Copyright: © der deutschen Ausgabe: Junfermann Verlag GmbH, Paderborn 2013

Copyright: © der Originalausgabe: 2011 PuddleDancer Press

Übersetzung: Ursula Pesch

Fachliche Begleitung der Übersetzung: Jürgen Engel

Coverbild: © Andrii Muzyka – Fotolia.com

Covergestaltung / Reihenentwurf: Christian Tschepp

Translated from the book The Empathy Factor, ISBN 13/10: 9781892005250 / 1892005255 by Marie R. Miyashiro,
Copyright © Fall 2011 PuddleDancer Press, published by PuddleDancer Press.
All rights reserved. Used with permission. For further information about Nonviolent Communication (TM)
please visit the Center for Nonviolent Communication on the Web at: www.cnvc.org

Alle Rechte vorbehalten.

Satz & Digitalisierung: JUNFERMANN Druck & Service, Paderborn

ISBN der Printausgabe 978-3-87387-888-4
ISBN dieses eBooks: 978-3-87387-936-2

Widmung

Für meine Eltern, Chico und Frances, die vom Tag meiner Geburt an mein Bedürfnis nach Liebe und Stabilität erfüllten.

Für meine Schwester Laura, die mich stets unterstützt und ermutigt hat, und meinen Schwager Bob, eine beständige Quelle der Weisheit und des Humors.

Für meine Großmutter Kame, die mich lehrte, in beiden Welten der Wahrheit zu leben – der Welt des Sichtbaren und des Unsichtbaren.

Für Beverly, die mir half, authentischer, verletzlicher und stärker zu werden.

Für meinen Sohn Alex, der mir zeigte, was Familie, Liebe und Spaß bedeuten.

Für meine Klienten, die mich alles lehrten.

Danksagung zur deutschen Ausgabe

Die Zeit ist reif für die Erkenntnis, dass Streben nach Gewinn, Produktivität und die Belange von Menschen sich auf eine Weise verbinden lassen, die zu mehr Zusammenarbeit führt, dem Leben dienlich ist und Arbeitsplätze so gestaltet, dass alle Bedürfnisse gleich viel gelten. Ich bin begeistert, dass mein Buch Der Faktor Empathie nun in deutscher Übersetzung vorliegt, und ich hoffe, dass seine auf den folgenden Seiten dargelegten Inhalte aufgrund dieser Übersetzung noch mehr Teams und Unternehmen von Nutzen sein werden.

Besonders dankbar bin ich dem GFK-Trainer Jürgen Engel, dem Gründer des in Frankfurt beheimateten Instituts Engeltraining. Schon bei Erscheinen der Originalausgabe hat er Kontakt zu mir aufgenommen. Als er mir erzählte, dass er Menschen im Businesskontext mein Buch empfohlen habe und dass sie aus der Umsetzung der dargelegten Ideen Nutzen gezogen hätten, fühlte ich mich darin bestätigt, dass diese Ideen universell gültig sind und überall an Arbeitsplätzen umgesetzt werden können. Diese deutsche Übersetzung ist nur eine von vielen Übersetzungen weltweit, die gerade im Entstehen begriffen sind.

Ich danke auch meinem Kollegen Gregg Kendrick, einem zertifizierten GFK-Trainer aus den USA, der bereits seit vielen Jahren im Rahmen seiner „Creating Workplaces Where People Thrive“-Seminare meine Konzepte in Deutschland verbreitet. Gregg und ich arbeiten zusammen, um Integrated Clarity® – eine Anwendung, die ich entwickelt habe, damit die Bedürfnisse einzelner Mitarbeiter und Teams am Arbeitsplatz besser erfüllt werden – in die Unternehmen zu bringen.

Ich danke auch allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Junfermann Verlages, die dazu beigetragen haben, diese Übersetzung auf den Weg zu bringen und zu verbreiten. Ursula Pesch danke ich für die Übersetzung ins Deutsche und Jürgen Engel dafür, dass er den deutschen Text daraufhin durchgesehen hat, dass er kongruent mit den Prinzipien der Gewaltfreien Kommunikation ist.

Danken möchte ich auch Iris Bawidamann und Jürgen Engel, die freundschaftlich-unterstützend meine Reise im April / Mai 2013 nach Deutschland organisiert haben.

Es ist mein aufrichtiger Wunsch, dass die im Buch präsentierten Ideen und Tools dazu beitragen mögen, dass es an vielen Arbeitsplätzen in Deutschland bei Mitarbeitern und Führungskräften zu einer Leistungssteigerung kommt, aber auch, dass viele Menschen persönlich mehr aus ihrer Arbeit ziehen werden.

Marie R. Miyashiro

November 2012

Vorwort

Von Jerry Colonna

Im Lauf der Jahre ist mir immer deutlicher geworden, welches Potenzial es gibt, eine größere Produktivität am Arbeitsplatz zu erreichen und durch Arbeit einen tieferen Lebenssinn zu erfahren. Ich begann, die Geschäftswelt genauer zu studieren, zunächst als Journalist, der darüber berichtete, wie neue und etablierte Firmen zu kämpfen hatten. Später half ich als Risikogeldgeber beim Aufbau erfolgreicher neuer Unternehmen, rief zwei angesehene Firmen ins Leben und schloss mich schließlich JP Morgan Partners, einer Private-Equity-Gesellschaft der Gruppe JP Morgan Chase an. Ich gehörte deshalb mehr als hundert Boards of Directors an und arbeitete sowohl für gewinnorientierte als auch für gemeinnützige Organisationen. Ich habe miterlebt, wie Unternehmen aus der Taufe gehoben und zu großen Erfolgsgeschichten wurden, aber auch, wie große Unternehmen ins Straucheln gerieten und Chancen verpassten. Ich habe beobachtet, wie sich kleine gemeinnützige Organisationen –manche erfolgreich, andere nicht – durch ihre Reifungsprozesse kämpften. Jede dieser Organisationen und auch jeder der beteiligten Menschen hätten in ihrem Ringen und Bestreben, etwas von dauerhaftem Wert zu schaffen, von dem profitieren können, was in Der Faktor Empathie: Ihr Wettbewerbsvorteil für den individuellen, den Team- und den Organisationserfolg dargelegt wird.

Seit einiger Zeit biete ich Coachings für Teams und Einzelklienten an. Wenn meine Klienten das erfahren, was Miyashiro eine „emphatische Verbindung herstellen“ nennt, erlebe ich hautnah die transformative Kraft der Empathie. Dieses Buch plädiert dafür, die zweidimensionale Kultur des Denkens und Handelns, die in unserer Arbeitswelt vorherrscht, durch die dreidimensionale Kultur des Verbindens, Denkens und Handelns zu ersetzen und an erster Stelle in unserem Menschsein miteinander in Beziehung zu treten, bevor wir an die Arbeit gehen.

