu denken. Es beruhigt mich einfach, alles im Geiste in quadratische Felder hineinzuschreiben. Das nimmt dem Leben seinen Schrecken. Ich will mich ganz bestimmt nicht ernsthaft mit Andrea streiten. Das weiß sie auch. Wir kennen uns schließlich lange genug. Ich wedle ein wenig mit dem Brief durch die Luft, um die unguten Schwingungen zu vertreiben. Dabei fällt ein Faltblatt aus dem Kuvert, das ich noch gar nicht beachtet hatte. Ich lese und werde blass.

War ich vielleicht doch etwas voreilig mit meiner Zusage? Zusagen kann man doch hoffentlich auch wieder absagen.

In dem bunten Faltblatt wird die Reise detailliert beschrieben. Was ich da lese, gefällt mir ganz und gar nicht. Das Hotel wirkt gediegen und komfortabel, das erkenne ich als Fachfrau sofort. Aber ansonsten?

Ich habe eine Singlereise mit Wandern und Fasten gewonnen.

Hallo? Bin ich im falschen Film?

Werde ich mit versteckter Kamera beobachtet, und gleich landet einer mit einem Fallschirm auf meiner Terrasse und erklärt, dass alles nur ein blöder Scherz war?

fassungsloser Schreck, 9 Buchstaben: ENTSETZEN

Ich bin nicht grundsätzlich männerfeindlich. Im Moment habe ich nur absolut keine Lust auf eine Singlereise mit Verkuppelungsspielchen. Ich gehe zurzeit gerne etwas auf Distanz zur Männerwelt und fühle mich gut dabei.

Und wandern?!

Wandern ist doof.

Nachdem ich in der Schulzeit meine letzten Pflichtwanderungen erdulden musste, beschloss ich, nie mehr freiwillig Berge hochzukraxeln, nur um dann von oben nach unten zu schauen.

Und fasten?! Warum sollte ich? Ich bin schlank und gesund.

Nichts essen und dann auch noch Berge besteigen, und als Krönung ein paar bescheuerte Männer im Schlepptau. Das ist ein Albtraum, wie er im Buche steht! Und das alles zwölf Tage lang, in einem Kuhdorf, das absolut keine Ablenkung oder Ausweichmöglichkeiten bietet, nur Berge, so weit das Auge reicht. Soll ich mir das tatsächlich antun?

Ich räume kopfschüttelnd meine Rätselsachen zusammen und gehe hinunter in die Wohnung. Eine dunkle Wolke hat sich vor die Sonne geschoben, und sofort wird es kühl. Wieso hatte ich das denn in der Ausschreibung nicht gelesen? Singlereise mit Wandern und Fasten!

Habe ich in letzter Zeit wirklich jedes Kreuzworträtsel gelöst und eingeschickt, ohne auf den Gewinn zu achten und mich zu fragen: Will ich das denn überhaupt?

Es sieht ganz danach aus.

Was gewinne ich wohl als Nächstes? Einen Campingurlaub in der Antarktis? Einen Abend mit Hansi Hinterseer? Eine Tonne Häkelwolle, direkt über meinem Balkon abgeworfen? Mir käme noch einiges in den Sinn, das ich nie und nimmer gewinnen möchte.

Sagte nicht mein Ex schon immer, ich sei zu spontan, würde zu unüberlegt handeln, sei zu kindisch? Hatte er am Ende recht?

