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DORIS HOCHSTRASSER-KOCH
KARIN KOCH SAGER

DIE
BESTATTERINNEN

Gestorben wird immer

Geschrieben von Franziska K. Müller

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Alle Rechte vorbehalten, einschließlich derjenigen des auszugsweisen Abdrucks und der elektronischen Wiedergabe.

© 2015 Wörterseh Verlag, Gockhausen

Lektorat: Claudia Bislin, Zürich

Print ISBN 978-3-03763-059-4
E-Book ISBN 978-3-03763-581-0

www.woerterseh.ch

Im Gedenken an Karl, unseren Vater,

und

für alle Menschen,
die Schweres durchmachen oder durchgemacht haben

Inhalt

Vorwort

Eine Geschichte über den Tod, vor allem aber über das Leben

Eine Familienchronik

Karins bessere Welt

Andreas Egli, Sarglieferant

Als Peter starb

Sommerkleid und Nagellack

Neue Zeiten

Was tun im Todesfall?

Trauerarbeit

Kunst des Ausklangs

Linderung im Abschied

Daniel Lochbrunner, Thanatologe

Körper und Seele

Trauerfall-Knigge

Ein Ort der Hoffnung

Andere Länder, andere Sitten

Grufties und »Emos«

Andreas Frei, Bestatter

Herbstgeruch

Kinder und der Tod

Wie man gelebt hat

»Die sind jetzt im Himmel«

Nachtrag

Dank

Vorwort

Als protestantisches Zürcher Stadtkind hatte ich nur vage Vorstellungen von den Aufgaben, die ein Bestattungsunternehmen erfüllt. Genauer gesagt, bezog ich mein Wissen aus der amerikanischen Fernsehserie »Six Feet Under«, einer Familiensaga, die sich der Vergänglichkeit mit schwarzem Humor und glamourösen Gepflogenheiten widmet. Die Särge funkeln dort in extravaganten Farben, die Trauergäste werden von einem livrierten Butler zu purpurfarbenen Stühlen geführt, und die Verstorbenen sind einbalsamiert.

Der erste Augenschein im aargauischen Wohlen bestätigte manche dieser Vorstellungen: Das Unternehmen präsentierte sich pastellfarben und luftig, modern und klinisch sauber. Dekoriert mit Blumen und Engelsskulpturen aus weiß glasiertem Porzellan. Die sphärisch anmutende Stimmung war aber mit einer anderen Realität verbunden, wie die folgenden Tage zeigen sollten. Bald führten mich Doris und Karin Koch gut gelaunt in den dunklen Bauch des Unternehmens, den Vorbereitungsraum, der mit einem Hebelift und Armaturen aus Chromstahl ausgestattet ist. Auch Flaschen mit Tinkturen, Schminkutensilien und Shampooflaschen, Plastikkapseln, Kinnstützen, Nadel und Faden, Scheren und Skalpelle ließen erahnen, dass die Arbeit der Bestatterinnen, sowohl psychisch wie körperlich, anstrengend ist.

An einem von vielen Gesprächstagen sitzen wir im Wintergarten. Die Schwestern legen Fotomaterial auf den Tisch. Familienbilder. Großvater und Vater sitzen auf dem Kutschbock des prächtig geschmückten Zweispänners. Stolz sehen die Männer aus. Herausgeputzt sind sie.

Die feierlichen Prozessionen zu den prachtvollen Beerdigungen, die Pflicht der Dorfbewohner, dem Verstorbenen das letzte Geleit zu geben und beim Blumenkranz nicht zu sparen – so zeigen weitere Fotografien –, wurden durch die Gepflogenheiten einer beschleunigten und prosperierenden Zeit ersetzt. Bald steht der Vater neben dem ersten Leichenwagen, den die Eltern Ende der Sechzigerjahre anschafften. Eine filmreife, schnittige amerikanische Limousine, die im ganzen Kanton für Aufmerksamkeit sorgte. Frack und Zylinder wurden durch eine praktische Fleece- Jacke abgelöst. Leise und schnell konnten die Verstorbenen nun auch in den entlegenen Winkeln der Natur geborgen werden, und so kamen die Unfallopfer und Selbstmörder in das Leben der noch jungen Schwestern.