Dieses innovative Buch macht auf etwas aufmerksam, das Gegenstand von Untersuchungen ist: Praktizierte Empathie ist ein wichtiger Wettbewerbsvorteil. Vor allem aber legt es ausführlich eine bewährte und nachvollziehbare Methode dar, Empathie als Technik für den Arbeitsalltag zu entwickeln und zu praktizieren. Der methodische Hintergrund, die Gewaltfreie Kommunikation (GFK), hat eine der größten Empathie praktizierenden Gemeinschaften der Welt entstehen lassen. Diesem weitgehend interpersonalen Modell fügt Miyashiro einen Bezugsrahmen für Teams und Organisationen hinzu, den sie Integrated Clarity® nennt, weil er es Einzelnen, Teams und größeren Unternehmen ermöglicht, stärker als ein geschlossenes Ganzes zusammenzuarbeiten.

Sie schreibt:

Unsere Arbeitswelt ist zweidimensional, denn der Prozess der empathischen Verbindung erfordert, dass wir über zwei menschliche Qualitäten verfügen, die in der Welt, die uns umgibt, systematisch abgewertet und missverstanden werden. Unsere Unternehmen sind Kinder desselben Geistes und übertragen einfach diesen Zustand der Welt auf den Arbeitsplatz. Die beiden missverstandenen Qualitäten sind: 1) unsere Fähigkeit, uns problemlos unserer Gefühle bewusst zu sein, ohne sie zu bewerten, und 2) unsere Fähigkeit, diese Gefühle dann mit den entsprechenden menschlichen Bedürfnissen in Verbindung zu bringen, die entweder erfüllt werden oder unerfüllt bleiben.

Miyashiro liefert zwingende Gründe für eine tiefere Kenntnis und eine vielfältigere Nutzung der wichtigsten GFK-Techniken – nicht nur in Situationen, in denen die Gewalttätigkeit unserer Interaktionen offensichtlich ist, sondern auch an Orten, an denen wir nicht unbedingt wahrnehmen, dass Gewalt mit im Spiel ist.

Der Faktor Empathie ist ein Aufruf dazu, dieser subtilen, anhaltenden und entsetzlichen Gewalt, die wir unserem Selbst Tag für Tag im Namen des Profits und der Produktivität antun, ein Ende zu setzen. Das Buch ruft jedoch nicht nur zum Handeln auf, sondern liefert Beweise dafür, dass die Entwicklung eines mitfühlenderen, empathischeren Arbeitsumfeldes – ironischerweise – der Weg zu größerer Produktivität und damit auch zu höheren Gewinnen ist.

In seinem Kern ist Der Faktor Empathie nämlich in jeder Hinsicht ein Businessbuch. Und nicht nur das: Es macht Spaß, dieses Buch zu lesen. Auf den ersten Blick mag es nicht gelehrt genug erscheinen, was aber nicht stimmt. Es ist leicht lesbar und bietet Beispiele aus der realen Welt. Das Buch basiert auf Miyashiros mehr als 28-jähriger Erfahrung als Beraterin einer Vielzahl von gewinnorientierten und gemeinnützigen Organisationen und auf ihrer umfassenden Forschung und Analyse.

Ich fühle mich geehrt, dieses Vorwort schreiben zu dürfen. Die im Buch vorgestellten Konzepte sind brillant und die oberste Prämisse – dass Empathie die Produktivität und Zusammenarbeit im Arbeitsalltag entscheidend fördert – ist überzeugend. Ich bin vor allem begeistert, die Konzepte tagtäglich in der Arbeit mit meinen Klienten in die Praxis umsetzen zu können.

Miyashiro zeigt, wie die Manager von heute Organisationen aufbauen können – mithilfe der Empathie als Hauptantriebsmotor ihres Erfolgs. Die Leser dieses Buches werden nicht nur erfahren, welche Kraft in dem Konzept Verbinden-Denken-Handeln steckt, sondern auch das noch mächtigere Konzept Verbinden-Denken-Führen verstehen.

 

Jerry Colonna hat zusammen mit Fred Wilson Flatiron Partners gegründet, das zu einem der erfolgreichsten Investmentprogramme in den USA wurde. Er wurde auch Partner von JP Morgan Partners, der Private-Equity-Gesellschaft von JP Morgan Chase, und ist heute Direktor, Treuhänder oder Berater einer Reihe von gewinnorientierten und gemeinnützigen Organisationen. Das Upside Magazine setzte ihn auf die Liste der 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der New Economy, Forbes ASAP auf die Liste der besten Venture-Capitalists des Landes und das Worth Magazine auf die der 25 großzügigsten jungen Amerikaner.

1. Die dritte Dimension und Integrated Clarity®

„Gier ist out. Empathie ist in.“

Frans de Waal, Das Prinzip Empathie.
Was wir von der Natur für eine bessere Gesellschaft lernen können

Die Menschheit entwickelt sich immer weiter, und auch wir müssen ständig unsere Sichtweise erweitern – von uns selbst und von der Welt. Das führt zu enormen Veränderungen in unserer Arbeitswelt und den sozialen Beziehungen am Arbeitsplatz. Doch es fällt uns oft schwer, die jeweils nächste Dimension unserer Entwicklung zu verstehen.

In diesem Buch wird aufgezeigt, wie das Prinzip Empathie am Arbeitsplatz eingeführt und dadurch mehr Harmonie, Produktivität und Erfolg für Einzelne und Organisationen erzielt werden kann. Als ich im Herbst 2004 im Rahmen der Einführungsveranstaltung des College of Fine Arts der University of Arizona dieses neue Paradigma vorstellte, erzählte ich die folgende Geschichte über „Flächenland und Raumland“. Mein Vortrag bildete den Auftakt zu einem auf 13 Monate angelegten Projekt im Bereich strategische Planung und Dialog, das ich mit der Leitung und dem Lehrkörper des Colleges durchführen sollte. Die Beteiligten lernten schon bald eine neue Dimension kennen: eben die Dimension, mit der auch Sie – genauso andere Manager, Angestellte und Unternehmer – Erfahrung sammeln werden, wenn Sie umsetzen, was Sie in diesem Buch lesen.

Auf dem Weg von Flächenland nach Raumland

Am Tag vor der Eröffnungsveranstaltung fragte mich der Dekan Maurice Sevigny, worum es in meinem Vortrag gehen werde. Er las stets die neueste Literatur im Bereich Management und Organisationsentwicklung, weil das ökonomische Umfeld es immer schwieriger machte, Mittel zur Finanzierung einer Kunsthochschule aufzutreiben. Ich denke, meine Antwort überraschte ihn.

Ich fragte ihn, ob er ein Buch namens Flächenland1 kenne.

„Nein“, antwortete er, „das habe ich nicht gelesen. Wann ist es denn erschienen?“

„1884“, sagte ich.

„1884!“ Der Dekan lachte, aber ihm war deutlich anzusehen, dass er gern mehr wissen wollte. Und so erklärte ich ihm kurz mein Vorhaben.

Am nächsten Tag eröffnete ich meinen Vortrag mit der Geschichte von Flächenland, einem Märchen des Engländers Edwin Abbot. Es erzählt von einer zweidimensionalen Welt, deren Bewohner nur Länge und Breite wahrnehmen können. Sie heißen Flächenländer. Die Hauptfigur ist ein Rechtwinkliger, der mit einer Geraden verheiratet ist und vier fünfeckige Söhne sowie zwei Enkel hat, die beide Sechsecke sind.

