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Rainer Wieczorek

Zweite Stimme

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Rainer Wieczorek

Zweite Stimme

Dittrich Verlag

Mit freundlicher Unterstützung des Darmstädter
Förderkreises Kultur e.V. und der Kulturfreunde
Darmstadt

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Bibliografische Information der Deutschen
Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Schloss-Nauses

Des Vormittags, auf dem Weg zum Friedhof, hatte er sich auf eine Bank setzen müssen, zum ersten Mal, aber jetzt fühlte sich Baumeister wieder bei Kräften und schlug seine übliche Route ein, die ihn durch den Lengfelder Wald nach Ober-Nauses und schließlich zurück nach Otzbach führen würde. Bis Schloss-Nauses war er nie gekommen, immer nur bis Ober-Nauses: ein grundlegendes, alle Lebensbereiche durchziehendes Gefühl für Ränder mahnte ihn bereits beim Anblick von Ober-Nauses zuverlässig und sanft zur Heimkehr.

Dass er jetzt schon von Menschen eingeholt wurde, die mit Spazierstock unterwegs waren!

Wie Baumeister bald in Erfahrung bringen sollte, war es kein gewöhnlicher Spazierstock, sondern ein Produkt der altehrwürdigen Londoner Manufaktur James Smith & Sons, »eine Spezialanfertigung«, zurechtgesägt und -gebogen für die Körpermaße eines Spaziergangswissenschaftlers: so lautete, wie Baumeister ungläubig vernahm, die exakte Berufsbezeichnung des Mannes. Es war also keine Gehhilfe, die dieser da durch die Lüfte schwang, es handelte sich um sein Instrument, das er auch bei spaziergangswissenschaftlichen Vortragsabenden stets in der Hand zu halten pflegte. Der junge Spaziergänger war schnell ins Erzählen gekommen und redete wie einer, der lange geschwiegen hatte. Baumeister bemerkte nicht, dass Ober-Nauses längst hinter den Hügeln verschwunden war, er sah sich kein einziges Mal um, sondern starrte gebannt auf die Schwünge, die der Mann, der sich Skala nannte, mit seinem Londoner Spazierstock vollzog. Da sahen sie schon das »Schloss« von Schloss-Nauses. »Hier wohne ich«, sagte Skala und wies dabei auf die wenigen Häuser am Waldrand.

Der Anlass, sich zu verabschieden, war also gegeben, da er aber noch viel zu erzählen hatte, lud Skala den neugierigen Spaziergänger auf eine Tasse Tee ein, und Baumeister, beileibe kein Teetrinker, zögerte nicht einen Moment – sodass die folgende Geschichte ihren Lauf nehmen konnte.

Dass in Schloss-Nauses kein Schloss stand, auch kein Wasserschloss, wie es ein grünes Schild mit gelber Schrift verkündete, wusste in Otzbach jeder. Ein Fachwerkhaus auf einem erdgeschosshohen Sockel aus Stein, ein Türmchen, ein Pferdestall: mehr war es nicht, was die Menschen hier »Schloss« nannten, im ersten Stock befand sich die Dorfkneipe, zu der eine schiefgetretene Außentreppe aus Sandstein führte.

Auch das Dorfinnere, das sie nach dem Passieren einer Brücke und dem Überqueren der schmalen Landstraße betraten, verdiente diesen Namen nicht, eine einzige Straße Am Sandacker verband die Häuser links und rechts, und auch dieser Name schien frei erfunden, denn eine Ackerfläche war hier, am Waldrand, nicht auszumachen.

»Hier bin ich aufgewachsen«, sagte Skala, und Baumeister versuchte, sich das kleine Kind vorzustellen, platzierte es in Gedanken vor dem Haus Nr. 2, dem Haus Nr. 4, dem Haus Nr. 6. Dann ließ er den kleinen Skala den Sandacker hinunterrennen und wieder hinauf, wieder hinunter und wieder hinauf. Ließ das Kind die Landstraße überqueren, die Brücke passieren, die Sandsteintreppe hinaufsteigen. Und schließlich die Sandsteintreppe wieder hinabsteigen und in den Sandacker einbiegen, bis an die Stelle, an der sie jetzt standen.

»Hier?«, fragte Baumeister.

»Hier«, sagte Skala.

Aus einer Tür trat ein übergewichtiger Junge und grüßte höflich im Vorbeigehen.

Skala war schlank, ein Leichtgewicht. Mit ihm zu raufen, dürfte den anderen Jungen Spaß gemacht haben.

Das Dorf war an einen Hang gebaut worden, sodass fast alle Fenster den Blick auf das Oberhöchster Tal freigaben, einen Blick, der in Kombination mit den erschwinglichen Grundstückspreisen einer abseits gelegenen Ortschaft und der zu erwartenden Ruhe Skalas Eltern bewogen haben mochte, sich in Schloss-Nauses niederzulassen.

Der Bungalow, vor dem sie jetzt stehen blieben, war ganz im Stil der damaligen Zeit gebaut, auffallend aber die kleinen Fliesen, die das Häuschen vor den Zeichnungen des Wetters schützten.

Sie stiegen eine Treppe seitlich des Hauses herunter, die zu einer Wohnungstür mit zwei Klingelknöpfen führte. Oben wohnten offensichtlich Skalas Eltern, auf dem unteren Klingelknopf befand sich nur das Wort Institut.

Er ist bestimmt vierzig Jahre alt, schätzte Baumeister, und wohnt bei seinen Eltern? Vier Jahrzehnte in Schloss-Nauses?

Skala schloss auf; die Eltern schienen nicht da zu sein. An der Wand hing eine Bleistiftzeichnung von Schloss-Nauses, die Skala als Jugendlicher angefertigt hatte. Er sei immer ein guter Zeichner gewesen, erinnerte sich Skala, als Knabe habe er einmal einen kratzigen Pullover gewonnen, beim Zeichenwettbewerb eines Kaufhauses: »Schon damals stimmte etwas mit den Preisen nicht«, lachte Skala und bat Baumeister einzutreten.

