Gamestorming

Gamestorming

Ein Praxisbuch für Querdenker, Moderatoren und Innovatoren

Dave Gray

Sunni Brown

James Macanufo

Eike Nitz

Die Informationen in diesem Buch wurden mit größter Sorgfalt erarbeitet. Dennoch können Fehler nicht vollständig ausgeschlossen werden. Verlag, Autoren und Übersetzer übernehmen keine juristische Verantwortung oder irgendeine Haftung für eventuell verbliebene Fehler und deren Folgen.

Alle Warennamen werden ohne Gewährleistung der freien Verwendbarkeit benutzt und sind möglicherweise eingetragene Warenzeichen. Der Verlag richtet sich im Wesentlichen nach den Schreibweisen der Hersteller. Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten einschließlich der Vervielfältigung, Übersetzung, Mikroverfilmung sowie Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel Gamestorming: A Playbook for Innovators, Rulebreakers, and Changemakers bei O’Reilly Media, Inc.

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Satz: Reemers Publishing Services GmbH, Krefeld; www.reemers.de Produktion: Andrea Miß, Köln Belichtung, Druck und buchbinderische Verarbeitung: Druckerei Kösel, Krugzell; www.koeselbuch.de

978-3-89721-326-5

Dieses Buch ist auf 100% chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt.

Kommentare und Fragen können Sie gerne an uns richten: O'Reilly VerlagBalthasarstr. 8150670Kölnkommentar@oreilly.de

Widmung

Für Michael Doyle, meinen Freund und Mentor

Dave Gray

Für meine Mutter, die uns allen gezeigt hat, was bedingungslose Liebe bedeutet

Sunni Brown

Für Drew Crowley, der es draufhat

James Macanufo

Vorwort

In den frühen 60er-Jahren machte uns die gefeierte Kinderbuchautorin Peggy Parrish mit Amelia Bedelia bekannt, einer Haushälterin, die alles allzu wörtlich nimmt. Sie macht solche Sachen, wie den Marmorkuchen mit echtem Marmor zu backen, den Garten in die Luft zu jagen, wenn sie ihn »sprengen« soll, und das Auto zu knacken, wenn gesagt wird, dass die Familie zu einem Ausflug »aufbrechen« will. Meine Kinder quietschen vor Vergnügen, wenn sie von Amelias lustigen Abenteuern lesen.

Oft muss ich herzlich mitlachen – bis mir all die Amelia Bedelias einfallen, denen ich im Rahmen meiner Arbeit schon begegnet bin. Dann sind plötzlich die Fehler, die die Menschen bei ihrer Arbeit machen, gar nicht mehr so lustig: Fehler, die entstehen, weil die Ziele eines Projekts nicht wirklich klar sind oder weil die Auswirkungen von Veränderungen an den Arbeitsabläufen in einem komplexen System nicht bedacht wurden. Fehler, die von Teams gemacht werden, die sich nicht die Freiheit nehmen, mögliche Alternativen abzuwägen, oder von Teams, die nicht ausreichend Zeit investieren, um sorgfältig aus den von ihnen erarbeiteten oder gefundenen Möglichkeiten auszuwählen.

Klar, dass derartige Fehler beträchtliche Produktivitätsverluste nach sich ziehen, aber sie bewirken noch mehr: Sie erzeugen Frustrationen im Team, da bereits erledigte Arbeit noch mal gemacht werden muss. Und sie sorgen für unnötige Meetings, da alle zusammenkommen müssen, um die weitere Vorgehensweise zu erörtern, sobald die Fehler entdeckt werden. Die Fehler sorgen für Verstopfung in den E-Mail-Postfächern, weil man – anders als sonst – plötzlich nicht mehr genau weiß, wem man was per Mail schreiben soll, sondern einfach alle auf CC: oder – noch perfider – auf BCC: setzt.

Solche Fehler können mithilfe der in diesem Buch vorgestellten Spiele vermieden werden.

Ja richtig, Spiele.

Wie Dave, Sunni und James uns sorgfältig erläutern, können ernsthafte Spiele Organisationen dabei helfen, komplexe Problemstellungen durch gemeinschaftliches Spielen zu lösen. Zum Einstieg ins Thema geben die Autoren einen Überblick darüber, warum Organisationen mit solchen Spielen deutlich effektiver werden können; dabei schöpfen Dave, Sunni und James aus ihrem umfang- und facettenreichen Erfahrungsschatz und liefern auch den entsprechenden theoretischen Unterbau. Wenn wir dann mit diesem Wissen ausgerüstet sind, gewähren sie uns einen Einblick in den umfangreichen Katalog von Spielen, mit deren Hilfe Teams eine Vielzahl komplexer Probleme lösen können.

Als Entwickler genau solcher Spiele bin ich besonders von der großen Bandbreite von Spielen beeindruckt, die Dave, Sunni und James in diesem Buch behandeln – basierend auf ihrer eigenen sowie der gesammelten Erfahrung vieler anderer, die in unserem Bereich tätig sind. Das Ergebnis ist ein »Monday Morning Ready«-Buch: Sie können dieses unterhaltsame Buch in einem Wochenende durchlesen und das, was Sie daraus mitnehmen, direkt am Montagmorgen bei der Arbeit anwenden.

Sie sollten Ihr Exemplar allerdings griffbereit halten. Am Anfang werden Sie zwar vermutlich bloß ein oder zwei der vorgestellten Spiele benutzen, aber es ist wahrscheinlich, dass Sie das Buch bald wieder konsultieren wollen oder dass Sie die Website www.gogamestorm.com besuchen möchten, um sich die neuesten Spiele anzusehen, die Dave, Sunni und James (unter Mithilfe ihrer engagierten Community) aufgetrieben haben, um Ihnen dabei zu helfen, Ihre Ziele zu verwirklichen.

Luke Hohmann

Gründer und CEO

The Innovation Games® Company

Einleitung

Im Jahre 1807 begannen die Gebrüder Grimm damit, Märchen zusammenzutragen, die bis zu diesem Zeitpunkt noch nie schriftlich festgehalten worden waren. 1812 veröffentlichten sie eine Sammlung von 86 Märchen unter dem Titel »Kinder- und Hausmärchen«. Bis zur siebten Auflage war die Sammlung auf 211 Märchen angewachsen. Von Märchen wie Rumpelstilzchen, Schneewittchen, Dornröschen, Rapunzel, Aschenputtel, Hänsel und Gretel, dem Froschkönig und Rotkäppchen hätten Sie womöglich ohne die Gebrüder Grimm nie gehört.

