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ISBN 978-3-218-01011-5

Copyright © 2015 by Verlag Kremayr & Scheriau GmbH & Co. KG, Wien
Alle Rechte vorbehalten
Schutzumschlaggestaltung: Emanuel Mauthe, Extraplan
unter Verwendung des Holzschnitts „Stämme“ von Franz Traunfellner
Lektorat: Paul Maercker
Satz und typografische Gestaltung: Emanuel Mauthe, Extraplan
Datenkonvertierung E-Book: Nakadake, Wien

Eine Handvoll Rosinen

A mon père. A ma mère.

1.

„Alles ruhig, Herr Blum.“ Die Hand des Dolmetschers war warm, nass vor Schweiß. „Bis jetzt alles ruhig.“

Aus der Dunkelheit segelten welke Blätter in die Lichtkegel der Laternen, ein Schwarm fliegender Schatten. Im nächsten Moment wurden sie vom Wind fortgeweht, an den Blaulichtern der Fahrzeuge vorbei, die unter den Kastanienbäumen parkten. Schweigend standen die Polizisten auf den Stufen vor dem Eingang, warteten auf ein Zeichen. Ludwig Blum blickte auf seine Armbanduhr, notierte Datum und Uhrzeit auf dem Berichtsblatt: 28. 10. 2003, 04:06 Uhr.

Hauptweg und Parkplatz der Bundesbetreuungsstelle Traiskirchen lagen ruhig und friedlich da, in den Fenstern der alten Kasernengebäude waren keine Gesichter erkennbar. Blum nickte zufrieden, klopfte dem Dolmetscher auf die Schulter und betrat das Stiegenhaus. Am Vorabend waren sie hier kaum vorangekommen. Nun blickte er die Stiegen empor, die in den östlichen Trakt führten, versicherte sich der neonbeleuchteten Ruhe, drei, vier Atemzüge lang, bevor er mit dem Schreibblock den anderen winkte, ihm zu folgen.

Zehn Stunden zuvor hatte sie hier bereits eine Ansammlung unbeteiligter Personen erwartet: rund 20 Asylwerber, Afghanistan, vereinzelt Pakistan, alle in der Bundesbetreuungsstelle untergebracht. Die unbeteiligten Personen waren ihnen nachgegangen, hatten die Amtshandlung behindert, die Treppen hinauf bis in das dritte Obergeschoß und den gesamten Gang des östlichen Trakts entlang. Bei jeder Zimmertür waren es mehr geworden, männliche und weibliche Einzelpersonen, darunter auch Minderjährige, die sie von allen Seiten bestürmt, auf sie eingeredet hatten, wild gestikulierend. Blum hatte sich die AIS-Zahlen zu notieren versucht, ab dem zweiten Obergeschoß nur noch diejenigen der lautesten.

Jetzt trommelten seine Finger leise auf den Block, während sie über den im Neonlicht glänzenden PVC-Boden gingen, vorbei an geschlossenen Zimmertüren. Das Stockwerk lag friedlich vor ihnen. Sie bemühten sich, keinen Lärm zu verursachen, der die schlafende Ruhe gestört hätte. Bislang strichen ihre Schatten ungehindert über die Türschilder. 340. 342. 344.

Am Tag zuvor waren sie vor Zimmer 342 in der Menge unbeteiligter Personen steckengeblieben, die mittlerweile den ganzen Gang gefüllt hatte. Bei jedem Schritt waren sie gegen Schultern gestoßen, hatten Oberarme gestreift, den Atem unbeteiligter Personen gerochen. Um 18:35 Uhr hatte Blum notieren müssen, dass die Amtshandlung ins Stocken geraten war. Durch die Fenster waren die Sirenen der hinzugeholten Streifen gedrungen, Vösendorf Sektor 2 und 3, Laxenburg Sektor 1 und 2, Berndorf Sektor, Alland Sektor, außerdem ein Rettungswagen, ASBÖ, nachdem sich eine der unbeteiligten Personen, AIS-Zahl 0323768, Schnittverletzungen am Oberkörper zugefügt hatte. Ein anderer, AIS-Zahl 0356429, hatte Blum etwas Unverständliches ins Ohr gebrüllt, und gleich neben der Tür von Zimmer 343 hatte AIS-Zahl 0352644 seinen Kopf gegen die Wand geschlagen, immer wieder hatte er Anlauf genommen und war gegen die Wand gerannt.

Sie hatten einen weiteren Rettungswagen anfordern müssen, waren keinen Meter in Richtung Zimmer 348 vorangekommen, wo die abzuschiebende Familie untergebracht war.

