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Gareth Murphy

Cowboys & Indies

Eine abenteuerliche Reise ins Herz der Musikindustrie

Aus dem Englischen von

Bernd Gockel

FUEGO

- Über dieses Buch -

»Cowboys & Indies« ist die erste umfassende Darstellung einer Industrie, ohne die unser Leben nicht mehr vorstellbar wäre. Von der Erfindung der ersten Aufnahme-Apparatur im Paris des Jahres 1857 bis zum digitalen Boom der Gegenwart nimmt Gareth Murphy den Leser auf eine kurzweilige Reise durch die kulturellen und technologischen Umbrüche, die diese Industrie oft an den Rand des Ruins trieben. Im Mittelpunkt stehen dabei die Pioniere und Visionäre ihrer Zunft, die Talentscouts, Label-Gründer und Deal-Maker, unter anderem:


– Das erste Label, das die »race records« in ganz Amerika vertrieb und so die Popularisierung von Blues und Jazz forcierte
– Der Mann, der fast im Alleingang die gesamten Delta-Blues-Legenden entdeckte
– Sam Phillips‘ wegweisende Produktionen für Chess und Sun Records
– John Hammonds Talent für Talente (Billie Holiday, Aretha Franklin, Bob Dylan, Leonard Cohen, Bruce Springsteen)
– Die Drahtzieher hinter der »British Invasion«
– Clive Davis, Ahmet Ertegun, David Geffen und die Kunst der Mega-Deals
– Die machiavellistischen Strategien von Punk-Impresario Malcolm McLaren
– Chris Blackwells Weg von Jamaika zu Island Records (Bob Marley, U2)
– Die HipHop-Pioniere hinter der Sugarhill Gang, Grand Master Flash und Afrika Bambaataa
– Heutige Indie-Mogule wie Martin Mills (4AD, XL Recordings, Matador, Rough Trade)
– Moderne Produzenten-Legenden wie Rick Rubin (Run-D.M.C., Red Hot Chili Peppers, Metallica, Johnny Cash)

 

- Pressestimmen -

»Wäre das Buch eine Band, würde ich es sofort unter Vertrag nehmen.« (Geoff Travis, Gründer von Rough Trade Records)

»Als man dachte, der ganze Musik-Label-Zirkus sei endgültig tot, schreibt Gareth Murphy ein Buch, das einen fast schon dazu verleitet, wieder in die Manege zu springen und mitzutanzen.« (Andrew Loog Oldham, Produzent The Rolling Stones und Gründer von Immediate Records)

»Cowboys & Indies ist die Geschichte jener Freigeister, die ihrem eigenen Geschmack und Urteil mehr trauten als den lautstarken Wünschen der Masse – und so der Musik ihr heutiges Gesicht gaben. Unverzichtbare Lektüre!« (Jac Holzman, Gründer von Elektra und Nonesuch Records)

»Ein faszinierender Abriss über die Evolution der Schallplatte, ihre individuelle Wirkung und ihren Einfluss auf die moderne Pop-Kultur.« (Sir George Martin, Produzent The Beatles)

»Ich war in dem Irrglauben, schon alles über das Musikgeschäft zu wissen. Tatsache ist, dass ich aus diesem Buch noch eine Menge gelernt habe. Uneingeschränkt empfehlenswert.« (Seymour Stein, Gründer von Sire Records)

VORWORT

Es heißt, die Liebe sei wie der Wind: Man weiß nie, woher sie kommt, man erfährt nie, wohin sie weht.

Mit der Musik verhält es sich ganz ähnlich. Die Kunst, Musik zu entdecken und in Umlauf zu bringen, ist zunächst einmal nichts Anderes als ein großes Spiel, ein spielerischer Lebens­entwurf. Es sind einsame Jäger, die ihre Beute quer durch den Großstadt-Dschungel jagen, es sind Heilige und Verrückte, Sammler, Wühlmäuse und Freizeit-Archäologen, die ihr Faible für Musik zu einer lebenslänglichen Leidenschaft machen. Sicher, auch den windigen Zockern werden wir in diesem Buch begegnen, doch primär sind es die Connaisseure und Idealisten, denen wir uns hier widmen – den Goldgräbern und Geburtshelfern, den Wahnsinnigen, die das Gras wachsen hören, den Überzeugungstätern, die ihren Rohdiamanten so lange polieren, bis ihn die ganze Welt sehen will.

Beim Schreiben dieses Buches wurde ich mit diversen Hürden konfrontiert, da das dreijährige Buddeln so manchen Stolperstein ans Tageslicht förderte – beispielsweise den Terminus, den Musicbiz-Veteranen regelmäßig benutzten, wenn sie über die Legenden ihres Gewerbes sprachen: »Er war ein echter record man«, hieß es dann immer. Der Respekt, der in ihren Erzählungen mitschwang, ließ erahnen, dass es innerhalb dieses Berufsbildes subtile Nuancen geben musste. Auch wenn er eigentlich banal und nichtssagend klingt, ist record man doch ein ambivalentes Attribut – ein Ausdruck, der durchaus einen schalen Beigeschmack haben kann, in der Regel aber eine Ehrenbezeugung ist, die den echten Musikkennern vorbehalten bleibt.

In einem Spiel, das größtenteils von Schwätzern und Aufschneidern dominiert wird, zeichnet sich der record man dadurch aus, dass er nicht nur ein, zwei Glückstreffer landet, sondern regelmäßig das große Los zieht – oft genug sogar in verschiedenen musikalischen Epochen. Das Buch folgt daher der Fährte von rund 50 Pionieren, die – aus ganz unterschiedlichen Gründen – den Stammbaum des Musikgeschäfts konstituieren.

Hält man sich vor Augen, wie die musikalischen Quantensprünge der letzten 130 Jahre Myriaden von Plattenfirmen auf den Plan riefen, die ihrerseits Tausende von Schallplatten produzierten, so lässt sich die zentrale Bedeutung des record man gar nicht überschätzen. Ein kleines Nugget – oft nur ein dreiminütiger Song – reichte völlig aus, um einen kulturellen Erdrutsch loszutreten, der in seinem Gefolge womöglich einen milliardenschweren Industriezweig zu Tage förderte.

Archive, Fachzeitschriften und Briefwechsel verstorbener Größen, vor allem aber zahllose eigene Interviews wurden ausgewertet, um für dieses Buch Fakten auszugraben, die selbst Musik-Interessierten noch nicht bekannt sein sollten. Ich wollte ein Buch schreiben, das so etwas wie die Bibel des Musikgeschäfts werden sollte – ein Buch, das ich gerne selber gelesen hätte, als ich 17 Jahre alt war und mehr über das Thema erfahren wollte. Ich stellte mir ein Geschichtsbuch in Cinemascope vor, einen Streifzug durch die verflossenen Jahrzehnte, der die wichtigsten Stationen und Protagonisten plastisch auferstehen lässt.