Die Beweggründe von Jacob und Wilhelm Grimm waren vielfältig: Als Philologen interessierten sie sich für die sprachlichen Elemente der Geschichten und ihre Quellen, als Historiker wollten sie die Geschichten für die Nachwelt festhalten, die in den Familien erzählt wurden, als Geschichtenerzähler wollten sie unterhalten, und als Deutsche im von Kleinstaaterei geprägten Deutschland lag ihnen daran, die Gemeinsamkeiten der deutschsprachigen Völker zu untersuchen und das Zusammengehörigkeitsgefühl zu fördern.

Vor einigen Jahren machten sich die Autoren dieses Buchs an ein ähnliches Unterfangen: Unser Ziel war es, bestimmte neu entstehende Methoden und Ansätze zu ermitteln, die seit den 70er-Jahren aufkeimen und in einem engen Zusammenhang mit dem erblühenden Informationszeitalter stehen.

Seit der Erfindung des Computerchips befinden wir uns auf dem Weg von einer industriellen zu einer postindustriellen Wirtschaft, in der sich das Konzept Arbeit wandelt. In einer industriellen Gesellschaft wird von den Arbeitnehmern erwartet, dass sie auf einheitliche Stellenprofile passen und bei der Erfüllung ihrer Aufgaben klar definierten Richtlinien, Arbeitsabläufen und Vorschriften folgen. Bei der Wissensarbeit sieht das ganz anders aus: Von den Beschäftigten wird nicht so sehr erwartet, dass sie Standardrollen übernehmen, sondern vielmehr, dass sie kreative, innovative Ergebnisse liefern, die ihre Kunden und Kollegen überraschen. Sie sollen nicht nur eine Funktion ausfüllen, sondern neue, bessere Produkte und Dienstleistungen entwickeln und sogar dramatische, bahnbrechende Resultate erreichen.

Kreativität und Ideenfindung werden seit Langem als eine Art »Blackbox« betrachtet: Als Geschäftsleute versuchen wir normalerweise gar nicht erst, diesen Prozess zu verstehen. Wenn Designer, Erfinder und andere Kreative mit einer bestimmten Aufgabenstellung in ein Zimmer gehen, erwarten wir einfach, dass sie mit mehr oder weniger kreativen Entdeckungen und Ergebnissen wieder herauskommen. Wir können ihnen zwar bei der Arbeit zusehen und dabei irgendeine Kombination aus Skizzieren, lebhafter Unterhaltung, unaufgeräumten Schreibtischen und Trinken beobachten – aber das, was eigentlich in dem Zimmer passiert, bleibt weitgehend im Dunkeln.

Es ist leicht, die Kreativität den Kreativen zu überlassen und sich zu sagen: »Ich bin eben kein kreativer Mensch.« Tatsache ist aber, dass in einer komplexen, dynamischen, wettbewerbsorientierten Wissenswirtschaft diese Einstellung unvertretbar ist. Wenn Sie »Wissensarbeiter« sind, müssen Sie – zumindest bis zu einem gewissen Grad – auch kreativ werden.

Das hört sich vielleicht etwas einschüchternd an, aber erfolgreiche Kreative verwenden meistens simple Strategien und Arbeitsweisen, um zum Ziel zu gelangen. Sie folgen in der Regel keinen einheitlichen, reproduzierbaren Prozeduren, um gleichbleibend kreative Ergebnisse zu erzielen. Was sie tun, ähnelt mehr einem Workshop, in dem sie bestimmte Werkzeuge und Strategien benutzen, um alles eingehend zu untersuchen, neue Ideen zu erkunden, mit Experimenten Hypothesen zu testen und neue, überraschende Erkenntnisse und Ergebnisse herauszuarbeiten.

Und so machten meine Mitautoren und ich uns daran – ähnlich wie die Gebrüder Grimm –, die besten Arbeitsweisen (oder auch »Best Practices«) von überall her zusammenzutragen, wo wir sie finden konnten, mit besonderem Augenmerk auf Silicon Valley, innovative Unternehmen und die Informationsrevolution.

Viele dieser Arbeitsweisen sind aus einer Art »Silicon-Suppe« hervorgegangen, dem eng verzahnten Netzwerk in Silicon Valley, wo Ideen und Menschen sich gegenseitig bestäuben wie Bienen in einem ungeheuren Bienenstock. Die Praktiken werden überwiegend mündlich von Person zu Person überliefert, beispielsweise indem ein Berater einen bestimmten Ansatz bei einem Kunden benutzt und dieser dann damit beginnt, den Ansatz bei seiner eigenen Arbeit zu verwenden. Mit der Zeit benutzen mehr und mehr Leute diese bestimmte Methode, bis sie sich zu etwas ganz anderem weiterentwickelt und am Ende vielleicht die Ursprungsidee oder -methode verschwunden ist. Manchmal werden Methoden schriftlich festgehalten, und manchmal existieren sie – wie Märchen – in vielen unterschiedlichen Versionen an verschiedenen Orten.

Wir haben dieses Buch »Gamestorming« genannt, weil wir keinen anderen Titel finden konnten, der das Phänomen besser beschreibt. Im ersten Teil haben wir uns bemüht, Ihnen eine Vorstellung von der Mechanik oder Architektur zu vermitteln, die den beschriebenen Spielen zugrunde liegt; außerdem erläutern wir einige Designprinzipien, die vielleicht hilfreich sein können, wenn Sie damit anfangen, die Praktiken für sich selbst auszuprobieren.

Wir hoffen, dass dieses Buch sowohl für Einsteiger als auch für erfahrene Fachleute von Nutzen sein wird. Wenn Sie Einsteiger sind, werden Sie hoffentlich eine Welt voller neuer Ideen vorfinden, wie Sie bei der Arbeit verschiedenste Herausforderungen angehen können. Haben Sie schon Erfahrung auf dem Gebiet, hoffen wir, dass auch für Sie ein paar gute Ideen dabei sind, und auch das eine oder andere, das Sie noch nicht kannten.