In einer dunklen Nacht bekommt der Rechtwinklige Besuch von einer Kugel, und die ist dreidimensional. Aber die Flächenländer können weder die Tiefe noch die Gesamtheit eines dreidimensionalen, kugelförmigen Objekts erkennen, wenn es ihre Welt durchquert.

Der Kugelförmige erklärt, dass er aus Raumland komme, „aus dem Land der Drei Dimensionen“.2 Doch der Rechtwinklige versteht ihn nicht.

„Würden Euer Ehren mir zeigen oder erklären, in welche Richtung die mir unbekannte Dritte Dimension weist?“, bittet er.

„Dort komme ich her. Sie liegt oberhalb und unterhalb von uns.“

„Mein Herr meint anscheinend, dass sie ,in Richtung Norden‘ und ,in Richtung Süden‘ liegt“, erwidert der Rechtwinklige.3

Sie sehen, wie schwierig es ist, eine dritte Dimension mit Worten zu erklären.

Für den Rechtwinkligen wird die Sache immer verwirrender. Er hat nichts Konkretes, was ihm die Vorstellung einer dritten Dimension ermöglichen würde, und er beginnt, sich zu fürchten.

Die einzige Möglichkeit, die dritte Dimension kennenzulernen, ist letztendlich die, sie körperlich zu erfahren, und nicht, sie intellektuell zu erfassen. Der Kugelförmige nimmt ihn also mit nach Raumland. Doch als der Rechtwinklige in die dreidimensionale Wirklichkeit Raumlands reist, nimmt seine Verwirrung nur noch zu. Es kann sein begrenztes Verständnis der gewohnten Weltordnung nicht mit dem in Einklang bringen, was er als seltsame neue Wahrheit erfährt.

Glücklicherweise begreift er am Ende doch noch voller Aufregung die neue Welt von Raumland. Aber leider gelingt es ihm nicht, diese Realität irgendeinem anderen Einwohner von Flächenland zu vermitteln.

Immerhin bleibt ihm die Hoffnung, dass die Möglichkeiten von Raumland eines Tages in irgendeiner Weise „ihren Weg in die Köpfe der Menschheit in irgendeiner Dimension finden mögen und ein Geschlecht der Rebellen erwecken, welche sich dagegen wehren mögen, in einer beschränkten Dimensionalität eingeengt zu sein“.4

Der Rechtwinklige führt uns vor Augen, wie wir alle uns verhalten, wenn wir uns Veränderungen gegenübersehen und mit etwas Neuem konfrontiert werden, das wir nicht verstehen. Zunächst verschließt er sich der Realität. Dann folgen Verwirrung, Neugier und schließlich Wut. An einem bestimmten Punkt beschleicht ihn Angst. Er will die Dinge nicht aus einer neuen Perspektive sehen oder mehr in die Tiefe gehen; vielleicht glaubt er auch, dazu nicht fähig zu sein. Nachdem er jedoch konkrete Erfahrungen mit der neuen Dimension gemacht hat, akzeptiert er sie und ist von ihr begeistert.

Dieses Buch ruft nach einem „neuen Geschlecht von Rebellen“, die bereit sind, eine Daseinsweise zu erkunden, die durch mehr Weite, Tiefe und Fülle und vor allem auch mehr Effektivität gekennzeichnet ist als unsere derzeitigen Welten – egal, ob im Privat- oder im Geschäftsleben.

Die hier vorgestellten Konzepte entsprechen dem, was man weithin als innovativ und revolutionär bezeichnet – sowohl im übertragenen Sinn, weil sie eine neue Art der Unternehmensführung repräsentieren, als auch im wörtlichen Sinn, weil sie die Art von Innovation hervorbringen können, die mit einschneidenden, positiven Veränderungen einhergeht.

1.1 Denken und Handeln am Arbeitsplatz – ein zwei-dimensionaler Ansatz in einer dreidimensionalen Welt

Die ersten acht Jahre meiner 29-jährigen Tätigkeit als Beraterin im Bereich Kommunikation und Organisationsentwicklung verbrachte ich in meinem persönlichen Flächenland. Ich war eine zweidimensionale Beraterin und arbeitete in den zweidimensionalen Welten, die ich in den Firmen, gemeinnützigen Organisationen und Behörden, die meine Klienten waren, vorfand. Die zwei Dimensionen dieser Welten waren Denken und Handeln. Ich identifizierte Probleme und löste sie, nur um festzustellen, dass dieselben Probleme später erneut auftauchten. In Flächenland gibt es einen ständigen Bedarf an Beratern, weil diese nur die Symptome, aber nicht die Ursachen behandeln.

Bis zu einem gewissen Grad arbeiten wir alle in Flächenland. In der zweidimensionalen Welt des Denkens und Handelns läuft der organisationsinterne Dialog häufig nach folgendem Muster ab: „Wenn wir nur intensiv genug über unsere Probleme oder unsere Ziele nachdenken, werden wir auch einen Plan entwickeln können, wie wir genau das ,Richtige‘ tun, um erfolgreich zu sein.“ In unserer traditionellen Arbeitskultur kommt dem Intellekt, den Daten, dem Ergreifen von Maßnahmen und der dauerhaften Beschäftigung mit der Umsetzung „des Plans“ eine enorme Bedeutung zu. Diese Kultur misst unseren Wert und unseren Erfolg daran, welches Pensum an Denken und Handeln wir an einem Tag bewältigen können. Und tatsächlich werden Arbeitnehmer und Manager, die mehr als die übliche Tagesleistung schaffen, in hohem Maße belohnt. In der zweidimensionalen Arbeitswelt reduziert sich der Wert des Menschen letztlich darauf, dass er die jeweilige Aufgabe erledigt – unabhängig von seinen Charaktereigenschaften oder den Werten, die er vertritt. Manche Organisationen sind sogar nur eindimensional: „Denken Sie nicht nach. Tun Sie einfach, was ich Ihnen sage.“ Hier zählen Leistung und Profit mehr als die Menschen – angefangen bei den Mitarbeitern bis hin zur Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit, also allen Arten von Interessengruppen –, manchmal sogar auf Kosten des Verbrauchers.

Manchmal ist dieses Missverhältnis klar zu erkennen, doch meistens bleibt es unter der Oberfläche verborgen. Es hinterlässt bei uns ein diffuses Unbehagen, das wir nur schwer in Worte fassen können, aber dennoch deutlich spüren. Slogans, gut gemeinte Aktionen zur Verbesserung des Betriebsklimas und eine Unternehmenskommunikation, die genau das Gegenteil behauptet, können uns vielleicht etwas vorgaukeln. Werden wir ausnahmsweise jedoch einmal für einen kurzen Moment als ganzer Mensch wahrgenommen – und nicht nur unsere Fähigkeit zu denken und zu handeln –, wird uns nur allzu deutlich bewusst, wie sehr wir uns hiernach gesehnt haben. Wenn wir in einer Organisation Menschen begegnen, die wirklich verstehen, was uns als einzigartige Persönlichkeit ausmacht, wird uns vor Augen geführt, was im positiven Sinne möglich ist, aber meistens fehlt.

