1 Einleitung

„Die meisten Ereignisse verblassen mit dem Abstand von zwölf Monaten. Der Fall Kampusch dagegen überstrahlt noch immer alle anderen Kriminalgeschichten.“1

Der „Fall Natascha Kampusch“ gehört zweifelsohne zu den spektakulärsten Fällen der österreichischen Kriminalgeschichte. Seit der Entführung von Natascha Kampusch am 2. März 1998 im Alter von zehn Jahren ist diese mittlerweile erwachsene Frau nicht mehr aus der Medienberichterstattung verschwunden. Seit ihrem überraschenden Wiederauftauchen am 23. August 2006 entstanden unzählige Publikationen mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Inhalten. Doch wie gingen die Medien mit dem plötzlichen Verschwinden des Mädchens um? Wie bereiteten österreichische Tageszeitungen den Fall auf? Wie konnte sich das Thema in der Berichterstattung etablieren? Welche Thematisierungen standen im Vordergrund? Diese Fragestellungen stehen im Mittelpunkt meines Interesses.

Ich habe den „Fall Natascha Kampusch“ von Beginn an mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Der damals beobachtete Umgang der Tageszeitungen mit dem Verschwinden des zehnjährigen Mädchens war sicher mit ein Grund für meine Entscheidung, Publizistik und Kommunikationswissenschaft zu studieren. Mich faszinierte, wie es Wahrsager mit teilweise recht abstrusen Theorien in die „Kronen Zeitung“ schafften. Es war für mich eine spannende Frage, wie und warum es zu einer häufigen Re-Thematisierung kam, obwohl es keine neue Spur und es keine Fortschritte in der Polizeiarbeit gab. Immer wieder schafften es Beiträge in die Berichterstattung, die eigentlich nichts Neues zu berichten hatten. Die Herstellung von Verbindungen mit anderen Vermissten- und Entführungsfällen, die teilweise recht weit hergeholt erschienen, war für mich schon 1998 sehr spannend. Ohne Begriffe wie „Nachrichtenwert“ oder „Gatekeeper“ zu kennen, war es für mich damals vor allem anhand dieses konkreten Falls von Interesse, wie die Nachrichtenauswahl funktioniert und nach welchen Kriterien Journalisten Nachrichten auswählen. Zum Abschluss meines Studiums sollte nun also der „Fall Natascha Kampusch“ im Zeitverlauf untersucht werden. Anfängliche Ratlosigkeit, wie das Thema einzugrenzen sei, sowie berufliche, gesundheitliche und private Gründe verzögerten die Fertigstellung dieser Diplomarbeit, die bei optimalem Zeitmanagement bereits im Sommer 2006 hätte fertiggestellt werden können. Eine fertig gestellte Diplomarbeit über den „Fall Natascha Kampusch“ hätte nach dem Wiederauftauchen des Mädchens vermutlich mehr Interesse hervorgerufen, als dies nun der Fall sein wird. Dies soll ein wertvoller Hinweis für Studenten sein, sich mit der Erstellung ihrer Abschlussarbeit nicht zu lange Zeit zu lassen. In all den Jahren hatte ich die Hoffnung, Natascha Kampusch könnte noch leben. Als ich am 23. August 2006 um 16:30 Uhr auf Radio Wien die von der Reporterin aufgeregt vorgelesene Meldung hörte, Natascha Kampusch sei wieder aufgetaucht, war aber auch mein Erstaunen groß.

Ziel dieser Arbeit ist es nun, die Entwicklung des „Falls Natascha Kampusch“ in den achteinhalb Jahren ihrer Entführung in den Tageszeitungen „Kronen Zeitung“, „Kurier“ und „Die Presse“ darzustellen. Angelehnt an die Erkenntnisse der Kommunikationswissenschaft bezüglich der Nachrichtenauswahl und der Entstehung von Themen sollen Entwicklung und Verlauf der Themenkarriere, sowie Unterschiede zwischen den Zeitungen analysiert werden. Vor diesem Hintergrund liegt das kommunikationswissenschaftliche Erkenntnisinteresse der vorliegenden Untersuchung in der Aufbereitung des Falls in den drei Tageszeitungen hinsichtlich Umfang, Platzierung, Thematisierung und Darstellung.