Die Reise startet im Paris des Jahres 1860 und folgt einer eigenwilligen Route über Washington DC, New York, London, Berlin, Memphis, Detroit, Los Angeles nach Jamaika, Südafrika und all den anderen Orten, an denen ein record man plötzlich von der Muse geküsst wurde. Entlang des Weges kamen und gingen die musikalischen Genres, die sich in einem endlosen Prozess gegenseitig befruchteten: Vaudeville, Oper, Blues, Jazz, Hillbilly, R&B, Rock’n’Roll, Folk, Psychedelia, Progressive Rock, Reggae, Disco, New Wave, Post-Punk, Synth-Pop, HipHop, Electronica ...

Überflüssig zu erwähnen, dass das Buch in einer Zeit zu Papier gebracht wurde, in der die Mehrzahl der Experten ein baldiges Ende des traditionellen Geschäftsmodells prognostiziert. Die digitale Revolution, so der Konsensus, habe nun einmal die Grundlagen des herkömmlichen Musikgeschäfts komplett auf den Kopf gestellt. Man stelle sich meinen Schock vor, als ich beim Studium des frühen Musikgeschäfts feststellte, dass es sich dabei wohl um ein krasses Fehlurteil handelt: Das Musikgeschäft in den Zwanzigern und Dreißigern des letzten Jahrhunderts durchlebte einen Crash, der noch um einiges gravierender war als die jüngste, durch die Digitalisierung ausgelöste Umwälzung. Seltsamerweise war das aber den von mir interviewten Industriekapitänen in keiner Weise bewusst.

Der vergessene Crash begann mit dem Siegeszug des Radios und nahm ein fast tödliches Ende, als die 40-jährige Phonogramm-Industrie auf rund fünf Prozent ihres früheren Umsatzes schrumpfte. Während die Banken und privaten Geldgeber den Patienten schon längst abgeschrieben hatten, machten die record men unbeirrt weiter und produzierten ihre Platten – ob nun mit Swing, Blues oder Folk. Es war nicht zuletzt den neuartigen Jukeboxen zu verdanken, dass sich die Lage in den späten Dreißigern langsam aufhellte. Nach einem 20-jährigen Blackout erwachte jedenfalls ein todgeweihtes Format aus dem Koma und schoss plötzlich aus allen Rohren.

Die Vermutung liegt auf der Hand, dass die gegenwärtigen Untergangsszenarien nicht zuletzt deswegen Hochkonjunktur haben, weil wir über die Musikwelt vor Elvis so erschreckend wenig wissen. Wer am Wiederaufbau einer florierenden Musikszene interessiert ist, sollte deshalb einen Schritt zurücktreten, um Gegenwart und Zukunft aus der Distanz der historischen Perspektive beurteilen zu können.

Tatsache ist nun einmal, dass der Rock’n’Roll all seine Charakteristika aus jener vergessenen Jugend bezog: das System der Majors und den Plattenvertrag, die Musikverlage und die Ausschüttung von Tantiemen, Radiostationen und Vertriebsnetze, nicht zuletzt auch das Instrumentarium und das musikspezifische Vokabular. Den Nährboden lieferte ein beispielloses Amalgam, in dem alle Stile der 20er und 30er Jahre verschmolzen waren. Die Geburt des Rock’n’Roll erinnert insofern ein wenig an einen Bonvivant, der einen riesigen Secondhand-Laden betritt, um sich dort sein eklektisches Outfit zusammenzustellen.

Es geschah in diesen tumultösen Jahren des Neubeginns, dass die großen Talentscouts der Rock’n’Roll-Ära ihr Handwerk erlernten. Sie schulten ihr Urteilsvermögen in einer blühenden Musikkultur und besaßen einen sechsten Sinn für geschichtliche Zusammenhänge, aber auch für zeitlose Musik – eine Qualität, von der die Schwarmgeister und Trittbrettfahrer dieser Branche nur träumen können.

Zudem – und auch das werden wir im Verlauf des Buches erfahren – handelt es sich beim Musikgeschäft zwangsläufig um ein zyklisches Phänomen. Auf eine Jahrhundert-Ernte folgen unweigerlich auch unfruchtbare Perioden. Mag sein, dass wir uns gerade in einer Dürre-Phase befinden, doch selbst das können wir erst mit Sicherheit wissen, wenn wir uns eine langfristige Perspektive zu eigen machen. Auch wenn es zutrifft, dass sich zur Zeit immer weniger Rock’n’Roll-Entrepreneure in die Untiefen des digitalen Zeitalters wagen, so liegt das Musikgeschäft doch keineswegs auf dem Sterbebett. Auch heute gibt es eine Gruppe von Einzelkämpfern, die sich durch die unwirtliche Wüste quälen – beflügelt nur von ihrem unerschütterlichen Glauben an die Macht der Musik. Nicht auszuschließen, dass die gegenwärtigen Veränderungen im Rückblick sogar als Ära der unbegrenzten Möglichkeiten gesehen werden. Wenn die Flüsse wieder Wasser tragen, werden die Auserwählten Viadukte und hängende Gärten bauen, werden neue Visionäre noch größere Tempel und Marktplätze konstruieren. In einem Metier, in dem die Jugend stets nach neuen Sounds und Ideen verlangt, wird es immer die record men geben, die dieses Bedürfnis befriedigen. Sie sind diejenigen, die das Lagerfeuer am Knistern halten.

Wenn mir bei meinen Begegnungen mit den Machern – vor allem im Indie-Lager – eine Eigenschaft ins Auge fiel, so war es ihr unerschütterlicher Glaube. Anders als die Mitläufer, die sich gerne mit prominenten Namen und süffigen Anekdoten brüsten, sind die echten Visionäre seriös, diskret und nüchtern, meiden das Rampenlicht und die Verlockungen des großen Geldes. Ihre Ziele folgen in der Regel einem höherem Motiv: Praktisch hinter jedem stilbildenden Label versteckt sich eine sehr spezifische Geschichte, die gewöhnlich tief im Charakter des jugendlichen Gründers verankert ist. Dies sind die Schirmherren der musikalischen Gegenwart, dies sind die Propheten, die die Geschichte des Musikgeschäfts verinnerlicht haben und sich gleichzeitig in der Rolle des Richters und Schutzengels sehen.

Das Spektrum der Akteure ist dabei gewaltig – und das altbekannte Klischee von »Majors contra Indies« bringt uns nicht weiter: Viele legendäre record men haben für Major-Label gearbeitet. Unbestritten aber ist, dass sich für alle Protagonisten irgendwann einmal die gleiche Frage stellt: Musik oder Geld? Genau aus diesem Grund haben wir – in Anspielung auf die Cowboys und Indianer unserer Sandkasten-Jahre – das vorliegende Buch auch »Cowboys & Indies« genannt. Wie die alten Indianer-Häuptlinge sind die neuen Helden der Musikwelt von einer Mission erfüllt: Sie wollen nicht nur ihr Dorf retten, sondern eine ganze Kultur. Die Cowboys hingegen sind die Opportunisten, die nur planlos um sich schießen. In ihrer unangenehmsten Inkarnation sind es Zocker, Bauernfänger oder Kopfgeldjäger, für die es am Ende nur um die Zahlung des Lösegelds geht. Dazwischen gibt es natürlich auch noch die halbblütigen Grenzgänger – oft genug komplizierte und komplexe Charaktere, die ständig die Seiten wechseln, weil sie sich zwischen Idealismus und Zockerei nicht entscheiden können.

