Hans Habeck

MAL SEH’N,

WIE WEIT WIR KOMMEN

 

Mit dem Kleinboot um die Welt

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Delius Klasing Verlag

 

1. Auflage

ISBN 978-3-7688-8303-0

Copyright © 2010 by Delius, Klasing & Co. KG, Bielefeld

 

Die Printausgabe dieses Werkes wurde mit der

ISBN 978-3-7688-1783-7 herausgegeben.

 

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

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Inhalt

 

 

7Hauptsache los!

 

33Der Zauber der ersten Meilen

 

58Über den Atlantik in die Karibik

 

81Karibik und Panamakanal

 

104Ruderbruch im Pazifik

 

126Der lange Weg nach Australien

 

149Entscheidung in Down Under

 

168Der Indische Ozean

 

197Abschied von der Freiheit der Meere in Sheikh Riyah

 

221»Was treibt Sie eigentlich?«

Hauptsache los!

 

WAL auf Weltreise.
Zeichnung: Andreas, 5 Jahre

 

Brambauer, zwanzigtausend Einwohner, zehn Kilometer außerhalb Dortmunds. Ein Ort am östlichen Rand des Ruhrgebiets, früher ein Bauerndorf, später eine große Bergarbeitersiedlung mit vier Kohlegruben. Dann wurden die Zechen geschlossen. Jetzt gibt es hier ein bisschen Dienstleistungen, ein bisschen Handwerk und vor allem viele Pendler in die Großstädte des Ruhrgebiets. Der frühe Morgen des 6. Juli 2000 erscheint mir alles andere als einladend. Am Himmel hängen noch die dunklen Wolken vom Dauerregen der vergangenen Nacht. Nass und kalt ist’s draußen.

»Komm, hilf mir das Hoftor aufzuschieben«, sage ich zu Carola. »Aye aye, Käpt’n«, antwortet meine Frau frohgelaunt.

»Spar dir die dummen Witze«, gebe ich zurück.

»Papa hat schlechte Laune«, mischt sich jetzt auch noch Andreas ein, unser Sohn, bald vier Jahre alt. Ich bin nun mal kein Morgenmensch, und unseren Start ins große Abenteuer hatte ich mir irgendwie schöner, beschwingter vorgestellt. Auf diesen Tag haben wir seit vielen Monaten hingearbeitet. In der Hofeinfahrt steht der Trailer mit unserem Segelboot drauf. Vorsichtig bugsieren Carola und ich ihn aus der engen Hofeinfahrt auf die Straße und kuppeln ihn an einen geliehenen VW-Bus an, mit dem wir unser Boot heute an die Nordsee ziehen wollen.

Meine Eltern sind da. Zum Abschied nehmen. »Dann bis Oktober und passt gut auf euch auf – und ganz besonders auf Andreas«, sagt mein Vater.

Meine Mutter sagt: »Kommt bald wieder und fahrt nicht so weit.« – Meine Mutter hat ihr ganzes Leben in Brambauer gewohnt.

»Nein, Mutti«, antworte ich. »Du weißt doch, höchstens bis Zypern, wenn alles gut geht.« Auf Zypern lebt Carolas Cousine, sie ist mit einem Einheimischen verheiratet.

 

Wir haben uns eine Auszeit genommen. Während der letzten vier Jahre haben Carola und ich in einer Drogentherapieklinik gearbeitet. Als Sportlehrer haben wir uns um die körperliche Rehabilitation von Suchtkranken gekümmert. Ein schwieriger Job, in dem Erfolgserlebnisse rar sind. Die erwachsenen Patientinnen und Patienten sollen während ihres mehrmonatigen Aufenthalts in der Klinik an ein geregeltes, drogenfreies Leben gewöhnt werden. Das verlangt das Schaffen eines Vertrauensverhältnisses zu jedem Patienten, aber auch klare Grenzziehungen. Eine Arbeit, die mir nicht immer leicht fiel. Carola hat das deutlich geschicktere Händchen im Umgang mit den Patienten. Andererseits legte sie sich immer öfter mit der Klinikleitung an. Häufig fühlten wir uns ausgebrannt von diesem Beruf. Deshalb entschlossen wir uns irgendwann, eine Auszeit zu nehmen, den Job zu kündigen und einen Sommer lang auf Segelreise zu gehen. Meinen wahren Traum behielt ich aber für mich, nicht mal Carola erzählte ich davon: Einmal um die Welt zu segeln. Ich bin mir sicher, dass mich jeder auf der Stelle für verrückt erklärt hätte, wenn ich darüber gesprochen hätte. Denn unser Boot ist gerade mal ganze sechseinhalb Meter lang. Damit um die Welt segeln, über Ozeane? Das kleinste Boot, mit dem meines Wissens jemals eine Familie um die halbe Welt gesegelt ist, war eine Shark 24, also fast einen Meter länger als unser Boot. Mir ist klar, dass ich mit niemandem darüber zu sprechen brauchte. Als Antwort würde ich nur zu hören bekommen: »Unmöglich. Wahnsinn.« Trotzdem hatte ich ein paar Mal vorsichtig versucht, Carola darauf anzusprechen: »Was denkst du, wie weit könnten wir kommen mit der Etap?«

»Frag mich was Leichteres. Du weißt, wir sind mit dem Boot noch nie gesegelt. Wir wissen nicht, wie es sich anfühlt in den Wellen. Erinnerst du dich noch an unsere Neptun 22? Die sah so ähnlich aus.«

»Ja, ich weiß. Die sollte laut Tests durchaus seetüchtig sein. Und als wir dann zum ersten Mal bei Starkwind auf der Elbe gesegelt sind, waren wir erschrocken über die Bootsbewegungen. Wild stampfte der flache Rumpf in den aufgewühlten Wellen. Und wenn das Boot vom Wind auf die Seite gedrückt wurde, dachten wir jedes Mal: Hoffentlich richtet es sich wieder auf. Und das aufholbare Schwert klapperte so markerschütternd in seiner Halterung, dass ich immer mit dem Schlimmsten rechnete.«

»Die Etap hat einen festen Kiel, die wird ruhiger in den Wellen liegen und uns ein sichereres Gefühl geben.«

»Meinst du, wir können damit nach England segeln?« »Ja klar, bei gutem Wetter bestimmt.«

»Dann könnten wir auch an der Küste entlang bis ins Mittelmeer segeln.«

»Ja, wenn Andreas mitmacht. Lass es uns probieren. Meine Cousine wohnt in Limassol. Vielleicht kommen wir bis dahin und dann holen wir das Boot mit dem Trailer zurück.«

»Wenn’s gut läuft, könnten wir aber auch versuchen, zu den Kanarischen Inseln zu segeln.«

»Du spinnst ja. Lass uns erst mal losfahren.«

Wir steigen in den Wagen, winken noch einmal und fahren in einen grauen, regnerischen Niemandstag. Ich wünsche mir ganz fest, dass dies der Start zu unserer Weltumseglung sein möge. Aber diesen Gedanken behalte ich lieber für mich.