Der Tod. Immer präsent. Die Vergänglichkeit. Ein Bestandteil des Lebens. Der Umgang der Eltern mit den Verstorbenen blieb pragmatisch, manchmal ruppig. Die Schwestern lachen, wenn sie an haarsträubende Episoden aus der Kindheit und Jugend zurückdenken, die ihnen im nächsten Moment die Tränen in die Augen treiben.

Die Heiterkeit ließen sich die beiden »Leichenschmugglerinnen«, wie sie im Ort manchmal heute noch genannt werden, nicht nehmen, die knallbunten Kleider und rot lackierten Nägel nicht, die Freude am Feiern nicht und am Ausgehen. Sie lachen viel, lachen gegen manche Klischees an, die mit ihrem Dasein als Bestatterinnen verbunden bleiben. Und in späteren Jahren suchten sie nach Antworten auf die Frage nach dem Sinn des Todes und auch nach einem Trost, der den Hinterbliebenen die Zukunft ermöglicht.

Sind wir in Wohlen unterwegs, kennt jedermann Doris und Karin, die bereits Tausende von Bürgern und Bürgerinnen beerdigt haben. Eine spezielle Verbundenheit existiert heute mit jenen, die in schweren Stunden organisieren, sich um die Verstorbenen kümmern, den Trauernden beistehen und vor allem: ein großes Herz besitzen. So kann es in der Beiz beim Abendessen durchaus vorkommen, dass sich Menschen zu uns setzen und zu sprechen beginnen. Die Mutter, der Freund, die Schwester, das Kind, so früh gestorben. Die Aufbahrung sei ein Trost gewesen, und die Begleitung durch die beiden Bestatterinnen habe das Weitermachen ermöglicht.

Dass Doris und Karin aus ihrem negativ besetzten Beruf eine positive Berufung gemacht haben, zeigen mir nicht nur die Begegnungen mit den Hinterbliebenen, die bei den beiden Schwestern seelischen Trost und praktische Unterstützung fanden, sondern auch der offene Umgang, den sie mit der Vergänglichkeit pflegen. Sie führen im und rund um das Bestattungsinstitut entschlossen weiter, was ihrem Credo entspricht, seit sie das Unternehmen der Eltern übernommen haben: den Tod nicht mehr hinter vorgehaltener Hand zu thematisieren und jenen beizustehen, für die das Leben weitergehen muss.

Franziska K. Müller, im August 2015

Eine Geschichte über den Tod, vor allem aber über das Leben

Meine Mutter, hochschwanger mit Karin, ihrem siebten Kind, kam den Aufgaben im Familienbetrieb bis zur Niederkunft nach. Sie wusch, buk, nähte. Verstorbene mussten in die Särge des Schreiners gelegt werden. Ich spielte tot sein, tot wie Herr Kübler, der 78-jährig das Zeitliche gesegnet hatte und nun für immer schlief, wie man mir weismachen wollte.

Anders als meine zahlreichen anderen Geschwister, die zu Hause entbunden worden waren, kam bei Karins Geburt ein Automobil zum Einsatz. Mit quietschenden Reifen fuhr es Richtung Krankenhaus. Doch das ungestüme Kind wurde im Auto geboren. Als die Schwester schneller als gedacht im Stubenwagen lag, keinen Mucks von sich gab, das winzige Gesicht verschlossen, die Haare verschwitzt, der Körper reglos, sah sie aus wie eine Greisin, von denen die Eltern schon unzählige zur letzten Ruhe gebettet hatten. Beinahe zu Tode erschrak ich, als lautes Geschrei einsetzte, meine Mutter ins Zimmer stürmte, den Säugling aus dem Korb hob, ihn fütterte und schließlich in meine Arme legte. Karin ballte die Finger zu einer Faust und blickte mich aus dunkelblauen Augen schlau an: Es war Liebe auf den ersten Blick. Als älteste Tochter kümmerte ich mich auch um dieses Kind.

Als es aus dem Status der Willenlosigkeit und Trägheit erwachte, trug es einen gestrickten Strampelanzug und war wenige Monate alt. Es rollte sich von seiner Decke, um sich fortan krabbelnd fortzubewegen. Aus welchem Grund die Kleinen den Zustand wohliger Untätigkeit so dezidiert hinter sich lassen wollen, war mir bei den übrigen Geschwistern ein Rätsel gewesen, und auch die Richtung ihres Strebens schien mir damals ohne Bedeutung zu sein. Doch dann bemerkte ich, dass mit dem Einsetzen der körperlichen Mobilität der eigene Wille entdeckt wird. Dieser hat sofort ein geografisches Ziel vor Augen, und wenn der Mensch seine Beweglichkeit achtzig oder neunzig Jahre später verliert, ergreifen ihn Furcht und Ärger, denn unabhängig von einem immer noch flinken Geist: Das Ende scheint ab diesem Zeitpunkt in die eigene Existenz vorzudringen.

