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Nr. 2842

 

Fauthenwelt

 

Atlan erlebt einen Weltuntergang – der Arkonide setzt auf alte Fähigkeiten

 

Michelle Stern

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

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Auf der Erde schreibt man das Jahr 1518 Neuer Galaktischer Zeitrechnung (NGZ). Die Menschen haben mit der Liga Freier Terraner ein großes Sternenreich in der Milchstraße errichtet; sie leben in Frieden mit den meisten bekannten Zivilisationen.

Doch wirklich frei ist niemand. Die Milchstraße wird vom Atopischen Tribunal kontrolliert. Dessen Vertreter behaupten, nur seine Herrschaft verhindere den Untergang – den Weltenbrand – der gesamten Galaxis.

Atlan, der unsterbliche Arkonide, will dem Tribunal in dessen Machtzentrum gegenübertreten, um die Wahrheit zu erfahren. Von der Passagewelt Andrabasch ist er mit dem KATAPULT in die Jenzeitigen Lande aufgebrochen und hat das Sturmland erreicht. Doch das Sturmland geht unter. Es bleibt nur eine Hoffnung: die FAUTHENWELT ...

Die Hauptpersonen des Romans

 

 

Atlan – Der Arkonide stellt sich einem Yilld und begegnet einem Fauthen.

Vogel Ziellos – Der ATLANC-Geborene findet wieder, was verschollen war.

Julian Tifflor – Der Bote der Atopen betritt das neue Sturmland.

Aiv – Die Waaghalterin wird umgedacht.

Prolog

Tagtraum

 

Die Lichtung, auf der er stand, brannte. Flammen zuckten an Bäumen empor, leckten knisternd über Stämme und Äste. Rauchfahnen wehten in den finsterschwarzen Himmel.

Der weißhaarige Junge starrte auf den Yilld. Die Mischung aus Schlange und Reptil war groß wie ein Haus. Algen bedeckten schwarzgrüne Schuppen. Rot glühende Augen fixierten ihn. Das Ungeheuer hatte dicht vor seinem Körper zugeschnappt, blies ihm heißen, stinkenden Atem ins Gesicht.

Der Junge bewegte keinen Muskel. »Was soll das heißen, es ist falsch? Ich bin Atlan da Gonozal!«

»Du bist nicht Atlan da Gonozal«, sagte der Yilld. »Jedenfalls nicht nur.«

»Wer bin ich dann?«

»Wenn du das nicht weißt, ist dir nicht zu helfen.«

»Willst du das denn: mir helfen?«

Die Flammen kamen näher, schlossen sich wie ein Ring um sie. Atlan spürte die Hitze auf der Haut.

Der Yilld blinzelte. »Alles, was ist, kann dir nutzen oder schaden. Auch ich. Ob ich es tue, liegt ganz allein an dir.«

»Das ist wahr.« Instinktiv schloss Atlan die Augen, fühlte das Feuer, das den Wald erfasst hatte. Mit plötzlicher Sicherheit wusste er, dass er es würde lenken können, wagte er bloß den Versuch. Im Feuer war Sein. Überall um ihn war Zhy, golden, schimmernd, allgegenwärtig. Er brauchte keine paranormal begabten Feuerfrauen, es zu erleben. Es war einfach. Wenn er die Hand ausstreckte, danach griff, würde er die Flammen auf den Yilld werfen können.

Doch der Yilld war nicht sein Feind. Das Ungeheuer aus der Geschichte Arkons, die mythische Gestalt, war Teil seiner selbst, ein Bild der Kräfte, die dank des Zellaktivators und seiner langen Erfahrung in ihm wohnten.

War es das, was der Yilld meinte? Hätte die richtige Antwort gelautet: »Ich bin du«?

Zu spät, flüsterte die Stimme in ihm. Es war sein Extrasinn, den er als Kind ebenso wenig gehabt hatte wie den Zellschwingungsaktivator. Und doch war diese Stimme bei ihm. Träumte er? Es musste so sein. Nur im Traum war es möglich, dass er ein Junge war.

Zu spät, wiederholte der Extrasinn. Das hat der Yilld dir gesagt.

Ich habe es mir selbst gesagt, widersprach Atlan. Alles in meinem Traum kommt von mir. Das ist immer so, wenn wir träumen. Sogar du bist von mir erfunden.

Die Stimme schwieg.

