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Christof Tannert

Veitstanz und Cyberkids





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Veitstanz: Hauptkommissar Stilz

 

Eine Mordserie war aufzuklären. Dringend, hatte die Chefin angeordnet, weil schon öffentlich gemurrt wurde und die Zeitungen sich über angebliche Unzulänglichkeiten bei den Untersuchungen auszulassen begonnen hatten. Stilz sah keine Möglichkeit abzulehnen, auch wenn er als Leitender Hauptkommissar eigentlich demnächst abdanken wollte, aber sie hatten noch keinen anderen, der auch nur annähernd als Nachfolger in Frage kam. Werner, seine rechte Hand und letzter Assistent, begabt und umtriebig, war noch nicht weit genug. Meinte auch Stilz. Der war noch zu unruhig, der Werner, zu vorschnell manchmal, noch nicht Psychologe genug, noch zu wenig intuitiv.

 

Drei Menschen waren nach gleichem Schema an nicht weit auseinander liegenden Orten ermordet worden, und der Täter hatte zumindest in zwei Fällen einigermaßen verwertbare Spuren hinterlassen. Die Morde schienen ohne Vorgeschichte zu sein und waren schnell und überraschend, weitgehend schmerzfrei, ohne offensichtliche Qualen also, sachkundig sozusagen, ausgeführt worden. Auch war in allen Fällen nichts geraubt worden. Auffällig war, dass zwei der nun Toten an einer Erbkrankheit litten, die volkstümlich Veitstanz genannt wird. Sie waren beide, ein Mann und eine Frau, Anfang ihrer vierziger Lebensjahre gewesen, das dritte Opfer war die jugendliche Tochter der ermordeten Frau. Bald schon fanden die Kriminalisten heraus, dass auch bei ihr die Erbanlagen für diese Krankheit diagnostiziert worden waren, aber sie wies noch keine Symptome von Veitstanz auf, war äußerlich gesund. Eine gesunde Kranke.

 

Stilz wartete jetzt auf seine Tochter Ella. Die war zu seinem Leidwesen nicht praktische Ärztin geworden, wie er das gerne gesehen hätte, sondern Gerichtsmedizinerin und somit Kollegin. Das war mitunter ärgerlich, aber mittlerweile war sie die Erste in ihrem Fach, Professorin sogar, Grund zur väterlichen Eitelkeit, auch wenn sie nur Juniorprofessorin war, Professorin zur Bewährung sozusagen, im Rahmen der allgemeinen akademischen Titelinflation.

 

Ausgerechnet sie aber hatte nun die genetische Spurenanalyse in diesen drei Mordfällen besorgt. Wie immer hatte das in dieser Phase der Untersuchungen nichts gebracht, fast nichts jedenfalls. Da waren zwar Spuren hinterlassen worden, die ein identisches Genprofil zeigten, na und? Es war zumindest in zwei Fällen eindeutig die gleiche Person gewesen, dieser Mörder, das stand nun immerhin fest, aber das hatten sie auch so schon ziemlich sicher vermutet, auch wenn die am Tatort hinterlassenen Spuren im dritten Falle, der jungendlichen toten Frau nämlich, nicht eindeutig waren. Jedenfalls half ihnen das bestenfalls, wenn es vor Gericht kam, wenn es also galt, die Vermutung hart zu machen und den Täter mit materiellen Beweisen endgültig zur Strecke zu bringen. Vorher kaum. Nun gut, er musste zugeben, dass das mittlerweile oft mehr hergab als die guten alten Fingerabdrücke, diese genetischen Fingerabdrücke, die „Genetic Fingerprints“.

 

Stilz las jetzt in einem medizinischen Wörterbuch: „Chorea Huntington, volkstümlich und ungenau Veitstanz genannt, ist eine monogen vererbte Krankheit von relativer Häufigkeit. In Europa befindet sich unter zwanzigtausend Menschen ein Merkmalsträger mit dem Gen. Sie alle erkranken früher oder später und sterben schließlich an der Krankheit. Generationensprünge kommen nicht vor, Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen. Bei ca. 5% der Patienten liegt eine Neumutation vor. Die Krankheit manifestiert sich erstmals meist zwischen dem 30. und 50. Lebensjahr. Wenn sie akut geworden ist, treten extrem heftige und unkontrollierte Bewegungen der Extremitäten auf. Beim Vollbild der Erkrankung kommt es zum plötzlichen Grimassieren und zu schleudernden Bewegungen von Armen und Beinen. An Stelle des Grimassierens tritt später eventuell eine völlige Unfähigkeit, Sprechbewegungen auszuführen, und der Betroffene ist nicht mehr in der Lage, durch Mimik, Gestik und Sprache zu reagieren. Das Schlucken fällt den Patienten immer schwerer und kann zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen. Außerdem ist die Krankheit mit zunehmender Demenz verbunden. Sie ist bisher nicht kausal behandelbar und nimmt immer einen schweren, über 15 bis 20 Jahre dauernden Verlauf, der mit dem Tod endet.