Unsere Zielsetzung für diese Sammlung war, die besten derartigen Werkzeuge und Praktiken zu finden und in einem Buch zu vereinen.

Eine der größten Herausforderungen für uns war, die Herkunft der einzelnen Spiele nachzuweisen, um angemessene Quellenangaben weitergeben zu können. In manchen Fällen kann es sehr schwierig sein, herauszufinden, wer ein Werkzeug ursprünglich entwickelt hat oder wo es zuerst benutzt wurde. Wir haben unser Bestes getan, um den Ursprung jedes einzelnen Spiels zu ermitteln, und entsprechende Anmerkungen hinzugefügt, wo immer wir konnten – wobei wir uns bemüht haben, nicht vom eigentlichen Inhalt abzulenken. Oft kam es uns vor, als hätten wir eine Folge von Matroschka-Puppen vor uns: Wenn wir die Quelle eines Spiels herausgefunden hatten, schien es auf einmal so, als hätte diese sich wiederum aus einer anderen, früheren Quelle entwickelt, und immer schien es, als lauerte womöglich ein noch älterer Kandidat darauf, aus dem Dunkel zu treten und den Titel für sich zu beanspruchen.

Wir verwenden die Formulierung »basiert auf«, wenn unsere Beschreibung eines Spiels auf schriftlichem Material basiert, dessen Quelle uns bekannt ist. Wenn wir »inspiriert von« schreiben, haben wir zwar die Grundlage, die Idee oder das Ursprungskonzept identifiziert, aber das Spiel selbst basiert auf mündlicher Überlieferung oder unseren eigenen Entwürfen. Sofern wir nicht zuverlässig eine Quelle ermitteln konnten, haben wir dazugeschrieben, dass die Spielquelle unbekannt ist. Falls Sie etwas über die Ursprünge eines dieser Spiele wissen, dann melden Sie sich doch bitte bei uns!

Da wir es im Zusammenhang mit diesem Projekt mit einer ständig wachsenden Community zu tun haben (und es weiter haben werden), gehen wir fest davon aus, dass wir in kommenden Auflagen weitere Spiele hinzufügen, die Sammlung als Ganzes ausfeilen und unser Verständnis der Geschichte dieser Spiele vertiefen werden. Wir haben unter www.gogamestorm.com ein Onlineforum ins Leben gerufen, in dem wir auf Ihre Unterstützung bauen. Wir hoffen darauf, dass Sie Spiele beisteuern werden, die Sie kennen und vielleicht schon einmal selbst gespielt haben, dass Sie uns darin unterstützen werden, Genaueres über die Ursprünge der Ideen und Praktiken herauszufinden, und dass Ihre Kommentare uns allen dabei helfen werden, die komplexe und faszinierende Geschichte von Spielen besser zu verstehen, die bei der kreativen Arbeit eine Rolle spielen.

Dave Gray

Saint Louis

Kapitel 1. Was ist ein Spiel?

Spiele und Spielen sind nicht dasselbe.

Stellen Sie sich einen Jungen vor, der mit einem Ball spielt. Er schießt den Ball gegen eine Wand, und der Ball springt zu ihm zurück. Er stoppt den Ball mit dem Fuß und schießt ihn wieder gegen die Wand. Durch diese Art des Spielens lernt der Junge, bestimmte Körperbewegungen mit den Bewegungen des Balls durch den Raum zu assoziieren. Man könnte das assoziatives Spielen nennen.

Und jetzt stellen Sie sich vor, dass der Junge auf einen Freund wartet. Der Freund kommt, und die zwei Jungen gehen gemeinsam einen Bürgersteig entlang. Dabei schießen sie sich gegenseitig den Ball zu, immer hin und her. Das Spielen hat jetzt eine soziale Dimension bekommen: Die Handlung des einen Jungen erwartet eine Reaktion des anderen und umgekehrt. Man kann sich diese Art des Spielens als eine Art improvisierter Unterhaltung vorstellen, an der sich beide Jungen beteiligen, indem sie den Ball als Medium benutzen. Bei dieser Art des Spielens ist weder ein Anfang noch ein Ende klar zu erkennen, die Übergänge sind fließend. Man könnte das also fließendes Spielen nennen.

Jetzt nehmen wir an, dass die Jungen zu einem kleinen Park kommen und es ihnen langweilig wird, den Ball immer nur hin- und herzuschießen. Der eine Junge sagt zum anderen: »Lass uns versuchen, den Baum da zu treffen. Wir schießen von hinter der Linie hier.« Der Junge zieht mit seiner Hacke eine Linie in den Sand. »Wir schießen abwechselnd. Jedes Mal, wenn man den Baum trifft, bekommt man einen Punkt. Wer zuerst fünf Punkte hat, hat gewonnen.« Der andere Junge ist einverstanden, und die beiden fangen an zu spielen. Aus dem Spielen ist jetzt ein Spiel geworden, eine grundlegend andere Art des Spielens.

Was ist an einem Spiel anders? Man kann dieses sehr einfache Spiel in mehrere Grundkomponenten zerlegen, die es von anderen Arten des Spielens unterscheiden.

Spiel-Raum:

In ein Spiel einzutauchen, bedeutet, in einen andersartigen Raum einzutreten, in dem die Regeln des normalen Lebens vorübergehend nicht mehr gelten – die Regeln des Spiels nehmen ihren Platz ein. Eigentlich erschafft ein Spiel eine alternative Welt, eine Modellwelt. Um einen Spiel-Raum zu betreten, müssen die Spieler einwilligen, sich an die Regeln dieses Raums zu halten, und sie müssen ihn freiwillig betreten. Wenn jemand zum Mitspielen gezwungen wird, ist es kein Spiel. Diese gemeinsame Abmachung der Spieler, die Wirklichkeit vorübergehend außer Kraft zu setzen, schafft einen sicheren Raum, in dem die Spieler Verhaltensweisen an den Tag legen dürfen, die im normalen Leben riskant, peinlich oder sogar gemein wären. Durch die Einigung auf bestimmte Regeln (hinter der Linie bleiben, abwechselnd schießen usw.) betreten die beiden Jungen eine gemeinsame Welt. Ohne diese Einigung wäre das Spiel unmöglich.