 

Sechs Kilometer bis zur Autobahnauffahrt Dortmund-Nordwest. Dann auf die A2 Richtung Oberhausen. Ich habe es nicht eilig, fahre höchstens mit 80 Stundenkilometern. Bald dösen Carola und Andreas auf dem Rücksitz. Ich lasse meine Gedanken schweifen.

Endlich unterwegs. Habe ich an alles gedacht? Wahrscheinlich schon, hab ja alle meine Listen abgehakt. Könnte unbeschwerter an die Sache rangehen, wenn unser Boot einen oder zwei Meter länger wäre. Jaja, habe mich einfach zuviel treiben lassen im Leben. Nicht zielstrebig eine Karriere geplant. Geld immer ausgegeben. Früher fürs Skifahren, dann fürs Windsurfen. Hätte einfach mehr sparen sollen. So wie Klaus, mein Bruder. Baut sich jetzt zusammen mit seiner Frau ein schönes Häuschen in Berlin, hat einen sicheren Job bei der Senatsverwaltung. Andererseits: Wäre ich dann jetzt überhaupt unterwegs, mit einem Segelboot im Schlepp? Viele Sommer wochenlang am Gardasee gelebt, morgens raus mit dem Surfbrett und abends mit dem letzten Windhauch völlig erschöpft, aber zufrieden zurück an Land. Und Zandvoort an der Nordsee: Windsurfen in der Brandung. Zwischen totaler Euphorie und der Angst vorm Ertrinken, wenn mich eine Welle voll gewaschen hat. Wie viel Nordseewasser habe ich schon geschluckt! Irgendwann habe ich beim Windsurfen Carola kennen gelernt. Ob sie noch unser Motto von damals weiß? Bestimmt! No wind, no waves, no fun, no future. Nein, ich bereue nichts. Überhaupt, Carola ...

Autobahnkreuz Oberhausen, auf die A3 Richtung Duisburg. Ich gewöhne mich mehr und mehr an das Fahren mit dem breiten Boot im Schlepp.

Ja, Carola, meine große Liebe. Auch nach über 15 Jahren, die wir uns nun kennen. Müsste wieder öfter zärtlich mit ihr sein und öfter kuscheln. Das kam viel zu kurz in den letzten Jahren, wegen Jobs, Andreas und dann auch noch den Reisevorbereitungen. Ich mag ihre langen, dunklen Haare, ihr schmales Gesicht mit den hohen Wangenknochen, ihren sportlichen, durchtrainierten Körper. Ein echtes Jeansmädchen. Eine Frau zum Pferdestehlen, aufgewachsen mit zwei Brüdern. Wer sie zuerst sieht, denkt: ein zartes Persönchen – kein Wunder bei nur 1,60 Metern. Ging auch mir damals so, als ich sie traf. Aber als ich dann sah, wie sie im Sturm ihr Surfbrett über den Strand zerrte, immer in Gefahr, samt Surfbrett davongeweht zu werden, da merkte ich, welche Power sie hat. Sind seitdem unzertrennlich; Sportstudium, Jobs, alles haben wir zusammen gemacht. Manchmal könnte sie ein bisschen energischer ihre eigenen Ideen vertreten. Welche Träume hat sie eigentlich? Obwohl, damals, als sie ein Kind wollte, hat sie mich mit ihrer Beharrlichkeit schließlich überzeugt. Zum Glück.

Autobahnkreuz Duisburg-Kaiserberg. Hier fahre ich auf die A40. Der hektische morgendliche Berufsverkehr des Ruhrgebiets liegt nun hinter uns. Durch die rheinische Tiefebene geht es jetzt erst mal immer geradeaus Richtung Holland.

Wieder der bohrende Gedanke: Warum habe ich nicht wenigstens meiner Frau gesagt: Ich will um die Welt segeln. Ach Unsinn, ich weiß ja selbst nicht, ob das mit unserem Bötchen überhaupt möglich ist. Carola ist am besten, wenn sie locker ist. Große Pläne sind nicht ihre Sache, lieber kleine Schritte. Recht hat sie. Lass uns erst mal losfahren. Ich werd mein Möglichstes tun, dass alles glatt läuft, Angstsituationen vermeiden, Erfolgserlebnisse vermitteln. Und dann sehen wir mal weiter. Wir können ja jederzeit umdrehen. Der kleine Anbau an ein Mietshaus, unser Zuhause, gehört meinen Eltern. Wir brauchen keine Miete zu zahlen, solange wir unterwegs sind. Tut gut, dieses Gefühl, noch ein Zuhause zu haben, auf große Fahrt gehen zu können, ohne alles aufgeben zu müssen. Das ist der Luxus auf unserer Reise. Wenn was schief geht, fahren wir nach Hause, schließen die Haustür auf, setzen uns aufs Sofa und sagen: »Einen Versuch war’s wert.« Naiv? Na und, wenn schon, ich will naiv sein in dieser durchrationalisierten Welt. Naivität ist Freiheit.

»Papa, wo sind wir?«, fragt Andreas verschlafen von der Rücksitzbank.

»Ach, noch nicht mal in Holland. Kannst noch weiterschlafen, mein Kleiner. Ich wecke dich, wenn wir in Holland sind.«

Andreas – ihn lieb ich mehr als alles andere auf der Welt. Ist ein drahtiger, kleiner Bursche. Immer in Bewegung. Und erzählt gerne und viel. Muss er von Carola haben. Von mir auf jeden Fall nicht, bin eher introvertiert und wortkarg. Wäre auch gern extrovertierter, die haben’s irgendwie leichter im Leben, diese Menschen. Nicht so viele Grübeleien. Wird ihm das Leben auf dem Boot gefallen? Was, wenn nicht? Der Abschied vom Kindergarten ist ihm jedenfalls nicht schwer gefallen. Sind ja auch noch ganz auf ihre Eltern fixiert in dem Alter. War das schön, wenn ich Spätdienst hatte und mit Andreas morgens im Bett liegen geblieben bin, ganz aneinander gekuschelt, den Kindergarten geschwänzt. Bett ist gut, auf Isomatten haben wir die vergangenen Wochen geschlafen, alle drei auf dem Fußboden in Andreas Zimmer. Carola hat uns geweckt, wenn sie mittags von der Arbeit kam. Was hat er eigentlich von mir? Vielleicht den Dick kopf? Die schnell wechselnden Launen? Himmelhoch jauchzend, im nächsten Moment zu Tode betrübt. Auch was Positives? Ja, doch, Geduld, für einen fast Vierjährigen hat er eine Engelsgeduld. Ich muss gut auf ihn aufpassen.

»Hallo, Andreas, aufwachen! Die Grenze ist in Sicht. Gleich sind wir in Holland.« Keine Reaktion.