 

Das Voranschreiten der Krankheit kann durch hohen Stress beschleunigt werden“, las Stilz dann noch, „umgekehrt haben günstige Lebensumstände der Betroffenen einen mildernden Einfluss auf den Verlauf. Seit 1993 lässt sich das krankmachende Gen nachweisen, auch beim Ungeborenen, und zwar im letzteren Falle durch Fruchtwasseranalyse oder Proben von der Plazenta. Die meisten Eltern entscheiden dann meist auf Schwangerschaftsabbruch.“

 

Aus einem anderen Buch erfuhr Stilz Folgendes: „Die Nervenkrankheit wurde früher Veitstanz genannt, denn zu einer erhofften Heilung wallfahrtete man im 14. Jahrhundert zur Veitskapelle bei Stuttgart. Die Bezeichnung Veitstanz wird von vielen Betroffenen als diskriminierend abgelehnt und sollte nicht mehr gebraucht werden.“

 

Stilz versuchte, sich den Fachjargon verständlich zu machen. Es gibt also, sagte er sich, eine Erbkrankheit, die von nur einem Gen verursacht wird und die unausweichlich und unter langen und schweren Leiden zum Tode führt, zu früh zum Tode führt, andererseits erst relativ spät, nämlich wenn die so Betroffenen selbst schon Kinder haben können, die dann das Gen mit einer gewissen und nicht geringen Wahrscheinlichkeit geerbt haben. Bis zum Ausbruch der Krankheit sind diese Menschen in jeder Hinsicht normal, dann aber werden sie Pflegefälle. Manchmal müssen sie im Spätstadium durch Sonden in die Venen ernährt werden. Schwer für sie, schwer für ihre Angehörigen...

 

Stilz fühlte sich überfordert. Der schnelle Schluss lag nahe: ein Angehöriger, der diese Last nicht mehr tragen wollte, hatte gemordet. Aber was hatte der (oder hatten die) wissen und zum Mordmotiv machen können? Pflegefälle gab es viele, selten wurde deshalb gemordet, und wenn, dann waren die Motive ganz verschieden. Überdruss, mögliche Erbschaften, Entlastung von der Pflege, den körperlichen und den seelischen Anstrengungen. War dieser Mörder davon etwa betroffen gewesen, weil er verwandt war? Unter Verwandten würde man suchen müssen, soviel war klar.

 

Der Hauptkommissar gab jetzt Routineanordnungen. Außerdem musste er, widerwillig, die Presse informieren, hatte die Chefin ihm auferlegt. Sie wollte in dieser Sache nicht selbst an die Öffentlichkeit treten, denn sie hatten ja noch nichts, womit sie hätte glänzen können. Also offerierte ihnen Stilz den bisher einzigen Befund: kranke oder fast kranke Menschen waren von vermutlich der gleichen Person umgebracht worden, und sie waren alle von derselben Krankheit betroffen, Veitstanz, Chorea Huntington, Huntington-Krankheit, wie er gelernt hatte, wie das korrekt heißen musste. Aber sie waren nicht alle wirklich schon krank gewesen, nein, nur zwei von drei. Die andere, die gleichfalls ermordete Tochter der toten Frau, hätte die Krankheit früher oder später allerdings mit Sicherheit auch entwickelt.

 

Jetzt aber wollte Stilz mit Ella diskutieren, was sie von der Idee mit den Verwandten hielte. Ein Verwandter, der womöglich selbst den Veitstanz hatte und alle um sich herum umgebracht hatte? Und was war das konkret, medizinisch-biologisch, Veitstanz? Was wussten die Fachwissenschaftler nun wirklich darüber? Und wie sicher war ein solcher Genbefund bei noch nicht Kranken?