Bald legte Karin auf allen vieren beachtliche Wegstrecken zurück, und wollte man sie stoppen oder von etwas abhalten, vielleicht weil eine Gefahr drohte oder Essenszeit war, reagierte sie unwillig und war bereit, alle Hindernisse zu überwinden, die sich ihr in den Weg stellten. Sie erreichte ihr Ziel immer; das übernächste Zimmer, die Blumenvase, den Bettpfosten, das Hosenbein des Vaters: An diesem zog sie sich an einem Herbsttag im Jahr 1967 hoch und tat – siegesgewiss lächelnd, wie mir schien – die ersten Schritte.

An meine ersten Schritte erinnere ich mich nicht, aber daran, dass ich an der Hand von Doris die Welt entdeckte. Unser Haus war ein dunkles Labyrinth, und wann immer man mich in das Laufgitter sperren wollte, schrie ich wie am Spieß gegen diese Unverschämtheit an, worauf Doris sich meiner oft erbarmte, mich auf den Arm hob und die ihr aufgetragenen Arbeiten einhändig und so langsam verrichtete, dass sie mit der Schelte der Mutter rechnen konnte. Obwohl es nicht an anderen Geschwistern mangelte, verband uns von Anfang an ein unsichtbares Band, das sich in den folgenden Jahrzehnten lockerte und dann wieder enger wurde, ohne dass unsere Freundschaft jemals erschüttert worden wäre. Bereits als Kinder, und trotz dem großen Altersunterschied gab es gemeinsame Vorlieben und Abneigungen. Den ungeliebten Duft von Javelwasser verbinden wir noch heute mit Reinigungsaktionen, die im unteren Stockwerk der Fuhrhalterei stattfanden, wenn die schwarzen Kutschen Richtung Friedhof fuhren. Unsere Lieblingsfarben sind Knallorange wie die Astern und Rosarot wie die Nelken der Blumenkränze.

Lesen war eine frühe Leidenschaft, weil wir die Nachrichten auf den langen Seidenbändern entziffern wollten: »In ewiger Liebe«, »Unvergessen«, »In tiefer Trauer«. Im Gegensatz zu Doris, die mit den Verstorbenen in meinen frühen Kindheitsjahren freundschaftliche Kontakte zu pflegen schien, fürchtete ich mich vor ihnen. Dieser Umstand tat meinem Interesse jedoch keinen Abbruch, und dass meine Ideen nichts mit der Realität zu tun hatten, wusste ich lange Zeit nicht. In meiner Fantasie trugen die verstorbenen Frauen ihr Hochzeitskleid. Später stellte ich mir vor, wie sie junge Mädchen gewesen waren, dann Frauen wurden, Mütter und Großmütter. Höhen und Tiefen hatten sie erlebt in einer sich verändernden Welt, doch was auch geschehen mochte, in regelmäßigen Abständen stiegen sie in den Estrich und hoben die Schachtel aus dem Kleiderschrank. Den vergilbten Schleier ließen sie durch die Finger gleiten, schüttelten das altmodisch gewordene Kleid auf, hielten es vor den veränderten Körper, falteten es seufzend zusammen, wickelten es in neues Seidenpapier, legten Kampfer oder Mottenpapier bei, damit es unbeschädigt und schön, damit es tragbar bliebe. Dass sich der Reißverschluss im Rücken nicht mehr schließen ließ, war unwichtig, denn der nächste Auftritt in jenem Kleid, das einst Hoffnung, Zukunft und Glück symbolisierte, würde im Sarg stattfinden, und dieser Moment rückte mit jeder Inspektion näher.