Der Raum, in dem Skala lebte, schlief und, wie es schien, arbeitete, maß vielleicht 25 Quadratmeter. Auf einem runden Tisch stand ein Diaprojektor, den Skala rasch in einem Koffer verstaute. »Nehmen Sie Platz, Herr –?«, »Baumeister – oder sagen Sie lieber Wilhelm. Baumeister, das klingt so beruflich«, und kaum hatte er das Du angeboten, fiel ihm ein, dass Skala beruflich spazieren ging, wie immer man sich das vorstellen sollte. »Richard«, entgegnete Skala und gab ihm die Hand.

Einen Stuhl noch, zwei Tassen: »Ich koch uns eine Kanne Tee«, sagte Skala und entschwand ins obere Stockwerk.

Skalas »Wohnung« war aufgeräumt, ohne ordentlich zu wirken. An der Eingangstür stand eine große Kommode mit vielen flachen Schubladen, in denen man großformatige Bilder lagern konnte, Plakate vielleicht. Über der Kommode befand sich eine größere Arbeitsfläche und an den Wänden wurde jede sich bietende Gelegenheit als Lagerfläche genutzt; fotografische Ausrüstungsgegenstände fielen auf. Die hangaufwärts weisende Wand stand voller Bücher: philosophische Schriften, Schelling, Humboldt, Kulturkritik, Hirnforschung. Das Bett war nicht das eines Menschen, der viel schlief.

Vom Stuhl aus hatte man einen wunderbaren Blick auf das Tal, durch das der Oberhöchster Bach floss, und wenn je ein Kind in Schloss-Nauses die Welt lieben lernte, dachte sich Baumeister, dann lernte es sie in diese Richtung blickend lieben, als Ferne, als Verheißung.

Er hörte Skala mit dem Tee die Treppe herunterkommen.

Der kleine, überfüllte Raum drängte einen geradezu ins Freie, es war jedenfalls kein Wunder, dass man hier das Spazierengehen, die Spaziergangswissenschaften, wie Skala es nannte, mit äußerster Leidenschaft betrieb.

Baumeisters Blick richtete sich auf eine Wand, an der eine Menge identischer Holzkisten gestapelt war: jeweils drei Kisten hintereinander und vier nebeneinander. Am Bettrand befand sich ein weiterer Stapel solcher Kisten: Wie Paulas Kaninchensärge sahen sie aus, aber gediegener, massiver, für die Ewigkeit gebaut. »Cloud-walk-kits«, sagte Skala, und als er Baumeisters fragenden Blick sah, stand er auf, räumte die Teetassen beiseite, stellte eine dieser Kisten auf den Tisch und öffnete sie. Ein gläserner Scheidtrichter, wie ihn Baumeister noch aus dem Chemieunterricht kannte, war mit zwei Lederriemen auf ein dafür geformtes Holzgestell geschnallt, eine topografische Karte, ein paar Fotos und ein Formularblatt in englischer Sprache befanden sich in einem eigens für diese Dokumente gezimmerten Abteil der Kiste, und Baumeister begann die Rubriken des Formulars zu übersetzen: Datum, Uhrzeit, Name der Wolke, Ort der Entnahme, Besitzer der Wolke, Uhrzeit der Entnahme, Höhe über Meeresspiegel, Luftdruck, Temperatur, Farbe, Klang, taktile Eigenschaften, relative Luftfeuchtigkeit, Geschmack, Form, Geruch, Geschlecht, dann war Raum für eine größere Eintragung gelassen, in der es galt, die am Ort der Entnahme herrschenden Wetterverhältnisse ausführlich darzustellen; die vorletzte Spalte war den Namen von Zeugen vorbehalten, die letzte der Unterschrift Richard Skalas, darunter kleingedruckt:

INSTITUTE FOR THE STUDY OF NATURAL PHENOMENA
SCHLOSS-NAUSES

»Dann sitzen wir hier mitten im Institut?«

Skala nickte.

»Und du bist der Institutsleiter und einzige Forscher?«

Skala öffnete die Lederbänder und nahm den Glaskolben heraus.

2000 ml stand auf der Flasche. 2000 Milliliter, aber man sah keinen Inhalt. Skala hielt ihm eine Reihe von Fotos hin, die ihn zeigten, wie er, mit weißem Kittel bekleidet, in einer Außenküche auf einem Zweiplattenherd Siegellack zum Schmelzen bringt, die bereits versiegelte Flasche ein zweites Mal dieser Prozedur unterzieht und sie abschließend mit einem Stempel prägt, der eine in einem Quadrat eingeschriebene Wolke zeigt.

Baumeister nickte. Bedächtig entfaltete er die topografische Karte, ein schottisches Exemplar, das unter anderem den bekannten Loch Lomond zeigte. Mit Bleistift war eine Route eingezeichnet, Hinweg, Rückweg; in der Nähe eines hohen Berges war der Entnahmeort angekreuzt und mit einer Wolke versehen. Baumeister nahm das andere Blatt zur Hand und las, was Skala eingetragen hatte. Bei dem Berg handelte es sich augenscheinlich um den Ben Lomond; in 345 Metern Höhe herrschten bei einem Luftdruck von 974 Hektopascal 5,5 °C Außentemperatur bei einer relativen Luftfeuchtigkeit von 91 %. Die Entnahme (»Time of Sampling«) fand zwischen 12.58 p.m. und 12.59 p.m. statt.

»Und was war da entnommen worden?«

Skala sah ihn spöttisch an: Konnte es wirklich so lange dauern, bis bei Baumeister der Groschen fiel? 2 000 ml einer schottischen Wolke waren hier auf Flasche gezogen worden, ein minimaler Eingriff, wie Skala versicherte.