Na, dann eben nicht. Bin sowieso lieber allein an diesem Morgen und hänge meinen Gedanken nach.

Kaum sind wir in Holland, wird das Wetter schöner, die Wolkendecke ist aufgerissen, manchmal fällt warmes rotes Sonnenlicht auf das platte Land.

Gut, dass wir unterwegs sind. Fühlt sich aufregend an. Hab viel zu lange gewartet, geträumt, geplant. Bücher gelesen. Mit 13 oder 14 fing das an, Moitessier, Henderson, Hiscock. Ja, Hiscock vor allem. Was haben mich die detaillierten Schilderungen nach dem Motto »Was mache ich, wenn ...« beschäftigt. Später auch Bobby Schenk: Antworten auf Hunderte von Fragen zur Planung einer Weltumseglung. Und jetzt? Ist alles ganz anders. Auf all die guten Ratschläge gepfiffen, Hauptsache los. Erdmann, ja, Erdmann ist gut, wie er hektisch in sechs Wochen sein Boot ausbaut, um dann sofort anschließend nonstop um die Welt zu segeln. Oder wie er mitten auf dem Pazifik Streichhölzer in die Löcher seines rotten Sperrholzrumpfes stopft. Ja, so muss man das machen. Hauptsache los. 120000 Mark hatten Carola und ich gespart. Dann letzten Herbst zu dritt zur Bootsausstellung nach Hamburg gefahren. Maximal 30000 wollten wir fürs Boot ausgeben, denn Zubehör kostet noch mal 20000 bis 30000. Das Angebot in dieser Preisklasse war sehr begrenzt. Drei, vier Schiffe. Die meisten von denen kamen wegen irgendwas nicht in Frage. Unna 20: neue Werft, Entwurf noch nicht bewährt. Jeanneau: kein richtiges Küchenteil, Kocher an Backbord, Spüle an Steuerbord, was für die Ferien, aber nicht zum drauf Wohnen. Sunbeam: eigentlich zu teuer und zu lange Lieferzeit. Waarship: zum Selberbauen, dauert zu lange. Folkeboot: eigentlich ein Traumboot, aber zu teuer. Schnell war uns klar: Wenn, dann kam nur die Etap in Frage. Bewährte Werft, Preis okay, festes Küchenteil, unsinkbar durch Ausschäumung, fester Kiel, da klappert nichts auf See. Einige Sachen gefielen uns nicht: Carola fand den Mast ausgesprochen dürr, nannte ihn spöttisch »Spargel«. Mir gefielen die Doppelruder nicht. Sind mit Beschlägen befestigt, die eher für eine kleine Segeljolle als für eine seegehende Yacht dimensioniert sind. Und vor allem können die Ruderblätter nicht nach hinten wegklappen. Was passiert, wenn so ein Ruderblatt in voller Fahrt eine Palette, einen Ast trifft? Soll ja immer mehr Unrat im Meer rumschwimmen. Wir fuhren unentschieden wieder nach Hau se, überlegten noch ein paar Wochen hin und her. Anfang November fuhren wir dann zum Etap-Händler, um eine Etap 21i zu bestellen.

Ich mag keine Händler! »Übrigens, Ihre Etap wird auf der Messe in Düsseldorf als Ausstellungsboot stehen und dann von dort direkt zu Ihnen geliefert.«

Bei angemessenem Preisnachlass soll’s uns recht sein. »Wie viel Rabatt gewähren Sie uns dafür?«

»Rabatt? Nein, das Boot ist doch absolut neu.«

Na super, ein im Messetrubel hektisch auf- und abgebautes Boot, auf dessen Polstern sich schon ein paar hundert Besucher niedergelassen haben, ohne jeden Preisnachlass? Das will ich nicht. Aber ich will dieses Boot.

»Ach, wissen Sie, ich brauche doch keine Fenster.« Die kosten nämlich einen beträchtlichen Aufpreis.

Also ruft der Händler bei der Werft an: »Können wir ein Boot ohne Fenster ausstellen?« Können sie natürlich nicht. »Wir schenken Ihnen die Fenster.«

»Nein danke, bei Sonnenschein machen mich die wandernden Lichtpunkte in der Kajüte ganz seekrank. Ich will keine Fenster.«

Schließlich finden sie ein anderes Exemplar als Ausstellungsstück. Unser Boot wird ohne Rabatt und ohne Fenster kommen. Liefertermin: Ende Januar.

Natürlich ist es im Januar nicht fertig. Auch im Februar nicht. Endlich, Mitte März können wir das Boot mit dem Trailer abholen und bei uns zu Hause in die Hofeinfahrt schieben.

In den folgenden Tagen stellten Carola und ich Listen auf, endlose Listen, auf denen möglichst genau stand, was am Boot zu tun war. Um Geld zu sparen, hatten wir nur die Grundausstattung bestellt mit wenigen Extras, deren Einbau uns zu kompliziert schien. In dem Boot gab es noch kein einziges Stromkabel, keine Batterie, kein Licht, kein Navigationsgerät. Und wir mussten Antworten auf Unmengen von Fragen finden. Was werden wir brauchen? Was müssen wir ändern? Was muss verstärkt oder verbessert werden? Alles war wie ein einziges großes Gedankenexperiment, denn wir hatten nie zuvor eine Etap 21i gesegelt. Je länger ich das Boot betrachtete, umso unrealistischer schien mir unser Vorhaben zu sein: Ein nagelneues Boot, das fürs Segeln auf Binnenrevieren oder allenfalls im Küstenbereich gedacht war, innerhalb von drei Monaten hochseetüchtig ausrüsten. Dann das Boot zu Wasser lassen, Ausrüstung und Proviant einpacken, mit der Familie an Bord springen, ablegen und auf große Fahrt gehen. Ich musste das schaffen! Also fing ich einfach an. Das Wichtigste war, dass das Boot sich bei Bedarf selbst steuerte, ohne dass Carola oder ich andauernd an der Pinne sitzen mussten; denn Andreas betreuen, Segel bedienen, navigieren, Essen zubereiten und dann noch ständig Ruder gehen, das würde auf Dauer zu viel für uns. Da bliebe keine Zeit mehr zum Ausruhen. Für die Selbststeuerung kam nur ein Gerät in Frage, das keinen Strom verbrauchte, eine sogenannte Servo-Pendelruder-Anlage mit Windfahne. Weil alles so leicht wie möglich sein sollte, fiel meine Wahl auf die Windpilot Pacific Light, Gesamtgewicht zehn Kilogramm, alle anderen Anlagen wiegen das Doppelte oder mehr. Aber so eine Selbststeueranlage muss am Heck montiert werden, und genau da lag das Problem. Denn am Heck hatte die Werft auch den Platz für den Außenborder vorgesehen. Und beide gleichzeitig hatten dort unmöglich Platz. Wochenlang suchte ich nach einer Lösung, baute Modelle, lag nachts unruhig wach und dachte über eine Lösung nach. Es gab keine vorgefertigten Lösungen, auf die ich zurückgreifen konnte. Niemand hatte bisher meines Wissens an diesem Boot eine Windfahnen-Selbststeueranlage angebracht. Da waren sie wieder, die Zweifel: Hatten wir das falsche Boot gewählt? Ich musste mir eingestehen: Hans, du musst Kompromisse eingehen. Perfekte Lösungen, die alle Anforderungen erfüllen, gibt es nur auf größeren Yachten.