Frank war so ein Typ, der niemals den Fernseher eingeschaltet hätte, ohne vorher die Fernsehzeitung zu studieren. Jeder winzige Ausflug wurde im Voraus endlos recherchiert und damit jede Möglichkeit zu Spontanität im Keim erstickt. Als Lehrer war er es gewohnt, alles zu planen, zu organisieren, unter Kontrolle zu haben. Und doch: Wir passten wunderbar zueinander. Glaubte ich. Bis vor einem halben Jahr hielt ich uns für ein glückliches Paar. Wir stritten uns, wir versöhnten uns. Wir hatten Spaß, gemeinsame Freunde, konnten auch zu zweit sein, ohne uns zu langweilen. Dabei waren wir immerhin schon drei Jahre zusammen. Sogar unser Sexleben war okay. Bis Frank eines Tages vor mir stand, völlig überraschend, und erklärte, dass er mit einer Lehrerkollegin auswandern würde. Ausgerechnet mit der dicken Dorothee! Ich konnte es nicht fassen. Liebte Frank neuerdings nach Gewicht? Seine neue Liebe war dreißig Kilo schwerer als ich! Es gehe ihm um innere Werte, erklärte mir Frank. Was war mit meinen inneren Werten nicht in Ordnung? Seit wann interessierten sich Männer für innere Werte? Und wieso konnte dieser Gewohnheitsmensch plötzlich über sich selbst hinauswachsen und das Abenteuer im Ausland suchen? Die beiden arbeiten jetzt in Afrika in einem Missionsprojekt. Unvorstellbar! Mein Weltbild geriet gehörig ins Wanken. Hatte ich ihn derart verkannt? Eine Zeit lang war ich erschüttert und verzweifelt. Mein Selbstvertrauen war fast zerstört.

Warum hatte ich nichts gemerkt?

Gar nichts!

Normalerweise sind es die Männer, die sagen, es sei doch alles perfekt gewesen, an dem Tag, an dem sie von ihrer Frau verlassen werden. Weil sie einfach nichts merken, wenn sie nichts merken wollen.

Aber ich? Bin ich so unsensibel?

Frank mit seinem Ordnungsfimmel konnte ich mir gar nicht in Afrika vorstellen. Er wollte sogar seine Taschentücher gebügelt haben und tat dies notfalls selber, so wichtig war ihm das. Die Bücher und CDs standen nach dem Alphabet sortiert im Schrank. Seine T-Shirts ordnete er nach Farben, und jede Socke hatte ihren speziellen Platz in der Kommode. Und jetzt lebt Frank irgendwo im Busch? Früher trank er immer die gleiche Sorte Bier, und nur diese eine war die richtige. Bei den meisten Lebensmitteln war er so. Er wusste haargenau, was ihm schmeckte, und alles andere kam nicht auf den Speiseplan. Bloß keine Experimente. Jetzt hockt Frank in Afrika, und es macht ihm offenbar nichts aus, dass alles anders ist und er auch mal in eine grillierte Heuschrecke beißen muss? Weil die dicke Dorothee ihn begleitet? Dabei sind wir im Urlaub immer an die Adria gefahren, weil jedes exotische Land ihm suspekt war.

Wo war bloß meine Menschenkenntnis geblieben? Ach, ich könnte immer noch aus der Haut fahren, je mehr ich darüber nachdenke. Aber Grübeln hilft nichts.

Vielleicht sollte ich wirklich auf diese Reise gehen. Schon, um mir zu beweisen, dass ich unternehmungslustig, offen und risikobereit bin und dass auch ich Mut zum Abenteuer habe. Nicht dass am Ende jemand vermuten könnte, ich sei in unserer Beziehung die Festgefahrene gewesen.

Vielleicht würde es mir gerade jetzt guttun, etwas völlig anderes zu machen, auszubrechen und neue Leute zu treffen, die ganz andere Interessen und Lebenswege haben.

Eventuell. Allenfalls.

vielleicht, 15 Buchstaben: MOEGLICHERWEISE

Das Hotel sieht im Prospekt wirklich sehr gut aus. Und alles rundherum ist so grün. Ich könnte herrlich durchatmen. Entspannt träume ich vor mich hin. Frankfurt ist ein Moloch, der einen manchmal fast verschlingt. Eine Dreckschleuder, eine Ansammlung merkwürdiger Gestalten, ein Verkehrschaos rund um die Uhr.

Aber Wandern ist doof.

Männer sind meist sowieso doof – früher oder später.

Fasten ist total doof.

Trotzdem ziehe ich gerade ernsthaft in Erwägung, diese Reise anzutreten. Wem will ich damit etwas beweisen? Mir selber? Das wäre ja noch okay.