Diese Diplomarbeit gliedert sich in acht Kapitel. Zu Beginn erfolgt eine kurze Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse im „Fall Natascha Kampusch“ von 1998 bis 2009. Danach wird der Frage nachgegangen, nach welchen Kriterien Journalisten Nachrichten auswählen und welche Faktoren über den Nachrichtenwert einer Information entscheiden. Die Theorien der Nachrichtenauswahl – allen voran die Nachrichtenwert-Theorie – werden ausführlich erläutert. Auch auf die Grenzen und Schwächen der Theorien soll detailliert eingegangen werden. Um das Bild der Medien von Natascha Kampusch untersuchen zu können, wird vorab theoretisch erörtert, wie Journalisten generell Ereignisse darstellen. Nach ausführlichen Definitionen des Ereignisbegriffs wird das Vorgehen bei der empirischen Untersuchung mit der gewählten Methode der Inhaltsanalyse erörtert. Im folgenden Teil werden die Ergebnisse der durchgeführten Inhaltsanalyse dargestellt und interpretiert. In der Zusammenfassung werde ich die durch diese Diplomarbeit gewonnenen Erkenntnisse rekapitulieren. Das Literaturverzeichnis hält die mannigfaltigen Recherechearbeiten für diese Diplomarbeit fest. Im Anhang dienen u.a. schließlich noch die Schlagzeilen aller Beiträge, das Codebuch, sowie Codierbeispiele zur Veranschaulichung der erfolgten Untersuchung.

Ereignisse können in der Regel kaum in ihrer Ganzheit von ihrer Entstehungsursache bis zu den Bedingungen für ihre publizistische Erscheinung durchleuchtet werden.2 Die vorliegende Arbeit soll jedoch zumindest in einem klar abgesteckten Bereich Licht ins Dunkel bringen.

Um eine einfachere Lesbarkeit dieser Diplomarbeit zu gewährleisten, wird die grammatisch männliche Form bei der Bezeichnung gemischter Gruppen verwendet. Selbstverständlich ist dies geschlechtsneutral zu verstehen. Wenn nicht ausdrücklich die weibliche Form verwendet wurde, sind grundsätzlich immer beide Geschlechter gleichberechtigt angesprochen.

1 Schwaiger, Rosemarie: Die unendliche Geschichte. In: Profil 33/07, S. 15

2 Dorsch-Jungsberger, P.E./Roegele, O./Stolte W.: Konfliktpotentiale im Nachrichtenproduktionsprozeß. In: Publizistik 30. Jg., Heft 2–3/1985, S. 287