Schließlich hatte ich eine Idee: Ich könnte den Motor, wenn er nicht gebraucht wird, oben am Heck an der Badeleiter festklemmen. Um ihn einzusetzen, müsste ich dann das Pendelruder der Selbststeueranlage aus dem Wasser klappen, den Motor losschrauben, auf die Motorhalterung unten am Heck herunterlassen und ihn dort festschrauben. Umgekehrt, um die Selbststeueranlage in Betrieb zu nehmen: Motor losschrauben, auf die Badeleiter heben, festklemmen, Pendelruder ins Wasser lassen. Ja, so konnte das funktionieren. Um zu sehen, ob es funktionierte, musste ich es ausprobieren. Ich hing den Motor, einen 5-PS Tohatsu-Außenborder, unten auf die Motorhalterung und befestigte provisorisch einen Handgriff auf der Motorhaube. Dann stellte ich mich im Cockpit ans Heck, beugte mich außen über das Heck weit nach unten, griff den Motor mit der rechten Hand – und merkte, dass ich keine Chance hatte. Ich bekam den Motor keinen Zentimeter angehoben. Seine 20 Kilogramm waren einfach zu viel, um sie einarmig aus der tiefen Position anzuheben. Und auf See, wenn das Boot schaukeln würde und ich eine Hand zum Festhalten brauchte, wäre es aussichtslos.

Abends erklärte ich Carola das Problem: »Wir brauchen einen leichteren Motor.«

»Das heißt, einen schwächeren Motor?«

»Ja leider, ich krieg die 20 Kilo einfach nicht hochgehoben.« »Hans, du weißt, wir brauchen mindestens fünf PS, sonst können wir nicht sicher manövrieren. Also wie viel PS?«

»Drei bis dreieinhalb.«

»Das Boot wird voll beladen 1,5 Tonnen wiegen, wir werden bei Strom und Wind manövrieren müssen. Du spinnst.«

»Wir haben keine andere Chance.«

Flehentlich bat ich den Händler, den noch nagelneuen 5-PS-Motor gegen das Modell mit 3,5 PS umzutauschen, denn der wog nur 13 Kilogramm. Kein gutes Geschäft für ihn. Aber irgendwann ließ er sich erweichen. Zu Hause startete ich gleich einen neuen Versuch. Hurra, es funktionierte! Ich bekam den Motor auf die Badeleiter gehoben und auch wieder heruntergelassen. Zwar brauchte ich dazu alle meine Kräfte, aber mit zunehmendem Training würde das auch auf See klappen, da war ich sicher!

Mit zahllosen anderen Sachen ging es uns ähnlich: Fertige und vor allem bewährte Lösungen gab es nicht. Alles mussten wir selbst austüfteln, ausprobieren. Oft saß ich im Boot und dachte stundenlang über Lösungen nach: Wo stauen wir was? Wie viel Wasser wollen wir mitnehmen? Wo ist Platz für die Kanister? Wie viel Benzin brauchen wir? Wohin damit? Wie laden wir die Batterie? Wie können wir den Stromverbrauch auf ein Minimum beschränken? Wie und wo stauen wir unsere Kleidung? Und Werkzeug, Ersatzteile? Den sperrigen 9-Kilogramm-Anker? Die Seekarten? Das Beiboot? Die Schwimmwesten? Und das Spielzeug?

Meine Horrorvorstellung war ein total überladenes Boot, in dessen Kajüte so viele Sachen herumlagen, dass wir uns kaum noch rühren konnten. Dann würden wir drei uns schnell auf die Nerven gehen. Deshalb musste die Kajüte so leer und aufgeräumt wie möglich aussehen, am besten so, dass ein Besucher dachte, wir seien lediglich auf einem kleinen Wochenendtörn. Was wir mitnahmen, musste auf das Notwendigste beschränkt werden. Zum Glück spielten Carola und Andreas mit. So fand schließlich unsere gesamte Kleidung in zwei kleinen Reisetaschen Platz. Eine Kiste mit Legosteinen musste reichen.

Einmal fragte Carola verwundert: »Wofür packst du denn ein zweites Vorsegel ein?«

Ich suchte nach einer Begründung: »Als Reserve.« Das war eine ziemlich lahme Begründung, denn eigentlich wollten wir keine Reservesachen mitnehmen, außerdem hat ein Segelboot ohnehin zwei Segel, Fock und Großsegel, also eine gewisse Reserve. Dass man zwei Vorsegel brauchte, um Passatsegel zu setzen, traute ich mich nicht zu sagen. Denn Passatsegel sind nur sinnvoll auf langen Vor-Wind-Strecken, also zum Beispiel für eine Atlantiküberquerung. Und diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung zu ziehen, schien selbst mir in diesem Moment lächerlich. Trotzdem packte ich das zusätzliche Segel ein, für meine Träume.

Langsam drängte die Zeit. Halbtags arbeitete ich in der Klinik, dann kam ich schnell nach Hause, um am Boot weiterzuarbeiten. Als besonders zeitraubend erwies sich die Verlegung der Stromkabel. Selbst unser kleines Boot brauchte eine Menge davon: Für die Kajütleuchten, die Steckdosen, den Radioanschluss, um tausend Ecken herum bis zum Sicherungspaneel, zwischen Sicherungspaneel, Laderegler und Batterie, von der Außensteckdose zum Laderegler. Beim Verlegen musste ich immer im Knien, im Liegen, um die Ecke herum oder in die Backskiste gezwängt arbeiten. Nach ein paar Tagen, als die Arbeit endlich getan war, tat mir von den ungewohnten Bewegungen jeder Muskel weh und mir wurde schmerzlich klar, wie winzig unser Boot war. Zum aufrechten Herumgehen war in der Kajüte kein Raum.

Nur Andreas hatte im ganzen Boot Stehhöhe. Manchmal kletterte er an Bord, guckte mir bei der Arbeit zu und hatte tausend Fragen: »Was ist das für’n komisches Teil?«

»Das ist der Kocher.«

»Sieht aber anders aus als der Kocher im Haus. Warum?«

»Der Kocher im Haus läuft mit Strom. Hier gibt’s aber nicht genug Strom. Deshalb kochen wir mit Brennspiritus. Deshalb sieht der Kocher anders aus.«

»Warum haben wir keinen Strom hier?«

»Wir haben Strom, aber viel, viel weniger.«

»Warum?«

»An Land verbrennen sie steinalte Bäume, die viele tausend Jahre lang die Kraft von der Sonne eingefangen haben, um daraus Strom zu machen. Wir haben nur ein kleines Solarmodul, um Kraft von der Sonne einzufangen.« Dabei formte ich mit den Armen ein Quadrat von ungefähr 50 mal 50 Zentimetern. Ich hatte mir vorgenommen, ihm auf jede Frage eine Antwort zu geben.