Ein Blick auf die Schlagzeilen der vergangenen Jahre oder auch auf unsere eigene Geschichte dürfte genügen, um weitere Belege für menschenunwürdige Erfahrungen am Arbeitsplatz zu finden. Die globale Wirtschaftskrise, von der wir uns gerade wieder erholen, war eine Krise der Werte und der Moral, keine Krise des Dollars, des Euros oder des Yen. Im Vorwort zum Bericht des Weltwirtschaftsforums 2010 schrieben Klaus Schwab und John J. DeGioia: „Die derzeitige Wirtschaftskrise sollte uns eine Warnung sein, die Entwicklung des ethischen Rahmens und der Steuerungsmechanismen unserer Wirtschaft, unseres politischen Handelns und unserer weltweiten Vernetzung von Grund auf neu zu überdenken.“5 Im Dezember 2009 hatte das Forum über Facebook eine sehr ungewöhnliche, neuartige Meinungsumfrage durchgeführt. Die Teilnehmer – die meisten waren jünger als 30 Jahre – wurden dazu befragt, wie sie die Bedeutung von Werten in der heutigen Wirtschaft beurteilen. Von den mehr als 130.000 Umfrageteilnehmern – aus Frankreich, Deutschland, Indien, Indonesien, Israel, Mexiko, Saudi-Arabien, Südafrika, der Türkei und den Vereinigten Staaten – glaubten erstaunlicherweise mehr als zwei Drittel, dass die derzeitige Wirtschaftskrise gleichzeitig auch eine Krise der Ethik und der Werte sei.

Nur in einer zweidimensionalen Welt ist es möglich, dass so viele Menschen finanziell und emotional bankrott gehen, während gleichzeitig einige wenige auf deren Kosten unerhörte Profite machen. Die Ursache dieses Problems ist nicht allein im System zu suchen. Auch die Art und Weise, wie wir an diesem System mitwirken, ist grundlegend aus dem Gleichgewicht geraten. Leider halten wir damit unabsichtlich Bedingungen aufrecht, die nicht nur dafür sorgen, dass uns das Geld aus der Tasche gezogen wird, sondern auch, dass wir emotional vor die Hunde gehen.

1.2 Auf Brillanz bauen

Ich wäre wahrscheinlich weiterhin so wie der Rechtwinklige umhergeirrt, hätten mich nicht diejenigen, die Raumland – den Ort, an dem die Antworten zu finden sind – bereits entdeckt hatten, mit der dritten Dimension bekannt gemacht.

In den 1980er-Jahren studierte ich bei Marshall Thurber und seiner Kollegin Judith Orloff Faulk, deren Lehren und Philosophie mein Denken radikal veränderten. Thurber wiederum war der einzige Protegé von zwei der größten Denker der Neuzeit – von Dr. W. Edwards Deming, dem Vater der Qualitätsmanagement-Bewegung, und R. Buckminster Fuller, dem Erfinder, Architekten, Ingenieur, Mathematiker, Dichter und Kosmologen. Mit zum Wichtigsten, was ich aus dieser Zeit mitnahm, gehörte die grundlegende Erkenntnis, dass bei der überwiegenden Mehrheit interpersoneller Konflikte innerhalb von Organisationen das Problem nicht der Mensch, sondern das System ist. Wenn man die zwischenmenschlichen Probleme angeht, bevor man sich damit befasst, inwiefern das gesamte System oder das Team diese Beziehungen beeinflusst, dann ist das so, als versuche man, ein Samenkorn in Sand statt in Muttererde zum Sprießen zu bringen. Doch nur die Kombination von gutem Boden und gesundem Samen bringt einen Baum hervor. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Finden sich zum Beispiel Menschen, die im Prinzip gut miteinander auskommen, in einem System mit begrenzten Ressourcen wieder, kommt es zu einem unbeabsichtigten Wettbewerb um diese Ressourcen. Und raten Sie mal, was noch passiert: Die Leute kommen nicht mehr so gut miteinander aus. Steckt man hingegen Menschen, die wenig miteinander gemein haben und die sich wahrscheinlich bei einer Dinnerparty nicht sonderlich gut verstehen würden, in ein sorgfältig durchstrukturiertes Organisationsumfeld oder Team, werden sie Erfolg haben – sowohl im interpersonellen Bereich als auch in Bezug auf die Produktivität des Teams. Der Schlüssel liegt folglich darin, eine Umgebung zu schaffen, die der Realität der ganzen Gruppe gerecht wird und es all ihren Mitgliedern ermöglicht, die gemeinsamen Ziele mühelos zu erkennen.

Erstklassige Beispiele hierfür sind erfolgreiche Wahlkampagnen. Man betritt das Wahlkampfbüro und sieht sofort und überall an den Wänden, wie das Team alle Kräfte für die Ziele der Kampagne und gegen seine politischen Kontrahenten mobilisiert. Alle kennen die „Ziellinie“ und den entsprechenden Zeitrahmen. Die wichtigsten Ressourcen sind allen zugänglich; niemand muss einen großen Aufwand betreiben, um sie zu finden oder groß um sie bitten. Und sobald ein Team erkennt, dass ein Wahlbezirk nicht zu gewinnen ist, setzt es sein Personal und seine Ressourcen dort ein, wo seine Anstrengungen noch etwas bewirken können, statt stur das eigene Territorium zu verteidigen. Informationen und Ressourcen werden in hohem Maße geteilt. Die Beteiligten sind sich weitgehend im Klaren darüber, wofür sie verantwortlich sind und welche Befugnisse sie haben.

Menschen, die sich für politische Kampagnen engagieren, repräsentieren oft einen ungewöhnlichen Querschnitt durch die Bevölkerung, denn „Politik führt zu seltsamen Allianzen“, wie ein Sprichwort sagt. Doch sie kommen miteinander aus, weil sie sich alle auf dieselbe Aufgabe und auf gemeinsame Ziele konzentrieren. Das System unterstützt dies und entsprechend fühlen sich auch die Menschen unterstützt.

Bei der überwiegenden Mehrheit interpersonaler Konflikte innerhalb von Organisationen ist nicht der Mensch das Problem, sondern das System.