2 Der „Fall Natascha Kampusch“

Am Montag, den 2. März 1998 verschwand die damals zehnjährige Natascha Kampusch auf dem Weg zur Schule in Wien Donaustadt spurlos. Natascha verließ in der Früh die Wohnung ihrer Mutter am Rennbahnweg Richtung Volksschule. Dort kam sie jedoch nie an. Die Mutter informierte die Polizei, als das Kind am Abend nicht nach Hause kam. Da ein Streit mit ihrer Mutter vorausgegangen war, hoffte man zunächst, dass sie als Trotzreaktion auf den Streit von zu Hause weggelaufen sei.3 Eine Schulfreundin will gesehen haben, wie sie in einen Kleinbus gezerrt wurde. Es folgte die größte Suchaktion der Polizeigeschichte.4 Die Polizei überprüfte erfolglos mehr als 700 Besitzer weißer Kleinbusse. Taucher durchsuchten Schotterteiche, Kriminalisten gingen tausenden Hinweisen nach. Von Hubschraubern aus wurde mit Wärmebildkameras nach dem meist gesuchten Kind Österreichs Ausschau gehalten. Da Natascha ihren Reisepass bei sich hatte und mit ihrem Vater oft in Ungarn gewesen war, wurden die Ermittlungen auch in dieses Land ausgedehnt. Öffentlichkeit und Exekutive standen damals noch unter dem Eindruck des knapp zwei Jahre zuvor aufgeflogenen Dutroux-Skandals in Belgien.5 Der kurzzeitig vom „Kurier“ engagierte Privatdetektiv Walter Pöchhacker war nach eigenen Ermittlungen überzeugt, dass die Mutter Nataschas und ihr Bekannter mit dem Verschwinden des Kindes in Zusammenhang standen und die Kriminalisten von einem falschen Zeit-Weg-Diagramm ausgegangen waren. Der Detektiv urgierte Grabungen an einem Teich in Niederösterreich, der dem Bekannten von Brigitta Sirny gehört. Das fragliche Areal wurde schließlich mit medialer und finanzieller Unterstützung der „Kronen Zeitung“ ohne Erfolg abgebaggert. Pöchhacker schrieb sogar ein Buch über den Fall, in dem er weitere Grabungen an dem Teich forderte und der Polizei Versagen und die Vertuschung von Fehlern vorwarf.6 Auch auf sein Betreiben hin wurde eine Sonderkommission eingesetzt, um den Fall noch einmal aufzurollen. Mit den Erhebungen im Fall Natascha, die zunächst das damalige Sicherheitsbüro führte, hatte das Bundeskriminalamt 2002 die Kriminalabteilung Burgenland beauftragt. Die „SOKO Kampusch“ ist jedoch einer Lösung des Falles auch nicht näher gekommen. Pöchhacker gründete außerdem den „Natascha Kampusch Fonds“ zur Förderung der Verbrechensaufklärung. Es sollte möglichst viel Geld für zielführende Hinweise über den Verbleib Nataschas gesammelt werden. Der Wiener Altbürgermeister Helmut Zilk übernahm die Patronanz für den Fonds. Insgesamt war das Spendenaufkommen jedoch eher bescheiden. Am 31. Dezember 2003 betrug der Kontostand 9.599,30 Euro, wobei Pöchhacker selbst 100.000 Schilling überwies.7 Obwohl eine „heiße Spur“ seit langem fehlte, ist der Fall nie ganz aus dem Blickfeld der Öffentlichkeit verschwunden. Die Eltern und Privatdetektiv Walter Pöchhacker wandten sich über verschiedene Medien in Österreich, Ungarn und Deutschland immer wieder an die Öffentlichkeit. Diverse Wahrsager und Wünschelrutengänger glaubten, das Schicksal des Mädchens zu kennen und bei der Suche behilflich sein zu können. Auch dem kurzzeitigen Bundespräsidentschaftskandidaten Martin Wabl war die Aufklärung des Falls ein Anliegen. Er sorgte von Beginn an immer wieder für teils skurrile Aktionen. Bei einer seiner Recherchen gab er sich als Polizist aus und wurde – nachdem er sich zunächst nicht ausweisen wollte – verhaftet. Der „Fall Natascha Kampusch“ hat dem Politiker und pensionierten Richter 2001 sogar eine Verurteilung eingebracht. Nach Eigenrecherchen brachte er Brigitta Sirny, die Mutter Nataschas, mit deren Verschwinden in Zusammenhang. Sirny klagte auf Widerruf und Unterlassung, Wabl wurde in erster Instanz verurteilt.8 Erst im März 2006 brachte Martin Wabl einen Antrag an die Wiener Staatsanwaltschaft ein, in dem erneut die Grabung bei einem Teich in Niederösterreich gefordert wurde, wo er und der Detektiv Walter Pöchhacker die Leiche des Mädchens vermuteten. Nachdem der Serienmörder Michel Fourniret, der in Belgien und Frankreich mehrere Frauen- bzw. Mädchenmorde begangen hat, auch mit einem weißen Kastenwagen unterwegs war, ließ das Bundeskriminalamt im Juli 2004 überprüfen, ob es beim Verschwinden Nataschas einen Zusammenhang mit den Taten von Fourniret gibt.9