Im Filmgeschäft heißt es oft, dass Regisseure die besseren Interviewpartner sind. Ich denke, dass diese Faustregel auch aufs Musikgeschäft zutrifft: Die record men sind ergiebigere Gesprächspartner als die Stars, die sie aufgebaut haben. Sie sind gleichzeitig Zeitzeugen und Katalysatoren, sie kennen die wahren Geschichten, sie wissen, wer diese Stars wirklich sind und wem sie ihren Durchbruch zu verdanken haben. Sie sahen in ihnen den ungeschliffenen Diamanten, handelten ihre Verträge aus, überwiesen ihre Tantiemen und warfen die große Hype-Maschine an. Macht man sich ihre Perspektive zu eigen, stellt sich das große Spiel in einem gänzlich neuen Licht dar.

Denn seltsamerweise sind es fast nie die Stars, die über ihren Tellerrand hinausschauen können. Wer das Kreieren und Aufführen von Musik zu seinem Lebensinhalt macht, geht gewöhnlich in dieser Tätigkeit völlig auf. Oft genug stehen Musiker unter dem Druck, ihre einmal erreichte Position verbissen zu verteidigen und sich gegenseitig zu bekämpfen. Anders der große Impresario hinter den Kulissen: Er kann die Achterbahnfahrt entspannt und belustigt verfolgen, er steht hinter der Bühne, zieht die Fäden, zählt die Einnahmen – und verfolgt die Ereignisse aus sicherer Distanz.

Einen Kitzel gibt es allerdings, mit dem jeder Pop-Dompteur klarkommen muss: das Gefühl, ein unberechenbares Monster an seiner Leine zu haben. Es gibt in diesem Buch horrende Anekdoten von Manipulation und Größenwahn, und doch scheinen selbst derartige Exzesse der Musik nie etwas anhaben zu können: Wann immer es in der populären Musik einen neuen Thrill zu entdecken gibt, tanzt die Welt bereitwillig mit. (Wobei die Finanzierung von Musikaufnahmen wohl immer ein Risiko bleiben wird. Wie jeder Zirkusdirektor bestätigen kann, gibt es mit Sicherheit gefahrlosere Wege, sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen.)

Auf unserer Panorama-Reise durchs 20. Jahrhundert können wir auch verfolgen, wie die beginnende Globalisierung zu gegenseitigen Befruchtungen führt. Der traditionelle Austausch, der auf beiden Seiten des Atlantiks gepflegt wurde, hat das Musikgeschäft seit den Anfängen am Laufen gehalten. Es ist kein Zufall, dass viele der großen record men aus Amerika und England gleichzeitig auch Abenteurer waren, die die Welt bereisten und ihre Zukunft in einer der aufstrebenden neuen Metropolen suchten. Im Verlauf des Buches werden sich diesbezüglich einige biografische Parallelen herauskristallisieren. Im letzten Kapitel, »Prophezeiungen« betitelt, werden sich vielleicht auch einige ewige Wahrheiten über dieses eigentümliche Phänomen eröffnen, das wir gemeinhin Popmusik nennen.

Indem ich die Geschichte des Musikgeschäfts an ihren Pionieren festmachte, wollte ich die Geheimnisse lüften, die sich hinter dem großen Vorhang verbergen. Machen wir uns also auf den Weg und beginnen unsere Odyssee durch die musikalischen Universen, die unsere Väter und Vorväter begeisterten. Es ist kein Zufall, dass am Anfang unserer Reise eine technologische Revolution steht.

1

SPRECHENDE MASCHINEN

Unsere Geschichte beginnt in Paris. All die Verästelungen, die den genealogischen Baum der späteren Musikbranche bilden – Produzenten, Label, Musiker –, lassen sich auf dieses konkrete Datum zurückführen. Wir schreiben das Jahr 1853. In einem kleinen Buchladen in der Rue Vivienne sitzt ein Mann auf seinem Stuhl und blättert in einem Manuskript. Der 36-Jährige ist der Schriftsetzer Édouard-Léon Scott de Martinville, der gerade ein neues Physikbuch Korrektur liest. Er blättert eine Seite um und ist spontan fasziniert von einem Diagramm, das das Verhalten von Klangwellen darstellt. Während er noch die seltsam gekrümmten Wellenlinien vor ihm betrachtet, reift in seinem Kopf eine Idee heran – die Idee für eine Maschine.

Nachdem er jahrelang mit der Frage nach einer adäquaten Umsetzung schwanger gegangen ist, kommt er schließlich zu einer ebenso simplen wie überzeugenden Lösung: Halte dich an die Natur! Seine Klangaufzeichnungs-Maschine soll ein Stift sein, an dem sich ein mechanisches Ohr befindet. Ein trich­terförmiges Empfangsgerät würde die eingehenden Schall­wellen auffangen, so wie das Außenohr den Klang zum Trommelfell leitet. Zwei elastische Membrane sollen dann die Funktion des Trommelfells übernehmen, während verschiedene Hebel die Knöchelchen des Mittelohrs nachempfinden würden, das Klangwellen in der Flüssigkeit des Innenohrs zu mechanischen Impulsen verwandelt. Eine Wildschweinborste am Ende des mechanischen Ohrs würde dann die Vibrationen auf eine mit Ruß beschichtete Glasplatte ritzen.

Am 25. März 1857 reichte er das Konzept bei der »Académie des sciences« in Paris ein und erhielt im Laufe des Jahrs das Patent für den »Phonautograph« oder Klangschreiber – das erste Instrument, mit dem sich Klänge aufzeichnen ließen. Da ihm die technischen Möglichkeiten fehlten, selbst einen Prototypen zu bauen, setzte sich Scott de Martinville mit einem Handwerksmeister namens Rudolph Koenig zusammen. Seine Werkstatt befand sich auf der Ile Saint-Louis, der kleinen Insel im Herzen von Paris, und war von Martinvilles Buchladen zu Fuß erreichbar. Die beiden trafen sich sporadisch, um die Fortschritte ihres Projekts zu besprechen – bis am 9. April 1860 zum ersten Mal eine menschliche Stimme auf der schwarzen Glasplatte verewigt wurde. Es schien ein Wink des Schicksals, dass der Erfinder nicht sprach, sondern sang – nämlich das popul­äre französische Wiegenlied »Au clair de la lune«: »Im Mondschein, mein Freund Pierrot, leih mir deine Feder, um ein Wort zu schreiben. Meine Kerze ist erloschen, ich habe kein Licht mehr. Öffne mir deine Tür, um der Liebe Gottes willen.«

Wissenschaftliche Journale und Ausstellungen waren damals in aller Munde, neue Ideen verbreiteten sich schneller denn je und machten auch vor unüberwindbaren Ozeanen nicht mehr halt. 1866 wurde ein Telegrafenkabel auf dem Grund des Atlantiks verlegt, um Europa und Amerika in Sekundenschnelle zu verbinden. Für junge, neugierige Köpfe mit einem Faible für wissenschaftliche Errungenschaften war es das Goldene Zeitalter.