Während der Jahrzehnte meiner Tätigkeit im Bereich Unternehmenskommunikation hatte ich reichlich Gelegenheit, Identitätskrisen von Organisationen, Leid, Unzufriedenheit und Missverständnisse zu beobachten und was geschieht, wenn Produktivität und Moral daniederliegen. Nach meinem Studium der interpersonalen Kommunikation und der Unternehmenskommunikation an der Northwestern University arbeitete ich für zwei der weltweit größten Kommunikationsagenturen, für Time, Inc., und für Hill and Knowlton. Ich begegnete Tausenden von Menschen – Angestellten, Führungskräften, Mitgliedern, Freiwilligen – in Hunderten von Organisationen. Und bei vielen Gelegenheiten wurde ich verzweifelt gefragt: „Was sollen wir als Nächstes tun? Was können wir tun?“

Da die Geschwindigkeit, mit der sich die Welt verändert, exponentiell zunimmt, nehmen auch Anzahl und Intensität dieser Sorgen zu. Vor rund fünftausend Jahren gab es, wie Buckminster Fuller in den 1960er-Jahren schätzte, etwa alle 200 Jahre eine Erfindung oder eine Innovation, die „den Weg der Menschheit entscheidend“ veränderte.6

Der Weg der Menschheit und die Beschaffenheit der Welt und des Business verändern sich exponentiell.

Ab dem Jahr eins nach Christus verkürzte sich dieser Zeitraum auf alle fünfzig Jahre, ab dem Jahr 1000 auf alle 30 Jahre. Und mit der Renaissance tauchte alle drei Jahre eine neue Erfindung auf, die die Beschaffenheit der Welt veränderte. Mit dem Beginn der industriellen Revolution verkürzte sich diese Zeitspanne auf sechs Monate. In den 1920er-Jahren waren es schließlich, wie Fuller schätzte, nur drei Monate. Er nannte dies die „beschleunigende Beschleunigung“. Laut dem Physiker Peter Russell ist diese Zeitspanne mittlerweile auf Tage, wenn nicht gar Stunden zusammengeschmolzen.7

1.3 Mit dem rasenden Tempo der Veränderung umgehen

Wie also kommt es, dass sich erfolgreiche Veränderungen in Organisationen normalerweise im Schneckentempo vollziehen? Von allen Organisationen, die irgendeine Management-Strategie verfolgen, um mit Veränderungen im inneren oder äußeren Umfeld umzugehen, tun dies Schätzungen zufolge nur 25 bis 30 Prozent mit Erfolg. Die anderen schlagen sich irgendwie durch.

Meinen eigenen Beobachtungen zufolge ist der Hauptgrund für das Scheitern von Organisationen beim Veränderungsmanagement folgender: Sie neigen dazu, menschliche Systeme als mechanische Prozesse zu betrachten, eine Sichtweise, von der z. B. die häufig in strategischen Planungssitzungen gestellte Frage zeugt: „Was sollen wir als Nächstes tun?“ Von einer menschlichen Perspektive aus betrachtet, ist es viel entscheidender, zunächst einmal Werte zu erkunden, insbesondere jene, in denen die Identität der Organisation oder des Teams zum Ausdruck kommt. In diesem Zusammenhang lautet die Frage nicht: „Was sollen wir als Nächstes tun?“, sondern: „Was macht uns als Organisation aus?“ Bei dieser Frage geht es um das Sein, nicht das Handeln.

Den Fokus auf Werte zu legen ist nichts Neues, der hier vorgestellte Ansatz schon, denn er definiert die Identität der Organisation oder des Teams als ein „grundlegendes Bedürfnis“. Dieses Bedürfnis wird angesprochen im Rahmen eines interpersonellen und organisationsbezogenen „Bedürfnisbewusstseins“, das die Grundlage für nachhaltigen Wandel und Erfolg am Arbeitsplatz bildet.

Zukunftsangst

Neu an diesem Modell ist, dass es interpersonelle und organisationsbezogene Bedürfnisse im Rahmen eines „Bedürfnisbewusstseins“ betrachtet, das die Grundlage für nachhaltigen Wandel und Erfolg am Arbeitsplatz bildet.

Zu der Unsicherheit, die einen verrückt macht, gesellt sich auch Angst. Nehmen Sie bei sich und bei Ihren Kollegen Angst vor der Zukunft wahr? Was geschieht, wenn die Menschen in Organisationen durch Angst motiviert werden? Sie setzen ungewollt einen Kreislauf schrumpfender Chancen, Ressourcen und Energien in Gang. In seinem Buch So machen Sie Ihr Glück präsentiert Richard Wiseman, Professor für Psychologie an der University of Hertfordshire in England, die Ergebnisse einer achtjährigen Glücksstudie. Die Forscher fanden heraus, dass Glückspilze im Gegensatz zu Pechvögeln bestimmte psychologische Merkmale aufwiesen. In erster Linie war ihr Handeln nicht durch Angst, sondern durch die Erwartung von Glück motiviert.8 Und genau das ist auch bei erfolgreichen Organisationen der Fall. Sie operieren auf der Grundlage einer Vision von ihrer zukünftigen Bedeutsamkeit. Und um dies tun zu können, überwinden sie althergebrachte Denkmuster.

Meine ersten Lehrer, Vertreter der Schule von Marshall Thurber und Buckminster Fuller, sprachen oft von einer „glänzenden Zukunft“, eine Formulierung, die mir stets im Gedächtnis geblieben ist. Die Aufgabe einer Organisation besteht darin, sich auf diese glänzende Zukunft zu konzentrieren und darauf zu achten, dass andere dies ebenfalls tun – ohne jedoch das Leid zu ignorieren.

1.4 Ins Raumland katapultiert

Erfolgreiche Unternehmen konzentrieren sich auf eine Vision ihrer zukünftigen Bedeutsamkeit.

Ich war bereits 22 Jahre lang als Beraterin für Organisationsentwicklung tätig, als ich 2004 Marshall Rosenberg kennenlernte, dessen Lehren mein Leben und meine Arbeit maßgeblich verändern sollten. Rosenberg hatte mit verfeindeten Straßengangs und sich bekriegenden afrikanischen Stämmen gearbeitet und versucht, sie zu befrieden. Deswegen überraschte es mich nicht, ihn 2005 sagen zu hören, amerikanische Firmen würden zu den gewalttätigsten Orten der Welt zählen.9

Als ich mich mit seinem Modell der Gewaltfreien Kommunikation (GFK) auseinandersetzte, verstand ich, was er damit meinte. Ich nahm jetzt die unbewusste und ungewollte Missachtung der Gefühle und Bedürfnisse von Menschen wahr, sowohl in alltäglichen Beziehungen als auch in der Welt der Unternehmen, der gemeinnützigen Organisationen, Universitäten und Behörden, mit denen ich arbeitete. Ich stellte fest, dass es in unserer Arbeitswelt ein hohes Maß an stillem Leiden gibt, wie ich es nenne. Ich sage den Gruppen, mit denen ich arbeite, immer gern, dass meiner Schätzung nach 30 bis 50 Prozent von dem, was in Besprechungen geäußert wird, nicht so ankommt, wie es gemeint ist. Einmal merkte eine Frau an: „Liegt der Prozentsatz nicht höher?“ Meistens jedoch ernte ich nur ein stummes Nicken.

Schätzungsweise 30 bis 50 Prozent dessen, was in Besprechungen am Arbeitsplatz geäußert wird, kommt nicht so an, wie es gemeint ist.