Eigentlich will ich mich einfach über meinen ersten Gewinn freuen. Ich löse noch nicht so lange Kreuzworträtsel. Schon nehme ich wieder mein angefangenes Rätsel in die Hand. Eine Figur aus Schillers »Wilhelm Tell« wird gesucht. Solche Fragen werde ich nach meinem Aufenthalt in der Schweiz natürlich locker beantworten können.

Kreuzworträtsel sind auch doof.

Ich weiß das.

Sie sind eine Beschäftigung für alte Leute, deren Tag viel mehr Stunden als Inhalte hat. Mein Vater hat noch Kreuzworträtsel gelöst, da konnte er sie kaum mehr sehen.

»Dafür gibt es schließlich Lupen«, meinte er nur, wenn ich ihn deswegen neckte, und spitzte seine Bleistifte, bis am Ende nur kleine Stummel übrig blieben.

Papa hat noch Buchstaben in die Felder gemalt, als er den Stift nicht mehr ruhig halten und oft selber kaum mehr lesen konnte, was er zuvor geschrieben hatte.

»Kreuzworträtseln bildet«, erklärte er mir immer wieder gebetsmühlenartig, als hoffte er, ich könnte dies irgendwann auch begreifen und vielleicht etwas für meine Bildung tun. Dabei lernt man durch Kreuzworträtsel in erster Linie unnötiges Zeug, das einem im Leben rein gar nichts nützt. Wissensmüll.

Ein Beispiel gefällig?

isländischer Berg, 11 Buchstaben: BARDARBUNGA

Bardarbunga!

Ein wirklich ganz und gar besonderes Wort. Ich war stolz, als ich es mir merken und es sogar mühelos aussprechen konnte. Bardarbunga!

Klang das nicht wie eine Zauberformel?

Schön, zu wissen, dass es auf Island einen Berg mit so einem geheimnisvollen Namen gibt.

Aber wie weiter?

Wann würde ich mit diesem Sonderwissen in einer Unterhaltung punkten können?

Um es kurz zu machen: Es bot sich mir nie eine Gelegenheit, mit Bardarbunga ein bisschen anzugeben. Außerdem wäre da immer die Gefahr, dass es jemand genauer wissen will und weiterführende Fragen stellt. Da wäre ich aufgeschmissen, denn das genau ist es, was uns Ratefüchsen fehlt: das Wissen hinter der Worthülse im quadratischen Feld.

Und trotzdem: Ich löse Kreuzworträtsel.

Insgeheim.

Leidenschaftlich.

Ich erzähle das nicht herum, denn es ist nichts, worauf ich stolz bin. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Gendefekt, wie mein wildes rotes Haar. Irgendetwas Vererbtes, dem man einfach nicht entrinnen kann. Mein Vater starb vor einem Jahr, und erst vor ein paar Monaten war ich in der Lage, die Kisten mit seinen Habseligkeiten auszupacken, die mir das Seniorenheim übergeben hatte: Kreuzworträtselhefte, Nachschlagewerke, Bleistifte und Radiergummis. Tja. Andere erben eine blaue Mauritius oder kostbare Klunker, finden vielleicht sogar einen Goldbarren unter der Matratze. Aber man kann sich sein Erbe nun mal nicht aussuchen. Ich fing mit ein paar alten Kreuzworträtselheftchen und Lexika an, und inzwischen bin ich angefressen.

Am nächsten Morgen schlüpfe ich wieder in meine Dienstuniform, ein dunkelblaues Kostüm. Meine wilden roten Haare versuche ich zu bändigen, indem ich sie ausgiebig bürste und dann mit ein paar Haarspangen aus dem Gesicht verbanne. Naturwellen können ein Segen sein, für mich sind sie eine Plage. Meine Frisur ist unberechenbar. Mein Ex würde sagen, meine Haare seien der Spiegel meiner Seele.

Na ja.