Der Nachrichtentechniker Wolfgang Priklopil hat das Mädchen entführt und in einer Montagegrube unter seiner Garage in Strasshof in Niederösterreich gefangen gehalten. Das Verlies war durch eine Tresortür gesichert. Nach achteinhalb Jahren gelang Natascha Kampusch am 23. August 2006 bei einem Aufenthalt im Garten ihres Entführers die Flucht. Die Polizei erklärte nach Kampuschs Entkommen die gesamte Hauptstadt zum Fahndungsgebiet, doch Priklopil wurde nicht aufgegriffen. Der Entführer flüchtete mit seinem Auto bis ins Donauzentrum, von wo er sich von seinem Geschäftspartner und Freund Ernst Holzapfel abholen ließ. Mit ihm verbrachte Priklopil seine letzten Stunden, ehe er sich an der Schnellbahnstrecke in der Nordbahnstraße in Wien-Leopoldstadt vor einen Zug warf.10 Das Bild der blassen Frau im orangen Kleid, Gesicht und Oberkörper unter einer blauen Decke versteckt, war die Sensation des Sommers 2006. Polizei und Öffentlichkeit hatten Kampusch längst für tot gehalten. Nur wenige Tage zuvor war wieder einmal nach ihrer Leiche gesucht worden. Medien aus der ganzen Welt rissen sich um Fotos von Natascha Kampusch und Interviews mit ihr. Vor dem Haus in Strasshof drängten sich Reporter und hofften, einen Blick auf das Verlies werfen zu können. Für Exklusivmaterial wurden siebenstellige Summen geboten.11 Ein Team, bestehend aus den Kinder- und Jugendpsychiatern Ernst Berger und Max Friedrich, sowie der Wiener Kinder- und Jugendanwältin Monika Pinterits und wechselnden Medienberatern und Anwälten, betreute die junge Frau. Indes erhoben die Eltern in den Medien Vorwürfe gegen das Betreuerteam. Nach achteinhalb Jahren Gefangenschaft werde ihnen ihre Tochter neuerlich vorenthalten.12 Zum Team gehörte bis zum 9. September 2006 der Medienberater und PR-Experte Dietmar Ecker, der die eintreffenden Interviewanfragen, Buch- und Filmprojekte koordinierte. Ecker hatte nach eigenen Angaben rund 300 Anfragen von internationalen Medien für ein Exklusivinterview erhalten.13 Die Pressekonferenzen des Teams, das Kampusch betreute, wurden von Medienvertretern aus aller Welt aufmerksam verfolgt. Natascha Kampusch wandte sich erstmals am 30. August 2006 in einem offenen Brief an Medienvertreter und die Öffentlichkeit. Darin schilderte sie kurz einige Details aus ihrer Gefangenschaft und beschrieb ihr Verhältnis zu Priklopil, das sie als gleichrangig charakterisierte. Auch bat sie in dem Brief darum, ihre Privatsphäre zu respektieren. Der Brief wurde zunächst vom Psychiater Friedrich auf einer Pressekonferenz vorgelesen und später in den Medien veröffentlicht. Friedrich gab an, Kampusch selbst habe den Brief auf Zetteln formuliert, er selbst habe lediglich eine handschriftliche Zusammenfassung dieser Notizen angefertigt. Priklopil habe Kampusch auf Händen getragen und mit Füßen getreten. Priklopil sei nicht ihr Gebieter gewesen, obwohl er wünschte, so angesprochen zu werden. Über weitere intime oder persönliche Details wolle sie keinerlei Fragen beantworten. Voyeuristische Grenzüberschreitungen würden von ihren Anwälten geahndet werden. Die Presse möge sie vor Verleumdungen und Fehlinterpretationen verschonen und den gebührenden Respekt gegenüber ihrer Person aufbringen.14 Natascha Kampusch gab an, sie sei im ersten halben Jahr nach der Entführung permanent in dem Verlies geblieben. Später sei sie zeitweise in das Haus des Entführers gelassen worden, wenn dieser allein war. Nach mehreren Jahren hatte sie das Versteck im Beisein ihres Entführers auch für gelegentliche Einkäufe und Spaziergänge, einmal auch für einen Skiausflug verlassen dürfen. Wegen einer befürchteten Verharmlosung der Entführung wurde dies zunächst der Öffentlichkeit verschwiegen.15 Sie durfte dabei keinerlei Kontakt zu anderen Personen herstellen. Er drohte ihr im Falle einer Zuwiderhandlung an, sie und die betreffenden Personen zu töten. Kampusch erhielt vom Entführer ausgewähltes Zeitungsmaterial, durfte ausgewählte Bücher lesen, Radio hören und Videos anschauen. Auch gab sie an, dass der Entführer ihr häufig Unterricht in Lesen und Schreiben gegeben habe. Trotz der langjährigen Isolation konnten Psychologen eine hohe Intelligenz und Sprachgewandtheit feststellen. Sie war über das Tagesgeschehen in der Welt gut informiert.16