Weiß war die Wolke gewesen, auch orangefarben, mit leichten Grautönen, folgte Baumeister den Eintragungen auf dem Formular, sie roch wie Sommergras, war weiblichen Geschlechts und gehörte – jetzt oder damals? – der Glasgow School of Art.

Wieder reichte Skala Fotos, beide nahmen Platz am Tisch und Skala begann zu erzählen, wie er mit Irene Graham, Christian Günneberg, Peter Mai und George Wyllie zum Ben Lomond aufgestiegen war, zu einem cloud-walk, einem Wolkenspaziergang. Eine zweite Kiste öffnete er, mit einem ebensolchen Arrangement, nur dass es hier auf den Hohen Meißner gegangen war, ein drittes Wolkensegment war am Schweizer Furkapass entnommen worden und Baumeisters Blicke glitten über die vielen Holzkisten, die in diesem Zimmer gestapelt waren: Dieser Richard musste Zeit haben!

Die Zeugen der cloud-walks wechselten – was konstant blieb, waren die Holzkiste, der Scheidtrichter, das meteorologische Gerät, Skala und das Datenformular. Hier, im Institut, lagerten die Ergebnisse von etlichen Tageswanderungen, ein Archiv diver-gierender Luftfeuchtigkeiten, mühsam erworben, wenn auch unsortiert. Es schien Skala nicht zu stören, dass man die Wolke im Scheidtrichter nicht sah: Zu wissen, dass sie sich tatsächlich darin befand, zweifach versiegelt, genügte ihm; durch die Art ihrer Unterbringung in seinem Institut, begann Baumeister zu verstehen, standen sie in Bezug zueinander, »sie korrespondieren miteinander«, sagte Skala, sodass neben dem System der Wolken im Nausischer Tal, am Feldberg und auf dem Ben Lomond hier ein weiteres Wolkensystem entstand, was sich, aus welchem Grund auch immer, dem öffentlichen Blick entzog. »Zur Vollständigkeit sei angemerkt, dass zu einem cloud-walk-kit auch noch der bei der Wanderung benutzte Spazierstock« . . . »der Firma James Smith & Sons« . . . »gehört« . . . »eine Spezialanfertigung«, fielen sie sich gegenseitig ins Wort: Skala lächelte anerkennend und fuhr fort, »den ich aus Platzgründen getrennt von den Wolkenkisten lagere«. Jetzt öffnete Skala die beiden unteren Schubladen einer zweiten Kommode, die bis zum Rand mit Spazierstöcken gefüllt waren, mit zuordnenden Zetteln versehen.

Schließlich öffnete er eine dritte Schublade, die Spazierstöcke ohne Zettel beherbergte, Spazierstöcke, deren Ziel noch unbekannt war. Solch einen nahm Skala nun heraus, prüfte ihn – auf welche Eigenschaft auch immer – und überreichte ihn Baumeister würdevoll: »Veruntreue ihn mir nicht!«, sagte Skala, und bald war es Baumeister, der mit einem Spazierstock der Firma James Smith & Sons durch das Nausischer Tal stakste, zurück nach Otzbach, überlegend, was es an einem Spazierstock zu veruntreuen gab. Ein paarmal schien es ihm, als ob von hinten einer käme, und mehrfach drehte er sich um und lauschte, aber es war wohl eine Täuschung.

Der Glaspalast

Die fränkische Hofreite, die die Baumeisters erworben hatten, als das Kind unterwegs war, stammte aus dem Jahr der Französischen Revolution. Ein offenes Viereck: links, wo heute das Gemüse wächst, befanden sich Stallungen, über denen einst die Knechte eines großbäuerlichen Betriebes wohnten. Wenn man durch das geschwungene Hoftor kam, sah man, geradeaus blickend, eine weitere Stallanlage, den heutigen »Glaspalast«, und rechts – original erhalten – das langgestreckte Wohngebäude, ein Fachwerkhaus, von dem Elektriker und Installateur einstimmig meinten, mehr sei hier bei bestem Willen nicht auszurichten, sonst müsste man ganz von vorne anfangen, und das wollte Baumeister am allerwenigsten.

1913 lebten hier etwa 20 Bewohner, bis in die späten fünfziger Jahre gehörten Schweine, Ziegen, Hühner und eine Kuh zu dem Gehöft; der Gemüse- und der Obstgarten, die bis zum Bach hinunterreichten, wurden intensiv genutzt: Sauerkraut, Eingemachtes und ein begehrter Likör sorgten für Einnahmen.

Dann kamen die Baumeisters nach Otzbach und es begann etwas, das Baumeister später »die guten Jahre« nannte: da waren es also drei Menschen, die die Hofreite bevölkerten, nach dem Tod seiner geliebten Frau nur noch zwei, und als die Tochter zwei Jahre später einen Studienplatz in Kiel bekam, blieb nur noch Baumeister – und der hatte vor der Holzhalle neben dem Eingangstor einen Gartentisch sauber gewischt und kam nun mit Kaffee, Brot, Butter und Marmelade die Stiegen hinunter.

Baumeister hatte alles so gelassen, wie es in den guten Jahren gewesen war. Gegen die Fülle der Obstbäume, gegen die Natur eines Gemüsegartens war, wenn man allein lebte, wenig auszurichten, aber das Wohnhaus so sauber zu halten, wie es früher war, schaffte er noch, das diente dem Andenken und half ihm, sich nicht so einsam zu fühlen. Die Restaurierung des Speichers aber hatte er insgeheim aufgegeben und was mit dem »Glaspalast« geschehen sollte, war – wie sollte er es nennen – offen.