Das vorgeschriebene dezente Make-up aufgelegt, in die gewünschten blauen Schuhe geschlüpft, fertig. Mein Arbeitsplatz, das Hotel Haller, ist nur ein paar Schritte von meiner Wohnung entfernt. Ich mag meinen Job. An der Hotelrezeption bin ich an der Schnittstelle zwischen Gast und Hotel und Anlaufstelle für alle möglichen Probleme. Egal, ob ein Kleiderbügel fehlt oder einer wissen will, wo das nächste Bordell ist. Alle kommen zu mir. Von der Opernkarte bis zum Arzttermin organisiere ich fast alles. Nach ein paar Jahren in diesem Job habe ich das Gefühl, mir sei nun nichts Menschliches mehr fremd. Und doch werde ich immer wieder neu überrascht, schockiert, zum Staunen gebracht. Das ist gleichzeitig der Vorteil und der Nachteil meines Jobs. Ein abwechslungsreicher Arbeitsplatz ist meist auch stressig. Aber ich ertrage lieber den täglichen Hotelwahnsinn, als in einem Büro zu sitzen, wo Tag für Tag das Gleiche geschieht.

Ich betrete das Haus, und sofort fällt mir die Menschentraube vor der Rezeption auf. Der Nachtportier, ein mit allen Wassern gewaschener Routinier, schaut mir hilfesuchend entgegen. Die Gäste drehen sich um, und bevor ich die Sicherheitsnadel an meinem Namensschild geschlossen habe, fangen sie schon an, auf mich einzureden.

»So geht das nun wirklich nicht.«

»Das ist doch ein Viersternehotel!«

»Ich will mein Geld zurück und sofort abreisen.«

Der Nachtportier zieht mich beiseite und stöhnt: »Die Leute möchten abreisen, und ich kann ihren Ärger verstehen. Die Rockmusiker waren vergangene Nacht wirklich extrem laut.«

Mit einem gebügelten Stofftaschentuch wischt er sich die Schweißtropfen von der Glatze. Ziemlich blass sieht er aus. Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein: Gestern Nacht spielten die berühmten Zanders in Frankfurt, und die Musiker waren bei uns einquartiert.

»Ab Mitternacht war ich immer wieder oben am Vermitteln und Beruhigen«, berichtet der Nachtportier weiter, »aber die Musiker waren teilweise gar nicht mehr ansprechbar. Jetzt wollten die Gäste zum Frühstücken gehen, und da liegt doch tatsächlich eine halb nackte Frau im Gang. Sie erschraken furchtbar, weil sie glaubten, die Frau sei tot. Aber dann fing sie an zu schnarchen. Das gab den Gästen den Rest. Sie wollen nun nicht mehr länger in einer Absteige wohnen.«

Der Nachtportier überlässt mir erleichtert das Schlachtfeld und zieht sich zurück.

Schwierige Situation. Diese Geschäftsleute kommen immer wieder, sind also wichtige Gäste. Die Rockmusiker sind Promis. Sie steigen hier zwar nur einmal im Jahr ab, bringen dafür unser Haus in die Presse und ziehen damit andere Promis an. Man muss abwägen. Jeder Gast ist ein König, aber er sollte sich auch ein wenig so benehmen, sage ich jeweils.

Ich kann die Geschäftsleute schließlich beruhigen. Aber nur, weil ich meine Kompetenzen überschreite und ihnen verspreche, diese Übernachtung nicht zu berechnen, und weil ich ihnen schwöre, dass sie nächste Nacht in Ruhe schlafen können. Letzteres kann ich leicht schwören, denn die Musiker reisen am Nachmittag ab. Ich bezaubere die Unzufriedenen mit meinem zauberhaftesten Lächeln und versprühe Charme ohne Ende. Fast bekomme ich einen Krampf in den Mundwinkeln. Dann begleite ich sie höchstpersönlich an ihren Frühstückstisch und weise das Personal an, ihnen jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Gleichzeitig bete ich darum, dass die Musiker weiterschlafen, bis die Geschäftsleute aus dem Haus sind.