Begrenzung:

In einem Spiel existieren zeitliche und räumliche Grenzen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt fängt das Spiel an, nämlich wenn die Spieler den Spiel-Raum betreten, und zu einem anderen wird es dadurch beendet, dass sie den Spiel-Raum verlassen. Der Spiel-Raum kann »auf Pause gesetzt« bzw. aktiviert werden, wenn die Spieler es gemeinsam beschließen. So könnten die Spieler übereinkommen, das Spiel für die Mittagspause zu unterbrechen oder damit einer von ihnen auf die Toilette gehen kann. Außerdem hat ein Spiel üblicherweise räumliche Grenzen, und nur innerhalb dieser Grenzen gelten die Regeln. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, dass sich Zuschauer einfinden, die sich das Wettschießen ansehen möchten. Es liegt auf der Hand, dass sie sich nicht zwischen Spieler und Baum stellen oder die Spieler ablenken können, ohne das Spiel zu verderben oder zumindest zu verändern.

Interaktionsregeln:

Die Mitspieler kommen überein, innerhalb des Spiel-Raums die Regeln zu befolgen, nach denen die Spielwelt funktioniert. Die Spielregeln legen die Bedingungen des Spiel-Raums fest, genau wie die Naturgesetze – zum Beispiel die Schwerkraft – die reale Welt beherrschen. Gemäß den Regeln der Spielwelt kann ein Junge den Ball genauso wenig von der falschen Seite der Linie aus schießen, wie er einen Ball dazu bringen kann, von unten nach oben zu fallen. Natürlich könnte er es, aber damit würde er den Spiel-Raum missachten – und das nennt man mogeln.

Spielobjekte:

Die meisten Spiele arbeiten mit materiellen Objekten. Das sind Gegenstände, die Informationen über das Spiel liefern, und zwar entweder durch ihre bloße Existenz oder durch ihre Position. In unserem Spiel sind der Ball und der Baum solche Gegenstände. Wenn der Ball den Baum trifft, gibt es einen Punkt – das ist eine Information. Spielobjekte können dazu verwendet werden, den Spielverlauf aufzuzeichnen und den aktuellen Stand des Spiels darzustellen. Zum Beispiel kann man sich gut vorstellen, dass die Jungen, wenn ein Punkt erzielt wird, ein Steinchen auf den Boden legen oder Striche in den Sand zeichnen, um den Spielstand festzuhalten – das ist eine weitere Art von Informationsobjekt. Die Spieler selbst sind auch Objekte, und zwar insofern, als ihre Positionen Informationen über den Stand des Spiels liefern können. Vergleichen Sie einmal die Positionen von Spielern auf einem Fußballplatz mit den Figuren auf einem Schachbrett.

Spielziel:

Die Spieler müssen erkennen können, wann das Spiel zu Ende ist. Es muss einen End(zu)stand geben, den alle erreichen wollen, den man erkennen kann und über den sich alle Mitspieler einig sind. Die Dauer von Spielen kann festgelegt sein, so wie es in vielen Sportarten der Fall ist, z.B. beim Fußball. In unserem Fall ist jedes Mal ein Ziel erreicht, wenn einer der Spieler den Baum mit dem Ball trifft, und das Spiel ist zu Ende, wenn der erste Spieler fünf Punkte erreicht hat.

Diese vertrauten Elemente sind in jedem Spiel wiederzufinden, ob es nun Schach ist, Tennis, Poker, Ringelpiez – oder die Spiele, die in diesem Buch beschrieben werden.

Die Evolution der Spielwelt

Jedes Spiel ist eine eigene Welt, deren Entwicklung verschiedene Phasen durchläuft, und zwar diese: sich die Welt vorstellen, die Welt erschaffen, die Welt öffnen, die Welt erforschen und die Welt schließen. Und das funktioniert so:

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Stellen Sie sich die Welt vor.

Bevor das Spiel beginnen kann, müssen Sie sich eine mögliche Welt vorstellen: einen temporären Raum, in dem die Spieler eine beliebige Zusammenstellung von Ideen oder Möglichkeiten entdecken können.

Erschaffen Sie die Welt.

Eine Spielwelt bekommt ihre Form, indem man sie mit Grenzen, Regeln und Spielobjekten ausstattet. Grenzen sind die räumlichen und zeitlichen Grenzen der Welt, ihr Anfang, ihr Ende und ihre Ränder. Regeln sind die Gesetze, die die Welt regeln. Objekte sind das, was die Welt bevölkert.

Öffnen Sie die Welt.

Eine Spielwelt kann nur betreten werden, wenn die Spieler sich darüber einig sind. Um zuzustimmen, müssen sie die Grenzen, Regeln und Objekte des Spiels kennen und wissen, was diese repräsentieren, wie sie funktionieren und so weiter.

Erkunden Sie die Welt.

Ziele sind die Kräfte, die die Erkundung antreiben. Sie sorgen für die nötige Spannung zwischen den Anfangsbedingungen der Welt und einem angestrebten Zustand. Ziele können im Vorhinein festgelegt werden oder von den Spielern im Laufe des Spiels. Wenn die Spieler in die Welt eingetreten sind, versuchen sie, ihre Ziele zu erreichen, und zwar im Rahmen der Bedingungen, die im System der Spielwelt herrschen. Sie interagieren mit Objekten, probieren Ideen aus, versuchen es mit verschiedenen Strategien und passen sich wechselnden Bedingungen an, während das Spiel voranschreitet – alles aus dem Antrieb heraus, ihre Ziele zu erreichen.

Schließen Sie die Welt.

Ein Spiel ist beendet, wenn das Spielziel erreicht ist. Obwohl das Erreichen eines Ziels den Spielern ein Gefühl der Genugtuung und des Erfolgs gibt, ist das Ziel nicht das, worum es eigentlich beim Spiel geht, sondern es ist eine Art von Markierungspunkt, mit dem der Spiel-Raum zeremoniell geschlossen wird. Das, worum es eigentlich beim Spiel geht, sind das Spielen selbst, die dabei stattfindende Erforschung eines Fantasieraums und die Erkenntnisse, die man bei dieser Erforschung gewinnt.