Seit ich denken konnte, war der Tod Bestandteil meines Lebens, und doch wusste ich nichts über ihn, bis er mich persönlich traf. In der Meinung, bei den Nachbarn auf der anderen Seite erwarte ihn eine Tasse Honigmilch und Fürsorge, fuhr unser Bruder mit seinem Trottinett, das er Monate zuvor der Patentante abgebettelt hatte, über die Straße. Vater saß im Lastwagen und sah dem Kind hinterher, unsere Schwester Marlene blickte gedankenverloren aus dem Küchenfenster. Der Schulranzen lag auf seinem Bett, am nächsten Montag wäre er in die erste Klasse gekommen. Peter. Ein aufgeweckter Bub, der sich anderswo holen wollte, was in unserer Großfamilie zu kurz kam. So entschlossen, so erwartungsvoll trieb er sein rot lackiertes Gefährt über die Straße, dass er den nahenden Personenwagen nicht hörte oder nicht als Gefahr erkannte. Innert Sekunden war alles ausgelöscht und für ihn nie mehr erreichbar: der Fahrtwind im Gesicht, das kühle Gras unter den Fußsohlen. Und sein Ziel – die Fürsorge der Nachbarin, einer Frau, die ruhig und immer freundlich war.

Während das furchtbare Ereignis meinen Eltern die Sprache verschlug und die Dunkelheit sie verschlang, ohne dass sie es zu bemerken schienen, war Karin noch zu klein, um nachzudenken. Ich wusste nun, dass es ein Ende nach einem langen und sogenannt erfüllten Leben gibt, und eines, das verfrüht eintritt, selbst verschuldet oder durch andere herbeigeführt. Ein Schock, eine Ungerechtigkeit und manchmal vielleicht auch eine Befreiung. Viel öfter jedoch ein besonders grausamer Schicksalsschlag. Warum? Wieso? Die Fragen klangen vorwurfsvoll, vielleicht weil Tote um mehr betrogen wurden als um eine Tasse Honigmilch. Und auch die Zukunftsträume von Söhnen und Töchtern, Neffen und Nichten, Schwestern und Brüdern blieben unerfüllt – aber jedoch auch unenttäuscht, dachte ich später.

So war es auch bei Peter. Ich erinnerte mich an seinen warmen Körper in meinen Armen und hörte sein glückliches Lachen, wenn ich ihn kitzelte und mit ihm herumtollte. Doch alles, was ich jetzt spürte, war Reue und Schuld. Meine Weigerung, erneut mit ihm zu spielen, das Verbot, sich an der Blechbüchse mit den Schokoladewaffeln zu vergreifen, die vergessene Umarmung an diesem Morgen blieben mit einem brennenden Schmerz verbunden, der sich jahrelang nicht auflösen wollte. Die Bestürzung über seinen Tod war gigantisch, im Dorf wurde er sinnlos genannt, und meine Frage, ob es einen sinnvollen Tod gebe, blieb unbeantwortet. Mutter blickte mich leer, hilflos und unglücklich an. Sie schwieg zu einem Thema, dem sie sich im Alltag bald erneut mit praktischem Geschick widmete.

Rückblickend bezeichne ich den Tod meines Bruders und die Geburt meiner Schwester Karin als Meilensteine meiner Existenz. Beide Ereignisse – das eine tragisch, das andere glücklich – besiegelten eine Zukunft, die tausendfach vom Sterben handeln sollte. Wenn Karin und ich heute vor unserem bald hundertjährigen Familienbetrieb stehen, blicken wir auf das große Schild, das wir zwar stolz und für jedermann ersichtlich, jedoch erst nach vielen schlaflosen Nächten an der Hausfassade anbringen ließen, und ziemlich sicher denken wir dasselbe: Unsere Geschichte handelt vom Tod – vor allem aber vom Leben.

Eine Familienchronik

Das Hochzeitsbild zeigt ein hübsches Paar. Unser Vater, Karl, eine stattliche Erscheinung, stammte aus einer angesehenen Aargauer Bauernfamilie mit eigenem Hof und galt als gute Partie. Unsere Mutter, Elsa, eine dunkelhaarige Italienerin in einem Tüllkleid mit langen Ärmeln, war über Umwege in die Schweiz gelangt, arbeitete in einer Industriellenfamilie als Mädchen für alles und erhielt bei dieser Tätigkeit einen Schliff, der ihr kurz zuvor noch ein Buch mit sieben Siegeln gewesen sein musste.