Schon nach wenigen Monaten meines Studiums der GFK wurde mir klar, wie wunderbar sich mit ihrer Hilfe die Bedürfnisse von Menschen erfüllen und produktivere Arbeitsbeziehungen schaffen lassen. Ich stellte fest, dass die Mitglieder eines Teams einander auf neue Weise zuhörten – intensiver und mit mehr Achtsamkeit. Ihr Zuhören war geprägt von Empathie – der Fähigkeit, wahrzunehmen, zu spüren, nachzuempfinden, was jemand anders gerade durchlebte. In der folgenden Situation rief ich mit einer simplen, aus Neugier gestellten Frage ein tieferes Verständnis hervor.

Eine Mitarbeiterin machte ihrer Frustration darüber Luft, dass andere einem bestimmten Arbeitsablauf, für dessen Entwicklung sie verantwortlich war, nicht folgten. Ihre Kollegen machten Vorschläge, wie man dieses Problem lösen könne, doch sie war so stark darauf konzentriert, ihren Kummer zum Ausdruck zu bringen, dass sie diese gar nicht aufnehmen konnte. Als ich sie schließlich fragte, ob sie mit irgendeinem der Vorschläge etwas anfangen könne, antwortete sie: „Mit welchen Vorschlägen?“ War sie deshalb frustriert, fragte ich dann, weil ihr Respekt sehr wichtig sei und sie es als Respektbekundung betrachte, wenn man sich an den Arbeitsablauf halte?

„Ja ... ja, genau das ist es“, antwortete sie. „Ich wünsche mir Respekt. Ich arbeite hart daran, diese Abläufe zu organisieren. Und ich möchte, dass auch andere diesen Prozess respektieren.“ Jetzt, wo sie gerade die Erfahrung gemacht hatte, dass ihr jemand auf dieser neuen Ebene ihrer Bedürfnisse zuhörte, hielt sie inne, holte tief Luft, hob mit einem breiten Lächeln die Arme und sagte: „Jetzt bin ich offen für Vorschläge!“

Ihr unerfülltes Bedürfnis nach Respekt war anerkannt worden. Von dem Wunsch, verstanden zu werden, konnte sie dazu überzugehen, die Strategien und Vorschläge anderer zu hören. Durch diese einfache Form der Anerkennung wurde der Prozess für alle viel effektiver.

In der GFK gibt es einen Lernprozess, um die Anwendung von Empathie für sich zu entwickeln und zu vertiefen. Dafür müssen wir Kontakt mit unseren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen sowie den Gefühlen und Bedürfnissen anderer aufnehmen, um in jeder Hinsicht ein größeres Verständnis zu fördern. Die Forschungsliteratur wie auch meine eigene Beratungspraxis haben mich davon überzeugt, dass sich dieses Konzept auch für Teams und Organisationen erweitern lässt und dort genauso gut funktioniert wie für Einzelpersonen.

Bei meiner Arbeit mit Organisationen – zuerst als Spezialistin für Unternehmenskommunikation, nun als Organisationsberaterin – war mir von Anfang an klar, dass auch sie Bedürfnisse haben. Diese stehen in Verbindung mit den Bedürfnissen der Menschen, die dort tätig sind, unterscheiden sich aber von ihnen. Der Unterschied zwischen Organisationen und Menschen besteht darin, dass Erstere aus sich heraus kein Existenzrecht besitzen; sie existieren nur, um menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Doch das Ausmaß, in dem den Bedürfnissen der Organisation selbst entsprochen wird oder nicht, kann ausschlaggebend für deren Erfolg oder gar Überleben sein.

Ich sprach einmal mit Rosenberg darüber, wie man die GFK in Unternehmen einsetzen könnte. Mit der Welt von Firmen und Organisationen war ich bestens vertraut, und so machte ich mich daran, die GFK mit einem Prozess zu kombinieren, der den Bedürfnissen von Organisationen und Teams gerecht werden sollte. Ich wollte den Faktor Empathie in alle Bereiche des Geschäftslebens einbringen, um auf diese Weise den gesamten Betriebsablauf zu verbessern und im Ergebnis nicht nur eine bessere Arbeitsatmosphäre, sondern auch mehr Produktivität und höhere Gewinne zu erreichen.

Heureka! Das war die Geburtsstunde von Integrated Clarity („Integrierte Klarheit“).

Integrated Clarity zeigt einen praxisorientierten Prozess der Empathie auf, mit dessen Hilfe den Bedürfnissen von Einzelpersonen und Organisationen entsprochen werden kann. Eine bessere Arbeitsatmosphäre, mehr Produktivität und Gewinn sind das Ergebnis.

Dank Marshall Rosenberg und Trainern am Center for Nonviolent Communication wie Sylvia Haskvitz, Miki Kashtan und anderen schließt meine Arbeit nun diese neue Dimension mit ein: die Kraft der Empathie durch Gewaltfreie Kommunikation (auch unter der Bezeichnung Mitfühlende Kommunikation bekannt). Dieses Modell wurde für mich zur Zentripetalkraft, die alles, was ich zuvor über Menschen und Organisationen gelernt hatte, zu einem integrierten Ganzen zusammenfügte.

Wenn ich heute in eine Organisation komme, ist mir zwar bewusst, dass es dort einen Leidensdruck gibt, doch ich brauche nicht mehr auf ihn zu fokussieren. Der Prozess der Integrated Clarity (IC) ermöglicht beides: dass Heilung geschieht, aber auch, dass glänzende Zukunftsaussichten entstehen können. Das zu würdigen, was bereits da ist, und auf der Stärke von Teams und deren Mitgliedern aufzubauen: Das sind die die Grundlagen eines erfolgreichen Wandels.

1.5 Es geht um Verbindung

Dieses Buch soll Ihnen helfen, mehr Entscheidungsspielraum, mehr Kraft und eine größere Produktivität für sich selbst wie auch für die Teams und Organisationen zu gewinnen, für die Sie tätig sind. Wie das gehen soll? Indem Sie jene lebenswichtige, aber oft übersehene dritte Dimension zutage fördern und aktivieren – die menschliche Dimension einer auf Empathie basierenden Verbundenheit.

In der Arbeitswelt sind ständig drei unterschiedliche Ebenen empathischer Verbindung im Spiel: die Verbindung mit unserem eigenen inneren Zustand, die Verbindung mit anderen – von Kollegen bis hin zu den Endverbrauchern – und die Verbindung mit dem gesamten Team oder der gesamten Organisation. In vielen – wenn nicht sogar in den meisten – Situationen werden aufgrund der Beschaffenheit dieser Verbindungen entscheidende menschliche Bedürfnisse wie Vertrauen, Respekt, Eigenverantwortung, Verständnis und Sinnhaftigkeit jedoch nicht erfüllt. Und weil Menschen für Organisationen von größter Wichtigkeit sind, leiden darunter auch die Produktivität, der Service und der Gewinn.

Gefühle und Bedürfnisse

Die Verbindungen am Arbeitsplatz erfüllen wichtige menschliche Bedürfnisse oft nicht. In der Folge leiden nicht nur die Menschen, sondern auch Produktivität, Service und Gewinn.