Einer dieser schlauen Köpfe war ein schottischer Teenager namens Alexander Graham Bell, von seiner Familie Aleck genannt. Sein Name verbindet sich gemeinhin mit der Erfindung des Telefons, doch er war auch dafür verantwortlich, dass die Erfindung aus Paris ihren Weg nach Amerika fand, wo das Phänomen der Telekommunikation schon bald ein explosionsartiges Wachstum verzeichnen sollte. Als Philanthrop und überzeugter Pionier akustischer Innovationen war er indirekt auch für die Gründung von Columbia Records mitverantwortlich – dem ältesten Label der Musikgeschichte. Die Fachwelt dankte es ihm, indem sie die akustische Messgröße »bel« – wie in Dezibel – nach ihm benannte.

In seinem Fall war es eine ungewöhnliche Triebfeder, die seine Neugier beflügelte. Sein Großvater war ein renommierter Sprachtherapeut für taube Kinder gewesen, sein Vater Melville hatte ein phonetisches System namens »Visible Speech« erfunden, das Gehörgeschädigten das Sprechen ermöglichen sollte: Für jeden einzelnen Laut, den die menschliche Stimme erzeugen konnte, gab es eine Schautafel, die genau die Stellung von Lippen, Zähnen und Zunge wiedergab. Aleck, der mit einer tauben Mutter aufwuchs, verstand schon in jungen Jahren, dass Gehörlose weniger unter der ständigen Stille litten, sondern mehr unter der frustrierenden Unfähigkeit, mit der Außenwelt kommunizieren zu können. Es war eine Hilflosigkeit, die mit dafür verantwortlich war, dass viele von ihnen in Gefängnissen oder geschlossenen Anstalten landeten.

Seit seinem 16. Lebensjahr arbeitete Aleck als Lehrer für Spracherziehung in London und Edinburg. Zur gleichen Zeit häuften sich bei Melville Bell die Einladungen, sein »Visible Speech«-Projekt an amerikanischen Universitäten vorzustellen. Von dem Zynismus der englischen Wissenschaftler zunehmend abgestoßen, schienen die Möglichkeiten der Neuen Welt mit jedem Tag attraktiver zu werden.

Es geschah just zu diesem Zeitpunkt, dass die Bell-Familie vom Schicksal gleich doppelt getroffen wurde. Kurz hintereinander starben die beiden Brüder von Aleck an Tuberkulose – in der damaligen Zeit, reich an Kohleöfen und feuchten Behausungen, nicht einmal ungewöhnlich. Als Aleck, von seiner Dop­pelbelastung durch Lehrtätigkeit und Forschung sichtlich erschöpft, ebenfalls zu kränkeln begann, trafen seine besorgten Eltern eine folgenschwere Entscheidung: Aleck waren 23 Jahre alt, als die Familie alle Besitztümer verkaufte und 1870 in die Neue Welt übersiedelte.

Von ihrer familiären Tragödie noch immer gezeichnet, ließ sich die dezimierte Familie auf einer Farm am Grand River in Ontario nieder. Aleck verbrachte seinen ersten Sommer in Kanada im Zustand der Apathie. Er legte sich ein Kissen ins Gras, las ein Buch nach dem anderen und lebte in seiner eigenen Welt. Die zögerliche Rückkehr zur Normalität begann, als seine Neugier von einem nahegelegenen Reservat geweckt wurde, in dem die hier ansässigen Mohawk-Indianer lebten. Er bat den Häuptling, ihre Sprache studieren zu dürfen – und erhielt die Erlaubnis, dem Unterricht in ihrer Schule beizuwohnen. Der spielerische Kontakt mit den Kindern trug offensichtlich dazu bei, die dunklen Wolken aus seinem Kopf zu vertreiben.

1874 nutzte Melville Bell seine Kontakte zu amerikanischen Universitäten, um seinem Sohn einen frischen Start ins Berufsleben zu ermöglichen. In Boston übernahm Aleck einen Job als Spezialist für Sprachtherapie. Kaum am Hauptbahnhof angekommen, verliebte sich Aleck in die Stadt und fand wieder zurück in seine lieb gewonnene Routine aus Forschung und Lehre. Während eines Ferienaufenthalts in Ontario bastelte Bell seine eigene Version von Martinvilles Phonautograph und beschäftigte sich zunehmend mit den akustischen Möglichkeiten der Maschinen.

Neugier mag dafür verantwortlich sein, Augen zu öffnen, doch die Zufallsbegegnungen sind es, die einem die Türe aufstoßen. Als erfolgreicher Therapeut hatte sich Bell in der Gehörlosen-Gemeinde von Boston schnell einen Namen gemacht. Eines Tages wurde er im Anschluss an einen Vortrag von dem wohlhabenden Geschäftsmann Gardiner Hubbard angesprochen, der für seine taube Tochter Mabel einen Privatlehrer suchte.

Während er Mabel Hubbard das Sprechen beibrachte, hinterließ Bell bei der gesamten Familie Hubbard einen bleibenden Eindruck. Er war der geborene Gentleman, hatte die besten Manieren, war 1 Meter 92 groß, perfekt gekleidet, besaß pechschwarze, nach hinten gekämmte Haare. Er hatte sich selbst das Klavierspielen beigebracht und unterhielt seine Gastgeber mit schottischen Balladen, viktorianischen Walzern oder ein paar Chopin-Sonaten, die er komplett auswendig gelernt hatte.

Es dauerte nicht lange, bis ihn die Hubbards praktisch in ihre Familie aufgenommen hatten. Wie der Zufall es wollte, galten Gardiner Hubbards Interessen – finanziell wie politisch – zu diesem Zeitpunkt gerade der Telegrafen-Industrie. Nach dem Eisenbahn-Boom in den 1840er Jahren war es der zukunftsträchtigste neue Industriezweig, der allerdings daran krankte, dass eine der größten US-Firmen – Western Union – den Markt kontrollierte. Gardiner Hubbard machte sich dafür stark, das Monopol zu brechen und den Markt auch für die Konkurrenz zu öffnen.

Als ihm Hubbard seine Theorien zum Telegrafen-Geschäft darlegte, ließ Bell durchblicken, dass er sich selbst schon seine Gedanken über die Möglichkeit von Klangübertragungen gemacht habe. Er sei sogar nahe daran, eine bahnbrechende Entdeckung zu machen, frage sich aber, ob er ohne Patent damit an die Öffentlichkeit gehen solle. Als Engländer, der er noch immer war, hatte er nicht einmal die Möglichkeit, ein US-Patent zu beantragen. Hubbard, der sich als Anwalt auf derartige Fragen spezialisiert hatte, hörte aufmerksam zu und bot juristische wie finanzielle Hilfe an.