Elsa stammte aus mausarmen Verhältnissen am Rande der Gesellschaft. Streckte sie als Kind die kleinen Hände aus, konnte sie die Bergspitzen der verschneiten Berninagruppe beinahe berühren, wie sie uns einmal erzählte. Ihre Eltern verdingten sich in einer kargen Bergregion Norditaliens als Ziegentreiber. Die vielköpfige Kinderschar litt Hunger und Armut; beides beflügelte den Streit und die Rauheit zwischen den wilden Söhnen und Töchtern sowie den Hang der Eltern, die Ausweglosigkeit der Misere in Rotwein zu ertränken. Die Steinhütte, in der sie hausten, ein von der Umwelt abgeschnittener Kosmos, funktionierte nach sozialdarwinistischen Regeln und einem Schweigekodex, der jede Hilfe von außen unmöglich machte. Über die genauen Umstände dieser Jahre blieb Elsa schweigsam. Zu Erzählungen kam es in späteren Jahren allenfalls, wenn sie zusammen mit ihrer Mutter zu tief ins Glas blickte.

Sanken die Temperaturen in ihrer Heimat unter null, besuchte uns Nonna jeweils in der Schweiz. Mehr als einmal war sie plötzlich wie vom Erdboden verschwunden, und erst nach langen Suchaktionen fanden wir sie beduselt in einem Beet liegend oder nach einem Sturz an einer steilen Waldböschung im Gehölz sitzend. Beide Frauen konnten trinken, anpacken und herumpöbeln wie Fuhrknechte, und diese Art der frühen Gleichberechtigung, die sich aus der Not und der Armut ergeben hatte, legten sie nie mehr ab. Bruchstückhafte Erinnerungen habe ich daran, wie Mutter und Nonna einander zuprosteten und jene Angepasstheit, die Elsa im Rahmen einer als erfolgreich geltenden Integration an den Tag legte, sich mit steigendem Promille-Level in Luft auflöste.

Als Kind durfte ich zweimal nach Verceia reisen. Ein mir beinahe unbekannter Mann – Großvater – lag reglos auf einer Pritsche. Ich war vierjährig und sah zum ersten Mal einen Toten. Die Erwachsenen vergossen keine Tränen, drängten mich an die Bettstatt und wiesen mich an, dem Leichnam einen Kuss zu geben. Ich schrie wie am Spieß und wollte danach wochenlang nicht mehr schlafen. Meine Vorstellungen zur Heimat meiner Mutter – blühende Orangenhaine und ein azurblaues Meer – wurden auch bei späteren Besuchen nicht erfüllt. Nonna stand in der rauchschwarzen Küche, und als Abendessen klatschte sie mir eine Handvoll heiße Polenta in die Hand. Auf der Treppe sitzend, trank ich frisches Quellwasser, das mit Rotwein vermischt worden war, und blickte in eine karge, graue Landschaft. Die Familie meiner Mutter brachte einen zähen und unruhigen Menschenschlag hervor. Nonna und ihre Tochter fanden Zeit ihres Lebens weder Frieden mit der Welt noch Versöhnung mit dem Gewesenen, und manche Blessuren ihrer geschundenen Seelen übertrugen sie auf die nachfolgende Generation.

Beim Hochzeitstermin war Elsa bereits schwanger. Mit mir. Je nach Lust und Laune verkündete sie meine ganze Kindheit hindurch, dass dieser Umstand ein Glück oder ein Unglück gewesen sei. Wie auch immer, meine Eltern waren im Grunde genommen wie füreinander geschaffen. Vater fand in seiner Frau eine Partnerin, die sich beinahe alles zutraute, und Elsa vollzog mit der Heirat von Karl den sozialen Aufstieg.

In den 1950er-Jahren war die Ankunft eines »Tschinggs«, wie Elsa nicht nur hinter vorgehaltener Hand genannt wurde, in einer kleinen Schweizer Gemeinde eine exotische Sensation. Während italienische Hilfsarbeiter zu Zehntausenden ihr Dasein auf dem Bau fristeten und in Zürich ein aufgebrachter Mob die Fensterscheiben ihrer provisorischen Unterkünfte einschlug, war Elsa auch nicht frei von Vorurteilen, was ihre Landsleute betraf. Bald erklärte die Dreißigjährige den Dorfbewohnern radebrechend den Unterschied: Sie, Elsa, stamme aus Norditalien. Dort seien die Menschen nicht nur groß gewachsen, blauäugig und reich, sondern, im Gegensatz zu den Süditalienern, auch grundehrlich und wohlerzogen. Am Stammtisch soll betretenes Schweigen geherrscht haben, denn wie eine Tochter aus gutem Hause wirkte Elsa beim besten Willen nicht. Der offenen Anfeindung, die ihr in den Anfangsjahren von der Dorfgemeinschaft und, ohne Schutz durch ihren Mann, auch von der Schwiegerfamilie entgegengebracht wurde, begegnete sie mit starkem Selbstbewusstsein, einer fast jährlichen Schwangerschaft und einem Arbeitswillen, der sogar einem indischen Zugochsen Respekt abverlangt hätte.