Blum blieb kurz stehen und horchte in die Stille des Gangs hinein. Hinter ihm verstummten die Schritte des Dolmetschers und der Polizisten. Sie hätten gleich um diese Uhrzeit kommen sollen, nicht zur Abendessenszeit, wenn alle auf den Beinen waren, wenn sich leicht Unruhe bilden konnte. Er senkte den Kopf, blickte auf den grau gesprenkelten PVC-Belag und strich über das Leder seiner Armbanduhr, ein Geschenk seiner Frau. Er konnte sich nicht erklären, weshalb er die Amtshandlung am Vortag für den frühen Abend angeordnet hatte, ein naiver Aussetzer, wie er ihm als junger Beamter manchmal passiert war, geleitet von einem geradezu kindlichen Vertrauen, alles werde sich der Ordnung fügen. Später würde er sich der Referatsleiterin gegenüber rechtfertigen müssen: neun zusätzliche Streifen, zwei Rettungsfahrzeuge. Eine Eskalation, die kein Ruhmesblatt für das Referat Fremdenpolizei der Bezirkshauptmannschaft Baden war. Immerhin würde er Hannah davon erzählen können. Hannah würde es spannend finden. Als sie an Zimmer 346 vorübergingen, klemmte Blum seinen Kugelschreiber an den Schreibblock. Vor 348 blieben sie schließlich stehen, bildeten stumm einen Halbkreis. Über ihnen knisterten die Neonröhren. Blum warf einen Blick auf den Datenausdruck, der an die Rückseite des Blocks geheftet war, prägte sich die Fotos ein. Zwei Erwachsene, zwei Minderjährige, Afghanistan. Sanft klopfte er an die Tür und wartete in die Stille hinein, einen Atemzug lang, bevor er den Dolmetscher heranwinkte und langsam die Klinke herunterdrückte.

Das Neonlicht des Gangs fiel in das kleine Zimmer, wo sich ein Tisch, die beiden Stockbetten und die Wandschränke aus der Dunkelheit schälten. Ein großer Koffer vor den offenen Schranktüren, die Schuhe säuberlich zusammengestellt. Als hätten sie ihn erwartet. Hinter Blum trat der Dolmetscher ein, die Polizisten blieben in der Tür stehen. Erst nach und nach gewöhnten sich seine Augen an das Zwielicht, bis er schließlich die Gesichter der Familie erkennen konnte, die ihn schon die ganze Zeit ansahen.

Am Abend zuvor hatte Blum die Abschiebung um 18:52 Uhr abgebrochen. Die Verhältnismäßigkeit sei nicht mehr gegeben, hatte Blum dem Bezirkskommandanten mitgeteilt, hatte ins Telefon geschrien, um den Lärm zu übertönen, hatte sich umgedreht, die Hände zu einem Trichter geformt und über die Köpfe der unbeteiligten Personen hinweggebrüllt, sie würden jetzt gehen, man solle sie durchlassen. Die Menge hatte ihnen Platz gemacht und Blum war vor den Polizisten her den Gang zurückgegangen. 342. 340. 338. 336. Auf der Treppe waren ihnen Sanitäter entgegengekommen. Als sie draußen waren, hatte Blum den Bezirkskommandanten noch einmal angerufen. In den Morgenstunden würden sie es wieder versuchen.

Um 04:16 Uhr saß die afghanische Familie nun vor Blum, alle gemeinsam auf einem Bett. Die beiden Kinder vergruben ihre Gesichter im Rücken der Mutter. Blum nahm den Kugelschreiber in die Hand, notierte die Uhrzeit auf dem Berichtsblatt, vermerkte die Vollzähligkeit der Abzuschiebenden. Zwei Erwachsene, zwei Minderjährige, Afghanistan. AIS-Zahlen 0325418 bis 0325421, laut Bescheid des Bundesasylamts ungarische Zuständigkeit. Blum machte einen Schritt nach vorne, kniete sich neben die Familie.

„Es tut mir leid“, sagte er, „Sie müssen das Land verlassen.“

Der männliche Erwachsene nickte zur Stimme des Dolmetschers, die Frau starrte geradeaus. Draußen auf dem Gang war noch immer alles ruhig. Über das Fenster zogen die Schatten der Blätter. Auf den Glasaschenbecher auf dem Tisch achtete Blum nicht, stattdessen freute er sich über das Nicken des Afghanen und erwiderte es mit einem Lächeln.

2.

Nejat Salarzai lehnte am Fenster und blies den Rauch seiner Zigarette in die ungarische Nacht hinaus, den Blättern hinterher, die der Wind vorübertrieb, in Richtung des Budapester Ostbahnhofs. Ein feiner Nieselregen, feuchter Staub unter den schaukelnden Straßenlaternen, sorgte dafür, dass die Blätter kleben blieben, sobald sie einmal den Boden berührten. Nejat blickte auf die glänzenden Pflastersteine hinunter, auf das sich entfernende Auto, das seinen Kunden und dessen Familie nach Dresden brachte. Auf einmal drehte der Wind, spuckte ihm nass ins Gesicht. Er machte einen Schritt zurück, knöpfte sein Sakko zu und ließ die Hand über den Knöpfen liegen, auf dem Bauch.

Der Wind drang in die dunkle Wohnung ein, bewegte die trüben Vorhänge, fuhr in den Geruch von Lammfleisch, Kardamom und Knoblauch, der noch über den Matratzen hing. Nejat zog an seiner Zigarette, sah den Blättern nach, in Richtung des Ostbahnhofs, wo das Auto jetzt verschwunden war.