Der Glaspalast hatte einmal etwas Besonderes werden sollen. Die ehemalige Stallung hatte Baumeister mit einer modernen Heizung versehen, einen Betonfußboden hatte er eingezogen und mit einem aufwendigen Scherbendesign aus zerhämmerten Fliesen veredelt. Die Krönung seiner Bemühungen aber war ein hervortretendes Glasportal, wie man es in Otzbach nicht kannte, und das im Dorfkrug bald als »Glaspalast« bespöttelt wurde! – Es war als Refugium für Gäste gedacht; Gäste, die dann ausblieben oder, wenn sie kamen, nicht übernachteten. Als die neue Couchgarnitur geliefert wurde, stellten sie die alte in den Palast, später kam die Tischtennisplatte dazu, und wenn Paula aus Kiel kam, spielten sie gelegentlich eine Partie.

Oft beherrschte ihn das Gefühl, auf diesem Anwesen das Unaufgeräumte vieler Generationen abtragen zu müssen, gelegentlich war es ihm, als müsse er im Dreck ersticken.

Dann aber wieder stand er zufrieden im Schlafzimmer oder er richtete im Bad die Gästehandtücher, bis die Wohnung einem Museum glich, einem Museum der guten Jahre, mit ihm als einzigem Besucher.

Wenn Baumeister gefrühstückt hatte, wurden die beiden Zwergkaninchen gefüttert. Albert stammte noch aus der Zeit, als seine Tochter die Grundschule besuchte, Gisella kam hinzu, als Albert »Witwer« wurde. Baumeister war sich noch unschlüssig, was mit Gisella geschehen sollte, wenn Albert einmal seine Flocken nicht mehr annahm. Kaninchen sterben im Winter, nicht im Sommer, sagte er sich dann und beschloss, im Winter an besonders eisigen Tagen den Kaninchen den leicht temperierten Glaspalast zur Verfügung zu stellen.

Im Grunde konnte auch Skala seine Wolkenkisten hier unterstellen, hier war doch mehr Platz als bei ihm da oben. Dort, an der Stirnseite, könnte er sie stapeln, und wenn noch einige hinzukämen, konnte das auch nicht stören.

Am Abend verschloss Baumeister einen Briefumschlag und beschriftete ihn:

Herrn Richard Skala
c|o Institute for the Study of Natural Phenomena
64853 Otzbach – Schloss-Nauses

Dieses Institut hatte er sich gemerkt.

Zwei Tage später – Baumeister kämpfte unten am Bach gegen die schiere Überzahl von Mirabellen und Pflaumen – fuhr ein Lieferwagen der Firma Buttmi, Bodenbeläge – Innenausbau, durch das Tor der fränkischen Hofreite, und bis Baumeister dem Neuankömmling eine Mirabelle angeboten hatte, war Albert schon gewöhnt an den Geruch des Institutsleiters. Außer Paula und ihren Freundinnen hatte lange niemand mehr nach den Kaninchen gegriffen; Baumeister gefiel sich in der Pose des Gewährens: Er fütterte sie, betrachtete sie, streckte jedoch nie die Hand nach ihnen aus.

Skala dagegen hielt Albert die Mirabelle hin, deckte mit kreisender Bewegung die Hand darüber und sprach: »Ich verwandle dich in eine Karotte!« Albert wurde unruhig und durfte wieder in seinen Stall zurück. Baumeister aber öffnete den Glaspalast und atmete durch, als sich Skala begeistert zeigte von der Heizung, dem Bodenbelag und der ihm zugedachten Stirnseite.

Vielleicht hatte der Glaspalast – wie vieles andere – auf seine Stunde warten müssen, dachte Baumeister am Abend unter dem Eindruck einer Flasche Rotwein, aber jetzt wurde sichtbar, für welch verborgenen Zweck er gestaltet war: Jetzt begann über den Scherben des Fußbodens ein neuartiges Wolkensystem zu entstehen! Davon würde er freilich niemandem in Otzbach erzählen.

Die Platzierung der Wolken

Mirabellen nach Kiel zu schicken, war wohl kein guter Gedanke: erstens weil es in Kiel um diese Jahreszeit genug Steinobst gab, zweitens konnte eine derartige Liebenswürdigkeit verstanden werden als Hinweis auf bevorstehende Semesterferien und den Wohlgeschmack frisch geernteter Früchte . . . Nicht klammern, ermahnte sich Baumeister nachdrücklich.

Um auf andere Gedanken zu kommen, begann er jenes Portal zu reinigen, das ihm so viel Spott eingetragen hatte, stand mit dem Staubsauger auf hoher Leiter und entfernte Spinnweben von der Decke des Glaspalastes, legte Mäusefallen aus.

Wenn er wüsste, dass Paula nicht kommt, würde er die Tischtennisplatte in den Keller oder die Holzhalle räumen. Vielleicht wäre dies ohnehin das Beste: Eine Tischtennisplatte nahm zwar nicht viel Raum ein, aber sie passte nicht zu dem, was Skala da angeliefert hatte. Wo waren überhaupt die Spazierstöcke? – Skala hatte die Spazierstöcke nicht mitgeliefert! »Ein Fall von Veruntreuung?«, fragte er den Institutsleiter in einem Brief, den er noch am Nachmittag aufgab. Zu jedem cloud-walk-kit gehörte der verwendete Spazierstock, das hatte er doch richtig verstanden? Dann war es freilich notwendig, die Anordnung der gestapelten Kisten aufzugeben, da Spazierstöcke nicht stapelbar waren, und mit diesem Gedanken fiel ihm eine Qualität des Glaspalastes auf: Hier konnte Skalas Konzept zum ersten Mal Gestalt annehmen! Das gesamte Verweissystem zweier Schubladen war überflüssig geworden, konnte erst vor der jeweiligen Wolkenkiste der dazugehörige Spazierstock platziert werden.

Und in Gedanken begann Baumeister zu gruppieren, sein Gehirn arbeitete jetzt wie früher in der Setzerei:

Gliederung? – Nach geografischen Aspekten.

Anordnung? – Nach hinten versetztes Terrassen-system, günstig für Spazierstöcke.

Stapelung ab Fußboden? – Kommt für cloud-walk-kits nicht in Frage, sähe wie Handelsware aus.