Als die meisten Arbeiten an Bord getan und die Werkzeuge weggeräumt waren, zogen wir probehalber für ein Wochenende aufs Boot. Der Trailer mit dem Boot darauf stand nur zwei Meter neben unserer Haustür. So waren alle notwendigen Sachen schnell an Bord gebracht. Und alles fand einen Platz. Ich war zufrieden mit meiner Arbeit. Nach zwei Nächten wollte Andreas am liebsten gleich richtig an Bord einziehen: »Ist ja viel gemütlicher als an Land.« Aber noch schaukelte das Boot nicht. Und als es regnete, hatten wir uns zum Frühstück ins Haus verzogen.

Noch war unser Boot namenlos. Carola und ich waren uns einig, dass der Name möglichst kurz sein sollte, denn je weniger Buchstaben, umso preiswerter war die Folienschrift, und auf See war ein kurzer Name beim Anfunken anderer Schiffe schneller buchstabiert. Bei den Wörtern mit einem oder zwei Buchstaben war nichts Passendes dabei: AU, EI, DO? Lieber weiter zu Wörtern mit drei Buchstaben: MAO, EOS, HAI, WAL, ...

»WAL klingt schön«, sagte Andreas.

Ich gab zu bedenken: »Aber ‚die WAL’ hört sich doch immer irgendwie verkehrt an. «

»Dann sagen wir eben einfach ›der WAL‹«, schlug Carola vor, »sieht mit dem runden Kajütaufbau doch wirklich auch aus wie ein Wal. « Die Entscheidung für WAL fiel einstimmig.

Und jetzt soll unser WAL endlich ins Wasser kommen, wenn alles klappt. Ich spüre eine freudige Aufregung und will sie mit jemandem teilen: »Carola, Andreas, aufwachen. A - u - f - w - a - c - h - e - n, ihr beiden! Wasser in Sicht!«

Gerade haben wir die Stadt Bergen op Zoom hinter uns gelassen und sind auf das letzte Stück Autobahn Richtung Beveland eingebogen. Jetzt überqueren wir die Brücke über den Schelde-Rhein-Kanal. Rechts hinter den großen Schleusenanlagen war schon das Wasser der Oosterschelde zu sehen. Sie gehört zum Mündungsdelta des Rheins ganz im Süden der Niederlande und ist mit einem kilometerlangen Sperrdamm von der Nordsee getrennt. Große Tore, die nur bei Sturmflut geschlossen werden, erlauben den freien Wasseraustausch mit der Nordsee, sodass es hier Salzwasser und Ebbe und Flut mit entsprechenden Strömungen gibt. Und Wind wie auf der Nordsee. Nur die Nordseewellen werden von dem Damm aufgehalten. Genau das richtige Revier, um erst mal mit dem Boot vertraut zu werden.

Carola und Andreas sind jetzt hellwach.

»Wann sind wir da?«, fragt Andreas.

»Noch 40 Kilometer, also ungefähr eine halbe Stunde«, antworte ich.

»Ist da auch Wasser, wo wir hin fahren?«

»Klar, sogar noch viel, viel mehr als hier.« Unser Ziel ist Colijnsplaat, ein kleiner Ort ganz im Norden der Halbinsel Beveland.

Bald verlassen wir die Autobahn und folgen ein paar Kilometer der Landstraße. Dann kommt die Abzweigung nach Colijnsplaat, eine schmale gepflasterte Straße. Vorbei an ein paar flachen Hallen einer Fischfabrik. In zwei Kurven führt die Straße auf den Deich. Wir sind da. Ich halte oben auf dem Deich. Vor uns erstreckt sich der Hafen mit vier oder fünf großen Fischkuttern und vielen, vielen Yachten. Die helle Vormittagssonne taucht alles in ein ruhiges Licht. Ich kurbele die Scheibe herunter. Kein Lüftchen regt sich. Möwen schreien.

»Da sind wir«, sage ich und hole tief Luft.

»Schön, sehr schön,« seufzt Carola und drückt Andreas an sich.

Nach einer Weile fahren wir weiter zum Colijnsplaat Yacht Service. Hier gibt es einen Kran, der unser Boot ins Wasser setzen soll.

»Gut, dass Sie da sind«, begrüßt uns ein Werftarbeiter. »Lassen Sie uns gleich anfangen. Unser Mastenkran ist leider kaputt. Aber das macht nichts, den leichten Mast kriegen wir zusammen von Hand gestellt. Ich helfe Ihnen.«

Eigentlich wollte ich mich um das Maststellen alleine kümmern, in Ruhe, denn die Verstagung des Mastes muss mit größter Sorgfalt vorbereitet werden. Ein Splint, der nicht richtig sitzt oder eine Schraube, die sich später löst, können dazu führen, dass der Mast beispielsweise umknickt. Und jetzt schraubt jemand die Einzelteile des Riggs zusammen, über dessen Zuverlässigkeit ich nichts weiß, während ich hektisch damit beschäftigt bin, alle benötigten Einzelteile im VW-Bus zusammenzusuchen und herbeizuschaffen. Das nächste Boot mit einem Krantermin am Nachmittag wartet schon.

Nach einer knappen Stunden sind alle notwendigen Teile am Mast befestigt und das Gewirr aus Wanten, Stagen, Fallen, Rollfock soweit geordnet, dass beim Aufrichten des Mastes hoffentlich alles seinen Platz finden wird. Mit vereinten Kräften drücken wir den Mast in seine senkrechte Position und fixieren ihn.