Er hatte die afghanische Familie vor dem Anhaltelager in Győr abgeholt, mitsamt ihren Koffern. Auf der ganzen Fahrt nach Budapest hatten sie kein Wort gesprochen, als wäre es Nejats Schuld, dass sie wieder in Ungarn waren. Als hätte er ihnen die Fingerabdrücke abgenommen, nicht die ungarischen Behörden. Als hätte er dafür gesorgt, dass die österreichische Polizei sie wieder zurückgeschoben hatte. Eine Stunde lang waren sie schweigend gefahren, nur die beiden Kinder hatten ab und zu geweint.

„Fawad, mein Lieber, es ist nicht meine Schuld“, hatte Nejat gesagt und seinen Kunden von der Seite betrachtet. „Das kann passieren, dass man wieder in Ungarn landet. Das kommt vor, das kommt oft vor. Aber mach dir keine Sorgen, mein Lieber, wir werden es wieder versuchen. So oft wie nötig werden wir es versuchen. Keine zusätzlichen Kosten für dich, mein Lieber.“

Fawad hatte nach vorne geblickt und nicht geantwortet, nur irgendwann das Fenster heruntergekurbelt und die österreichischen Lagerkarten hinausgeworfen, weißes Plastik mit einem roten Streifen. Der Fahrtwind hatte die Karten kurz gegen das Autofenster geklatscht, dann waren sie weg gewesen.

„Mach dir keine Sorgen“, hatte Nejat hinzugefügt, „ich kümmere mich um euch.“

Später hatten sich seine Kunden nur wenig aus den Schüsseln genommen, ein Stück Lamm, einen Löffel Rosinenreis. Fawad musste sich von seiner Frau beim Schneiden helfen lassen, wegen des Verbands. Sie ließen Nejat nicht aus den Augen, schielten immer wieder zur Tür, riefen die Kinder zurück, wenn sich diese zu weit von den Matratzen entfernten. Lächelnd hatte Nejat gemeint, die Kinder könnten die Spielzeuglastwägen behalten, die er ihnen gegeben hatte, und weitergelächelt, als die Kinder auf das hastige Winken ihrer Mutter nicht reagierten, ihn mit großen Augen anstarrten, anstatt sich zu bedanken.

Es tue ihm leid, hatte sich Fawad eilig entschuldigt, die Kinder würden sich vor Nejats paschtunischem Akzent fürchten.

Dieser hatte gelacht, sich noch einen Teller Lammfleisch genommen und begonnen, von den Niederlanden zu erzählen, und von Istanbul, vor allem von Istanbul erzählte er immer gerne. Er hatte eine Straßenkarte auf dem Boden ausgebreitet, hatte Reiskörner und Rosinen beiseite gewischt und war mit dem Finger die Route entlanggefahren. Ungarn, Slowakei, Tschechien, Dresden. Dresden sei schon Westeuropa. Seine Kunden hatten ihm schweigend zugehört, waren nur kurz zusammengezuckt, als im Stiegenhaus eine Tür zugefallen war. Eine zweite Tasse Tee hatten sie abgelehnt.

„Die Reisepässe, mein Lieber“, hatte Nejat mit vollem Mund gemeint und mit einem Stück Brot auf das Briefkuvert gezeigt, „gibst du wieder dem Fahrer mit, wie letztes Mal. Er bringt euch nach Dresden, dann müsst ihr alleine weiter. Ein paar Telefonnummern schreibe ich dir auf, das sind gute Leute, verlässliche Leute. Nur die Preise musst du selbst verhandeln. Kein Tee?“

Fawad hatte den Kopf geschüttelt, hatte die Mullbinde betrachtet, die um seine Finger gewickelt war.

„Werden sie uns wieder hierher zurückschicken?“, hatte er gefragt und Nejat angeblickt. „Wie aus Traiskirchen?“

Nejat hatte lächelnd mit den Schultern gezuckt. „Kann passieren, mein Lieber. Dann muss man es woanders versuchen. So oft wie nötig, bis ein Weg funktioniert. Das gehört zum Geschäft. Mach dir keine Sorgen, meine Kunden haben eine Garantie für Westeuropa.“

„Danke“, hatte Fawad gesagt.

Nejat hatte auf die Hand seines Kunden gedeutet. „Der Glasaschenbecher war eine Dummheit. Du hast eine Familie, du brauchst deine Fingerkuppen. Die Polizei erkennt deine Fingerabdrücke, da kannst du so viel schneiden, wie du willst. Wenn sie euch erwischen, wissen sie, dass ihr in Ungarn wart, in Österreich und so weiter.“

Der Afghane hatte den Kopf gesenkt, mit der anderen Hand an den Rändern des Verbands gezupft.

„Man kann es doch woanders versuchen?“, hatte er mit fragendem Blick gemeint, Nejat von unten her angesehen. „Man kann es doch woanders versuchen, oder? Nejat-jan?“

„Du sollst dir keine Sorgen machen, mein Lieber, mein Bruder“, hatte Nejat gelacht und war aufgestanden, um den Teekrug zu holen. „Ich kümmere mich um euch.“

„Woher kommen Sie?“, hatte er auf einmal die Stimme der Frau gehört. Dünn und leise. „Woher kommen Sie, Nejat-jan?“

Einen Moment lang war Nejat im Dampf des Lammfleischs stehengeblieben. Er hatte die Afghanin angestarrt, die den Blick sofort abgewandt hatte. Fawad war in Hektik verfallen, hatte gleichzeitig seine Frau zurechtgewiesen und begonnen, sich bei Nejat zu entschuldigen, sich nebenbei bemüht, die Kinder einzufangen, die sich hinter dem Rücken ihrer Mutter versteckt hatten.