Auch danach gibt es für mich noch keine Verschnaufpause, weil die Beinah-Leiche inzwischen auf meinem Bürostuhl weiterschläft. Das geht gar nicht. In der Wäschekammer finde ich ein paar liegen gebliebene Klamotten, die wir für Notfälle aufbewahren. Ich wecke die Dame unsanft. Ihr Make-up ist verschmiert. Sie trägt nur High Heels, Slip und BH, hält aber eine Handtasche umklammert. Sie riecht nach billigem Parfüm, Rauch und Alkohol. Eine Prostituierte, die nicht so wollte wie die Musiker? Oder ein Groupie, das man nach Gebrauch einfach vor die Zimmertür geworfen hat? Ich habe keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen. Mein Job besteht schließlich nicht nur aus Chaosbewältigung. Aber ich bin kein Unmensch und stelle der Dame eine Tasse Kaffee hin. Ich gebe ihr den alten Jogginganzug aus der Wäschekammer und erkläre ihr, dass in zehn Minuten ein Taxi auf sie warte. Die Frau schaut mich mit großen Augen an. Ich wiederhole meine Worte noch auf Englisch und Französisch. Die Frau nickt und zieht hastig den Jogginganzug über. Dann sagt sie kurz »Grazie«, nimmt einen großen Schluck Kaffee und verschwindet.

Puh. Das wäre geschafft.

Dieses Intermezzo hat mich eine Stunde gekostet. Jetzt wartet jede Menge Routinearbeit auf mich. Erst am Nachmittag finde ich Zeit, im Dienstplan nachzuschauen, ob meine Ferien überhaupt möglich wären. Alles im grünen Bereich. Das Hotel wird auch ohne mich nicht vor die Hunde gehen. Mein Chef verreist erst im Herbst.

Nachdem Frank mich verlassen hatte, habe ich es mit dem Arbeiten etwas übertrieben. Ich habe mich richtig in meinen Job hineingestürzt. Überstunden kamen wie gerufen. Ich sprang da und dort ein, habe notfalls sogar serviert oder ein Zimmer geputzt. Das ist meinem Chef natürlich nicht verborgen geblieben, und er hat gleich angefangen, einige seiner Arbeiten auf mich zu übertragen. Er betrachte mich als seine rechte Hand, betonte er immer wieder. Irgendwann legte sich seine eigene rechte Hand wie zufällig auf meinen Hintern. Das brachte mich arg in Bedrängnis. Einen Chef in die Schranken zu weisen, ist nicht so einfach. Ich versuchte es diplomatisch, was aber nichts nützte, denn er fing auch noch mit seiner linken Hand an, mich zu begrapschen. Nur so flüchtig, im Vorbeigehen, wahrscheinlich, um auszutesten, wie weit er dann beim nächsten Mal gehen könnte. Nach einigen solchen Episoden beschloss ich, ein eindeutiges Zeichen zu setzen. Als er mich wieder einmal betatschte, hatte ich gerade eine volle Kaffeetasse in der Hand, drehte mich schwungvoll um und goss ihm die heiße Brühe über seinen kostbaren Anzug.

»Ach, das tut mir leid!« Ich gab mich sehr erschrocken. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Neumann. Ich glaubte wirklich, jemand wolle mich begrapschen. Oh, wie ist mir das peinlich. Sie würden so was ja nie tun. Ich müsste ja sonst auch sofort kündigen, und das wollen wir beide doch nicht.«

Ich habe nervös-hysterisch drauflosgequasselt, und er hat gekocht vor Wut und versucht, mit ein paar Papiertüchern seinen Anzug zu retten. Aber er hat meine Botschaft verstanden und lässt mich seither nicht nur in Ruhe, nein, er behandelt mich auch ausgesprochen respektvoll.

Chef, 7 Buchstaben: MEISTER

Nachdem ich diesen chaotischen Tag bis zum Nachmittag problemlos überstanden habe, höre ich plötzlich die Stimme meines Chefs: »Frau Oswald, in mein Büro!«

Ich hatte vor lauter Stress gar nicht gehört, wann er gekommen war. Oha. Jetzt will er wissen, warum ich Logiernächte verschenke, denke ich und bereite mich innerlich auf einen verbalen Schlagabtausch vor. »Bitte erklären Sie mir, was da heute vorgefallen ist«, befiehlt er und lässt mich vor seinem Schreibtisch stehen, als wäre ich ein Schulmädchen im Rektorat. Dafür, dass seine linke Hand vor kurzer Zeit noch genauso frech war wie seine rechte, führt er sich ganz schön autoritär auf. Ich entscheide mich dafür, selbstbewusst aufzutreten, und bitte zunächst darum, Platz nehmen zu dürfen. In wenigen Worten schildere ich die Situation von heute Morgen und erkläre die Gründe für meine Entscheidungen. Ich versuche, ganz ruhig zu bleiben, und schaue ihm dabei direkt in die Augen, was ihn immer nervös macht, wie ich herausgefunden habe.