Jetzt würde ich gerne pausieren, ich finde, das habe ich mir eigentlich verdient nach Autofahrt und Mastaufbau. Schließlich bin ich seit heute Morgen um fünf pausenlos auf den Beinen. Aber eine Pause ist nicht in Sicht, vielmehr steht nun der Höhepunkt unseres Stapellaufs bevor: Zwei Schlingen aus breitem Gurtband werden unter dem Rumpf des WAL durchgezogen und über dem Boot in den Haken am Kran eingehängt. Dann klettern Carola, Andreas und ich an Bord, der Kranfahrer nimmt seinen Platz ein und der Kran hebt unser Boot sacht vom Trailer. Langsam fährt er mit uns am Haken 20 oder 30 Meter auf den Kai, schwenkt uns übers Wasser und lässt uns ebenso langsam ins Wasser. Der WAL schwimmt! Noch hat der Kranfahrer die Schlingen aber nicht vollständig abgesenkt, sodass sie unser Bötchen auf der Stelle halten. Jetzt muss ich den Außenbordmotor starten, damit wir anschließend aus den Schlingen zu unserem Liegeplatz fahren können. Mehrmals ziehe ich an der Anlasserleine des Motors, aber er springt nicht an. Zum Teufel, warum nicht? Ich kontrolliere Benzinhahn, Gangstellung, Tankbelüftung: alles in Ordnung. Ziehe wieder an der Anlasserleine. Reiße an ihr. Aber vergebens, der Motor läuft nicht, nichts zu machen. Paddeln? Mir fällt ein, dass ich die Paddel in der Eile an Land vergessen habe. Der Kranfahrer steht mittlerweile auf dem Kai. Mir ist die ganze Situation so peinlich, dass ich am liebsten ganz weit weg wäre. Überall, nur nicht hier. Aber es hilft ja nichts. Hilflos blicke ich zu ihm herauf und hebe ratlos die Arme. Auf seinem Gesicht sehe ich ein breites Grinsen. Ich ahne, was er gerade denkt: ›Fährt mit seinem nagelneuen Bötchen hier an die Nordsee. Und jetzt kommt er nicht mal aus dem Kran rausgefahren.‹ Ich fühle mich einfach nur jämmerlich in diesem Augenblick. Aber ich habe mich getäuscht. Gutmütig ruft der Kranfahrer etwas ganz anderes:

»Schauen Sie, die Sicherungsleine fehlt, deshalb läuft er nicht.«

Tatsächlich, an dem Stoppknopf fehlte die Reißleine. Sie wird unter den Stoppknopf geklemmt und sollte der Bootsfahrer über Bord fallen, reißt er sie dort los und der Motor stoppt das Boot. Ich hab vergessen, sie zu montieren. In den unendlichen Tiefen seiner Hosentasche findet Andreas glücklicherweise einen Bindfaden. Ich wickele den Faden mehrmals um den Stoppknopf, ziehe sanft an der Starterleine – und der Motor läuft. Heilfroh beeile ich mich, dass wir hier wegkommen und zu unserem Liegeplatz tuckern.

Ich bin viel zu sehr beschäftigt, als dass ich unsere erste Fahrt mit dem WAL genießen könnte. Alles ist ungewohnt, die Bedienung des Motors, das Steuern mit der Pinne. So atme ich auf, als ich uns endlich in die Liegeplatzbox hineinmanövriert habe und auf den Steg springen kann. Festmacher bereitzulegen haben wir vergessen. Carola hält das Boot am Bug fest, ich an der Seite. Im Cockpit liegen ein paar aufgeschossene Leinen.

»Andreas, gib mir bitte mal die Leine«, sage ich. Eifrig greift Andreas die Leine – und lässt sie über Bord fallen. Natürlich geht sie sofort unter.

»Ich dachte, die schwimmt«, meint er unbekümmert. Ich sage gar nichts mehr. Das war unsere Fockschot, die Andreas da gerade versenkt hat. Wir haben noch viel zu lernen.

 

Das Umräumen der Ausrüstungsgegenstände vom VW-Bus aufs Boot ist schnell erledigt, es gibt ja nicht viel: drei Reisetaschen, drei oder vier Klappboxen mit Kleinkram, Küchenutensilien und Navigation, eine Box mit Spielzeug, dazu Segel, Anker, einen Sack mit Leinen, drei Schwimmwesten, Selbststeueranlage, Werkzeugkoffer, eine Box mit Ersatzteilen, eine Handvoll Bücher und ein paar Seekarten, schließlich Schlauchboot und Bettzeug, und damit hat sich’s auch schon. Ohne große Gefühle ziehen wir in unser neues Zuhause ein.

Es ist ein ruhiger, warmer Sommerabend. Wir sind todmüde. Jeder kuschelt sich in seine Koje, und schnell fallen wir in festen Schlaf.

Aber in dieser Nacht träume ich schlecht. Von einer Gegend nicht weit weg vom Meer. Carola und ich sind mit dem Auto unterwegs, Carola fährt. Wir wissen nicht genau, wo wir sind, suchen einfach eine schöne Bucht zum Segeln. Auf einem Parkplatz neben der Straße hält Carola an. Hier wollen wir vorbeikommende Autofahrer stoppen und fragen, wo eine schöne Bucht ist. Wir warten lange, doch niemand kommt vorbei. Ich bekomme Angst, sage zu Carola: »Die sind schon alle weg, jeder hat schon seine Traumbucht gefunden. Wir müssen weiter.« Carola fährt wieder los, direkt aufs Meer zu. Dann tut sich vor uns eine Bucht auf. Zwar ist sie nur klein, sehr klein, aber sie besteht aus weißem Sand. Die Sonne bringt die vom heftigen Wind aufgeworfenen Wellen zum Funkeln. Carola fährt auf den Strand, bis der Wagen im weichen Sand stecken bleibt. Ich springe begeistert aus dem Auto: Hier müssen wir segeln! Aber wo ist unser Segelboot? Und was ist das im seichten Wasser, ein paar dutzend Schritte entfernt? Habe ich von dort ein Atmen gehört? Ich laufe ein paar Schritte weiter. Da, wieder, diesmal erkenne ich es deutlich: Es ist die Atemfontäne eines Wals, der dort im flachen Wasser gestrandet ist. Erschrocken laufe ich wieder weiter, blicke mich um und sehe, dass der ganze Strand voll von gestrandeten Walen ist. Einige sind schon tot und vom Sand halb begraben, andere atmen noch. Zwar stehe ich mit meinen Füßen auf Sand, aber darunter muss ebenfalls ein toter Walkörper liegen, denn ein paar Meter neben mir schaut ein Walkopf noch aus dem Sand hervor. Ich erstarre vor Schreck, will Carola irgendwas zurufen, bringe aber keinen Ton raus – und wache auf. Ich liege lange wach, bevor ich wieder einschlafen kann. Halb wach, halb noch dem Traum verhaftet wühlen mich bohrende Fragen auf: Warum sind in der Bucht keine Segelboote, sondern nur tote und sterbende Wale? Bin ich auf dem richtigen Weg? Darf ich meine Familie auf diesem Weg mitnehmen?

Am nächsten Morgen setzen wir unsere Vorbereitungen wie geplant fort. Carola bringt den geliehenen VW-Bus und den Trailer zurück nach Brambauer und wird erst gegen Abend per Zug und Linienbus zurückkommen.

»Und was machen wir beide?«, frage ich Andreas.

»Zum Wasser gehen, an den Strand. Ich will im Sand spielen.«

Okay. Wir spazieren den Deich entlang und finden ein kleines Stück Sandstrand. Das Wasser der Oosterschelde sieht heute ganz anders aus als gestern, bleigrau und voller Schaumkronen. Das Wetter ist umgeschlagen. Dunkle Wolken sind aufgezogen, ein kräftiger Westwind treibt die ersten Regenwolken heran, uns beiden wird schnell kalt.