Nejat hatte nach dem Teekrug gegriffen, ein Lächeln aufgesetzt. „Ich komme von überallher, meine Liebe.“

Er war froh, als die Familie weggefahren war. Der Budapester Nachtwind wurde stärker, hob die Vorhänge an, jagte einige Blätter in den Raum hinein. Nejat warf den Rest seiner Zigarette auf die Straße und schloss das Fenster. Er begann, die Schüsseln wegzuräumen, stellte die Teller zusammen und faltete die Straßenkarte, legte sie auf den Couchtisch neben die Spielzeuglastwägen. Der Essengeruch in der abgekühlten Wohnung war noch nicht ganz verflogen. Rosinen und Kardamom. Die Narbe schmerzte ihn, wohl wegen des Wetters. Er verzog das Gesicht, legte sich vorsichtig auf die Matratze, starrte auf die nackte Glühbirne an der Decke, auf den abgebröckelten Putz dahinter. Kaum sichtbar bewegte er seine Lippen.

„Von überallher.“

3.

„Zu unserem Hochzeitstag alles Gute.“ Blum trank einen Schluck Malzkaffee, betrachtete den Satz auf dem Notizzettel, zögerte. Schließlich setzte er den Kugelschreiber an und strich ihn durch, zerknüllte den Zettel und warf ihn in den Papierkorb zu den anderen Sätzen. Die Karte mit den silberfarbenen Blumen war noch in Zellophan verpackt.

„Und alles wegen einem einzigen Asylanten.“ Die Schreibkraft stand noch immer in Blums Büro, kopfschüttelnd, die wenigen Akten, die sie von ihm bekommen hatte, an die Brust gepresst. „Das ist ja nur meine Meinung, Herr Amtsdirektor, aber da wird Ihnen ganz übel mitgespielt.“ Mit gesenkter Stimme fügte sie hinzu: „Sie kann Ihnen doch nicht alles wegnehmen, nur weil ein Asylant sich bei einer Abschiebung mal schnell die Finger aufschneidet.“

Blum schob den Teller mit seinem Brot an den Rand des Schreibtischs. Pumpernickel, drei Scheiben Wurst auf einem dünnen Butterbelag, sorgfältig in Streifen geschnitten. Die meisten waren übriggeblieben.

„Verfahrenspartei“, murmelte er, ohne die Schreibkraft anzusehen, „eine Verfahrenspartei konnte sich während einer Amtshandlung eine schwere Verletzung zufügen.“ Er riss einen neuen Notizzettel vom Block, strich über die winzigen Risse im Glas seiner Armbanduhr, setzte den Kugelschreiber erneut an. „Außerdem hat sie mir ja nur ein paar Akten weggenommen.“

Aus den Augenwinkeln sah er die Schreibkraft noch immer den Kopf schütteln. „Alles wegen einem einzigen Asylanten, das kann sie doch nicht machen.“

„Und das alles wegen einem einzigen Afghanen?“ Hannah blickte zu ihm auf, die Schultern wegen der Kälte hochgezogen, und blies den Rauch ihrer Zigarette aus.

„Ja. Nein. Die Selbstverletzung war ja nicht der Grund“, sagte Blum. „Und ich habe ja noch Akten.“ Er starrte auf den leeren Spielplatz, auf die Bäume dahinter, die schon fast alle Blätter verloren hatten.

Sie standen auf dem Bodengitter vor dem Haus 5, wo der Wind nicht so stark war. Das Laub bedeckte den steinernen Blumenkasten neben dem Eingang, den Asphaltstreifen, der zum Hauptweg führte. Ahorn- und Buchenblätter, vereinzelt auch Kastanie, gelb und rot. Die kalte Luft verdünnte Hannahs Parfum.

„Heute hat mich wieder einer angeredet“, meinte sie und strich sich eine Strähne ihrer schwarzen Haare aus dem Gesicht. „In der türkischen Bäckerei am Bahnhof. Was ich eigentlich mit dem Lager zu tun habe, ob ich hier arbeite. Dann hat der Bäcker sich noch eingemischt, dass sogar die Semmeln aus Deutschland angeliefert werden, dass man die heimischen Betriebe vergessen hat. Das Lager bringt den Traiskirchnern nur Obdachlose, hat er gemeint, und er freut sich auf die Polizeischule, die der Herr Bürgermeister versprochen hat.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe gesagt, dass ich nichts zu tun habe mit dem Lager, dass ich nur Dolmetscherin bin.“

Blum betrachtete die Remuneranten vom Reinigungsdienst, die in gelben Westen und weißen Gummistiefeln über den Rasen liefen. Ständig riss der Wind ordnungswidrig verstaute Kleidungsstücke und Schuhe von den Fensterbänken, verteilte sie auf dem ganzen Gelände.