Sich die Welt vorstellen, die Welt erschaffen, die Welt öffnen, die Welt erforschen und die Welt schließen. Die ersten beiden Schritte entsprechen der Entwicklung eines Spiels und die übrigen drei dem Spielen.

Ist ein Spiel erst einmal fertig entwickelt, kann es unendlich oft gespielt werden. Wenn Sie also ein vorgefertigtes Spiel spielen, gibt es nur drei Schritte: die Welt öffnen, die Welt erforschen und die Welt schließen.

Beim Gamestorming geht es darum, Spielwelten zu erschaffen, die spezifischen Zwecken dienen: unternehmerische Herausforderungen zu erkunden und zu untersuchen, die Zusammenarbeit zu fördern und neue Erkenntnisse darüber zu gewinnen, wie die Welt funktioniert und was für Möglichkeiten sich darin bieten. Spielwelten sind alternative Wirklichkeiten, Paralleluniversen, die man erschaffen und erkunden kann, wobei die eigene Vorstellungskraft die einzige Grenze darstellt. Ein Spiel kann man sorgfältig im Voraus entwickeln oder mit vorhandenen Materialen aus dem Stegreif zusammenzimmern. Die Fertigstellung eines Spiels kann eine Viertelstunde dauern oder mehrere Tage. Die Anzahl möglicher Spiele ist ebenso unbegrenzt wie die Anzahl möglicher Welten. Indem Sie sich neue Welten vorstellen und sie erschaffen und erkunden, werden Sie die Tür zu kreativem Denken und echter Innovation öffnen.

Wirtschaft als Spiel

Als Erstes wollen wir das »Wirtschaftsspiel« auf seine grundlegendsten Komponenten reduzieren.

Die Wirtschaft baut – wie viele andere menschliche Aktivitäten – auf Ziele auf. Ziele bringen uns von A nach B, nämlich von da, wo wir sind, nach da, wo wir hinwollen. Ein Ziel erzeugt eine Spannung zwischen dem aktuellen Zustand A – dem Ursprungszustand – und einem angestrebten zukünftigen Zustand B – dem Zielzustand. Zwischen A und B befindet sich etwas, das man den »Aufgabenraum« nennen könnte: das Gebiet, das wir durchqueren müssen, um hinüberzugelangen.

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In einer industriell geprägten Wirtschaft muss die Arbeit so organisiert werden, dass dabei gleichmäßige, wiederholbare, vorhersagbare Ergebnisse herauskommen. Ziele sind optimal definiert, wenn sie spezifisch und quantifizierbar sind. In solchen Fällen sollte man sicherstellen, dass die Ziele so klar und eindeutig sind wie möglich. Je spezifischer und besser messbar das Ziel ist, desto besser. Wenn in der industriellen Arbeit ein klares, genaues Ziel vorliegt, ist die beste Methode zur Bewältigung der Aufgaben ein Geschäftsprozess – also eine Abfolge von Schritten, die, wenn man sie genau befolgt, eine Kausalkette erzeugt, die beständig zum gleichen Ergebnis führt.

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In der Wissensarbeit hingegen sollte die Arbeit auf Kreativität hin ausgerichtet sein – unterm Strich geht es weniger um Vorhersagbarkeit als um zündende Ideen, die ja nun mal von Natur aus unvorhersagbar sind. Bei einem kreativen Vorhaben ist das Ziel nicht, den Ist-Zustand nach und nach zu verbessern, sondern etwas Neues zu schaffen.

Per definitionem bedeutet »neu« so viel wie »bislang unbekannt«. Wenn man also wirklich etwas kreieren will, ist es unmöglich, das Ziel im Vorhinein genau festzulegen, da die Gleichung zu viele Unbekannte enthält. Ein derartiges Projekt anzufangen, ähnelt einer Entdeckungsreise: Ähnlich wie Kolumbus stechen Sie vielleicht in See, um eine neue Route nach Indien zu suchen, aber stattdessen entdecken Sie etwas wie Amerika – also etwas völlig anderes, aber womöglich noch kostbarer.

Unscharfe Ziele

Um in eine ungewisse Zukunft aufzubrechen, müssen Sie wie Kolumbus einen Kurs einschlagen. Aber wie setzen Sie einen Kurs, wenn das Reiseziel unbekannt ist? An dieser Stelle wird es notwendig, sich eine Welt vorzustellen: eine zukünftige Welt, die sich von unserer eigenen unterscheidet. Irgendwie muss man sich eine Welt vorstellen, die man noch nicht rundum erfassen kann – eine Welt, die wie durch einen Dunst hindurch nur schemenhaft zu erkennen ist.

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Im Bereich der Wissensarbeit müssen die Ziele unscharf sein.

Gamestorming stellt eine Alternative zum herkömmlichen Geschäftsprozess dar. Beim Gamestorming sind die Ziele nicht genau definiert, und deshalb kann man die Art und Weise, wie man die Aufgabe angeht, weder im Voraus festlegen noch zuverlässig vorhersagen.

Während ein Geschäftsprozess eine solide, verlässliche Kausalkette erzeugt, bewirkt das Gamestorming etwas anderes, und zwar keine Kette, sondern einen Rahmen fürs Erkunden, Experimentieren und Ausprobieren. Die Route zum Ziel ist nicht festgelegt, und auch das Ziel selbst kann sich noch ändern.

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Das gilt sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene. Um ein komplexes Industrieprodukt zu entwickeln, ist es erforderlich, viele verschiedene Prozesse miteinander zu verknüpfen. Wenn man mehrere Prozesse aneinanderreiht, ergibt sich eine verzweigte Struktur mit vielen Abhängigkeiten. Solange jeder einzelne Schritt präzise durchgeführt wird und im Laufe des Prozesses keine Veränderungen eintreten, wird das Ziel jedes Mal zuverlässig und vorhersagbar erreicht. Die Herausforderung für die Ablauforganisation besteht darin, Genauigkeit, Kontinuität und Einheitlichkeit zu gewährleisten.

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Zur Organisation kreativer Arbeit bedarf es eines andersartigen Ansatzes. Weil das Ziel im Vorhinein nicht genau bestimmt werden kann, muss man bei einem solchen Projekt auf der Grundlage von Intuition, Hypothesen und Vermutungen vorgehen. Diese Vorgehensweise ist übrigens in der Welt des Militärs wohlbekannt, da das Arbeiten in uneindeutigen, unsicheren, unberechenbaren Umgebungen der Normalzustand ist.