 

Als Elle (Ella hieß sie eigentlich, aber sie nannten sie seit ihrer Geburt Elle) endlich kam, brachte sie ihre beiden Kinder, Stilz´ Zwillingsenkeltöchter mit, zwei quirlige knapp Dreijährige. Hastig räumte Stilz seinen Schreibtisch auf, aber mit der somnambulen Sicherheit dieses Alters fingen die sofort an, die Reißfestigkeit des zufällig noch aufgeschlagenen Dossiers zu prüfen. Stilz stöhnte und nahm ihnen den Ordner weg, was promptes Zetern der Kleinen auslöste, woraufhin Stilz ein Pülverchen gegen sein Sodbrennen nehmen musste. Und einen Whisky. Zur Beruhigung. „Wie weit seid ihr“, fragte Ella nun munter, „wir haben fast nichts. Eins ist allerdings klar: der Kerl muss Bärenkräfte haben und von Anatomie einiges verstehen, so zielsicher, wie er sie allesamt nur mit Händen und praktisch ohne Gegenwehr umgebracht hat.“

 

Stilz erklärte nun mit einer gewissen Förmlichkeit, dass sie hier in seinem Amtszimmer wären und dass das nicht für Kinder eingerichtet sei. Dann aber stülpte er sich sein Jackett über und lud sie auf ein Eis ein. Dabei erzählte seine Tochter ihm alles, was sie zum Veitstanz wusste, und das deckte sich mit dem Angelesenen.

 

Sie verließen ihn wieder, und er sinnierte weiter. Da waren drei Menschen umgebracht worden, aber er hatte keine Spur, geschweige denn den Mörder. Sie mussten damit rechnen, dass der Täter (oder die Täterin? oder die Täter?) wieder morden würde. Nicht einmal öffentlich warnen konnten sie angesichts der kümmerlichen Datenlage, denn sie wussten nicht vor wem und vor welcher Situation.

 

Während Stilz grübelte, erreichte ihn die Nachricht von einem vierten und fünften Mordfall. Ein Kleinkind war ums Leben gebracht worden, war wieder durch einen immens harten Druck am Kehlkopf getötet worden, wieder fachmännisch. Dieses getötete Kleinkind war ebenfalls Tochter eines an Veitstanz Erkrankten und gehörte somit in ihre Untersuchung. Und da war schlimmerweise und ohne dass sie das hatten verhindern können, eine junge Frau nach dem gleichen Schema getötet worden, die sie zunächst nicht in die Mordserie hatten einordnen wollen, weil die kein Veitstanzgen hatte. Der Zufall wollte es, dass sie bei der Wohnungsuntersuchung der Frau ein genetisches Gutachten fanden, wonach sie ein stark erhöhtes genetisches Risiko für ein fragiles X-Chromosom, eine andere schlimme Erbkrankheit, hatte und dieses an Töchter weitervererben können würde. Der Mörder aber hatte dieses Mal wieder brauchbare Spuren hinterlassen, und die Genkarte wies aus, dass es die gleiche Person wie in den Veitstanzfällen war.

 

Stilz zwang sich zu kühler Bilanz. Was hatten sie bisher? Einen Täter, der medizinische Anatomie kannte, einen Täter, dessen Opfer für Veitstanz oder anderweitig erblich disponiert waren und irgendwann daran erkrankt waren oder daran erkranken würden, weil ihnen dieses Schicksal genetisch vorprogrammiert war. Einen Täter, der wahrscheinlich um diese Krankheiten und Schicksale wusste und Zugang gehabt hatte zu den fatalen Diagnosen und Prognosen. Oder aber mit den Ermordeten eng vertraut war. So vertraut, dass die Opfer sich überhaupt nicht gewehrt zu haben schienen. Ob sie womöglich sogar einverstanden waren? Ob sie womöglich ein leichtes Sterben für sich gewollt hatten, Euthanasie? Das aber schied zumindest im Falle des Kleinkindes aus, es konnte nicht selbst zugestimmt haben, und der Vater bestritt vehement, dass er irgendeine Äußerung in dieser Richtung getan hätte. Wenigstens das sollte den möglichen Kreis von Mördern und Motiven einengen. Und der letzte Mord betraf eine Frau, die das Veitstanzgen nicht hatte, stattdessen aber eine andere fatale Genprognose. Was also blieb übrig? Stilz musste zugeben, dass er ratlos war. „Veitstanzmörder“ murmelte er noch einmal, nachdem er sich einen weiteren Whisky genehmigt hatte und in seinem geliebten Ohrensessel, den er von seiner Mutter geerbt und früher nie gemocht hatte, einschlief.