„Der Bäcker hat auch gesagt, dass in der Nacht wieder wer am Bahnhof geschrien hat“, fuhr Hannah fort, „und heute Morgen ist das Klo dort voller Blut gewesen. Das sind die Obdachlosen, Ludwig, die machen den Leuten Angst. Ich will auch nicht mehr am Bahnhof parken.“

„Die Leute sollen sich beruhigen“, entgegnete Blum. „Sollen der Behörde vertrauen.“ Er vergrub die Hände in den Taschen. „Wir machen schon unsere Arbeit.“

Der Wind bauschte die Plastiksäcke der Remuneranten, hob sie vom Boden auf.

„Ist nicht schon Sturmzeit?“, fragte Hannah.

„Schon vorüber“, meinte Blum. „Anfang September bis Ende Oktober.“

„Schade“, lächelte sie und drückte den Zigarettenstummel mit den Fußspitzen durch das Gitter. „Ich dachte, wir würden ein Glas trinken gehen.“

„Jungwein gibt es jetzt“, meinte Blum, blickte auf die Haarsträhne, die ihr wieder nach vorne gefallen war. „Wir könnten einen Jungwein trinken. Inschallah.“

Hannah brach in lautes Lachen aus. Die Remuneranten hoben die Köpfe und blickten zu ihnen herüber.

„Ja“, sagte sie, „inschallah.“

Kurz danach musste Blums Armbanduhr stehen geblieben sein, aber es fiel ihm erst am Abend auf, als er das Lager verließ. Er drehte am goldenen Rädchen der Uhr, während er die Otto Glöckel-Straße hinaufging, vorbei an den Notunterkünften hinter der evangelischen Kirche, vor denen sich wieder eine Schlange gebildet hatte, obdachlose Flüchtlinge, die im Lager nicht mehr untergekommen waren. Sobald Blum das Rädchen losließ, standen die Zeiger still. Vielleicht war es nur die Batterie. Er stolperte fast über eine verhüllte Gestalt, die neben dem Wartehäuschen vor der Schule kauerte. Der Uhrmacher in der Wiesergasse könnte noch geöffnet haben. Blum eilte an dem Kriegerdenkmal und der türkischen Bäckerei vorbei über die Bahngleise. Über seinem Kopf gingen flackernd Straßenlaternen an, leuchteten gelb dem wolkenverhangenen Himmel entgegen.

Sie standen schon auf dem Bahnhof, was hieß, dass die Diakonie voll war, ebenso Kampls Notschlafstelle in der Kirchengasse. Menschen in weiten Jacken, die Hauben tief in die Stirn gezogen, dazwischen Kinder auf großen Reisetaschen. Schweigend warteten sie auf die Badner Bahn nach Wien, mehrere Dutzend, wie jeden Abend, weil es in Wien vielleicht noch Schlafplätze gab.

Blums Atem bildete Wolken. Die Luft schmeckte nach Rauch und feuchtem Laub, nach einer kalten Nacht. Wenn die Leute auf dem Bahnsteig Glück hatten, würde der Wind ausbleiben.

Einen Moment lang, in einer der Seitengassen, wo die Farbe von den alten Holztüren abblätterte, hatte Blum das Gefühl, es würde ihm jemand folgen, aber als er sich umdrehte, war die Straße leer.

Im selben Augenblick kam der Anruf des Heurigenwirts hinter dem Hauptplatz. Er rief persönlich an, nicht seine Frau, was hieß, dass es ihm ernst war, wenn er mit der Polizei drohte.

„Ich kann ihn nicht abholen“, sagte Blum in sein Telefon. „Ich muss zum Uhrmacher.“

„Ich kann auch anders, Ludwig, ganz anders! In einer Viertelstunde trägt ihn die Polizei raus, das verspreche ich dir.“ Noch bevor Blum etwas erwidern konnte, hatte der Wirt aufgelegt.

Fluchend steckte er das Telefon wieder ein, bog bei der Weinpresse ab und eilte in Richtung Hauptplatz. In den Fenstern der niedrigen Winzerhäuser kündigten vergilbte Plakate den Jungwein an, Aufkleber von Sicherheitsfirmen an den Scheiben. Ein Weinfass mit einer schwarzen Katze hieß Besucher in Traiskirchen willkommen. In der Trauerweide über dem kleinen Kanal hockten Krähen, blickten auf Blum herab. Er beschleunigte seine Schritte, lief vorbei am Rathaus, der Pestsäule und dem Kirchturm mit der Sonnenuhr. Hier bewegten sich die Schilder der Heurigenwirte im Wind, pendelten Laternen und Kränze aus Weinlaub an gusseisernen Stangen über dem Gehsteig. Kurz vor dem Holztor hörte er wieder Schritte hinter sich, jemand rempelte ihn von hinten an, zischte im Vorübergehen „Asylantenfreund“ und eilte weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Blum öffnete konsterniert den Mund, wollte etwas erwidern, ließ es dann aber bleiben.

Im Heurigen schlug ihm ein warmer Geruch nach Traubenmost und Bratenfett entgegen. Der Semperit-Stammtisch war vollbesetzt, die Gesichter über die Gläser gesenkt. Vor Kurzem hatte es wieder Entlassungen gegeben. Einer der älteren hob die Hand, winkte Blum, das tätowierte Firmenlogo auf dem Unterarm.