Während Vater ein geselliger, entspannter Mann blieb, der den Konflikten aus dem Weg ging, nur ungern Stellung bezog und sich so einer allgemeinen Beliebtheit erfreute, entwickelte sich seine Frau in den folgenden Jahren zu einer streitbaren und gewieften Geschäftsfrau. Ungeniert drang sie in die bäuerlichen Männerdomänen vor, und bevor sie in den Siebzigerjahren als erste Schweizerin die Lastwagenprüfung bestand, um fortan als umschwärmte Brummifahrerin große Baustellen mit Kies und Teer zu beliefern, galt sie bereits als Patriarchin der Familie Koch. Bald beherrschte sie den Schweizer Dialekt und vertrat ihre Meinung dezidiert in der männerdominierten Dorfbeiz. Manche fanden die emanzipierte Elsa genial. Andere fürchteten die zielstrebige Frau, die mit ihren Launen und Gefühlen als wankelmütig galt. Fröhlich und redselig, konnte ihre Stimmung innert Sekunden ins Gegenteil umschlagen. Die blauen Augen verdunkelten sich aufgrund eines Widerspruchs oder weil sich ein Plan zerschlug, was meist zur Folge hatte, dass sie sofort geschickt neue Wege fand, um das anvisierte Ziel doch noch zu erreichen. Hartnäckigkeit und Schlauheit gehörten zu Elsas guten Eigenschaften, doch ihre Unberechenbarkeit konnte zu extremen Ausbrüchen führen, vor denen wir Kinder nicht verschont blieben.

Elsa und Karl bewirtschafteten einen Bauernhof mit Kühen, Hühnern, Schweinen sowie einigen Hektaren Ackerland, das dem Anbau von Gersten, Weizen und Futtermais diente. Gleichzeitig betrieben sie ein »Fuhrhalterei« genanntes Transportwesen, das Holz und Kohle in Privathaushaltungen anlieferte. Diese Tätigkeit verrichteten sie zuerst mit der Arbeitskutsche und später mit dem Traktor. Anfang des 20. Jahrhunderts führten die Eltern mit einem einfachen Sargwagen die ersten Leichentransporte durch und schufen damit die Grundlage für das heutige Bestattungsinstitut Koch. Die Kutsche galt als ideales Gefährt, und meine Eltern hielten sie für eine geradezu modernistische Erfindung, da mein früh verstorbener Schwiegervater noch von Angehörigen berichtete, die die Särge mit einem Leiterwagen selbst zum Friedhof führen mussten.

Gab es einen Toten zu beklagen, war in meiner Kindheit zuerst der Dorfschreiner vor Ort. Er rückte den Angehörigen mit einem Werkzeugkoffer und klaren Vorstellungen auf den Leib, nahm mit ungerührter Miene Maß am Leichnam und nannte den Hinterbliebenen die Kosten für seine Dienste und die Art des verwendeten Materials: dreißig Franken; Tannenholz; gehobelt. Auch beim spartanischen Sargmodell, mit einer Innenausstattung aus grobem Tuch, handle es sich um einen Luxus, erklärte mir der Schreiner mit bösem Lächeln: Anderswo würden die Toten auf einem wiederverwendbaren Brett in einem Höllentempo in die Gruft gefahren werden.