Unsere Arbeitswelt ist zweidimensional, denn der Prozess der empathischen Verbindung erfordert, dass wir mit zwei menschlichen Qualitäten sicher und entspannt umgehen können, die in der Welt, die uns umgibt, systematisch abgewertet und missverstanden werden. Unsere Organisationen sind Kinder desselben Geistes und übertragen einfach diesen Zustand der Welt auf den Arbeitsplatz. Die beiden missverstandenen Qualitäten sind:

  1. unsere Fähigkeit, uns problemlos unserer Gefühle bewusst zu sein, ohne sie zu bewerten, und
  2. unsere Fähigkeit, diese Gefühle dann mit den entsprechenden menschlichen Bedürfnissen in Verbindung zu bringen, die entweder erfüllt werden oder unerfüllt bleiben.

In der Arbeitswelt kommt erschwerend hinzu, dass es systembedingt tagtägliche Dringlichkeiten gibt und dass eine große Zahl zwischenmenschlicher Verbindungen gleichzeitig zum Zuge kommt. So werden Gefühle und Bedürfnisse leicht unterdrückt, was unsere Fähigkeit, nicht auf den ersten Blick erkennbare Gefühle und Bedürfnisse wahrzunehmen, weiter verkümmern lässt – auch außerhalb der komplexen Umgebung des Arbeitsplatzes.

1983 gelang dem amerikanischen Entwicklungspsychologen Howard Gardner mit seiner Theorie der multiplen Intelligenzen ein Durchbruch bezüglich unseres Verständnisses dieser Fähigkeiten. Dieser Theorie zufolge besitzen Menschen eine ganze Reihe von Fähigkeiten oder Fertigkeiten, die sich nicht mit IQ-Tests messen lassen. Zu den neun Intelligenzen, die Gardner derzeit unterscheidet, gehören die intrapersonelle und die interpersonale Intelligenz; mit beiden werden wir uns im Verlauf dieses Buches intensiv auseinandersetzen, und zwar im Hinblick auf die Frage, wie wir empathische Verbindung zu uns selbst und zu anderen aufnehmen können.

Aufbauend auf Gardners Theorie veröffentlichte der Psychologe Daniel Goleman 1995 seinen Bestseller Emotionale Intelligenz und erforscht und propagiert auch weiterhin, dass emotionale Intelligenz Anteil an der Arbeitseffektivität hat. Mit Golemans Ansichten über Empathie und Führung werden wir uns in Kapitel 2 auseinandersetzen.

Angesichts dieser und anderer gesicherter Forschungsergebnisse stellt sich die Frage: Warum haben sich die Überlegungen zum Faktor Empathie in der Arbeitswelt nicht viel schneller durchgesetzt? Der Grund scheint eine tief verwurzelte Konditionierung zu sein, am Arbeitsplatz auf Angst, Schuld, Scham und Zorn als Motivatoren zu setzen und nicht auf die Fähigkeit, Verbindung mit unseren eigenen Gefühlen und Bedürfnissen sowie den Gefühlen und Bedürfnissen anderer aufnehmen zu können. Innerhalb der zweidimensionalen Welt sind die genannten negativen Emotionen die Triebfedern der Produktivität. In der dreidimensionalen Welt stellen sie jedoch Hindernisse dar.

Es ist nicht so leicht, „Gefühle“ und „Bedürfnisse“ zu definieren, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Seit Tausenden von Jahren sind diese Begriffe Teil unseres kollektiven Bewusstseins und werden verwischt und missverstanden. Unsere Annahmen und selbst wissenschaftliche Erkenntnisse über Gefühle und Bedürfnisse sind widersprüchlich. Und unsere Sprache macht die Sache nur noch komplizierter, weil z. B. „Gefühle“, „Emotionen“, „Bedürfnisse“, „Sehnsüchte“ und „Wünsche“ oft als austauschbare Begriffe, jedoch mit sehr unterschiedlicher Bedeutung, verwendet werden.

Wenn es aber darum geht, eine sinnvolle, effektive und reproduzierbare Praxis für den Einsatz von Empathie am Arbeitsplatz zu erlernen, ist ein Verständnis von Gefühlen und Bedürfnissen dafür eine Voraussetzung. Spricht man über Empathie, ohne die spezifische Rolle von Gefühlen und Bedürfnissen zu kennen, dann ist das so, als würde man versuchen, ein Auto zu bauen, ohne zu wissen, wie der Motor funktioniert. Entscheidend für das Verständnis des Konzepts und das Praktizieren von Empathie ist vor allem das Verständnis von Bedürfnissen, wie sie in diesem Buch definiert werden. Gefühle liefern uns wertvolle Informationen; sie sind innere Daten über Bedürfnisse. Gefühle für sich genommen erlangen erst Bedeutung, wenn wir ihnen Bedeutung beimessen. Wenn wir darum wissen, können wir sie als Leitfaden für konstruktives Handeln nutzen.

Wenn wir aus diesen menschlichen Komponenten Nutzen ziehen, statt sie abzutun, sie nur zu tolerieren oder sie „managen“ zu wollen, feiern wir unsere Menschlichkeit und erweitern gleichzeitig unsere Möglichkeiten sowie die der Organisation, für die wir tätig sind. Wir können eine Welt erschaffen, in der Bedürfnisse eine Rolle spielen, indem wir Grundlagen schaffen für eine ethische Wirtschaft, die einen Beitrag leistet für die Welt und für die Menschen. Diese gefühlsfokussierte Herangehensweise endet nicht bei den Gefühlen, sondern führt uns weiter zu einem größeren Bewusstsein für Bedürfnisse und schließlich zu deren besserer Erfüllung. Letztlich liefern Gefühle uns wertvolle Informationen für unsere zukünftigen Entscheidungen. Solange wir uns unserer Gefühle und der mit ihnen verbundenen Bedürfnisse nicht bewusst sind, werden wir auch weiterhin Entscheidungen treffen, durch die unsere Bedürfnisse in einem geringeren Maße erfüllt werden, als wir uns dies wünschen.

1.6 Zwei innovative Roadmaps

Wenn wir unsere Gefühle und Bedürfnisse verstehen und sie in den Dienst unserer Menschlichkeit stellen, können wir anstelle von Angst, Schuld, Scham und Zorn die Grundlagen für eine ethische Wirtschaft erschaffen.

Es gibt viele Bücher und auch viele Modelle, in denen es darum geht, erfolgreichere Geschäftsbeziehungen zu entwickeln, unsere berufliche Kommunikation zu verbessern und Konflikte zu lösen. Im vorliegenden Buch werden jedoch erstmals die genannten Themen mithilfe zweier effektiver und innovativer Prozesse untersucht: Gewaltfreie Kommunikation (GFK) und ihr Äquivalent in der Arbeitswelt, Integrated Clarity (IC). Ich habe die IC-Konzepte und das dazugehörige Grundgerüst entwickelt, um auch anderen Menschen zu ermöglichen, genau die Begeisterung und Ehrfurcht zu erleben, die ich empfand, als ich die GFK zum ersten Mal mit meinen Geschäftskunden anwandte.