„Er ist wegen dem Kampl da“, hörte Blum die Stimme der Wirtin, woraufhin sich der Arm wieder senkte. Über das Tablett mit den Weingläsern hinweg fügte sie hinzu: „Höchste Zeit, dass du ihn abholst, Ludwig! Das nächste Mal bekommt er Hausverbot!“ Sie wies mit dem Kopf in Richtung Hinterzimmer. „Dort sitzt er, im Eck. Beruhigt hat er sich ja wieder, zu seinem Glück, aber die kaputten Gläser kriegt er diesmal verrechnet. Und das nächste Mal fliegt er gleich raus, wenn er die anderen Gäste belästigt.“

Das Hinterzimmer war leer, nur in einer Ecke saß zusammengesunken eine massige Gestalt im Wollpullover, den Kopf über dem Henkelglas. Ein kleines hölzernes Kreuz baumelte hinter dem Bart hervor. Die Bierdeckel waren über die Tischplatte verstreut, der Salzstreuer lag zwischen Glasscherben auf dem Boden. Blum blieb vor dem Tisch stehen, die Hände in den Taschen, und blickte eine Weile auf die breiten Schultern hinab, auf die spärlichen grauen Haare. Jakob Kampl schien ihn nicht zu bemerken.

Blum räusperte sich. „Doktor Livingstone, nehme ich an?“

Kampl antwortete nicht, führte das Glas an die Lippen, um es gleich wieder abzusetzen. Die breiten Schultern zuckten.

„Wir gehen jetzt, Jakob“, sagte Blum, „wir gehen jetzt beide.“

Als Kampl nicht reagierte, zog er einen Stuhl heran, hängte seinen Mantel über die Lehne, setzte sich, sammelte die Bierdeckel zusammen und hob den Salzstreuer auf.

„Sie haben mir nur noch einen Spritzer gegeben, Ludwig“, sagte Kampl zur Tischplatte.

Blum klopfte die Bierdeckel zu einem Stapel zurecht, steckte sie zurück in die Halterung. Den Salzstreuer stellte er neben den Aschenbecher, rückte beides gerade.

„Das ist das dritte Mal diese Woche“, meinte Blum, „Das nächste Mal hole ich dich nicht ab. Hast du Geld? Das Kreuz hängt dir ins Glas.“

Schweigend steckte Kampl das Holzkreuz in den Kragen seines Pullovers.

Aus dem Schankraum drang die Stimme des Wirts herüber, wieder ging es um die Obdachlosen. Er habe wieder welche mit Schlafsäcken in den Weinbergen erwischt, seitdem habe er die Flinte immer dabei, sonst würde er sich dort gar nicht mehr hin trauen.

„Das Problem sind die Tauben“, meinte Kampl und kratzte sich am Bart. „Die Tauben haben den ganzen Dachboden zugeschissen. Wenn die Tauben nicht wären, könnte ich dort dreißig Matratzen unterbringen, vielleicht sogar vierzig. Hörst du? Vierzig! Aram hätte die Tauben hinausbekommen.“ Kampls große Finger fuhren den Rand des Glases entlang, zitterten, rutschten schließlich ab. „Es ist deine Schuld, Ludwig.“

Blum lehnte sich zurück, atmete tief durch. „Wenn du das nächste Mal säufst, Jakob, dann hole ich dich nicht mehr ab.“

„Ich habe dich nicht darum gebeten“, entgegnete Kampl.

Blum betrachtete ihn über aneinandergelegte Fingerspitzen hinweg, die aufgedunsenen Wangen, die zittrigen Hände. Das letzte Mal hatte Kampl so ausgesehen, als er aus dem Osten zurückgekommen war, aus Leipzig oder Rostock, Kiew oder Chişinău, zehn Jahre musste das her sein, noch bevor er das Notquartier in der Kirchengasse aufgemacht hatte. Schon vor seiner Zeit als Salesianer war Kampl immer von Hilfsprojekten zurückgekommen, von Orten, die Blum nur aus seinen Bildbänden kannte. Sie hatten die mitgebrachten Weinflaschen ausgetrunken und Kampl hatte ihm auf die Schultern geklopft, hatte gelacht, dass er Blum, den Dorfpolizisten, irgendwann mitnehmen würde, damit er einmal etwas anderes sähe als den Wienerwald. Vor zehn Jahren, als Kampl dann meinte, er könne nicht mehr fortgehen, es sei ihm alles zu viel geworden, da hatte er so ausgesehen wie jetzt. Blum rieb sich mit den Handballen über die Beine.

„Ich habe zu wenig Matratzen“, murmelte Kampl. „Der Winter wird kalt. Und du nimmst mir meine Mitarbeiter.“

Blum zog eine Packung Taschentücher aus seiner Manteltasche, begann, den Tisch trockenzuwischen, was Kampl mit einem Grunzen bedachte. Die nassen Taschentücher faltete Blum zusammen und legte sie in den Aschenbecher. Auf einem Zettel wurde Sturm im Gassenverkauf angeboten. Von der Schank drang Gelächter herüber.