 

Kapitel 1 Hoges

Im lieblichen Bergland der Oberlausitz liegt ein Beidorf versteckt zwischen dunkel bewaldeten Höhen. Das Tal der kleinen Barockstadt, zu dem das Dörfchen administrativ gehört, liegt malerisch ausgebreitet tief unten. Im Dorf waren sie sehr lange unter sich geblieben, erst seit kurzem hatten Erholungsuchende die Abgeschiedenheit zwischen den sanften Bergrücken und dunklen Wäldern für sich zu entdecken begonnen, und so war ein gewisser Tourismus angekommen, und auch die einzige Straße war asphaltiert worden, die sich in Serpentinen dort hinauf schwingt und durch den Wald zum nächsten noch höher und noch abgeschiedener gelegenen Dorf. Sonst aber haben sie da nur Pfade und parken ihre Autos auf den Wiesen.


Es ist eine Siedlung von weniger als zweihundert Seelen, und fünfzehn Familien in diesem Flecken heißen Hoge und sind mehr oder minder eng miteinander verwandt. Vier davon hatten die „Heilige Krankheit“ in der Familie, den Veitstanz, aber jene Morde waren nicht bei ihnen geschehen, allerdings in ihrer ferneren, „auswärtigen“ Verwandtschaft. Anderwärts also.


Als Stilz und Werner dorthin kamen, denn es lag natürlich nahe, dort zu recherchieren, begegneten sie ihnen mit eisigem Schweigen. Niemand wusste etwas, niemand hielt es für möglich, dass da irgendeine Beziehung zu ihnen sein könnte. Seit Menschengedenken hatte es keine schwere Straftat im Dörfchen gegeben und hatten die Türen offen gestanden, sah man davon ab, dass sie vor reichlich zweihundert Jahren den Böhmischen Wenzel, einen Ableger des Räuberhauptmanns Johann Karasek, bei sich versteckt und für ihn manche Tür zeitweilig geschlossen gehalten hatten, Wenzel, der ihnen ein Guter gewesen war, weil er seine Beute mit ihnen geteilt hatte, als sie allesamt noch arme Leineweber waren.


Werner stellte nun trocken und ein wenig boshaft fest, dass diese erste Intuition des Chefs und ihre darauf fußende Recherche im Falle des `Veitstanzmörders´, wie sie ihn intern bereits alle nannten, ergebnislos geblieben war. Stilz hingegen lächelte hintersinnig und fragte ihn, ob er denn wenigstens die wunderschöne Landschaft genieße, was Werner enthusiastisch bejahte: „Chef, hier lasst uns Hütten baun“, aber Stilz machte ihn darauf aufmerksam -`ziemlich lehrerhaft mal wieder´, dachte Werner, `wie der sich das leider auf die alten Tage angewöhnt hat´- dass da Wochenendbungalows doch furchtbar wären, was Werner vorbehaltlos bejahte, hier dürfe man nur behutsam bauen und allenfalls verlassene alte Häuschen herrichten, und am liebsten hätte er das Haus von Glöckl-Hoges, wo auch heute noch auf dem Türmchendach Tag für Tag Angelus geläutet würde. Aber das wäre ja nicht zu haben, da säßen ja gleich zwei Familien, eine davon mit Veitstanz.


„Werner“, meinte Stilz jetzt, „sehn Sie sich die Leute mal näher an. Wie sind die verwandt? Wo wohnen die auswärtigen Verwandten jetzt, was machen die? Mieten Sie sich hier als Stadtmüder ein. Und genießen Sie die Landschaft. Das ist ein Dienstreiseauftrag auf Staatskosten, um den ich Sie beneide.“


Werner fand prompt eine Familie, die ihm Quartier gab. Trauliches Quartier, nicht eben komfortabel, Klo über den Hof, ohne Fernsehapparat und Internetanschluss, aber mit einer herrlichen Aussicht. Als er eine Woche später zum Rapport bei Stilz antrat, wusste er allerdings nur zu berichten, dass weiterhin niemand dort Auskunft zu geben bereit gewesen war, außer dass sie alle den Veitstanz kannten und den Mörder für ruchlos hielten, weil es sich um eine `Heilige Krankheit´ handele. Was die `Auswärtigen´ anginge, wollten sie kaum mit der Sprache heraus, was die jetzt machten, aber sie schlossen vehement aus, dass die gemordet haben könnten, denn die kämen ja letztlich auch aus ihrem Dorf. Manche freilich seien nun studiert und weit weg und hätten die Heimat vergessen, für die wollten sie nicht bürgen, die wären anders geworden.