Tapeziertisch? – Zu trivial.

Die Tischtennisplatte! Schwarzes Tuch drüber und auf die Frontseite große Letraset-Buchstaben, hellgraue Kapitälchen:

Richard Skala. Die Wolken.

Letraset-Buchstaben gab es in Darmstadt, schwarzes Tuch in Reinheim. Auf Skalas Reaktion war er gespannt.

Es dauerte nicht lange, bis Skala mit seinen beiden Spazierstock-Schubladen in Otzbach eintraf, und ihm gefiel vor allem, dass sich Baumeister mit seiner Wissenschaft, der Nubeologie, zu beschäftigen begann: Spaziergangswissenschaftler gab es schließlich einige, wenn auch nur wenige, weitere Nubeologen waren ihm dagegen nicht bekannt. Wenn Baumeister also das Bedürfnis empfand, die cloud-walk-kits ansprechend aufzustellen – nun, dafür waren sie gebaut worden!

Gemeinsam öffneten sie Kiste um Kiste, lasen die beiliegenden Papiere und ordneten den entsprechenden Spazierstock zu, wonach sie die Hinweiskarte vom Spazierstock entfernten. Jetzt durfte nichts mehr durcheinandergehen, sagte sich Baumeister, und bald hatten sie drei offene cloud-walk-kits, die mittlere davon mit entfaltetem Wolkenbericht auf dem schwarzen Tuch platziert, vor ihnen der jeweilige Spazierstock und hinter ihnen Baumeisters Cloud-walk-kit-Terrassensystem.

Nun war es an Baumeister zu einer Tasse Tee zu bitten, ob es auch Kaffee sein dürfte, fragte er Skala, oder vielleicht ein Gläschen von jenem Likör, den die ehemaligen Besitzer der Hofreite in rauhen Mengen hergestellt hatten, sodass sich im Keller immer noch trinkbare Vorräte befanden?

Dann saßen sie auf der Außentreppe, tranken Likör, und Skala erzählte von einer Wolkenwanderung auf den schottischen Aonach Dubh, einen Berg der Three Sisters in Glencoe. »I’d like to fuck you in the face!«, hatte Zoe Squair, die einzige Zeugin, geschrien, als sie vom Sturm, der auf diesem Berg wütete, umgeworfen worden war und Skala ihr wieder auf die Beine half. Aber dann hatte sie doch – nicht ohne Schwierigkeiten – das Foto gemacht, auf das es dem Nubeologen ankam, und das ihn auf den Knien zeigt, um, ohne dem Wind viel Angriffsfläche zu bieten, jene Wolke einzusaugen, deren taktile Qualität er im betreffenden Formular als »horrifying« klassifiziert. Es war die einzige Wolke, die Skala kniend auf Flasche gezogen hat; das Unwetter, das am 12.12.1997 um die Three Sisters tobte, war nicht von schlechten Eltern, wie Skala mehrfach versicherte. Am Ende waren Zoe Squair und er wohlbehalten unten angekommen, die Bergwacht wusste von anderen Fällen zu berichten.

2 °C waren es bei der Wolkenentnahme gewesen. Wer steigt auch Mitte Dezember mit einem Spazierstock auf solche Berge! Baumeister stand vor der schwarzverhängten Tischtennisplatte und studierte das Formular dieses cloud-walks. Es war dunkel geworden, und der Nubeologe war längst gegangen. Wenn man dies las, konnte man Skala für einen Verrückten halten, aber Skala war so wenig verrückt, wie er ein Wissenschaftler war, das sah Baumeister genau.

Mit der Beleuchtung musste etwas geschehen.

Etwas Fremdes

Skalas Wolkenspaziergänge waren als Lebenswerk konzipiert; das bedeutete, Baumeister würde Platz für weitere verhängte Tischtennisplatten mit Wolkenkisten lassen müssen und würde die Beleuchtung so auszulegen haben, dass sie im Ernstfall jeden Winkel des Glaspalastes angemessen fokussieren konnte, ein Gedanke, der an Gewicht gewann, als Baumeister einen Brief erhielt, auf dessen Umschlag statt einer Absenderangabe eine Wolke, in der ein Spazierstock steckte, aufgemalt war: Skala bedankte sich ein weiteres Mal für die Aufnahme seiner Arbeiten und fügte hinzu, dass er zwei composites, die man sich von Größe und Gestalt wie Westermann-Schullandkarten vorstellen könne, und – dazugehörig – 112 prints in der Art von Passfotos, ursprünglich für zwei Vitrinen vorgesehen und nun provisorischerweise in zwei Pappkartons aufbewahrt, Baumeister als Dauerleihgabe zur Verfügung stellen könnte.

Dauerleihgabe, las Baumeister langsam, das klang nach Museum, nach Kunst, und bald hatte Baumeister einem Otzbacher Heimatverein zwei Vitrinen abgehandelt, die Metallfüße in der Farbe der Kapitälchen hellgrau gestrichen und die Scheiben so blank poliert wie das Portal des Glaspalastes.

»Verschließbar!«, hob Baumeister hervor, als er Skala die kleinen Schlüssel entgegenhielt. Schnell hatte Skala beide Kartenständer bestückt und zu voller Höhe ausgefahren.

In Größe einer Dia-Leinwand war auf jedem der beiden composites ein Gesicht zu sehen, schwer zu sagen, ob es sich hier um einen Mann oder eine Frau handelte . . . eher weiblich, dachte Baumeister und dachte dabei an die Stelle im Formular der cloud-walk-kits, bei der es um das Geschlecht der Wolke ging. Nase, Mund und Augen der beiden Portraits waren genau zu erkennen, die Konturen des Kopfes aber blieben wolkenartig unscharf, nie hatte Baumeister derartige Aufnahmen gesehen.

Skala ließ Baumeister die Bilder lange betrachten, dann gab er den Titel des Werkes preis: Der typische Einwohner von Schloss-Nauses, 1992, Skala wies auf das linke Bild, »und im Jahr 2000«.