Atlan versuchte, sich zu erinnern, warum er in diesem Traum in den Wald gegangen war. Da war eine Energie gewesen, die ihn zu sich gezogen hatte. Die Energie verkörperte der Yilld. Nun stand der Wald in Flammen. Seine Welt brannte und lag zugleich im goldenen Licht des Zhy. Was war die Bedeutung dieses Traums? Was wollte der Yilld ihm sagen? Irgendwo in diesem Wirrwarr aus nächtlichen Symbolen lag die Hilfe, die sein Leben retten konnte.

Atlan musste Antworten finden – oder er würde untergehen.

 

»Ruhe in dir. Fühle das Yilldauge. Es schaut aus dir heraus ins unendliche Universum und nimmt in sich auf, was ist.«

– Erstes Grundlegendes Prinzip, um Zhy zu erreichen;

nach Roe Malut da Kaberna

1.

Vorfälle

Andrabasch

 

Lua Virtanen stand am Sandstrand und blickte hinaus aufs Meer. Es war kein künstlicher Strand wie in der ATLANC, sondern ein echter, der seinen ureigenen Geruch hatte. Nach Algen, Salz und Fremdheit. Manchmal auch nach Verwesung, wenn die Flut tote Leiber kleiner, schlangenähnlicher Wesen auf das Land warf, die im ungeduldigen Licht der viel zu kurzen Tage vertrockneten.

Es gab tausend neue Gerüche, tausend Bilder, die gesehen, Geräusche, die gehört werden wollten. Doch je länger Lua auf dieser wundervollen Welt war, desto schrecklicher erschien sie ihr.

Andrabasch, der ringförmige Planet in der Synchronie, das Portal in die Jenzeitigen Lande, das Abenteuer eines jeden Transterraners schlechthin – für Lua bedeutete er Einsamkeit. Obwohl er weder Geld noch Grenzen kannte, war er ein Gefängnis. Sie saß auf Andrabasch fest, während Vogel weitergereist war.

Lua kniete sich hin, hob eine ovale Muschelschale auf, strich mit dem Finger darüber und ließ sie fallen. Nichts auf dieser Welt hatte Bedeutung. Weder der Strand noch die Muschel noch die tausend anderen Dinge, die auf sie warteten. Ohne Vogel war alles belanglos.

Sie dachte an sein Gesicht, den Schnabel und die rundlichen Augen, die so überraschend viele Gefühle ausdrücken konnten. An die bunten Flaumfedern, die weich und vertraut waren. Nur seinetwegen hatte sie die schweren Aufgaben und Prüfungen in der ATLANC meistern und das Schiff retten können.

Hinter ihr knirschte Sand. Shukard Ziellos kam auf sie zu. Lua erkannte ihn an seiner stürmischen Art zu gehen, noch ehe sie sich zu ihm umdrehte.

»Was ist?«, fragte sie abweisend.

Shukard blieb neben ihr stehen, schaute wie sie hinaus auf die Wellen. »Die anderen vermissen dich. Du bist seit Stunden weg.«

»Wer mich vermisst, weiß, wo er mich findet.«

»Sie machen sich Sorgen.«

»Ihr Problem.«

Shukard, der früher immer gelächelt hatte, wirkte angespannt. Die Stirnfalten passten nicht zu ihm. Auch er hatte sich verändert, wie sie.

Inzwischen wusste Lua, warum. Sie hatte Vogel versprochen, sich um seinen Bruder Shukard zu kümmern. Gemeinsam hatten sie den Schock aufgearbeitet, unter dem Shukard gestanden hatte. Er war von der Haut eines Richters beeinflusst worden und für den Tod mehrerer Lebewesen direkt verantwortlich, was ihm hart zusetzte. Aber mittlerweile befand er sich auf dem Weg der Besserung.

Überhaupt schien sich jedes einzelne Besatzungsmitglied der ATLANC auf Andrabasch wohlzufühlen und sich dem neuen Leben mehr und mehr zu öffnen. Jeder – außer ihr. Sogar Virginie Ziellos, Shukards und Vogels Mutter, hatte sich in eine neue Aufgabe gestürzt und wollte auf einem Feld mithilfe von Robotern terranisches Korn anbauen.

»Lua, wir wollen dir helfen.«

Tränen stiegen ihr in die Augen. »Dann bring ihn mir zurück!«

»Das kann ich nicht.« Er fasste ihre Schultern. »Er hat seine Entscheidung getroffen. Willst du ihm ewig nachtrauern? Das Leben geht weiter.« Ein wenig blitzte vom alten Shukard durch – die Entschlossenheit, der Drang, etwas zu verändern, das Dasein mit allen Sinnen zu genießen.