»Lass uns ins Dorf gehen, bei einer heißen Schokolade aufwärmen«, schlage ich vor. Andreas ist einverstanden, und wir marschieren am Yacht- und Fischerhafen vorbei auf dem Deich entlang in Richtung Dorf. Nach hundert Metern erreichen wir die Hauptstraße, die schnurgerade vom Meer weg auf eine kleine Kirche zuführt. Drumherum gibt es noch ein paar Straßen mit kleinen Wohnhäusern. Die mit dunkelroten Klinkersteinen gepflasterte Hauptstraße ist ungefähr 200 Meter lang. Rechts und links ist sie mit Linden gesäumt, große, alte Bäume mit heller Rinde und einem dichten grünen Blätterdach. Selbst jetzt, wo draußen der Wind übers Wasser fegt, rascheln hier die Blätter nur leise vor sich hin. Nur wenige Menschen sind auf den breiten Gehwegen unterwegs, gehen schnell von Laden zu Laden, um sich vor dem nächsten Regenschauer in Sicherheit zu bringen. Ein Auto fährt im Schritttempo die Straße entlang, ein paar Radfahrer treten kräftig in die Pedale. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein, dieses Städtchen strahlt eine Gemütlichkeit und Geborgenheit aus, die mich jetzt wieder genauso anzieht wie damals, als Carola und ich mit unserer NOORDERZON hier landeten. Andreas und ich setzen uns in ein Café, bestellen zwei Kakao, und während Andreas sich die Bilder in einer älteren Ausgabe des »Stern« anschaut, wandern meine Gedanken ein paar Jahre zurück.

Fünf Jahre ist es jetzt her. Carola und ich wohnten zusammen in Berlin, hatten beide dort einen interessanten Job als Sportlehrer. Und wir hatten ein kleines Segelboot an der Havel liegen, eine alte Neptun 22, sieben Meter lang, Kunststoff, Kielschwerter. Wir träumten vom Segeln, richtig unterwegs sein, wochen-, monatelang, nicht nur für ein paar Stunden am Wochenende. Wohin? Keine Ahnung, Hauptsache los. Wir heirateten, nachdem wir zehn Jahre so zusammengelebt hatten, kündigten unsere Jobs, lösten die Wohnung auf, stellten ein paar Umzugskartons bei meinen Eltern unter und zogen aufs Boot.

Im Mai fuhren wir von Berlin los, die Havel entlang bis zur Elbe. Dann die Elbe stromab nach Hamburg. In Finkenwerder stellten wir den Mast und segelten weiter bis Cuxhaven. Dann raus auf die Nordsee. Keiner von uns beiden war zuvor jemals auf dem Meer gesegelt. Wir hatten ein bisschen angelesenes Wissen, eine Seekarte und ein GPS-Gerät. Dank des GPS bekamen wir Helgoland in Sicht, aber dann drehte der Wind gegen uns. Die Neptun mit ihren alten, ausgeleierten Segeln lief kaum Höhe und der Strom versetzte uns seitlich von der Hafeneinfahrt weg. Aber mit Hilfe des Außenbordmotors schafften wir es nach mehreren Stunden des Aufkreuzens doch noch in den Hafen. Wir fühlten uns als die Größten, waren eines der kleinsten Boote im Hafen, heil auf einer richtigen Hochseeinsel gelandet, als Greenhorns!

Unser nächstes Ziel war Borkum. Bei drei bis vier Windstärken liefen wir aus. Das heißt, wir fuhren unter Motor aus dem Hafen, um »draußen« die Segel zu setzen, so, wie wir das auf der Havel auch immer gemacht hatten. Als ich die Segel endlich oben hatte, war ich völlig seekrank. Natürlich war es Schwachsinn, außerhalb des Hafens bei zwei bis drei Meter hohen Wellen die Segel zu setzen statt im ruhigen Vorhafen wie alle anderen Segler. Aber das dämmerte mir erst, als ich seekrank in der Kajüte auf den Bodenbrettern lag.

Ich konnte nicht mehr, von nun an steuerte Carola ununterbrochen, den ganzen Tag und die folgende Nacht. Eine Selbststeueranlage hatten wir nicht. Die Wellen erschienen uns riesig hoch, wild wurde das Boot hin- und hergeworfen. Das aus dem Kiel heruntergelassene Schwert hämmerte wie verrückt in seinem Kasten. Ich lag direkt darüber auf dem Kajütboden, der bei jeder Bewegung des Schwertes bebte. Es war fürchterlich. Im Morgengrauen riss Carola mich aus dem Halbschlaf: »Ich höre lautes Wasserrauschen. Aber zu sehen ist nichts.« Ich schoss ins Cockpit. Tatsächlich, ich hörte das auch, irgendwo an Backbord mussten sich die Wellen brechen. Ein Echolot hatten wir nicht. Wir hielten wieder auf See hinaus, und das Rauschen wurde leiser. Erst als wir mittags sicher im Borkumer Hafen festgemacht hatten, wurde mir klar, was für ein unglaubliches Glück wir gehabt hatten, wie nah wir daran waren, bei auflandigem Wind auf einer Sandbank zu stranden.

Gibraltar und zurück gesegelt. Jetzt würde ich sie eher als abgetakelten Rosteimer bezeichnen. Die Selbststeueranlage war abmontiert, die Segel müssen noch von der Erstausstattung gewesen sein. Immerhin lief der Einbaudiesel zuverlässig, er war kurz zuvor überholt worden. Wir wollten weiter, verschleuderten die Neptun 22 auf die Schnelle für ’n Appel und ’n Ei, zogen auf die NOORDERZON um, ließen noch ein neues Großsegel anfertigen und dichteten das durchgerostete Kajütdach mit Unmengen von Sikaflex ab. Ich enterte in den Mast auf, denn oben im Masttopp gingen die Leimfugen des Holzmastes auseinander. Ich drückte neuen Leim in die Fugen und presste alles mit ein paar Schraubzwingen zusammen, in luftiger Höhe, zehn Meter über dem Wasser. So ein Boot mit Schraubzwingen am Masttopp sieht wirklich ungewöhnlich aus. Ein distinguierter älterer Herr auf einer stolzen Aluminiumyacht ein paar Plätze weiter kommentierte das unüberhörbar gegenüber seiner Frau: »Ein Arme-Leute-Boot ist das.« Das ließ Carola nicht auf sich sitzen. Ebenso unüberhörbar rief sie mir im Mast zu: »Lieber ein Arme-Leute-Boot als ein Alte-Leute-Boot.« Danach hatten wir nicht mehr viele Freunde in dem Yachthafen und sahen zu, dass wir weiterkamen.