Baumeister nickte nachdenklich, aber verstanden hatte er nicht, was diese beiden Gesichter mit Schloss-Nauses zu tun hatten, als Skala ihn zu den Pappkartons bat.

Skala schob auf der ehemaligen Tischtennisplatte einen der cloud-walk-kits aus Platzgründen zur Seite. »Vorsicht, Alarmanlage!«, rief Baumeister erregt, es sollte wie ein Witz klingen. Unbeirrt breitete Skala den Inhalt des ersten Kartons auf der Tischplatte aus und es war, als ob er Patiencen legte: 56 Aufnahmen aus dem Jahre 1992. Sein Vater war zu sehen, die Mutter, der dicke Junge, der so höflich gegrüßt hatte, eine Reihe offensichtlicher Saufnasen: Skala hatte alle Einwohner übereinander auf einem Negativ belichtet, jeden Einwohner mit dem Hocker sorgfältig auf Augenhöhe ausgerichtet, die Nase an einer Vertikal achse orientiert und so seinen »typischen Einwohner« gewonnen. Es muss eine tagelange Geduldsprobe gewesen sein, diese passgenauen Aufnahmen zu gewinnen, denn jeder Fehler hätte das Gesamtbild beeinträchtigt.

Der zweite Karton enthielt Aufnahmen, die acht Jahre später entstanden waren. Die älteste Einwohnerin von Schloss-Nauses, die mit einem Machtwort, das noch nach Jahren wirkte, dafür gesorgt hatte, dass sich alle Nausischer fotografieren ließen, war mittlerweile gestorben. Dass es weiterhin 56 Bilder blieben, verdankte sich einem Neuankömmling, der von seiner Mutter in die Kamera gehalten werden musste.

Den Bildern entstieg etwas Fremdes, das die Nausischer ängstlich zu vermeiden suchten, was sie am allerwenigsten sein wollten: fremd.

Diese Nausischer Fremdheit breitete sich nun im Glaspalast aus, vagabundierte ziellos zwischen dem Furkapass und dem Aonach Dubh, als wüsste sie nicht wohin, und Baumeister spürte, dass es jene Fremdheit war, die Skala aus seiner Kindheit kannte, eine Fremdheit, die er körperlich wahrnahm und deren Anblick er auf diesen beiden Wandkarten zum ersten Mal anderen gestattete.

Skala berichtete, dass die Aufnahmen bereits in einer Ausstellung der Londoner Hayward Gallery im Jahr 2000 zu sehen gewesen waren, und Baumeister bemerkte, dass die Bilder viel besser zu London passten als an den Oberhöchster Bach, wie auch er, Baumeister, im Grunde nicht nach Otzbach gehöre: auf die Hofreite schon, nach Otzbach nicht.

Den Eisenkonstruktionen der großen Setzmaschinen habe er sich zugehörig gefühlt, der Monotype zuerst, dann stärker noch der Linotype: Wenn das Arbeitslicht des Manuskripthalters auf die zu setzenden Texte fiel, sei er sich gelegentlich vorgekommen wie ein Orchestermusiker vor seinem Notenpult und niemals hätte er etwas anderes sein wollen als Buchgestalter. Aber schon mit dieser Entschiedenheit sei er aus der Reihe gefallen; die für die ordentliche Ausführung einer Arbeit notwendige Zeit sei ihm Mal um Mal nicht zugestanden worden, das frühe Ergebnis galt mehr als das gute; er aber hätte sich stets dem einzelnen Werk verpflichtet gefühlt, ein Zug, den er in diesen Tagen an sich wiederentdecke und der ihn jetzt mit jähem Glück erfülle. Ein Durchschnittsmensch sei er also nicht geworden, ohne dass er nach etwas Besserem getrachtet hätte.

Es habe Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, gebraucht, bis er erkannt habe, dass nahezu jeder Gestaltungswille mit gesellschaftlichen Ausgrenzungsversuchen beantwortet werde, man solle sich nur die Reaktionen mancher Otzbacher auf das Glasportal vor Augen halten.

Lediglich in seiner Familie hätten andere Gesetze geherrscht, man dürfe sich auf der Hofreite ruhig umsehen, sie trüge ganz und gar die gestalterische Handschrift seiner Frau. Er dürfe gar nicht daran denken, wie es hier anfangs ausgesehen habe; deswegen könne er auch jetzt nicht einfach verkaufen und einen kleineren Garten pflegen. Das, was er und seine Frau der Gesellschaft gegenübergestellt hätten, seien die tragfähigen Teile ihres Lebens geworden, und in diesem Bewusstsein öffne er Skala jetzt die Pforten des Glaspalastes.

Die Minolta, die Linotype

Einmal, beim Spazierengehen, erzählte Skala von seinen Apparaturen, von der Mittelformatkamera, mit der er die Aufnahmen in den beiden Vitrinen erstellt hatte, von Scheinwerfern und Dunkelkammer. Was Baumeister am meisten interessierte, war das Phantombildgerät, mit dem in den siebziger und achtziger Jahren die Fahndungsbilder der Polizei erstellt wurden, und das sich nun in Skalas Besitz befand. Das Gerät war in den fünfziger und sechziger Jahren von der japanischen Firma Minolta entwickelt und hergestellt worden; es sollte Rekonstruktionen der Gesichter von Hiroshima-Opfern liefern für Zwecke der plastischen Chirurgie. In Deutschland diente es vorwiegend zur Fahndung nach Mitgliedern der RAF. »Aus Teilen von vier passbildgroßen Aufnahmen formt dir das Gerät mit der Hilfe von Spiegeln ein Bild. – Die Nähe zu meiner Arbeitsweise lag auf der Hand.« Skala schwang amüsiert seinen Spazier-stock, als er erzählte, wie er in verschiedenen Landeskriminalämtern an dem Gerät zu arbeiten begann, wie er beispielsweise Insekten- und Menschengesichter kreuzte, immer beäugt von Landeskriminalbeamten. Anfangs durfte er die Phantombildkamera nicht einmal berühren, er musste dem jeweils zuständigen Beamten sagen, was zu tun, was zu lassen sei. Später war nicht mehr zu unterscheiden, was die Kriminalisten stärker interessierte: die Auslotung der schöpferischen Grenzen des Gerätes oder Skalas philosophische Fragestellungen. Nach einiger Zeit aber schienen sie seiner müde geworden zu sein, es kam ein Tag, an dem das BKA beschloss, Skala eine Phantombildkamera zu schenken, erstens, weil sie kaum noch eingesetzt wurde, zweitens aber, weil ein Landeskriminalamt kein Fotolabor war.