»Und wie? Ich habe keine Aufgabe mehr.« Lua bemühte sich, nicht wehleidig zu klingen. Sie hatte kein Selbstmitleid deswegen, es war schlicht eine Tatsache. Ihre Aufgabe war es gewesen, die Besatzung der ATLANC sicher nach Andrabasch zu bringen. Dank ihr waren die Bewohner der Sektoren auf die ringförmige Welt gewechselt, um dort einen Neuanfang zu wagen. »Deena Ledoyen und die anderen kommen ohne mich zurecht. Nun, nachdem wir auf Andrabasch sesshaft sind, ist es nicht mehr hilfreich, die Tochter des ANC zu sein.«

»Dann öffne dich dieser Welt! Es gibt so viele Wunder hier.«

»Ich kann nicht. Noch nicht. Lass mir Zeit.«

Er nahm sie in die Arme. Es fühlte sich gut an. Shukard und sie hatten eine Menge zusammen durchgestanden. Er war das, was einem besten Freund in ihrem Leben am nächsten kam. Trotzdem erzählte sie ihm nichts von dem, was sie wirklich quälte. Von den Visionen, die Nacht für Nacht während ihrer Ruhetrance kamen und die ihr Vogel am Rand des Nichts zeigten. In diesen Wachträumen waren die Jenzeitigen Lande ein Abgrund aus finsterkaltem, sternenlosem Schwarz, und Vogel stürzte kopfüber hinein.

 

*

 

Da war Dunkelheit. Und Licht. Das Licht breitete sich in der Dunkelheit aus und die Dunkelheit im Licht. Unendlich erstreckte sich beides durch das Universum. Durch sämtliche Universen.

Julian Tifflor war das Zentrum dieses Vorgangs. Er schickte das Licht, schickte die Dunkelheit, war eins mit beiden. Längst hatte er jede Zeit vergessen, sogar, dass es überhaupt so etwas wie Zeit gab. Dort, wo er war, spielte es keine Rolle. Dort war einfach, was dort war.

Er schwebte in einem namenlosen, unendlichen Raum, der das Sein selbst einschloss und so viel mehr war. In diesem Raum fühlte er eine Veränderung. Sie war noch nicht lange da und ungeachtet dessen bereits dabei, die Vorgänge seiner Meditation zu stören. Das Licht breitete sich anders aus, die Dunkelheit kehrte anders zu ihm zurück. Es war kein Vorgang, den er hätte sehen können. Tifflor spürte ihn, wie er die Synchronie spürte, die ihn umgab, oder wie er in der Lage war, den Halbraum wahrzunehmen, wenn er sich an Bord eines Raumers in ihm aufhielt.

Unvermittelt wurde ihm übel. Die Raumsonde änderte abrupt ihren Kurs. Tifflors Organe schienen sich umzustülpen. Die körperliche Empfindung riss ihn mit sich, zerrte ihn zurück in das walzenförmige Raumschiff, in dem er saß: die Atopische Sonde, die Richter Matan Addaru Jabarim ihm zur Verfügung gestellt hatte.

Keuchend atmete Tifflor ein und öffnete die Augen. »Was ist das?«, flüsterte er.

Zu seiner grenzenlosen Überraschung bekam er eine Antwort. »Der Wege Freiheit in Beschneidung der Tangente war exponentiell gefährdet. Korrektur in das positive Spektrum der Existenz tat not.«

Tifflor blinzelte. Vor ihm, inmitten der Zentrale der Sonde, stand der Toloceste Aus der Lichtkluft und wackelte mit dem schwach leuchtenden Kugelkopf, der an einem langen, hakenförmigen Hals baumelte.