Er sollte nicht der einzige Förderer bleiben. Durch die Kontakte seines Vaters hatte sich Bell mit einem Professor am Massachusetts Institute of Technology angefreundet, der ihn über den Stand der wissenschaftlichen Debatten zu diesem Thema auf dem Laufenden hielt. Eine gewisse Mrs. Sanders, Bells neue Vermieterin, hatte sogar heimlich ein Zimmer ihres Hauses ganz auf Bells Bedürfnisse einrichten lassen. Zu seinem 27. Geburtstag organisierte sie eine Überraschungsparty, zu der auch die Schüler seiner Gehörlosen-Klasse gekommen waren. Bell, den Tränen nahe, erhielt den Schlüssel zu seinem ersten eigenen Laboratorium.

Seine 18-stündigen Arbeitstage, sieben Tage die Woche, sollten bei dem blassen, erschöpften Bell allerdings schnell ihre Spuren hunterlassen. Migräne-Anfälle standen auf der Tagesordnung. Das grundlegende Konzept eines Telefons hatte sich zwar in seinem Kopf herauskristallisiert, doch er wollte sich nicht mit anderen Forschern austauschen, da er mit Recht vermutete, dass auch andere Erfinder dem Geheimnis auf der Spur waren. Als er an einem Abend im Hubbardschen Wohnzimmer wieder einmal Klavier spielte, hielt er plötzlich inne und stand auf. Ihm war die Bedeutung eines kleinen Tricks aufgegangen, den er oft auf seinem alten Klavier in Schottland gespielt hatte: Wenn er einen beliebigen Ton in den Resonanzkörper des Klaviers sang, ließen die Klangwellen die entsprechende Saite harmonisch vibrieren. Sangen zwei Stimmen zwei verschiedene Noten, reagierten die beiden entsprechenden Saiten mit Schwingungen. Was bedeutete: Wenn mehrfache, »harmonische« Signale durch die Luft transportiert werden konnten, mussten sie auch über ein einziges Kabel übertragbar sein.

Hubbard überzeugte Bell, seine Arbeiten an diesem »harmonischen Telegrafen« weiter zu forcieren und ließ seine Verbindungen spielen, um ein Treffen mit Western Union-Boss William Orton zu arrangieren.

Zwei Jahre zuvor hatte Orton die Patente an einem telegrafischen System gekauft, das von einem jungen Erfinder namens Thomas Edison entwickelt worden war. Dank Edisons Erfindung, »Quadruplex« genannt, war es nun möglich, durch Modulation der Wellenlänge vier verschiedene Signale gleichzeitig durch ein Kabel zu jagen. Und dummerweise hatte Orton erst vor kurzem das Patent eines »harmonischen Telegrafen« gekauft, das ihm von einem gewissen Elisha Gray angeboten worden war. Der mächtige Western Union-Boss lehnte sich also lächelnd in seinem Sessel zurück und zeigte an Bells Prototypen wenig Interesse.

Auch wenn das Meeting enttäuschend verlaufen war, so wussten Bell und Hubbard doch immerhin, wo ihre Konkurrenz stand. Bell widmete sich daraufhin verstärkt dem Telefon, während sich Hubbard durch die Unterlagen des Patentamts kämpfte, um sicherzustellen, dass Bells revolutionäre Idee noch nicht von einem anderen Erfinder angemeldet worden war. Offensichtlich war das nicht der Fall, doch Hubbard begann sicherheitshalber damit, alle Briefe und Notizen von Bell zusammenzustellen, in denen er das Telefon erwähnt hatte.

Es war für Bell eine nervenaufreibende Zeit, da ihn alle Menschen in eine andere Richtung zu zerren versuchten. Sein Vater predigte ihm, sich lieber um seine regulären Jobs zu kümmern, also die tauben Kinder zu betreuen und »Visible Speech« an der Boston University zu lehren. Gardiner Hubbard, inzwischen offiziell als Investor eingestiegen, war hingegen genervt, dass Bell so wenig Zeit in seinem Labor verbrachte. Und um die Gemengelage noch zu verkomplizieren hatte sich Bell auch noch in Mabel Hubbard verliebt.

Bezeichnenderweise war es die Beschäftigung mit der Taubheit, die ihm weiter auf die Sprünge half. Mit Hilfe des Phon­autographen wollte er demonstrieren, wie eine defekte Mechanik im Ohr zur Taubheit führt – und beschäftigte sich daher immer mehr mit einer künstlichen Membran. Als ihm bewusst wurde, dass er in punkto Elektrizität noch erhebliche Wissenslücken hatte, engagierte er einen versierten Tüftler namens Thomas Watson. Gemeinsam entdeckten sie schon bald, dass der Elektromagnet Eigenschaften besaß, die ihn zur Klang­übertragung prädestinierten.

Bells erster wichtiger Durchbruch war der Transmitter – so etwas wie ein frühes Mikrofon, das Klangwellen in elektrische Impulse umwandelte. Es war nicht zuletzt Hubbards juristischem Know-how zu verdanken, dass es Bell war, dem 1876 das Patent für das Telefon zugesprochen wurde. Der krönende Augenblick aber kam, als ihm im gleichen Jahr auf der Weltausstellung in Philadelphia eine »Gold-Medaille« überreicht wurde. Es dauerte nicht lange, bis es in Wissenschaft und In­dus­trie niemanden gab, der nicht über Bells Erfindung sprach.

Zufall oder Schicksal? Einer der Zuschauer, die sich auf der Weltausstellung das Telefon anschauten, war Emile Berliner, der wenig später das Konzept der Schallplatte entwickeln sollte. Auch wenn er damals nur einer der anonymen Besucher war, so entdeckte Berliner doch gleich die Achillesferse von Bells Apparatur: Es mangelte an der notwendigen Verstärkung der Klangwellen – anders gesagt: Der Sprecher musste schon schreien, um am anderen Ende gehört zu werden.

Emile Berliner schien allerdings keineswegs prädestiniert, Bells Modell zu verbessern. Sechs Jahre zuvor hatte der junge Deutsche mit jüdischen Wurzeln seine Heimat verlassen, um der Einberufung zum Deutsch-Französischen Krieg zu entgehen. Er hatte keinerlei wissenschaftliche Vorbildung, arbeitete inzwischen aber immerhin als Hausmeister in einem Chemielabor, nachdem er sich zuvor mit allen möglichen Jobs über Wasser gehalten hatte. Seit seiner Ankunft in Amerika war Berliner aber wild entschlossen, seine berufliche Situation zu verbessern. Er hatte nicht nur die Abendschule besucht, sondern hielt auch im Labor die Augen auf, wenn die Chemiker ihre Versuche machten.

In seinem gemieteten Zimmer begann er selbst mit Experimenten. Er bastelte einen Transmitter, den Vorläufer des heutigen Mikrofons, mit dem sich die Lautstärke des Inputs erhöhen. Bell kaufte umgehend das Patent und engagierte Berliner für sein Entwicklungsteam.

Es gab aber noch einen dritten Mann, der die technische Entwicklung genau verfolgte: Thomas Edison. Da Bells Telefon die von Edison dominierte Telegrafen-Industrie revolutionieren würde, fragte sich Edison, ob das geschriebene Telegram vielleicht von einem gesprochenen Telegramm abgelöst werden würde. Er beschäftigte sich bereits mit einer Schreibmaschinenähnlichen Tastatur, die dem Abspielen von Sprach­aufnahmen dienen sollte.