Skala schmunzelte, als er mit der Minolta im Kofferraum in die einzige Straße von Schloss-Nauses einbog, um wenig später aus seinem Passfoto und den Passbildern seiner Eltern das Bild einer Durchschnittsfamilie von Schloss-Nauses zu komponieren! Mutter schüttelte den Kopf, Vater lachte, dann holte er sich ein Weizenbier.

Außer dem Geräusch der Maschinen habe man den ganzen Tag nichts gehört, geredet wurde wenig. Anders sei es im Handsatz gewesen. Auf der Linotype hätte ja nur der Textkörper hergestellt werden können, Titelblatt, Impressum verlangten weiterhin Handsatz. Er habe sich in jungen Jahren vom Hand- zum Maschinensetzer umschulen lassen, Fachrichtung Buchsatz, sei über die Jahre zum Spezialisten für anspruchsvolle Aufgaben herangereift, habe Bücher noch mit Blei gesetzt, als längst schon der Fotosatz Einzug in die Betriebe gehalten habe.

Die letzte Linotype, an der er gearbeitet habe, wäre von seiner Firma in den frühen siebziger Jahren angeschafft worden, und sei heute im Industriemuseum zu besichtigen, ein Ausstellungsstück.

Ein Werkraum, ein Betätigungsfeld

Das Erholsame an der Hofreite war die Stille, die Baumeister nach einer Arbeitswoche im Maschinensaal wahrhaft zu würdigen gewusst hatte, und die sich nun mit der Stille von Schloss-Nauses so produktiv verband.

Einmal, es war Herbst, hatte er Roswitha die Anschaffung einer Häckselmaschine vorgeschlagen; Roswitha hatte ihn angeschaut, als handele es sich bei ihm um eine Fälschung.

In diese Gedanken verstrickt pflückte Baumeister reife Tomaten vom Strauch. Er fühlte sich Roswitha so nahe. Der Tod, dachte er, das ist die Fälschung.

Wenn Roswitha im Garten arbeiten konnte, ging es ihr gut. Im November, wenn alle Arbeit getan war, zog sie sich erschöpft ins Haus zurück, aber schon im Februar erzählte sie bei jedem Frühstück genüsslich, was bald alles zu tun sein werde.

Immer wieder kamen sie zu dem Ergebnis, dass die Hofreite für zwei Leute im Grunde zu groß sei, aber dann genossen sie doch den üppigen Platz, den das Grundstück bot. Hier konnte man leben, ein Gefühl, das sich noch verstärkte, als Paula auf die Welt kam.

Baumeister war stolz darauf, es als Arbeiter zu etwas gebracht zu haben, auch wenn er im Stillen wusste, dass Roswithas Anteil beim Hoferwerb der entscheidende gewesen war.

Ein Lieferwagen bog durch das Hoftor. »Den kennen wir doch!«, freute sich Baumeister, als Skala die Wagentür öffnete.

Skala wollte sich bedanken – »aber du hast dich doch schon tausendmal bedankt« –, er wolle sich heute mit einem Geschenk bedanken, nicht mit einer Dauerleihgabe, »die Phantombildkamera, dachte ich, solle dir gehören, sie solle ab jetzt deinen Glaspalast schmücken.« »Aber du brauchst sie doch!« »Wenn ich sie je brauchte, wäre ich sicher, sie von dir geborgt zu bekommen.«

Skala bat sodann um den Schlüssel für das Glasportal, er wolle die Kamera gleich an den richtigen Platz stellen, Baumeister möge sich überraschen lassen und erst kommen, wenn er gerufen werde.

Während Skala den Lieferwagen leerte, es schien sich keineswegs nur um eine Kamera zu handeln, schlich Baumeister zum Kaninchenstall, ließ Albert und Gisella an seiner Hand schnüffeln. Er sei jetzt Besitzer einer Phantombildkamera und könne aus ihnen leicht ein Durchschnittskaninchen formen. Es schien sie nicht zu beeindrucken.

Später saß Baumeister auf der Außentreppe und versuchte sich das typische Gesicht jener Familie vorzustellen, die einst auf einer fränkischen Hofreite im hessischen Otzbach gewohnt hatte, und wurde dabei traurig. Lange schaute er in den Himmel, bis er meinte, das Telefon gehört zu haben.