»Du bist an Bord?«, fragte Tifflor rau. Er hatte seine Stimmbänder seit Ewigkeiten nicht benutzt. »Ich dachte, du hättest mir lediglich die Funktion der Sonde beschrieben und sie danach verlassen.«

Der Toloceste ging einen Schritt zurück. Seine Beine waren von den Knien aufwärts zusammengewachsen, wodurch sein Gehen wie ein Wanken wirkte. Er hob eine der Hände mit den zahlreichen Fingern. In der Mitte des Fingertrichters saß ein Mund, doch die Stimme kam aus einem Amulett auf seiner Brust. »Der Morgen grüßt stets den Tag.«

Tifflor erwiderte nichts darauf, er dachte darüber nach, was der Toloceste zuerst gesagt hatte. Es erschien ihm wichtig. »Was hat der Wege Freiheit gefährdet?«

»Vorfall Nummer eins. Er wird kartografiert in den Sternen des Jenseits und den Tiefen der inneren technischen Strukturen.«

Tifflor streckte sich. Er hatte seine Muskeln und Sehnen lange Zeit nicht benutzt, dennoch fühlten sie sich weich und geschmeidig an. Sein ganzer Körper war durchdrungen von der Kraft, die ihn während der Meditation durchflossen hatte.

»Was ist Vorfall Nummer eins?« Ihn drängte die Antwort nicht, er spürte eine allumfassende Ruhe. Überhaupt hatte Tifflor alle Zeit, die ein Wesen haben konnte. Er wusste gleichwohl, dass diese Betrachtungsweise eine Illusion war. Die einzige Zeit, die man je hatte, war das Jetzt. Und das war bereits in dem Moment vorüber, in dem man dessen gewahr wurde. Im Grunde war er einzig in den Meditationen frei, wenn die Zeit ihre Bedeutung verlor und wahrhaft Gegenwart herrschte.

»Ein Ereignis mit negativem Realitätsvorzeichen.« Der Toloceste schnappte mit den Fingerkränzen. Es wirkte aufgeregt. »Verursacht vom Gesehenen-Nicht-Gesehenen und dem von ihm gesteuerten asozialen Schattenobjekt. Realitäten sind für ihn Strich und Punkt, Kreis und Quadrat in einem.«

»Ein Verleugneter, der es mit den Realitäten nicht sehr genau nimmt«, schlussfolgerte Tifflor, der wenig Mühe hatte, Aus der Lichtkluft zu verstehen. In den Millionen Jahren seiner Existenz hatte sein Geist die verschlungensten Pfade erkundet.

»Veirdandi«, spuckte der Toloceste einen Namen aus.

Er machte eine komplizierte Armbewegung, und ein Holo flammte auf. Es zeigte ein schemenhaftes Etwas, das entfernt an ein Raumschiff erinnerte. Vordergründig wirkte es wie ein dauerhaftes Blitzgewitter im Raum. Grüne Farbschlieren waberten dazwischen, ähnlich einer Aurora borealis. Im einen Moment leuchteten sie intensiv auf, wie die Lichter am Nordpol Terras, im anderen verblassten sie, bis sie kaum mehr zu erahnen waren.

»Richter Veirdandi«, echote Tifflor. Von ihm hatte er gehört. Er war ein Atope wie der, der ihm den Auftrag gegeben hatte, in die Jenzeitigen Lande zu fliegen und herauszufinden, wann ein neuer Atope in die Milchstraße kam. Offensichtlich mussten immer zwei Atopen vor Ort sein, sodass seit dem Tod von Richter Chuv der Milchstraße ein zweiter Verwalter fehlte.

Falls es Veirdandi gewesen war, der verleugnete Richter, musste das Objekt, das ihren Weg gefährdet hatte, dessen Raumschiff ZEITWEIDE gewesen sein. Vielleicht hätte es eine Kollision gegeben, wäre Aus der Lichtkluft nicht ausgewichen.

Interessant daran war, dass der Richter offenbar tatsächlich existierte. Warum verleugnete das Atopische Tribunal ihn also? Sicher steckte dahinter eine aufschlussreiche Geschichte.

»Da ist mehr«, stellte Tifflor fest. »Ein zweiter Vorfall.«

»Alles Licht ist ohne Schatten«, widersprach der Toloceste.

»Und was ist mit dem Planeten, der wie ein Reifen vor uns in der Synchronie schwebt?«

Aus der Lichtkluft, bisher ständig in Bewegung, erstarrte. »Unsichtbar für weiche Augen jenseits der Zahlen ist, was in der Ferne liegt.«

»So fern ist es nicht mehr.« Tifflor nahm die ringförmige Welt sehr deutlich wahr. Sie lag in einer raumzeitlichen Abschnürung innerhalb der Synchronie und war das, was seine Meditation gestört hatte – oder besser: das, wovon er sich hatte stören lassen. Die Welt hatte seine Aufmerksamkeit erregt. »Werden wir dort landen?«

»Der Tag zieht Stunde um Stunde hinter sich her, es ist der Lauf der Mathematik.«

»Also ja.«

Mit einem Mal kam Tifflor sein Mund wie ausgedörrt vor. Ein Planet innerhalb der Synchronie. Was würde ihn dort erwarten?