Bevor die sterblichen Überreste der »Kunden«, wie Elsa die Verstorbenen nannte, bestattet werden konnten, wurden sie in den Abdankungsraum des Friedhofs überführt und im dortigen Sterbehäuschen ausgestellt. Die meisten verbrachten zuvor einige Tage im Bett liegend, im Kreise ihrer Familien, die in dieser Anwesenheit den Alltag wieder aufnahmen, aßen, schwatzten, stritten, weinten und nicht immer darauf achteten, dass ein Fenster im Haus geöffnet blieb, damit die Seele – und üble Gerüche – entweichen konnten. Zum Entzücken der Dorfkinder wurde der Sarg bei heißen Temperaturen vor den jeweiligen Häusern im schattigen Freien platziert. Obwohl wir wussten, was uns erwartete, handelte es sich um eine Mutprobe, wenn wir den Schieber, der auf dem Sargdeckel auf Kopfhöhe angebracht war, öffneten. Die eingefallenen Gesichter der Verstorbenen kamen zum Vorschein und klebten, nur einen Hauch von unseren neugierigen Augen entfernt, dicht am dünnen Fensterglas, was ihnen ein geisterhaftes Aussehen verlieh und uns laut kreischend davonrennen ließ.

Die erste Aufgabe der Eltern betraf das Einsargen des Leichnams, eine Tätigkeit, die zusammen mit dem örtlichen Schreiner vorgenommen wurde. Auf optische Extravaganzen wurde, bis auf das Schließen der Augen und das Anbringen einer provisorischen Kinnbinde, verzichtet. Die Gelassenheit und Robustheit der Eltern im Umgang mit dem Tod zeigte sich auch bei Unfallopfern oder jenen Verstorbenen, die manchmal erst nach Tagen aufgefunden wurden: Während manche Helfer beim Anblick extremer Verletzungen oder Verwesungszustände in Ohnmacht fielen, konzentrierten sich Elsa und Karl unverzagt auf die dringlichsten Aufgaben, die erledigt werden mussten. Die physisch kraftraubende Angelegenheit löste in seltenen Fällen auch Emotionen aus, doch Tränen und Mitgefühl wurden meist mit einem derben Spruch überspielt oder mit einem Glas Schnaps im Keim erstickt.

Tollkühne und schauerliche Geschichten machten die Runde, von denen niemand wusste, ob sie erschwindelt waren oder nicht: wie man einen zwei Meter großen, bereits erstarrten Hünen doch noch in den Standardsarg brachte oder wie ein »Toter« wieder erwachte, an den geschlossenen Sargdeckel klopfte und danach noch viele Jahre weiterlebte. Auch Missgeschicke geschahen am Laufmeter, und wenn der Verstorbene wegen verschiedener zeitlicher Verzögerungen, die meist der Gleichgültigkeit oder der Geselligkeit von Sargbauern, Bestattern und Geistlichen geschuldet waren, in einen Zustand geriet, den man weder optisch noch olfaktorisch als repräsentabel bezeichnen konnte, wurde das Schiebefenster während der Aufbahrung und der Bestattung einfach verschlossen und eine Ladung stark duftender Blumen, darunter Lilien und Nelken, über den Sarg verteilt.

Verbindliche Arbeitsregeln existierten damals ebenso wenig wie eine offizielle Ausbildung zum Bestatter. Die einzigen Voraussetzungen, die es zu erfüllen galt, betrafen einen starken Rücken und ein unzimperliches Gemüt, den Besitz von verschiedenen Kutschen – darunter ein Kranzwagen, ein zweites, offenes Gefährt für den Transport des Sarges – sowie von mehreren pechschwarzen Pferden, die, vor die Karossen gespannt, den Sterbezug zu Kirche und Friedhof anführten.

Der bis zur Beerdigung gepflegte professionelle Umgang mit den Verstorbenen war in meinen Kinderaugen spröde und distanziert, durch pragmatische Handlungen geprägt oder sogar gleichgültig, und an einen Ausdruck von Gefühlen durch die Angehörigen erinnere ich mich auch im Zusammenhang mit Familiendramen, Suiziden und schrecklichen Unfällen nicht. All das änderte sich am Tag der Bestattung schlagartig, und entsprechend wichtig war die zuvor erfolgte Bekanntmachung des Todes. Früher, so soll der Vater meines Vaters erzählt haben, wurde die Nachricht auf manchen Höfen symbolisch sogar den Bäumen und Tieren überbracht. Der Glaube, dass der Verstorbene in einen unheimlichen Zustand tritt, der die Hinterbliebenen und all ihren Besitz gefährden kann, machte aus der Mitteilung eine eigentliche Warnung, und die bösen Geschicke konnten nur abgewendet werden, indem man die Stalltüren öffnete und die Bienenstöcke verrückte. Bei uns wurde die Neuigkeit in frühen Jahren mündlich von Hof zu Hof überbracht. Danach gingen bis in die späten Sechzigerjahre per Postversand Zirkulare an sämtliche Haushaltungen der Gemeinde, eine Gepflogenheit, die mancherorts noch heute existiert. In der Kleinstadt genoss die Nachricht vom Hinschied eines Bürgers einen gewissen Unterhaltungswert und wurde in den Beizen und Stuben schnell zum wichtigen Gesprächsthema.