Skala richtete indes im Glaspalast ein kleines Aufnahmestudio ein: Die Kamera, mit der er die Einwohner von Schloss-Nauses zweimal abgelichtet hatte, montierte er auf ein Stativ und richtete sie auf einen Drehstuhl, auf dem er die Phantombildkamera platzierte. Links und rechts davon positionierte er Scheinwerfer, Abblendschirme und stellte eine Kulisse in den Hintergrund. Sorgfältig richtete er das Ensemble aus, wie es die Gruppe von Wolkenkisten, Glasvitrinen und die großen composites forderten. Mit dem Licht musste man noch etwas machen, aber die aufgespannten Schirme, der Stuhl, die Scheinwerferbatterie verströmten jetzt Arbeitsatmosphäre, und das war es doch wohl, was Baumeister suchte: einen Werkraum, ein Betätigungsfeld. Ein Mann, der es gewohnt gewesen war, morgens zur Arbeit zu fahren und abends zurückzukommen, sommers wie winters, Jahr für Jahr, und der jetzt Mirabellen und Tomaten erntete, für die es – streng genommen – keine Abnehmer gab, der brauchte etwas, das nach Arbeit roch. Skala rieb sich zufrieden die Hände, als die Tür des Glaspalastes aufging: »Paula kommt«, sagte Baumeister, ohne auch nur zu registrieren, was Skala hier arrangiert hatte, »meine Tochter!«

Eine Mondnacht

Es war schon später Abend, aber der Lieferwagen der Firma Buttmi stand noch immer vor dem Glaspalast. Unten am Bach hielten Skala und Baumeister ihre Füße ins Wasser, einig in der Überzeugung, dass mit dem sommerlich-nächtlichen Odenwald weder Kiel noch London konkurrieren konnten.

Die Serie jener cloud-walk-kits, die sich im Glaspalast befand, war für Skala abgeschlossen. Mit der Zeit hätten sich Akzente verschoben, das Narrative trete stärker hervor; auch sei er in einem Alter, das eine Einbettung seines Werkes in einen größeren Zusammenhang nahelege, weswegen er eine neue Serie beginnen wolle. Die dunkelblaue Samtfütterung der cloud-walk-kits werde nun durch eine auberginefarbene ersetzt, was auch praktische Gründe habe: Der Filz unter dem dunkelblauen Samt bilde zwar ein Polster, was bei der Aufbewahrung eines gläsernen Scheidtrichters von Vorteil sei, stoße mit der Zeit aber Schwefel ab, was ihn für archivarische Zwecke ungeeignet mache. Baumeister horchte auf: Dieser Skala dachte mit. Den Filz, fuhr der Künstler fort, werde er zukünftig durch einen neutraleren Stoff ersetzen. Die erste auberginefarben ausgeschlagene Schatulle werde er in wenigen Tagen am Reichenbach füllen, er meine damit nicht jenes Odenwälder Gewässer, sondern einen Gebirgsbach im Berner Oberland, der an einer Stelle einhundert Meter tief eine Schlucht hinunterstürzt, mit einer Wucht, die einen ebenso hohen Wassernebel die Wand hochsteigen lässt. William Turner habe fasziniert von dem Spiel aus Licht, Wasser und Undurchdringlichem die Szenerie in zwei berühmten Aquarellen festgehalten, was wohl dazu beitrug, dass sich ein Teil seiner Landsleute im Lauf der kommenden Jahrzehnte für die Reichenbachfälle zu interessieren begann.

Die britischen Touristen nächtigen in Meiringen, im Englischen Hof, den ein Schweizer Hotelier bauen ließ, der unweit von Victoria Station das Handwerk erlernt hatte, britische Le bensgewohnheiten zu bedienen, und einer seiner Gäste wird Sherlock Holmes sein, der hier seine letzte Nacht verbringen wird, folgt man der Erzählung Conan Doyles.

»Sherlock Holmes«, sagte Baumeister leise. »Ein englischer Privatdetektiv, mit diesem eifrigen Assistenten, nicht wahr?« – »Dr. Watson«, soufflierte Skala. – »Möglich, dass ich mal eine dieser Storys gesetzt habe. Ich war zu oft mit den Buchstaben zugange gewesen und zu selten mit den Geschichten: sperren oder kursiv, Caslon oder Plantin? Meistens war es ein Rennen gegen die Uhr und oft fehlte Zeit, sich ausreichend in den Text zu vertiefen.«

»Sherlock Holmes war Doyles großer Erfolg, und manchmal werden Erfolge zum Gefängnis. Jetzt musste er schreiben«, sagte Skala. »Nach 14 Folgen aber hat Doyle genug und entschließt sich, seinem Helden ein würdiges Ende zu bereiten. Er mag nicht mehr, schiebt alle merkantilen Erwägungen beiseite und lässt seinen altgedienten Meister auf einen ebenbürtigen Gegner treffen, Professor Moriarty. Beim gemeinsamen Aufstieg zum Reichenbachfall wird Dr. Watson mit einer Finte von Holmes’ Seite gerissen, auf den Weg zurückeilend findet er nur noch Holmes’ Spazierstock sowie ein Brillenetui mit Abschiedsbrief. The Final Problem heißt die Episode. – Du musst in London nur die Worte Professor Moriarty sagen, und schon erzählen dir wildfremde Menschen von den Reichenbachfällen«, und obwohl Baumeister die beiden Worte nicht ausgesprochen hatte, erzählte ihm Skala detailliert die Strategien Holmes’ einerseits, Moriartys andrerseits, und Baumeister freute sich an Skalas Begeisterung, vielleicht war das der lebendigste Zug an Skala, dass er sich für so vieles, was außerhalb von ihm lag, interessierte, und wahrscheinlich musste man sein Leben auf Schloss-Nauses verbracht haben, um so intensiv auf eine Detektivgeschichte reagieren zu können oder – wenn das zu trivial klang – auf zwei Turner-Aquarelle, und im Geiste sah er Skala, wie er dicht vor dem Abgrund jenes Wasserfalls, umringt von einer dichten Wolke, den Scheidtrichter ansetzt.

»Wer kommt mit dir?«, fragte Baumeister.

»Ich gehe allein da hoch.«

»Warum das denn?«

»Weil Holmes, nachdem Watson nach unten gelockt worden war, auch allein war, und ich werde meinen Stock exakt an jener Stelle abstellen, wo er es tat.«

»Und wer macht die Aufnahmen, wenn du keine Zeugen mitnimmst?«

»Der Selbstauslöser«, sagte Skala und klopfte sich dreimal an die Brust.

Der Selbstauslöser, sann Baumeister den Worten seines neuen Freundes nach, während Skalas Ausführungen bereits einem gewissen Neville MaskelyneThree Sisters