»Sie haben die Lage genau richtig gemeistert. Das fällt mir bei Ihnen immer wieder auf: In Krisensituationen reagieren Sie kompetent und souverän. Danke schön!« Neumann lächelt mich freundlich an. Er reicht mir die Hand und schüttelt sie heftig.

»Oh, Sie können sich gern revanchieren«, antworte ich und nutze meine Chance. »Ich möchte Ende Juli, Anfang August Urlaub in der Schweiz machen. Sie müssten das noch absegnen, aber von den Arbeitsplänen her sieht es sehr gut aus.«

»Wenn das so ist, dann gehen Sie ruhig. Die Schweiz. Aha. Ein teures Pflaster. Ich werde Ihnen eine Prämie von 150 Euro mit auf den Weg geben. Und nach dem Urlaub werden wir gemeinsam Ihre Position in unserem Hause neu bewerten und überdenken. Sie haben mich in letzter Zeit des Öfteren sehr positiv überrascht, und inzwischen fange ich an, mich auf Sie zu verlassen. Das erleichtert meine Arbeit enorm.«

Mir bleibt glatt die Spucke weg. Ich bin selten sprachlos, aber jetzt weiß ich nicht, was ich sagen soll. Er will doch nicht irgendwas von mir und versucht bloß, sich einzuschleimen? Die Prämie nehme ich gerne, aber ich werde auf der Hut sein.

Somit ist es wohl beschlossene Sache: Ich fliege in die Schweiz. Als ich Neumanns Büro verlasse, ziehen sich meine Mundwinkel automatisch nach oben, aber ich bin nicht sicher, ob das Vorfreude ist oder ob ich mich selber auslache.

»Und, hat es sich gelohnt, sich begrapschen zu lassen?«, fragt Ute mich kurz vor Dienstschluss. Meine Kollegin hat mein Lächeln beim Verlassen des Chefbüros bemerkt und wohl nach Belieben gedeutet. Ute hat einen Knall. Sie möchte Karriere machen um jeden Preis, kommt aber nicht vom Fleck mit ihren Bemühungen. Die Verbissenheit steht ihr ins Gesicht geschrieben. Sie würde sich notfalls auch hochschlafen, aber keiner hat an ihr Interesse. Daher spuckt sie immer mal wieder Gift und Galle. Zwischendurch arbeiten wir meist recht gut zusammen. Was soll ich ihr also antworten? »Ute, du liegst mal wieder völlig falsch. Ich habe eine Reise gewonnen!«

»Oh«, meint sie und zieht die zu einem hauchdünnen Strich gezupften Augenbrauen hoch. Mehr fällt ihr dazu nicht ein. Mitfreuen ist nicht so ihr Ding.

»In die Schweiz«, füge ich noch hinzu. Dann lasse ich sie einfach stehen und gehe ins Büro, wo ich noch schnell ein paar Gästeanfragen beantworte. Ein Mann möchte mit Schäferhund anreisen. Gut, das wäre an sich kein Problem. Aber er schreibt, dass er den ganzen Tag geschäftliche Termine habe und sich nicht um das Tier kümmern könne. Nein, da hört der Spaß auf! Gut, dass Neumann das auch so sieht. Dann will ein Verlag aus Berlin Zimmer für die Buchmesse reservieren, die im Oktober stattfindet. Gerade noch rechtzeitig. Während der Messe ist Frankfurt immer im Ausnahmezustand und die Hotelpreise genauso. Daher informiere ich den kleinen Verlag vorsichtshalber über unsere Messepreise, bevor ich die Reservierung akzeptiere.