Zwei Wochen nach der Flucht strahlte der ORF am 6. September 2006 das erste, von Christoph Feurstein geführte Interview mit Natascha Kampusch im kurzfristig geänderten Hauptabendprogramm des Fernsehens sowie im Hörfunk aus. Natascha Kampuschs Gesicht war dabei entgegen vorherigen Spekulationen weder verhüllt, noch wurde es nachträglich unkenntlich gemacht. Sie berichtete trotz ihrer langen Entführung weitgehend gefasst und mit einer ihrem Alter entsprechenden Sprachfertigkeit über die Umstände ihrer Gefangenschaft, aber auch über ihre Sicht auf den Entführer und ihr Gefühlsleben. Nochmals bat sie eindringlich um die Wahrung ihrer Privatsphäre. Etwa 2,6 Millionen Österreicher über 12 Jahren verfolgten das Interview, was einem Marktanteil von 80 % entspricht. Darüber hinaus sahen 157.000 Österreicher das Interview im deutschen Privatfernsehsender RTL. Andere Sender durften das Interview bzw. Teile davon erst zeitversetzt ausstrahlen. Mit insgesamt mehr als 2,7 Millionen Zusehern verbuchte das erste Interview mit Natascha Kampusch die meisten Zuseher seit Einführung des Teletests im Jahr 1991.17 Der ORF, der nach eigenen Angaben nichts für das Interview bezahlte, übernahm kostenlos die internationale Rechtevermarktung und zahlte die Erlöse in einen für Natascha Kampusch eingerichteten Fonds. Mit dem Interview war der Höhepunkt, aber nicht das Ende des Medienhypes erreicht.18 Ein weiteres Interviewpaket wurde mit der „Kronen Zeitung“ und der Zeitschrift „News“ ausgehandelt. Kampusch wurde dazu von den Journalisten Marga Swoboda und Alfred Worm interviewt. Weitere Interviews in diversen Medien folgten im Laufe der Zeit.

Ein weiteres Motiv für die Durchführung der Interviews – neben finanziellen Interessen – war aus Sicht des Medienberaters Dietmar Ecker der Versuch, die Boulevardmedien direkt zu beeinflussen. Ecker wies zudem auf den enormen Druck hin, den viele Journalisten auf Kampusch und ihre Angehörigen sowie auf die Angehörigen Priklopils ausgeübt hatten, einschließlich der Drohung, der Phantasie entsprungene Berichte über Kampusch zu veröffentlichen, wenn sie nicht zu einem Interview bereit sei.19 Die massive Medienpräsenz fand bald keinen ungeteilten Zuspruch mehr. Doch die Offensive sei der einzig richtige Weg gewesen. Berichtet würde mit oder ohne Kampusch. Ihre Berater hätten daher gar keine andere Wahl gehabt, als das große Medieninteresse zu befriedigen und so die Berichterstattung zumindest lenken zu können, meint Roland Burkart vom Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien.20 Ihr Wandel vom Verbrechensopfer zu einer Art Superstar wurde heftig kritisiert. Natascha Kampusch wurde in der Folge für „Heute“-Chefredakteur Richard Schmitt „eine Person öffentlichen Interesses“21 – auch durch ihr eigenes Zutun. So produzierte der österreichische TV-Sender Puls 4 im Jahr 2008 insgesamt drei Folgen der Talkshow „Natascha Kampusch trifft...“, die von dem Entführungsopfer moderiert wurde. Interviewpartner der etwa 50-minütigen Sendungen waren Niki Lauda, Stefan Ruzowitzky und Veronika Ferres.22 Zeitungen wie „Heute“ oder „Österreich“ veröffentlichten Fotos von Natascha Kampusch, auf denen sie dabei zu sehen ist, wie sie mit dem Sohn ihres Anwalts im Wiener Szenelokal „Passage“ tanzte. Es folgte ein regelrechter „Zeitungskrieg“ über pietätlose und angebrachte Berichterstattung.23

Der Fall des Josef Fritzl, der seine Tochter 24 Jahre lang in seinem Keller in Amstetten einsperrte und mit ihr sieben Kinder zeugte, sorgte 2008 erneut für internationales Medieninteresse. Natascha Kampusch äußerte sich zu diesem Fall und riet den Opfern, eine neue Identität anzunehmen. Im Umgang mit den Medien riet sie zur Zurückhaltung: „Ich hoffe, die Medien haben im Zuge meines Falles etwas dazugelernt.“24