Wie Berliner hatte auch Edison keine akademische Ausbildung erhalten, sondern war in einer Kleinstadt in Ohio von seiner Mutter zu Hause unterrichtet worden. Mit zwölf Jahren verkaufte er Süßigkeiten und Zeitungen an den Haltestellen der örtlichen Eisenbahnlinie. Seinen Eintritt in die Welt der Wissenschaft verdankte er einem bizarren Zufall: Nachdem er dem Sohn eines Stationsvorstehers das Leben gerettet hatte, indem er ihn vor einem führerlosen Zug wegzog, gab man ihm zum Dank einen Job in der Telegrafenabteilung von Western Union. Er nützte die Nachtschicht, um eigene Experimente zu machen, wurde aber gefeuert, nachdem er Säure verschüttet hatte, die sich durch den Fußboden fraß und den Schreibtisch seines Vorgesetzten verätzte. Immerhin konnte er 1874, noch vor sei­nem 30. Geburtstag, sein Quadruplex-System an Western Union verkaufen und erhielt dafür die stolze Summe von 10000 Dollar. Mit dem Geld eröffnete er sein eigenes Labor in Menlo Park/New Jersey, wo er sich gleichzeitig mit Klang, Licht und kabelloser Telegrafie beschäftigte.

In den hektischen Monaten nach Bells Erfindung stieß Edison auf eine neue Idee, um Klänge auf einen Tonträger zu bannen. Da er selbst teilweise taub war, befestigte er eine Nadel an der Membran. Brachten Klangwellen die Membran zum Vibrieren, konnte er die Veränderung der Lautstärke als Nadelstiche spüren. Während er noch mit seiner Apparatur herumspielte, kam ihm eine weitere Erleuchtung: Wenn Klangwellen eine Nadel zum Vibrieren brachten, musste es doch auch möglich sein, dass die Klangwellen Spuren auf einem Papier hinterlassen, ja vielleicht sogar Informationen speichern – ganz so, wie sein Telegraph Löcher in das Laufband stanzte. Er entwarf eine neue Apparatur, bei der die Nadel die Klangwellen auf eine rotierende Walze mit Stanniolpapier gravierte.

Und er hatte einen weiteren Genieblitz: Wenn man einen Klang »schreiben« konnte, musste es im Umkehrschluss doch auch möglich sein, diesen Klang zu reproduzieren. Niemand, auch nicht der brillante Kopf von Alexander Bell, war bislang auf den Gedanken gekommen, dass das riesige Ohr des Phon­autographen auch als Lautsprecher benutzt werden konnte. Ende 1877 sang Edison ein Wiegenlied in den Prototypen seines Phonographen. Er wollte seinen Ohren nicht glauben, als bereits beim ersten Mal die Wiedergabe einwandfrei funktionierte.

Sechs Monate zuvor, am 30. April, hatte ein französischer Schriftsteller und Erfinder namens Charles Cros den Entwurf einer vergleichbaren Maschine bei der »Académie des sciences« in Paris eingereicht. Die Idee der Klangwiedergabe lag in der Luft. Das Konzept des Franzosen (das mit einem vertikalen Zylinder arbeitete) lag allerdings ungeöffnet im Archiv, während Edison weiter an seiner Maschine arbeitete. Nachdem die Nachricht von Edisons Erfindung auch in Paris die Runde gemacht hatte, bestand Cros darauf, dass sein versiegelter Brief geöffnet und öffentlich vorgelesen werde.

In den kommenden Wochen berichteten amerikanische Zeitungen über Edisons Erfindung der »Talking Machine« (wie von nun an alle Aufnahmegeräte genannt wurden). US-Präsident Rutherford B. Hayes lud ihn sogar in Weiße Haus ein, um seine Erfindung vorzustellen – was aber die kursierenden Gerüchte nicht zum Verstummen brachte, dass es sich bei der Maschine um einen ausgemachten Schwindel handele. Eines Tages bekam Edison einen Überraschungsbesuch von dem einflussreichen Bischof John Heyl Vincent, der eine Flut von obskuren biblischen Versen in den Trichter schmetterte. Als der Phonograph den zusammenhanglosen Sermon wortgetreu wiedergab, sagte der Bischof: »Ich bin nun überzeugt. Es gibt keine Menschenseele in den Vereinigten Staaten, die all diese Namen im gleichen Tempo aufsagen könnte.«

Der öffentlichen Aufmerksamkeit zum Trotz fand Edisons Erfindung keine Investoren. Mit der Erfindung der Glühlampe einige Monate später hatte er mehr Glück: Mit Unterstützung von J. P. Morgan und der Vanderbilt-Familie gründete er die Edison Electric Light Company und prophezeite: »Wir werden Elektrizität so billig machen, dass nur noch die Reichen Kerzen anzünden werden.«

Nachdem er bemerkt hatte, dass sich Edison fortan auf das elektrische Licht konzentrierte, kletterte Graham Bell erneut in den Ring und finanzierte geheime Forschungen, mit denen er Edisons vielversprechende Entdeckung verbessern wollte. Bells Leben hatte sich radikal verändert, nachdem das Telefon die industrielle Erfolgsgeschichte jener Jahre geworden war. 1880 verlieh ihm die französische Regierung den mit 10000 Dollar dotierten »Volta-Preis«. Da er das Geld nicht anderweitig benötigte, gründete er das »Volta-Labor« und engagierte seinen Neffen Chichester Bell sowie Charles Sumner Tainter, einen weiteren talentierten Wissenschaftler.

Nach vierjährigen Forschungen präsentierte Bells Team das »Graphophone«, eine deutlich verbesserte Version von Edisons sprechender Maschine. Sie hatte eine Walze aus Wachs, eine frei pendelnde Abtastnadel sowie einen stethoskopischen Trich­ter, mit dem die Klangqualität erhöht werden sollte. Als sie mit ihren Patenten die Runde machten, führte sie ihr erster Gang zu Thomas Edison, der aber – mit seinem florierenden Glühlampen-Geschäft voll beschäftigt – dankend ablehnte.

Der junge Mann, der die »Graphophone«-Patente schließlich kaufte, hörte auf den Namen Edward Easton und sollte als Gründungsvater von Columbia in die Geschichte eingehen. Der einstige Gerichtsstenograf, von Natur aus aufgeweckt und ambitioniert, hatte für 25000 Dollar die aufsehenerregende Ge­schichte des Prozesses verkauft, in dem der Mörder von US-Präsident James A. Garfield vor Gericht stand. Er war danach wieder aufs College gegangen, hatte Jura studiert und war mit 29 Jahren ein betuchter Mann, der nach geschäftlichen Möglichkeiten Ausschau hielt. Sein Partner bei seinem ersten Projekt war Colonel James Payne, ein Veteran des amerikanischen Bürgerkriegs.

1887 überschrieb das »Volta Laboratory« die Patente an Eastons und Paynes neue Firma »American Graphophone Company«. Ihr Plan bestand darin, mit dem Graphophone ein Diktiergerät anzubieten, das in allen Regierungsbehörden in Washington stehen sollte. Um die Maschinen herzustellen, mieteten sie sich einen Teil einer darbenden Nähmaschinen-Fabrik in Bridgeport/Connecticut an.