Zahlreich erschien die Trauergemeinde am Tag der Beerdigung zu einem gesellschaftlichen Ereignis, das man auf keinen Fall verpassen wollte, aber auch nicht durfte. Während sich das ganze Dorf für solche Anlässe herausputzte, die Männer den einzigen dunklen Anzug trugen, auch die Bäuerinnen Sonntagskleid und Hut bereitlegten, den Coiffeur aufsuchten und so hübsch wurden, dass man sie kaum wiedererkannte, brachten wir unsere Pferde auf Hochglanz. Die widerstandsfähigen Tiere mussten auf dem Hof hart arbeiten, und ich glaubte im Blick der Rappen oft müde Resignation zu erkennen. Doch bevor wir sie an einem solchen Tag losbanden und auf den Vorplatz führten, schienen auch sie in aufgeregter Erwartung eines Anlasses, der an Festlichkeit und Schönheit kaum zu überbieten war.

Derweil gebar Mutter fast jedes Jahr ein Kind, das ohne Freudensprünge, jedoch auch ohne Klagen im großen Familienverbund aufgenommen wurde. Als älteste Tochter war ich dem Vater als Arbeitskraft unterstellt, während die zweitälteste Tochter, Marianne, der Mutter im Haushalt zu dienen hatte. Auf der offenen Feuerstelle in der Küche kochte Elsa jeden Tag riesige Mengen an Nahrung; wunderbar duftende und deftige Gerichte für zwölf bis vierzehn Personen. Aber auch andere Alltagsaufgaben erledigten sich in diesem heißen, kaum zehn Quadratmeter großen Raum, der überquoll von Essensvorräten, Geschirr, Schulbüchern, Kleidern, Wascheimern und Treffpunkt war für all die Menschen, die einander nicht immer wohlgesinnt waren. Die Eckbank, auf der sich die kleinen Brüder und Schwestern, Knechte und viele Gäste drängten, hungrig und müde, aufgekratzt und mitteilsam, gibt es noch heute. Sie steht in der renovierten Küche unseres Unternehmens. Wenn ich die Holzbank anblicke, sehe ich den Tumult und höre den Lärm meiner Kindheit, beides war allumfassend und nahm kein Ende. Als achtfache Mutter war Elsa verständlicherweise oft überfordert. Die geistige und praktische Unordnung funktionierte in unserer Familie wie ein Perpetuum mobile. Einmal in Gang gesetzt, blieb beides ewig in Bewegung, ebenso wie der rüde Umgang unter den konkurrierenden Geschwistern, die allesamt um die Anerkennung und Zuneigung der Mutter kämpften. Vergeblich, denn diese war mit organisatorischen Aufgaben beschäftigt, vor allem aber mit ihrem eigenen Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Anerkennung, das sie, wenn immer möglich, außer Haus stillte, am Stammtisch oder in der Fuhrhalterei.

Als bei den letzten drei Geburten eine Gemeindeschwester unserer Familie zugewiesen wurde, realisierte ich, wie anders vieles hätte sein können. Die Frau gab klare Anweisungen zum Verhalten im Alltag und schuf Routinen, die sofortige Erleichterung und Ruhe brachten. Einmal strich sie mir mit nachdenklicher und besorgter Miene über die Wange, und ungläubig blickte ich eines Morgens auf frische, zusammengefaltete Kleider und ein bereits gestrichenes Butterbrot. Fortan versuchte ich, mit den kleinen Geschwistern ähnlich zu verfahren, nahm sie manchmal in den Arm, hörte mir ihre Sorgen an, wenn Elsa nicht in Sichtweite war, und gab ihnen zu verstehen, dass sie mir nicht lästig waren. Für mich blieben die in jeder Hinsicht kargen Lebensumstände unabänderlich, und bereits glücklich, wenn ich Mutters Zorn nicht auf mich lenkte, erlebte ich das Ignorieren meiner Person – im Gegensatz zu Karin – zumindest zeitweise als überaus wohltuend.