Herwig Haidinger, der abgelöste Leiter des Bundeskriminalamts, sorgte mit unterschiedlichen Vorwürfen des Amtsmissbrauchs und der Korruption im von der ÖVP geführten Innenministerium für einen Untersuchungsausschuss und damit für eine Regierungskrise. Eine Untersuchung der Ermittlungen im „Fall Natascha Kampusch“ soll vom Ministerbüro im Herbst 2006 unterbunden worden sein, um einen Polizeiskandal vor der Wahl zu vermeiden. Haidinger sprach von einem zentralen Versagen der ermittelnden Behörden im Jahr 1998.25 Eine Evaluierungskommission kam zu dem Schluss, dass schwere Pannen in der Polizeiarbeit sowohl 1998 als auch 2006 passiert seien und eine mögliche Mittäterschaft und Mitwisserschaft nicht ausgeschlossen werden könnte.26 Ein damals 12-jähriges Mädchen hat nach der Entführung zu Protokoll gegeben, dass sie zwei Männer in dem weißen Kleinbus gesehen habe. Sie blieb bis heute bei ihrer Aussage. Bereits einen Monat nach der Entführung, am 6. April 1998, ist Priklopil von der Polizei wegen seines weißen Kleinbusses überprüft worden. Damals habe er erklärt, er würde den Kleinbus für Bauschutt benötigen - für die Polizei war es auch ohne Alibi eine plausible Erklärung.27

Innenministerin Liese Prokop und der Ermittlungsleiter der „SOKO Natascha“, Nikolaus Koch, dementierten Ermittlungsfehler. Die damalige Innenministerin Liese Prokop wollte zuerst das Auffinden von Natascha auf den erhöhten Fahndungsdruck zurückführen.28 Priklopil habe bei einer Überprüfung ein stichhaltiges Alibi vorweisen können. Im Akt vom 6. April 1998 steht das Gegenteil.29 Der konkrete Hinweis eines Hundesführers kurz nach der Entführung auf den „Eigenbrötler“ mit einem „Hang zu Kindern“ wurde nicht beachtet.30

Eine weitere politische Dimension erhielt der Fall, nachdem in der Gratiszeitung „Heute“ private Details aus Vernehmungsakten abgedruckt wurden. Es entbrannte ein heftiger politischer Schlagabtausch um undichte Stellen im Innenministeriums-Untersuchungsausschuss. Natascha Kampusch selbst übte heftige Kritik an der Weitergabe und der Veröffentlichung der Akten.31

Der Selbstmord von Wolfgang Priklopil ersparte Natascha Kampusch die Aussage in einem Gerichtsprozess und die Preisgabe vieler wahrscheinlich schrecklicher Details. Doch der Tod des Entführers erhöhte auf der anderen Seite auch den öffentlichen Druck auf die junge Frau. Sie ist der einzige Mensch, der die ganze Wahrheit jener achteinhalb Jahre kennt. Und viele Rätsel dieses beispiellosen Falls sind bis heute ungelöst. Kampusch hat zwar nach dem ersten Interview mit Christoph Feurstein noch weitere Interviews gegeben, sie sprach über den Tag der Entführung, von der Angst im Verlies, der Aggressivität ihres Peinigers, aber auch von einer Art Alltag, der sich mit der Zeit etablierte. Doch viele Fragen blieben unbeantwortet, oder wurden erst gar nicht gestellt.32 So blieb Raum für Spekulationen. Außerdem hätte das Auftauchen des vor Jahren entführten Kindes neue Themen, Ängste und Fragen aufgeworfen, die es zu bewältigen gilt, so Fritz Hausjell vom Institut für Publizistik und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien.33