Es war zu diesem Zeitpunkt, dass sich endlich auch ein etablierter Industriemagnat für das Thema zu erwärmen begann. Jesse Lippincott, ebenfalls Bürgerkriegsveteran, hatte ein Vermögen mit Glaswaren gemacht, sollte aber auch als erster Verlierer in die Annalen des Musikgeschäfts eingehen. Nach dem Tod seiner Frau war er 1884 ins Waldorf Astoria gezogen und ein vertrautes Gesicht in Manhattans High Society geworden. Die New Yorker Zeitungen nannten ihn nur »the Pittsburgh Millionaire«. Von Bells Telefon fasziniert, war sich Lippincott sicher, mit einer Investition in die sprechenden Maschinen ein Vermögen machen zu können.

Er verkaufte die Aktien seiner Glas-Manufaktur für eine Million Dollar und überzeugte Edison, ihm für 500000 Dollar das Phonograph-Patent sowie die Mehrheit der Edison Phonograph Company zu verkaufen. Danach trat Lippincott in Verhandlungen mit Easton und Payne ein. Es sollte sich als cleverer Schachzug erweisen, dass Easton ihm sein Patent nicht verkaufte, sondern stattdessen anregte, Lippincott könne für 200000 Dollar die Lizenz an den US-Rechten erwerben. Ausgenommen davon sollte allerdings Washington DC sein, wo Easton Columbia Phonograph gegründet hatte, um den Regierungsbehörden seine Diktiergeräte zu verkaufen.

Lippincott unterschrieb die entsprechenden Verträge und machte sich daran, das erste und einzige Monopol für eine Industrie aufzubauen, die sich mit der Aufnahme von Sprache und Musik beschäftigte. Er übernahm das erfolgreiche Geschäftsmodell von Bells Telefon-Unternehmen und unterteilte die USA in verschiedene Vertriebsregionen. Lizenzierte Händler konnten für jährlich 40 Dollar ein Gerät mieten, um es dann interessierten Konsumenten zugänglich zu machen.

Trotz eines halbwegs vielversprechenden Starts schrieben Lippincott und seine regionalen Statthalter schnell rote Zahlen. Edward Easton machte sich auf den Weg, um vor Ort der Misere auf den Grund zu gehen. Im März 1890 reiste er von der Ost- zur Westküste, besuchte 31 der Lizenznehmer und führte praktisch die erste landesweite Studie der blutjungen Aufnahmeindustrie durch.

Zu seiner Überraschung wurde Easton mit einem Phänomen konfrontiert, das niemand auf dem Schirm gehabt hatte. Ein Lizenznehmer in San Francisco bot den Phonographen als eine »Pay to Play«-Jukebox an. Er hatte die Maschine in ein attraktiv gestaltetes Holzgehäuse integriert, das Gehäuse mit einem Münzeinwurf ausgestattet – und hatte diese Jukeboxen dann in Spielhallen, Saloons, Drugstores und anderen öffentlichen Plätzen aufgestellt. Das Phänomen war bereits von Kalifornien auf andere US-Städte übergesprungen. Die durchschnittlichen Einnahmen dieser münzbetriebenen Phonographen lagen bei 50 Dollar die Woche. Den größten Zulauf hatte offensichtlich eine Jukebox in einem Drugstore in New Orleans, die angeblich wöchentlich 500 Dollar abwarf.

Innerhalb eines Jahres begann Lippincotts kunstvoll aufgebautes Monopol zu zerbröckeln. Die regionalen Lizenznehmer verlangten nach besseren Konditionen, Edison und Easton lagen sich wegen der Produktionsquoten ihrer Phonographen in den Haaren – und Ersterer kämpfte sogar darum, die an Lippincott veräußerten Patente zurückzukaufen. Während Edison in einer langfristigen Auseinandersetzung verstrickt war, nützte Easton die Gelegenheit, um sich als alleiniger Geschäftsführer seiner Firma zu etablieren. Eine der ersten Entscheidungen, die er traf, bestand darin, seinem überarbeiteten Graphophone einen Federaufzugsmotor zu geben, der eine gleichmäßige Klangwiedergabe ermöglichte.

Während Edison von einem zweijährigen Prozess in Anspruch genommen wurde, brachte Columbia 1894 das »Graphophone Type G Baby Grand« an den Start, das im Einzelhandel 75 Dollar kostete. Der clevere Edward Easton, der inzwischen die Rechte an einem substanziellen Katalog von Musik- und Comedy-Aufnahmen besaß, spürte instinktiv, dass die Zeit gekommen war, die tönenden Maschinen direkt an den Endverbraucher zu verkaufen.

2

DIE ANWÄLTE HABEN DAS WORT

In einem Museum in Washington DC stand Emile Berliner vor einer Kopie des Phonautographen, den Scott de Martinville 30 Jahre zuvor in Paris entwickelt hatte. Die waagrecht geschnittenen Rillen, die so fundamental anders waren als Edisons senkrechte Zylinder, beschäftigten seine Fantasie. Weitergehende Recherchen führten ihn zu dem Design von Charles Cros und der Frage, ob die waagrechte Scheibe vielleicht sogar noch ein Patent abwerfen würde. Berliner machte sich an die Arbeit und entwickelte das »Gramophone«, das ebenfalls mit einer flachen Scheibe arbeitete. Er hatte noch immer viele offene Fragen zu lösen, doch schließlich war er nicht nur Geiger, Pianist und Komponist, sondern hatte auch – noch bevor in San Francisco die ersten Jukeboxen aufgetaucht waren – die künftige Anwendung der tönenden Maschinen vorausgesagt.

Als er am 16. Mai 1988 seinen Prototypen im Franklin Institute vorstellte, hatte er seinen Vortrag unter den Titel »Das Grammophon – Das Präparieren der menschlichen Stimme« gestellt. Er machte die Prognose, dass »künftige Generationen in der Lage sein werden, das tonale Abbild eines ganzen Lebens auf die 20 Minuten dieser Scheibe zu komprimieren«. Er ließ klingende Namen wie den der italienischen Sopranistin Adelina Patti fallen und behauptete, dass »prominente Sänger, Redner und Bühnenkünstler Tantiemen aus dem Verkauf ihrer Phonautogramme beziehen werden. Wertvolle Aufnahmen werden registriert werden, um die Aufnahme vor unrechtmäßiger Veröffentlichung zu schützen. Die Sammlungen dieser Phonautogramme werden im Wert ständig steigen – und ganze Abende werden damit verbracht werden, durch lange Listen interessanter Aufnahmen zu gehen.«

Berliner mochte ein Hellseher sein, doch glauben wollte ihm damals niemand. 1893 hatte er immerhin einen neuen Prototypen gebaut, dessen Vorzüge gegenüber dem Phonographen er nun mit Nachdruck propagierte: Dank seiner Erfindung konnte man eine Master-Aufnahme künftig unbegrenzt vervielfältigen.