Bekanntermaßen werden beim Militär Spiele und Simulationen eingesetzt, um den Krieg zu üben. Aber das Militär benutzt dafür auch sogenannte Operationskonzepte (auch CONOPS), um zum einen ein Konzept für das anzuwendende System und die angestrebten Ziele zu entwerfen und zum anderen dieses Konzept denjenigen zu vermitteln, die zusammen daran arbeiten sollen, diese Ziele zu erreichen. Mit einem Operationskonzept kann man im Grunde Folgendes ausdrücken: »Hier seht ihr, wie das System unserer Meinung nach funktioniert, soweit wir es zum jetzigen Zeitpunkt beurteilen können. Und so wollen wir an die Sache herangehen ...«

Ein Operationskonzept ist ein Mittel, um sich eine Welt vorzustellen.

Das alles mag sich kompliziert anhören, aber denken Sie nur an unsere zwei Fußballjungen: Die Welt, die wir erschaffen, muss nicht unbedingt kompliziert sein, um interessant zu sein und uns voranzubringen. Sich eine Welt vorzustellen, ist so einfach oder so komplex, wie Sie es sich machen, abhängig von Ihrer Zielsetzung, Ihrer Situation und der zur Verfügung stehenden Zeit.

Anders als ein umfangreicher, komplexer Prozess, der vorab geplant werden muss, wird ein Operationskonzept ständig überprüft und angepasst, wenn während der Durchführung auftretende Umstände oder Erkenntnisse dies erfordern. Also müssen Sie natürlich schon ein Ziel haben, aber da Sie wirklich wenig über den Aufgabenraum wissen, wird sich dieses Ziel höchstwahrscheinlich verändern, während Sie neue Ideen ausprobieren und mit der Zeit herausbekommen, was funktioniert und was nicht.

Beim Gamestorming sind Spiele nicht Glieder einer Kette, sondern eher einzelne Missionen im Rahmen eines Gesamteinsatzes.

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In einem Aufsatz mit dem Titel »Radical innovation: crossing boundaries with interdisciplinary teams« (»Radikale Innovation: mit interdisziplinären Teams Grenzen überschreiten«) haben der Forscher Alan Blackwell von der University of Cambridge und einige seiner Kollegen unscharfe Ziele (die sie »Polarsternsicht« nennen) als Kernelement erfolgreicher Innovation ausgemacht. Ein unscharfes Ziel ist ein Ziel, das »die allgemeine Richtung der Arbeit bestimmt, ohne das Team Chancen übersehen zu lassen, die sich unterwegs ergeben«. Ein Teamleiter hat diese Herangehensweise einmal als »Seitwärts-Management« bezeichnet. Zu den wichtigen Aspekten, die das Forschungsteam aus Cambridge in diesem Zusammenhang benennt, gehören das Gleichgewicht zwischen Konzentriertheit und Sich-treiben-Lassen und die Abstimmung der Teamziele mit denen der einzelnen Mitarbeiter.

Unscharfe Ziele überbrücken den Raum zwischen zwei widersprüchlichen Kriterien. Am einen Ende des Spektrums steht ein klares, spezifisches, quantifizierbares Ziel, zum Beispiel 1.000 Einheiten oder 1.000 Euro. Am anderen Ende steht ein Ziel, das so vage definiert ist, dass es praktisch unmöglich zu erreichen ist, zum Beispiel der Weltfrieden oder die einheitliche Theorie für alles. Solche Ziele sind zwar edel und theoretisch sogar erreichbar, aber sie sind nicht ausreichend klar definiert, um die kreative Aktivität in eine bestimmte Richtung zu lenken. Unscharfe Ziele sollten den Teammitgliedern ein allgemeines Gefühl für Richtung und Zweck des Ganzen geben, ihnen aber genug Freiheit lassen, um ihrer Intuition zu folgen.

Wie viel Unschärfe ist optimal? Um ein unscharfes Ziel zu definieren, braucht man eine bestimmte Menge ESP: Unscharfe Ziele sind emotional, sensorisch und progressiv.

Emotional:

Unscharfe Ziele müssen die Leidenschaft und Energie ansprechen, mit der die Beteiligten bei einem Projekt dabeisind. Es sind diese Leidenschaft und diese Energie, die kreativen Projekten ihren Schwung verleihen. Deshalb müssen unscharfe Ziele eine fesselnde emotionale Komponente haben.

Sensorisch:

Je greifbarer ein Ziel ist, desto leichter kann man es mit anderen teilen. Skizzen und schlichte Modelle ermöglichen es, Ideen eine Form zu geben, die ansonsten zu vage bleiben, um sie zu erfassen. Es könnte möglich sein, das Ziel selbst bildlich darzustellen oder ein Ergebnis seiner Erreichung, zum Beispiel ein Kundenerlebnis (oder eine Customer Experience, wie man heute gern sagt). So oder so muss man den anderen ein Ziel verständlich und greifbar machen, um es mit ihnen teilen zu können.

Progressiv:

Unscharfe Ziele sind nicht statisch, sondern sie verändern sich mit der Zeit. Das liegt daran, dass man bei der Bewegung auf ein unscharfes Ziel zu noch nicht weiß, was man nicht weiß. Die Bewegung auf ein Ziel zu ist auch ein Lernprozess, der manchmal als sukzessive Annäherung bezeichnet wird. Während das Team dazulernt, können sich die Ziele verändern, und deshalb ist es wichtig, ab und zu innezuhalten und sich umzusehen. Unscharfe Ziele müssen verändert (und manchmal auch völlig neu definiert) werden angesichts dessen, was sich unterwegs ergibt.

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Innovative Teams müssen durch mehrdeutige, unsichere und oft komplexe Informationsräume navigieren. Das Unbekannte überwiegt normalerweise bei Weitem gegenüber dem Bekannten. In vielerlei Hinsicht ist es eine Fahrt durch einen Nebel, in dem es noch keine Fallstudien gibt und noch keine Vorbilder dafür, wie man es richtig macht. Entdeckungsreisen sind riskanter und scheitern häufiger als andere Vorhaben. Aber sie zahlen sich aus.