3 Vgl. Sirny-Kampusch: Verzweifelte Jahre. Mein Leben ohne Natascha. Wien: Ueberreuter 2007, S. 11ff

4 Vgl. Scheidl, Hans-Werner: Jahrelang Spekulationen um Natascha. In: Die Presse vom 24.08.2006, S. 21

5 Vgl. http://wien.orf.at/stories/93516/ [16. 6. 2009]

6 Vgl. Pöchhacker, Walter: Der Fall Natascha. Wenn Polizisten über Leichen gehen. Wien: Detektivagentur Pöchhacker 2004

7 Vgl. Pöchhacker 2004, S. 79

8 Vgl. http://wien.orf.at/stories/93516/ [16. 6. 2009]

9 Vgl. http://wien.orf.at/wien/stories/93516/ [16. 6. 2009]

10 Vgl. http://noe.orf.at/stories/133051/ [16. 6. 2009]

11 Schwaiger, Rosemarie: Die unendliche Geschichte. In: Profil 33/07, S. 14

12 Vgl. Sirny-Kampusch 2007, S. 157ff

13 Vgl. http://www.sueddeutsche.de/panorama/705/374515/text/ [16. 6. 2009]

14 Vgl. http://oe1.orf.at/inforadio/67551.html [16. 6. 2009]

15 Vgl. http://noe.orf.at/stories/136646/ [16. 6. 2009]

16 Vgl. http://www.orf.at/060906-3607/?href=http%3A%2F%2Fwww.orf. at%2F060906-3607%2F3610 txt_ story.html [16. 6. 2009]

17 Vgl. http://derstandard.at/fs/?id=2577892 [16. 6. 2009]

18 Vgl. http://wien.orf.at/stories/134758/ [16. 6. 2009]

19 Vgl. http://www.zeit.de/2006/38/Eckert_Kampusch [16. 6. 2009]

20 Vgl. http://oesterreich.orf.at/wien/stories/159377/ [16. 6. 2009]

21 Washietl, Engelbert: Spurensuche im Fall Kampusch. In: Der Österreichische Journalist 4+5/2008, S. 38

22 Vgl. http://www.sevenonemedia.at/content/suche.php?query=kampusch [16. 6. 2009]

23 Vgl. Dürmaier, Brigitte.: Auflage mit Natascha. In: Extradienst 08/2007, S.58f

24 http://www.spiegel.de/panorama/justiz/0,1518,550882,00.html [16. 6. 2009]

25 Vgl. http://wien.orf.at/stories/258252/ [17. 6. 2009]

26 Vgl. http://www.bmi.gv.at/bmireader/documents/557.pdf [17. 6. 2009]

27 Vgl. http://oesterreich.orf.at/noe/stories/131867/ [16. 6. 2009]

28 Vgl. http://wien.orf.at/stories/131558/ [16. 6. 2009]

29 Vgl. http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/476427/index. do?gal=476427&index=8&direct =477 098&_vl_backlink=/home/panorama/oesterreich/477098/index.do&popup [16. 6. 2009]

30 Vgl. http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/476427/index. do?gal=476427&index=8&direct =477098&_vl_backlink=/home/panorama/oesterreich/477098/index.do&popup [16. 6. 2009]

31 Vgl. http://diepresse.com/home/panorama/oesterreich/476427/index. do?gal=476427&index=8&direct =477098&_vl_backlink=/home/panorama/oesterreich/477098/index.do&popup [16. 6. 2009]

32 Schwaiger, Rosemarie: Die unendliche Geschichte. In: Profil 33/07, S. 15

33 Vgl. http://wien.orf.at/stories/134758/ [17. 6. 2009]

3 Theorien der Nachrichtenauswahl

Journalisten werden täglich mit einer großen Menge an Informationen konfrontiert. Nur einige dieser Informationen gelangen als Nachricht zu den Rezipienten. Journalisten unterliegen einem Selektionsdruck, der sie zur Nachrichtenauswahl zwingt. Von kommunikationswissenschaftlichem Interesse ist nun die Frage, nach welchen Kriterien Journalisten Nachrichten auswählen und welche Faktoren über den Nachrichtenwert einer Information entscheiden.

Warum berichten Massenmedien über dieses und nicht über jenes Ereignis oder publizieren diese und nicht jene Nachricht? Diese einfache Frage stand am Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Nachrichtenselektion. So einfach die Frage klingt, so schwierig ist die Beantwortung auch nach mehreren Jahrzehnten Forschungsarbeit.

Die Nachrichtenauswahl der Massenmedien wird seit den Fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in einer Vielzahl von empirischen Studien analysiert. Diese kann man hinsichtlich ihrer theoretischen Ansätze, ihrer Untersuchungsanlagen und ihrer methodischen Vorgehensweisen im Wesentlichen zu drei Forschungstraditionen zusammenfassen:

•    Gatekeeper-Forschung

•    News-Bias-Forschung

•    Nachrichtenwert-Theorie34

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