„Meine Armbanduhr ist stehengeblieben“, sagte Blum.

Kampl hob die Augenbrauen. „Das alte Ding? Von der Elisabeth noch? Das ist ja schon Jahre her. Habt ihr nicht irgendwann Hochzeitstag?“

Blum strich die Ränder der Bierdeckel entlang, drückte sie fester in die Halterung hinein, glättete die Kanten. Jungweinverkostungen im Fasskeller ab sechsten Dezember. Die ersten Weine des 2003er-Jahrgangs.

„Schau dich doch an“, meinte Blum. „Du siehst aus wie die Säufer, die früher in die Kirchengasse gekommen sind, dir die Fenster eingeschlagen haben, wenn du sie nicht mehr reingelassen hast. Wie der eine, der dann nicht mehr gekommen ist, wegen den Ausländern.“ Er stand auf und wollte Kampl unter die Arme greifen, aber der stieß ihn weg. „Wir müssen jetzt gehen, Jakob. Früher hättest du dich nicht so aufgeführt.“

„Du brauchst nicht von früher reden, Ludwig“, sagte Kampl, ließ seinen Blick abschätzig an Blum hinabgleiten. „Ich habe mich nicht verändert, aber du, Ludwig, du bist schon lange nicht mehr derselbe.“ Er nahm die Bierdeckel wieder aus der Halterung und klopfte damit gegen die Tischplatte. „Früher, Ludwig, da habe ich Respekt gehabt vor dir. Früher, als du noch bei der Gendarmerie warst. Und dann bist du ausgerechnet zur Fremdenpolizei gegangen. Schiebst Leute ab. Schaffst Menschen weg!“

„Wir entscheiden nichts, Jakob“, entgegnete Blum, „du weißt genau, dass wir nichts entscheiden, dass wir nur vollziehen. Wir haben auch über Aram nicht entschieden. Die Rechtsordnung gibt jedem eine faire Chance, aber irgendwann muss Schluss sein. Mit dem Davonlaufen muss irgendwann Schluss sein.“

Kampl schloss die Augen. „Was ist mit Aram?“

Blum lehnte sich zurück, streckte den Rücken durch. „Warum? Was soll mit ihm sein? Es kann für Mitarbeiter von dir keine Sonderbehandlung geben, Jakob. Das weißt du.“

Mit zitternden Händen versuchte Kampl, einen der Bierdeckel zurück in die Halterung zu stecken. „Ich brauche ihn, Ludwig. Ich habe keinen anderen Dolmetscher. Ich kann überhaupt auf keinen verzichten, nicht im Winter. Es reicht ja schon, wenn er frei ist. Wenn er frei ist, dann garantiere ich für ihn. Ich garantiere, dass er nicht davonläuft. Hörst du, Ludwig?“ Kampl ließ die Bierdeckel fallen, schlug auf den Tisch. „Früher, Ludwig, früher hättest du mir geholfen!“ Er lehnte sich zurück und fingerte eine kleine Flasche Altländer aus der Hosentasche, schraubte den Verschluss auf und schüttete den Schnaps in das Heurigenglas. „Aber die Zeiten haben sich nun mal geändert.“

„Das mit Aram tut mir leid“, sagte Blum.

„Danke, dass du gekommen bist, Ludwig“, meinte Kampl. „Du kannst jetzt gehen.“

Die Glühbirne in der Lampe über ihnen summte leise. In seinem linken Oberschenkel spürte Blum den Schmerz wieder, das widerliche Stechen, das sich das ganze Bein hinauf bis zum Becken zog. Er rieb mit beiden Handballen darüber, bis der Schmerz nachließ, zu einem leichten Brennen verebbte.

„Es wird nicht besser werden mit den Beinen“, murmelte Blum.

Kampl nickte. „Es wird nicht besser.“ Er legte beide Hände auf die Tischplatte, stemmte sich mit einem Stöhnen hoch. Nach kurzem Wanken zog er seinen Wollpullover zurecht. „Mach’s gut, Ludwig.“

Blum hörte zu, wie sich seine Schritte entfernten. Auf dem Boden lag noch ein weiterer Salzstreuer, aber er war zu weit weg gerollt, sodass Blum ihn nicht erreichen konnte.

„Es ist gut, dass er weg ist.“ Die Wirtin hatte das Tablett unter den Arm geklemmt. „Kann seinen Rausch jetzt in der Kirchengasse ausschlafen, bei den Asylanten.“ Sie sammelte die Scherben auf dem Boden ein, legte sie auf eine Serviette. „Was macht ihr eigentlich gegen die auf der Straße, Ludwig? Gestern sind sie wieder in die Schule eingebrochen, in die Schule! Was macht ihr dagegen, Ludwig?“ Ächzend holte sie den Salzstreuer unter der Bank hervor. „Der Bürgermeister sollte einmal was für unsere eigenen Leute machen, für die Arbeitslosen.“

Blum schwieg, drehte konzentriert an seiner Armbanduhr, ließ die Zeiger im Kreis fahren, aber immer, wenn er damit aufhörte, blieben sie stehen. „Für die Unterbringung sind wir doch gar nicht zuständig“, murmelte er. „Das alles, das ist doch gar nicht unsere Schuld.“

4.