In der Geschäftswelt ist die GFK zwar weniger bekannt als in anderen Zusammenhängen, genießt jedoch international Anerkennung als Kommunikationsprozess und als Möglichkeit, einen Frieden stiftenden Weg zu beschreiten. Über 240 zertifizierte Trainer arbeiten auf fünf Kontinenten in mehr als 75 Ländern, besonders aktiv in Europa. Jedes Jahr werden weltweit über eine halbe Million Menschen in der GFK ausgebildet.10 Die Grundlagen der GFK werden in diesem Buch innerhalb des Rahmens der IC vorgestellt. Ausführlichere Erklärungen finden sich in Rosenbergs Buch Gewaltfreie Kommunikation. Eine Sprache des Lebens.

Was Integrated Clarity angeht, so hat Marshall Rosenberg sie einmal als das „fehlende Bindeglied“ zur effektiven Anwendung der GFK in Organisationen bezeichnet. Ich war begeistert, als ich gemeinsam mit ihm eins der 19 Kapitel für die zweite Auflage von The Change Handbook schreiben durfte. Es ist das „maßgebliche aktuelle Nachschlagewerk zu den besten Methoden, wie Systeme als Ganzes in die Transformation eines Geschäfts einbezogen werden können“,11 das von führenden Beratern und Hochschullehrern im Bereich Organisationsmanagement herausgegeben wurde. Unser Kapitel „Integrated Clarity – Energizing How We Talk and What We Talk About in Organizations“ wurde in weiten Kreisen aufmerksam wahrgenommen – von einem global operierenden, in Europa ansässigen Finanzunternehmen über eine internationale gemeinnützige Organisation in Indien bis hin zu Universitäten, Unternehmen und gemeinnützigen Organisationen in den Vereinigten Staaten.

Der Faktor Empathie bietet konkrete praxisnahe Strategien, um völlig neuartige und äußerst funktionsfähige menschlicher Verbindungen zu entwickeln und aufrechtzuerhalten. Das ist es, was jene Teams und Organisationen antreibt, die von der Organisationsforschung als die erfolgreichsten ausgemacht werden. Erst in den vergangenen zehn Jahren sind Arbeitswissenschaftler und Führungskräfte auf die Empathie als lohnendes Forschungsgebiet und als wertvolle Strategie zur Verbesserung der Produktivität in Organisationen aufmerksam geworden.

Im wirtschaftlichen Kontext wird der Begriff Empathie jedoch meistens anders verstanden und oft auch verwechselt, etwa mit Sympathie. Eine auf Sympathie gegründete Verbindung entsteht, wenn Menschen Gefühle und Gedanken, von denen andere ihnen berichten, mit Momenten in Beziehung setzen, in denen sie selbst diese Gefühle und Gedanken erlebt haben. Auch Sympathie kann eine Verbindung zwischen Menschen herstellen, doch diese unterscheidet sich von einer empathischen Verbindung, bei der die Aufmerksamkeit allein dem anderen Menschen gilt.

In Kapitel 2 werde ich darlegen, dass ich die Empathie als eine der wichtigsten Fertigkeiten betrachte, die wir uns für den Erfolg am Arbeitsplatz und im Team aneignen können. Für die Zusammenarbeit im Team, den Aufbau von Kundenbeziehungen und überhaupt für die Erledigung unserer Arbeit ist es von entscheidender Bedeutung, dass wir den Standpunkt des anderen verstehen können. Hierzu müssen wir jedoch unsere eigenen Gefühle und Bedürfnisse verstehen. Das heißt, dass die Denker und Macher weiterhin denken und handeln können; sie fügen dem Prozess, der den Erfolg mehrt, einfach nur eine weitere Dimension der Verbindung hinzu. Verbinden–Denken–Handeln ist nicht nur effektiver als Denken–Handeln, es bereichert uns auch in höherem Maße und verleiht uns mehr Energie.

Empathie gehört zu den wichtigsten Fertigkeiten, die wir uns für den Erfolg am Arbeitsplatz und im Team aneignen können.

Wenn wir an den inneren Erfahrungen eines anderen Menschen teilhaben, dann sind wir beide mit unserem gemeinsamen Menschsein verbunden. Diese Verbindung kommt jedoch nicht unbedingt automatisch zustande – oft kommt sie gar nicht zustande. Tatsächlich versteht derjenige, der die Gefühle hat, sie oft selbst nicht. Und genau hier zeigt sich der Wert eines Kommunikations- und Bewusstseinsmodells, das allen Beteiligten hilft, Verständnis füreinander zu entwickeln, indem sie Gefühle mit Bedürfnissen verbinden. Gleichzeitig beleuchtet der Prozess, wie man für die Erfüllung dieser Bedürfnisse Verantwortung übernehmen kann. Diese Ebene des persönlichen und interpersonalen Verständnisses setzt ein hohes Maß an Energie frei und führt gleichzeitig zu einer interessanten und aktiven Form von Zusammenarbeit, die einen nachhaltig positiven Einfluss auf die Atmosphäre am Arbeitsplatz hat. Wenn Sie die Verbesserung der persönlichen Kommunikation mit dem IC-Prozess kombinieren, um die Bedürfnisse des Teams oder der Organisation wie auch die der Kunden zu klären und zu erfüllen, werden Sie – wie die Beispiele in diesem Buch verdeutlichen – einen enormen Wachstumsanstieg erleben, der sich sowohl in Zahlen als auch in sozialen Dimensionen zeigen wird.

Im Verlauf dieses Buches wird dieser Prozess ausführlich definiert und analysiert, und Sie werden darin unterstützt, sich die für den Aufbau hochgradig funktionsfähiger Verbindungen notwendigen Fertigkeiten anzueignen. Ich nenne das Ihre „persönliche Verbindungs-Power“. Über einen Schritt-für-Schritt-Ablauf eines Arbeitsprozesses auf der Grundlage von Empathie erfahren Sie, wie Sie auf den drei zuvor beschriebenen Ebenen Verbindungen eingehen können: intrapersonal (mit sich selbst), interpersonal (mit anderen) und organisationsbezogen (mit der gesamten Organisation oder dem gesamten Team).

Das folgende Schaubild verdeutlicht das Modell der Integrated Clarity.

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Abbildung 1: Das Bezugssystem der Integrated Clarity®

1.7 Verbindung versus Manipulation

Die spezielle Form der empathischen Verbindung, die hier vorgestellt wird, bringt eine natürliche Form der Macht hervor, die Rosenberg Macht mit Menschen, nicht Macht über Menschen nennt. Mit dieser Verbindung geht auch ein natürlicher Gewinn einher – Gewinn mit Menschen, nicht Gewinn aus Menschen. Statt Techniken zu erlernen und Fertigkeiten zu entwickeln, mit denen wir andere dazu bringen, das zu tun, was wir wollen, stellen wir fest, dass die Verbindung in ihrer reinsten Form ein wertvolles Ziel an sich und kein Mittel zum Zweck ist.

Kapitel 2