Dazwischen kommen Gäste an, reisen ab oder reklamieren wegen diesem und jenem. Ich verbinde Telefongespräche von da nach dort. Alltag.

Am Abend auf dem Heimweg fährt es mir erst so richtig ein: Ich fliege in die Schweiz.

Mit der Schweiz als Urlaubsland habe ich mich schon angefreundet. Warum auch nicht? Wer in der Großstadt lebt, hat automatisch ab und zu Sehnsucht nach Wiesen und Wäldern. Ein ruhiges Bergdorf ist völlig okay. Dieser Teil meiner Reise bereitet mir kein Kopfzerbrechen mehr. Aber Wandern? Männer? Fasten?

Ich schlafe schlecht in dieser Nacht und träume wirres Zeug von Berggipfeln und bärtigen Kerlen. Wenn ich wach liege, versuche ich mir den Verlauf meiner Reise auszumalen, und dabei wird mir angst und bange.

Zweifel, 8 Buchstaben: BEDENKEN

Am Morgen, als ich endlich ruhig schlafe, weckt mich meine Tante Thea. Selber schuld. Ich hätte mein Handy ausschalten sollen. Ich kann ja nicht von meinem Umfeld erwarten, meine wechselnden Arbeitszeiten zu durchschauen. Meine Tante meint, weil ich keine Eltern mehr habe, müsse sie ein wenig auf mich aufpassen. Dabei ist sie wirklich nicht die ideale Aufpasserin, sondern selber ein verrücktes Huhn, auf welches man ein Auge haben sollte. Auch mit siebzig ist sie noch lange nicht im Ruhestand, sondern tut alles, was ihr gerade in den Sinn kommt, und zwar sofort und hemmungslos. Sie reist nach Indien, lernt in der Volkshochschule afrikanisch trommeln, trifft sich mit Unbekannten aus dem Internet oder organisiert Demonstrationen gegen Diskriminierung im Alter. Sie schreibt für ein Seniorenmagazin und hat schon Hausverbot in drei Altersheimen, weil sie als Unruhestifterin gilt, welche die Heimbewohner aufwiegelt.

Irgendwie hat sie meine ganze Bewunderung, meine Tante Thea. So möchte ich auch mal sein mit siebzig: unangepasst und jung im Geiste. Aber es reicht, wenn Andrea zurzeit meint, sie müsse mich bemuttern. Daher reagiere ich ein wenig aggressiv auf Tante Theas morgendliche Fragerei.

»Warum schläfst du noch? Hast du dir die Nacht um die Ohren geschlagen? Bist du überhaupt alleine?«

Wahrscheinlich würde sie sich sogar freuen, wenn ich mit einem Liebhaber zuerst heiße Orgien gefeiert und jetzt verschlafen hätte. Das unterscheidet sie sehr von meinen Eltern. Tante Thea würde mir einfach alles gönnen, solange es mir gut dabei geht.

»Warum bist du denn so schlecht gelaunt? Warum kommst du so selten vorbei? Muss ich dir wirklich erst wieder androhen, dass ich bei dir einziehen werde, falls du mich nicht öfter besuchst?«

Tante Thea löchert mich mit ihren Fragen. Bald bin ich nur noch ein einziges Loch. Und dabei bin ich noch gar nicht richtig wach. Natürlich verspreche ich ihr, sie morgen zu besuchen, damit sie Ruhe gibt und ich weiterschlafen kann.

Diese Frau! Wie muss die erst drauf gewesen sein, als sie jung war und noch mehr Energie hatte? Unvorstellbar. Meine Mutter hat Thea gehasst und geliebt, verurteilt und bewundert, alles gleichzeitig. Ich habe beschlossen, sie zu lieben, und meist tue ich das auch. Ich schalte mein Handy stumm und schlafe wieder ein. Eine Stunde später weckt mich Andrea. Sie klingelt an meiner Wohnungstür Sturm. Nein, ich kann sie nicht davor stehen lassen, auch wenn die Versuchung gerade groß ist. Wir sind neulich nicht so nett auseinandergegangen.