Durch die kahlen Äste hindurch blickte Blum auf den Parkplatz, wartete auf den Frosch. Ein Wagen nach dem anderen schaltete das Abblendlicht ein und verließ das Lager, rollte über den Hauptweg zum Torposten, wo der Schranken hochging. Referenten, Schreibkräfte, Dolmetscher. Nur das Betreuungspersonal hatte Nachtschichten. Vor Blums Fenster bewegten sich die Äste im Wind.

Im Sommer sah er nichts als grüne Baumkronen und in der Ferne den Schneeberg, bei gutem Wetter. Im Sommer war der Rasen vor den Unterkünften sattgrün, leuchteten die Sträucher rund um den Gartenpavillon bei den unbegleiteten Minderjährigen rot und gelb. Im Sommer trugen die Maulbeerbäume Früchte, die von alten Frauen in Plastiksäcken aus dem Supermarkt gesammelt wurden. Im Sommer trug auch der Kirschbaum über der Steinbank vor dem Haus 5 Früchte. Japan stellte Blum sich so vor, ein Land voller Kirschbäume. Im Sommer war das Lager schön.

Im Winter waren die Bäume schwarze Gerippe, und durch sie hindurch sah er den Asphalt des Parkplatzes vor dem Hauptgebäude und den Hauptweg, der vor dem Haus 17 endete, wo sich das Bundesasylamt befand. Im Winter kamen die Krähen.

Blum wollte sich nicht umdrehen, traute sich nicht, weil er wusste, dass wieder einer da war, ihn anschaute, seine Blicke auf Blums Rücken geheftet, also sah er weiter aus dem Fenster, beobachtete die Krähen, die sich in den Kastanienbäumen niedergelassen hatten.

Hinter Blum lag Arams Akt aufgeschlagen auf dem Schreibtisch, die rot-weiße Kordel geöffnet. Er heftete seinen Blick erneut auf den Schubhaftbescheid in seiner Hand, auf die Ordnungsnummer, die mit Bleistift in der rechten oberen Ecke stand, saubere, deutliche Zahlen. Seine Augen folgten dem Briefkopf der Bezirkshauptmannschaft Baden, überflogen die ersten Zeilen. Die Schönheit der juristischen Sprache lag in ihrer Präzision, ihrer Logik, die der Schubhaft alles Aufgeregte, Ungerechte nahm und aus ihr das machte, was sie schlussendlich war, nämlich schlichtweg eine Maßnahme zur Durchsetzung der Rechtsordnung.

„Die Schubhaft wird zur Sicherung Ihrer Abschiebung angeordnet“, las Blum, flüsterte die Sätze vor sich her, gegen die Fensterscheibe aus altem, dünnem Glas. „Die Schubhaft wurde angeordnet, weil Sie unterstandslos im Bundesgebiet angetroffen wurden. Es ist daher anzunehmen, Sie würden sich dem fremdenpolizeilichen Verfahren entziehen. Die Schubhaft ist folglich notwendig gemäß Paragraf einundsechzig Absatz eins Fremdengesetz neunzehnhundertsiebenundneunzig.“ Sein Atem beschlug die kalte Scheibe. Negativ abgeschlossenes Asylverfahren, rechtskräftig. Keine Gefährdung im Herkunftsland Syrien. Keine Meldeadresse, also obdachlos, also Fluchtgefahr. Zudem kein Reisepass oder sonstiger Identitätsnachweis. Rechtsmittelbelehrung und Datum. Blums Unterschrift neben dem Stempel der Bezirkshauptmannschaft.

Die Rechtsordnung war durchgesetzt. Blum seufzte und faltete den Bescheid wieder zusammen. Der Frosch war nirgends zu sehen.

Energisch drehte Blum sich um, ging mit gesenktem Blick zu seinem Schreibtisch, ohne das Tischchen neben der Tür zu beachten, das als Aktenablage diente – braunes, altes Holz auf dünnen, schlichten Beinen –, viel zu zierlich, als dass einer darauf sitzen könnte, und eigentlich nur für Akten gedacht, die abgefertigt zur Kanzlei hinausgingen. Blum ignorierte den zierlichen Tisch mit allem, was darauf liegen oder sitzen würde, legte den Schubhaftbescheid zurück auf die anderen Aktenseiten, fädelte die Kordel wieder ein, klopfte die Seitenränder sorgfältig zurecht. Aus dem Stifthalter nahm er einen Bleistift, spitzte ihn an und legte ihn neben den Akt, für das Protokoll, das bereits fertig war, noch bevor die Einvernahme mit Aram Mohammad Khalil stattgefunden hatte. Er würde es nur noch nummerieren, lochen und einfädeln müssen, sobald Aram unterschrieben hatte. Aber der Frosch hatte Verspätung.

Blum stand auf und ging auf den leeren Gang hinaus, um den Wasserkrug zu füllen. Im Stiegenhaus, jenseits der schweren Zwischentür aus Metall und Sicherheitsglas, war alles ruhig. Als er wieder zurück in sein Büro kam, war es vor dem Fenster dunkel geworden, das Licht der Laternen fiel nur schwach herein. Die Krähen waren nicht mehr zu hören.