Spielentwicklung

Wenn Sie direkt mit dem Gamestorming loslegen wollen, können Sie einfach zu Kapitel 5 vorblättern, wo die Spielesammlung beginnt, und damit beginnen, in Ihrem Unternehmen für neue Impulse zu sorgen. Aber wenn Sie Gamestorming so richtig von Grund auf beherrschen wollen, müssen Sie lernen, wie Sie eigene Spiele entwerfen, die Ihren spezifischen Zielsetzungen entsprechen.

Stellen Sie sich zunächst einmal Folgendes vor. Ein Spiel hat eine Form. Es sieht ein bisschen aus wie ein Bleistiftstummel, der an beiden Enden angespitzt ist. Das Ziel des Spiels ist, von Punkt A, dem Anfangszustand, zu Punkt B zu gelangen, dem Spielziel. Zwischen A und B befindet sich der Bleistiftstummel – diesen Raum müssen Sie mit Ihrem Spielaufbau füllen.

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Zielzustand:

Beim Entwerfen eines Spiels hat man schon zu Anfang das Ende im Kopf: Sie müssen das Ziel des Spiels kennen. Was soll am Ende erreicht worden sein? Wie sieht der Sieg aus? Was nehmen die Teilnehmer für sich mit? Genau das ist der Ausgang des Spiels, der Zielzustand. Ich stelle mir das so vor, dass der Zielzustand sich durch etwas Greifbares auszeichnet, ob es nun ein Prototyp ist, ein Projektplan oder eine Liste von Ideen, die man sich dann später genauer ansieht. Denken Sie also daran, dass das Ziel möglichst handfest sein sollte, damit die Teilnehmer auf etwas Bestimmtes hinarbeiten können und am Ende das Gefühl haben, etwas zustande gebracht zu haben. So können sie, wenn sie fertig sind, auf eine gemeinsame Leistung blicken.

Anfangszustand:

Natürlich muss man auch wissen, wie der Anfangszustand aussieht. Was wissen wir, und was wissen wir (noch) nicht? Wer sind die Teammitglieder? Welche Ressourcen bzw. Hilfsmittel stehen zur Verfügung?

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Ist man sich schließlich über den Anfangs- und den Zielzustand im Klaren – soweit es eben geht (viele Ziele sind ja unscharf) – kann man damit beginnen, die Spielform auszufüllen. Genau wie viele gute Filme besteht ein Spiel aus drei Akten.

Im ersten Akt wird der Rahmen geschaffen: Es werden die handelnden Personen vorgestellt und die Themen, Ideen und Informationen eingeführt, die in der Spielwelt eine Rolle spielen. Im zweiten Akt spielt man mit den im ersten Akt etablierten Themen, entwickelt sie weiter und nimmt sie unter die Lupe. Im dritten Akt zieht man Schlüsse, trifft Entscheidungen und überlegt sich, wie weitere Schritte aussehen könnten, die dann wiederum die Grundlage für ein weiteres Spiel bilden könnten oder was sonst als Nächstes ansteht.

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Jede der drei Spielphasen dient einem bestimmten Zweck.

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Eröffnung:

Der erste Akt ist der Eröffnungsakt, denn hier geht es darum, das Bewusstsein der Leute zu öffnen und Möglichkeiten zu eröffnen. Im Eröffnungsakt holt man die Teilnehmer ins Zimmer, packt die Karten auf den Tisch und sorgt dafür, dass die Ideen und Informationen fließen. Stellen Sie sich die Eröffnung als einen Urknall vor, eine Explosion von Ideen und Chancen.

Je mehr Ideen Sie zutage fördern können, desto mehr Material haben Sie für die nächste Phase. Während der Eröffnung sollten kritisches Denken und Skepsis außen vor bleiben – in dieser Phase sind Drauflosdenken, Brainstorming, Tatendrang und Optimismus angesagt. Das Stichwort für die Eröffnungsphase ist »ausbreiten«: Es geht darum, möglichst weit auseinanderliegende Perspektiven zu entwickeln und die Spielwelt mit so vielen und so unterschiedlichen Ideen zu füllen, wie es nur eben geht.

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Erkundung:

Wenn Energie und Ideen fließen, ist es Zeit für Erkundung und Experimente. Hier kann man Gas geben – man sucht nach Mustern und Analogien, versucht, Dinge in einem anderen Licht zu betrachten, siebt und sortiert Ideen, entwickelt und prüft Neues und so weiter. Das Stichwort für die Erkundungsphase ist »Form annehmen«: Es geht darum, die Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass Unvorhergesehenes, Überraschendes und Schönes zutage tritt und Form annimmt.

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Abschluss:

Im letzten Akt geht es darum, Schlüsse zu ziehen und Entscheidungen, Aktionen und weitere Schritte zu erarbeiten. In dieser Phase sieht man sich mit kritischem bzw. realistischem Blick die Ideen an, um sie zu bewerten. Man kann nicht alles realisieren und nicht jede Chance nutzen, die sich bietet. Welche Ansätze sind am vielversprechendsten? In was wollen Sie Ihre Zeit und Energie investieren? Das Stichwort für die Abschlussphase ist »zusammenlaufen«: Es geht darum, die Ergebnisse auszudünnen und die aussichtsreichsten Konzepte auszuwählen, mit denen man weitermachen will.

Wenn Sie eine Übung oder einen Workshop planen, sollten Sie wie ein Komponist zu denken versuchen, der die verschiedenen Aktivitäten orchestriert, um Kreativität, Nachdenken, Tatendrang und Entscheidungsfindung in einen harmonischen Einklang zu bringen. Es gibt nicht nur einen richtigen Weg, um ein Spiel zu entwerfen. Jedes Unternehmen und jedes Land hat seine eigene Kultur, und jede Gruppe hat ihre eigene Dynamik. Für die einen muss es schnell vorangehen, andere brauchen mehr Zeit zum Nachdenken.

In Finnland ist es zum Beispiel durchaus üblich, dass, während man in der Runde über eine Frage nachdenkt, für eine ganze Weile Stille herrscht, bevor jemand sich zu Wort meldet. Wenn man mit dieser Kultur nicht vertraut ist, kann einem das ganz schön unangenehm sein. Machen Sie gründlich Ihre Hausaufgaben und komponieren Sie einen Flow, der zur jeweiligen Gruppe und Aufgabenstellung passt.