Ein weiterer Geniestreich bestand darin, sich der Dienste von Fred Gaisberg zu versichern. Gaisberg war ein Aufnahme-Ingenieur mit einem immensen musikalischen Wissen – vermutlich der erste A&R-Mann, den die noch junge Industrie kannte. A&R stand für Artist und Repertoire – diejenige Abteilung einer Plattenfirma, die sich mit dem Entdecken und Betreuen neuer Talente beschäftigt.

Berliners Bemühungen, kapitalkräftige Investoren zu finden, war allerdings wenig Glück beschieden, zumal sich die wirtschaftliche Großwetterlage merklich eingetrübt hatte. Nach einem ausgewachsenen Börsencrash hatte die »Panik von 1893« die gesamte Geschäftswelt zum Erliegen gebracht. Ein Überangebot an Silber hatte dazu geführt, dass Silber-Bestände in Gold umgetauscht wurden. Doch als Amerikas Gold-Reser­ven das gesetzlich festgelegte Mindest-Niveau erreicht hatten und die Banken mit hochverzinslichen Anleihen dagegenzusteuern versuchten, kam es an der Börse zu massiven Verlusten. 15000 Firmen und 500 Banken meldeten Konkurs an. Die anschließende Depression löste antisemitische Sentiments aus: In den populären Cartoons der Tageszeitungen waren es die Rothschilds, die für den Crash verantwortlich gemacht wurden.

Da er selbst kein geborener Verkäufer war, engagierte Berliner einen methodistischen Geistlichen, um bei der Bell Telephone Company, seinem früheren Arbeitgeber, Interesse für seine neue Erfindung zu generieren. Seine früheren Kollegen wollten ihren Ohren nicht trauen, als sie sich eine schwammige Aufnahme anhören mussten, auf der Berliner mit fettem deutschen Akzent »Twinkle Twinkle Little Star« sang. Der Spott war ihm gewiss: »Ist der Berliner wirklich so weit gesunken? Wie traurig. Wenn er uns eine sprechende Puppe präsentiert hätte, wären wir ja vielleicht in der Lage gewesen, etwas Geld für ihn zu sammeln.«

Für Edward Easton sah die Welt weitaus rosiger aus. Aggressiv bewarb er Columbias Produktpalette in allen auflagestarken Zeitschriften: McClure’s, Cosmopolitan, Munsey’s, Harper’s und so weiter. Obwohl die Rezession die Konsumfreude merklich gedämpft hatte, erfreute sich Columbia derartiger Zuwachsraten, dass Easton sein Headquarter von Washington nach Manhattan verlegt hatte und Außen-Büros in Chicago, Philadelphia, St. Louis, Baltimore und Buffalo unterhielt.

1896 kehrte obendrein Edison auf den Markt zurück. Er hatte seinen Prozess gewonnen, die entsprechenden Patente zurückbekommen und konkurrierte nun mit Columbia an allen Fronten. Er baute seinen eigenen Musikkatalog auf und senkte die Preise für seinen uhrwerkbetriebenen Phonographen auf 40 Dollar. Ein Jahr später bot er sogar ein Gerät für 20 Dollar an. Zum Weihnachtsgeschäft 1897 drehte Columbia den Spieß um und bot ein Graphophone für zehn Dollar an. Der Preiskrieg ging in die vorläufig letzte Runde, als Edison ein Gerät namens »Gem« für gerade mal 7.50 Dollar in die Läden stellte. Innerhalb von fünf Jahren hatte sich der Markt für sprechende Maschinen radikal verändert und sprach nun einen völlig neuen Kundenkreis an.

Berliner war sich schmerzhaft bewusst, dass er ebenfalls einen aufziehbaren Antrieb brauchte. Im Februar 1896 meldeten sich Berliners Techniker bei einem Bastler namens Eldridge Reeves Johnson, der eine Nähmaschinen-Reparatur in Camden/ New Jersey betrieb. Es war eine Begegnung, die Johnson zu einem der reichsten Amerikaner seiner Generation machen sollte.

Auch wenn Johnson später scherzte, Berliners Prototyp habe wie »ein leidlich trainierter Papagei mit kratziger Kehle und verschnupftem Kopf« geklungen, war er von den Möglichkeiten doch fasziniert. Er war auch desillusioniert, was sein Nähmaschinengeschäft anging, das trotz jahrelanger Schufterei kaum einen Profit abgeworfen hatte. Johnson begann, sich in seiner Freizeit in die Feinheiten des Gramophones zu vertiefen. Indem er die mechanischen Abläufe straffte, schaffte er es, die Herstellungskosten drastisch zu reduzieren. Binnen kurzer Zeit wurde er der Hauptlieferant von Berliners Maschinen.

Auch bei der Suche nach einem alerten Werbe-Profi waren Berliner und seine Partner fündig geworden: Frank Seaman war selbstbewusst, überzeugend und versprühte einen natürlichen Optimismus. Seaman bot Berliner einen Deal an, den dieser nicht ablehnen konnte: Seaman verzichtete auf ein Honorar, forderte dafür aber einen 15-jährigen Exklusivvertrag für seine Werbeagentur. Innerhalb der bestehenden Firmenstruktur gründete er eine weitere Firma, bezog Büros im Musikdistrikt des Broadways und fing damit an, das Gramophone in Zeitschriften aggressiv zu bewerben.

Fred Gaisberg, Berliners Musikdirektor, stellte zu seiner Freude gleichzeitig fest, dass seine Firma zwar beim Umsatz hinterherhinkte, aber trotzdem keine Probleme hatte, namhafte Interpreten an Land zu ziehen, die sich für die Walzentechnologie und deren hochkomplizierten Aufnahmeprozess nicht erwärmen konnten. Der erste große Fisch an der Angel war der italienische Tenor Ferruccio Giannini, der verkürzte Arien aus »Rigoletto«, »Traviata«, »Trovatore« und »Cavalleria Rusticana« einsang. Berliner und Gaisberg nahmen Redner, Prediger, Freigeister und Schauspieler auf, schafften es aber auch, den damals sehr populären John Philip Sousa und seine U.S. Marine Band von Columbia loszueisen und exklusiv für Gramophone unter Vertrag zu nehmen.

Als sich das Jahr 1898 ans Ende neigte, konnte Frank Sea­man Verkäufe in Höhe von über einer Million Dollar vermelden. Nichtsdestotrotz sorgte die internationale Expansion, die Berliner vorantrieb (»Deutsche Grammophon« in Deutschland und die »Gramophone Company in England) für Irritationen – sowohl bei Columbia als auch in seinem eigenen Team. Seaman schmollte, weil er sich eine weltweite Rolle gewünscht hatte, sein Vertrag aber nur das nordamerikanische Territorium abdeckte. Edward Easton wiederum, von Berliners Wachstum aufgeschreckt, versicherte sich der Dienste eines einflussreichen Patentanwalts aus Washington. Niemand konnte die kommenden Entwicklungen vorhersehen, doch Tatsache war, dass die juristischen Schlachten der kommenden Jahre den Lauf des Musikgeschäfts im gesamten nächsten Jahrhundert beeinflussen sollten.