»Hi, Liebes«, sagt Andrea, küsst mich, drückt mir die Post in die Hand und schlüpft aus ihren Schuhen. »Wenn du Kaffee machst, habe ich die Brötchen dazu. Im Hotel haben sie mir gesagt, dass du am Morgen freihast. Du hast doch noch nicht gefrühstückt, oder?« Aus ihrer großen Handtasche, heute so pink wie ihre Pumps, duftet es verlockend. Freundinnen sind wirklich eine gute Erfindung.

Andrea ist seit zwei Jahren meine beste Freundin. Wir sind ein ungewöhnliches Paar und hätten uns wohl unter normalen Umständen nie kennen gelernt. Aber das Schicksal half mit. In einem Parkhaus in der Frankfurter Innenstadt betraten wir gemeinsam den Lift und saßen geschlagene sechs Stunden darin fest. In dieser Zeit hat sie mehr über mich erfahren, als irgendein anderer Mensch je erfahren wird, und auch sie erzählte mir ihre sämtlichen Geheimnisse. Wir waren zwei Fremde und verließen den Lift als Freundinnen, so nahe waren wir uns gekommen. Frank hat das nie verstanden. Er hat Andrea immer nur »die verrückte Blondine« genannt. Mir tut es gut, dass sie anders ist als ich. Aber natürlich birgt das auch Konfliktpotenzial. Wir streiten uns häufig und sind selten einer Meinung.

Andrea wirft mir beispielsweise vor, mich gehen zu lassen, bloß weil ich kein Interesse an den neuesten Modetrends zeige, und vor allem, weil ich gern bequeme Schuhe trage. Andrea ist überzeugt, dass Schuhe mehr sind als nur ein Kleidungsstück.

»Schuhe drücken aus, wo du gerade stehst im Leben, und vor allem, wohin du noch willst«, hat mir Andrea neulich erklärt. Gut, sie ist Schuhverkäuferin, und seit sie Geschäftsführerin einer Schuhladenkette ist, muss sie noch mehr über Schuhe nachdenken. Auch ich trage gerne schöne Schuhe. Manchmal, zu besonderen Gelegenheiten. Aber doch nicht immer! Andrea meint, mit meinen flachen Tretern würde ich ausdrücken, dass ich nicht mehr sexuell attraktiv sein wolle und kein Interesse an Männern hätte.

Stimmt genau!

Hundert Punkte für Andreas Schuh-Psychologie!

Ich will es im Moment vor allem bequem und gemütlich haben. Was sollte ich auch mit einem Mann, der sich vor allem für meine Schuhe interessiert?

Andrea schimpfte neulich erbost: »Du solltest dich mal selber filmen, Conny. In deiner Freizeit hängst du hier oben auf deiner Dachinsel herum und löst Rätsel. Wie ein altes Weib! Du wirst irgendwann versauern und eine unzufriedene alte Schachtel werden.«

Manchmal ist Andrea etwas verbohrt und sieht alles nur aus ihrer Perspektive. Ich arbeite in einem riesigen Hotel und sehe jeden Tag Hunderte von Menschen. Einige lerne ich auch kennen, manchmal näher, als mir lieb ist. Es ist also keineswegs so, dass ich mich von der Welt zurückziehe. Warum sollte ich in meiner Freizeit nicht ein wenig alleine sein dürfen? Andrea ist anders. Sie liebt Partys, kennt immer die neusten Klubs, die angesagtesten Events. Frankfurt bietet viel, wenn man genügend Kondition und das entsprechende Kleingeld hat. Letzteres wiederum ist der wunde Punkt in Andreas Leben. Als Geschäftsführerin geht es ihr jetzt zwar besser als auch schon, aber sie gibt ständig ihren letzten Euro für modischen Kram aus, und ohne die winzigste Rücklage gerät sie zwischen den Zahltagen manchmal ordentlich in Bedrängnis. Wussten Sie, wie viel Geld man für Schuhe ausgeben kann, die nur schön sind, aber keineswegs bequem oder praktisch? Und dass die passende Handtasche zum Schuh in dieser Preisklasse ein Muss ist und ebenfalls ein Vermögen kostet?