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Eröffnung, Erkundung und Abschluss sind Grundprinzipien, die Ihnen dabei helfen, den Flow zu organisieren und die bestmöglichen Ergebnisse aus der jeweiligen Gruppe herauszukitzeln. Ein typischer eintägiger Workshop kann mit diversen Spielen ausgefüllt werden, die auf verschiedenste Art und Weise miteinander in Verbindung stehen. Zum Beispiel können Spiele der Reihe nach gespielt werden, sodass jeweils das, was bei dem einen Spiel herausgekommen ist, die Rahmenbedingungen für das nächste liefert.

Unten sehen Sie eine Serie, bei der drei Spiele der Reihe nach gespielt werden. Jedes Spiel ist klar in Eröffnung, Erkundung und Abschluss gegliedert. Der Ausgang des einen Spiels dient dabei jeweils als Input für das nächste. Ein solcher Aufbau ist schlicht, übersichtlich und für alle Teilnehmer leicht nachzuvollziehen.

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Bei der nächsten Serie werden zwischen drei längeren, intensiven Spielen zwei kürzere eingefügt. Diese Kurzspiele könnten zum Beispiel dazu dienen, den Teilnehmern zwischen den intensiveren Aktivitäten ein bisschen Luft zu verschaffen.

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Vor allem bei größeren Gruppen kann es sinnvoll sein, verschiedene Ziele gleichzeitig zu verfolgen. Ein Schlüsselkonzept in der Spielentwicklung besteht darin, bei der Eröffnung und beim Abschluss etwas zu variieren. Bei diesem »Ausbrechen und Zurückmelden« genannten Ansatz teilt sich eine große Gruppe für ein oder zwei Spiele in mehrere Untergruppen auf. Anschließend kommen alle wieder in der großen Runde zusammen und berichten darüber, was in den Untergruppen herausgekommen ist. Indem man auf diese Weise verschiedene Spiele gleichzeitig spielen lässt, kann man Gruppen überschaubar und dynamisch halten und auch noch die Ideenbandbreite erweitern.

Außerdem braucht man Zeit, um über Ideen nachzudenken. Ausbrüche (auch Breaks genannt) können dazu Gelegenheit bieten. Mithilfe von »Ausbrechen und Zurückmelden« kann man Gruppenarbeit und Nachdenken ins Gleichgewicht bringen und den Leuten zwischendurch etwas Ruhe gönnen. Zum Beispiel könnten Sie die Mitglieder einer Gruppe bitten, sich ein Weilchen mit Einzelübungen zu beschäftigen und im Anschluss in der Runde darüber zu berichten.

Nachfolgend sehen Sie eine Serie, in deren Eröffnungssitzung drei verschiedene Ziele vorgestellt werden, die parallel in »Ausbruchsgruppen« bearbeitet werden. Am Ende der Serie wird bei einer »Rückmeldesitzung« in der großen Runde über die Ergebnisse der drei Untergruppen berichtet.

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Und hier sehen Sie eine Serie, bei der die Ergebnisse des ersten Spiels Futter für fünf Folgespiele liefern, die dann Input für zwei Spiele bereitstellen, die wiederum die Grundlage für ein einzelnes längeres Spiel liefern. Eine solche Abfolge könnte man zum Beispiel für einen Workshop verwenden, bei dem mehrere verschiedene Konzepte und Themen parallel bearbeitet werden sollen.

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Es folgt ein ganztägiges Spiel, bei dem die Teilnehmer den größten Teil des Morgens mit breit gestreuten, auseinanderlaufenden Aktivitäten verbringen, was eine Menge Ideen und Informationen erzeugt. Die Erkundungsphase wird von der Mittagspause unterbrochen, wodurch sie zweigeteilt ist. Am Nachmittag folgen dann Aktivitäten, die sich wieder aneinander annähern, um dann zu einem einzigen Ergebnis zusammenzufließen. Beim gemeinsamen Mittagessen sitzen die Teilnehmer an vier Tischen, um ungezwungen miteinander zu plaudern und sich über das, was im Laufe des Vormittags passiert ist, unterhalten zu können, bevor es mit der Nachmittagsveranstaltung weitergeht. Ein derartiger Ablauf ist zum Beispiel geeignet für Gruppen, in denen jeder einzelne Teilnehmer sich mehr oder weniger für jeden einzelnen Bestandteil der Veranstaltung interessiert – so sind alle an allen Teilen des Spiels beteiligt.

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Manchmal passiert während des Spiels etwas, das einen Richtungswechsel notwendig macht. In der folgenden Serie ergab sich im Rahmen der anfänglichen Eröffnung und Erkundung ein neues Ziel, mit dem keiner gerechnet hatte. Die Teilnehmer machten aus, die Gruppe in zwei Untergruppen aufzuteilen, von denen die eine auf das ursprüngliche und die andere auf das neue Ziel hinarbeitete.

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In Ordnung, dann ist es jetzt wohl an der Zeit, ein Spiel zu entwerfen oder vielleicht sogar eine Spielserie. Wo fängt man am besten an? Womit kann man arbeiten? Erinnern Sie sich daran, dass der Gamestorming-Ansatz dafür gedacht ist, unvorhersehbare, überraschende und sogar bahnbrechende Ergebnisse zu erzielen – es ist eine Methode zum Erkunden und Entdecken.

Denken Sie an die Persönlichkeiten, die ein Stück der Welt erkundet haben, Leute wie Kolumbus, von Humboldt, Amundsen und Armstrong. Stellen Sie sich vor, wie es sich angefühlt haben muss, einer von ihnen zu sein. Sie sind auf der Suche nach etwas, das Sie womöglich nicht finden werden. Sie können mit ziemlicher Sicherheit davon ausgehen, dass Sie etwas finden werden, mit dem Sie gar nicht rechnen. Sie haben nur eine vage Vorstellung davon, worauf Sie unterwegs stoßen könnten. Und doch müssen Sie – wie eine Schildkröte – alles, was Sie brauchen, auf Ihrem Rücken mitschleppen.