Die täglichen Gespräche kreisten nur um ein Thema: »Wann geht’s los? Wann fahrt ihr? Ist das Wetter günstig für den Sprung über die Biskaya? Oder lieber noch warten?« Nur zu gerne ließen wir uns anstecken von dieser Atmosphäre.

»Ja, ihr habt Recht, warum eigentlich nicht?« Denn vom warmen Süden, von der Sonne träumten wir alle.

Mich verließ der Mut. »Carola, wollen wir wirklich hier treiben und auf Süd-West-Wind warten? Lass uns abdrehen nach Brest.«

Wir nahmen Kurs auf die Île d’Ouessant vor der französischen Küste. Nach 72 Stunden auf See erreichten wir mit dem letzten Tropfen Diesel die Ankerbucht der Insel. Statt in den warmen Süden hatten wir es gerade mal auf die andere Seite des Ärmelkanals geschafft. Wir waren froh, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben, die Seekrankheit und die Ungewissheit auf See hatten uns völlig zermürbt. Auf einem Campingplatz setzten wir uns in den Windschutz einer alten Mauer, und ich küsste – den Erdboden. Nie wieder wollte ich aufs Meer rausfahren.

Jetzt sind wir wieder hier. Diesmal werde ich alles ganz anders machen. Gegen die schlechten Träume kann ich vielleicht nicht viel machen, sie werden wiederkommen. Aber ich werde mich von ihnen nicht einschüchtern lassen, von ihnen nicht und überhaupt von nichts und niemandem. Respekt vor dem Meer, ja, den habe ich, alles immer bestens vorbereiten, bevor wir auf See hinausfahren. Und Geduld werde ich aufbringen, viel Geduld, um auf den richtigen Moment zu warten. Und schließlich: Mut. »Das Geheimnis der Freiheit ist der Mut«, dieses Perikles-Zitat hatte jemand außen an den großen Hörsaal der Sporthochschule gesprayt, es stand dort während meiner ganzen Studienzeit. Ja, ohne Mut geht nichts.

Doch bevor ich meinen Mut beweisen kann, wird erst mal unsere Geduld auf die Probe gestellt, denn an den ersten Testtörn ist nicht zu denken. Das Wetter ist einfach zu schlecht dafür, starker Wind und Schauerböen. Wenn wir das erste Mal mit dem WAL rausfahren, brauche ich Schwachwind, nicht mehr als ein bis zwei Windstärken, und eine ruhige See, um alles in Ruhe auszuprobieren und mich mit der Bedienung des Bootes vertraut zu machen. Stattdessen stürmt es, oft heult der Wind im Rigg, und der Regen prasselt auf das Deck. Tag für Tag geht das so.

Ansonsten ist die maximale Höhe in der Kajüte zirka 140 Zentimeter – direkt unter dem Schiebeluk, zu den Seiten hin wird es aufgrund des gewölbten Kajütdachs schnell weniger. Die Größe der freien Bodenfläche beträgt ungefähr einen Quadratmeter, rechts und links durch die Kojen, vorne durch den Küchenblock und achtern durch die Treppenstufe ins Cockpit begrenzt. Werftseitig war hier eigentlich ein Tisch vorgesehen, aber den haben wir zu Hause gelassen, er hätte den Platz in der Kajüte unnötig eingeschränkt. Wozu brauchen wir auch einen Tisch? Zum Essen benutzt jeder von uns eine kleine Schüssel mit langem Handgriff, um sie in der Hand zu halten. Brote oder so werden auf der Arbeitsfläche des Küchenblocks geschmiert. Zum Schreiben gibt es ein Klemmbrett als Unterlage, und wenn Andreas auf einer der Kojen mit seinen Legosteinen spielt, kniet er sich einfach auf den Fußboden vor die Koje.

Uns gefällt unser neues kleines Zuhause. Nach der Unrast der vergangenen Monate finden wir hier Nähe und Geborgenheit. Ich habe endlich Raum für Gedanken und Gefühle, die ich in Brambauer immer schnell beiseite geschoben hatte.

Zuerst schauen Carola und Andreas mich groß an. Dann sagt Carola: »Ja, du hast Recht. Wir gehen zwar hin und wieder in die Kirche. Aber in unserem täglichen Leben kommt Gott praktisch nicht vor. Lass uns das ändern.«

Ein anderes Mal, wir sitzen bei strömendem Regen mal wieder in der Kajüte, Carola und ich auf der Backbordkoje, Andreas mit seinen Legosteinen auf der Steuerbordkoje, sage ich unvermittelt zu Carola: »Du siehst schön aus.«

Nach einer Woche bessert sich das Wetter endlich. Die dunklen Wolken sind abgezogen und der Wind lässt soweit nach, dass wir wieder ans Segeln denken.

Sie hat Recht, aber es ist schon Mitte Juli, und wir sind noch kein einziges Mal mit unserem WAL gesegelt. Und der Wetterbericht sagt für die nächsten Tage schon wieder Starkwind voraus.

Am späten Nachmittag ziehen wir alle unsere Wetterkleidung an, Regenjacke, Latzhose, Gummistiefel. Andreas muss seinen Platz in der Kajüte einnehmen. Auf der Stufe des Niedergangs stehend, das Schiebeluk geöffnet, hat er einen perfekten Rundumblick auf das Geschehen draußen, lässt aber gleichzeitig das Cockpit für Carola und mich zum Hantieren und Steuern frei. Wir sind alle drei fürchterlich aufgeregt. Die nächste Stunde wird darüber entscheiden, wohin unsere Reise geht: auf die Nordsee oder doch lieber wieder nach Hause. Wir werfen die Leinen los und tuckern aus dem Hafen. Kaum haben wir den Schutz der Hafenmole verlassen, beginnt der WAL wild zu schaukeln. Mir wird schlagartig klar, dass an ein Ausprobieren in aller Ruhe nicht zu denken ist. Umdrehen!, ist mein erster Gedanke. Jetzt, da der Boden unter mir heftig tanzt, sieht die eben noch recht freundliche Welt ganz anders aus. Ich spüre, wie Panik in mir hochkommt. Aber ich zwinge mich, ein paarmal langsam und tief durchzuatmen, bevor ich eine Entscheidung treffe.

»Steuer ruhig weiter«, sage ich zu Carola. »Du machst das sehr gut.« Ich kann in diesem Augenblick gar nicht steuern, denn vor Aufregung, Anstrengung und weil ich viel zu warm angezogen bin, ist meine Brille total beschlagen.

»Ja, du hast Recht. Lass uns sehen, dass wir in den Hafen kommen. Für heute reicht’s«

»Probier's weiter«, ruft Carola mir zu. »Ohne Motor kommen wir bei dem Strom nie in den Hafen!«

Als wir an unserem Liegeplatz festgemacht haben, winkt Carola mich sanft lächelnd neben sich an den Niedergang und weist behutsam in die Kajüte. Ich schaue hinein. Da liegt Andreas zusammengerollt auf seiner Koje und schläft tief und fest.