 

*

 

Zum ersten Mal seit Wochen sank Lua Virtanen in eine tiefe, visionslose Erholungstrance. Als Unschläferin benötigte sie keinen Schlaf, doch die lange Phase der Ruhe tat ihr gut. Umso irritierter war sie, als sie eine Stimme dicht an ihrem Ohr hörte.

»Lua! Lua, komm zu dir!«

Benommen setzte Lua sich auf. Im gedämpften Licht des Ruheraums erkannte sie Shukards Gesicht. Dessen Wangen waren rot, als wäre er gerannt.

»Was ist los? Gibt es Probleme in der Siedlung?«

»Keine Probleme. Zieh dich an! Ich muss dir etwas zeigen.«

Lua brauchte bloß Sekunden, in ihre bereitgelegten Kleider zu schlüpfen. Sie folgte Shukard hinaus. Es war schon hell.

Shukard lotste sie aus der Anlage zu einem Gleiter in der Nähe des Hauptgebäudes, das in seiner verschachtelten Struktur an die Decks der ATLANC erinnerte.

»Was willst du mir zeigen?«

»Das musst du selbst sehen! Steig ein!«

Er pilotierte sie über den Kontinent. Dabei schlug er eine ganz bestimmte Richtung ein. Luas Pulsschlag erhöhte sich. Wollte er etwa dorthin? Zum KATAPULT?

Kurz darauf wurden ihre Vermutungen bestätigt. Shukard brachte sie in die Nähe einer jener Stationen, von denen aus das Feld zur Weiterreise in die Jenzeitigen Lande bedient wurde.

Sie steuerten ein gelandetes Raumschiff an, das ein Stück entfernt auf einem Raumhafen stand. Die Sonnenstrahlen funkelten auf dem dunkelroten Rumpf. Es war deutlich kleiner als die ATLANC, im Vergleich zu ihr nahezu winzig. Die Grundform war walzenförmig und maß etwas über hundertdreißig Meter in der Länge. Lua schätzte die Höhe auf dreißig Meter.

»Was ist das für ein Schiff?«

»Das ist eine Atopische Sonde. Ich habe mich unauffällig ein wenig umgehört. Offensichtlich ist ein einzelner Passagier nach Andrabasch gekommen und will weiterreisen.«

Luas Herz schlug heftig. »Weiterreisen. In die Jenzeitigen Lande!«

»Ja. Und es kommt noch besser. Diese Sonde braucht keinen Piloten. Sie ist an sich autorisiert, in die Jenzeitigen Lande zu gelangen. Eben das unterscheidet sie von einem normalen Raumschiff. Es heißt, sie wird geschickt.«

»Dann ist es wahrscheinlich ungefährlich, mit ihr zu reisen?«

»Ganz genau.« Shukard flog eine Schleife um das Schiff, entfernte sich dann und landete in einigem Abstand. »Mich reizt es auch, aber ... Ich fühle mich auf Andrabasch wohl. Ich dachte nur ...«

Lua fiel ihm um den Hals. »Du dachtest, dass ich ihm folgen will. Dass es eine Möglichkeit ist, Vogel zu suchen.«

Er nickte stumm.

Lua war bekannt, dass die ATLANC auf ihrem Rückweg Andrabasch nicht passieren würde. Um wieder über die Synchronie zu ihr zu gelangen, müsste Vogel Jahrhunderte überwinden. Diese Zeit hatten sie beide nicht. Aber die Sonde war die Rettung. Unverhofft war durch die Nacht, die Luas Leben war, ein Sonnenstrahl gebrochen. Eine Hoffnung.

»Weißt du etwas über den Passagier?«

Shukard schüttelte den Kopf. »Entweder ist er ein Atope oder ...« Er sah sie besorgt an. »Oder ein Tesqire. Das Letztere ist wahrscheinlicher. Ein Atope wäre zugleich auch Pilot und käme mit seinem ganzen Schiff, oder?«

»Du meinst, ein weiterer Tesqire, den man Kommandant Atlan nachgeschickt hat, um ihn aufzuhalten und ihm die ATLANC abzunehmen?«

»Es wäre möglich.«

»Dann muss ich heimlich an Bord gehen. Vielleicht kann ich Atlan und Vogel warnen, ehe der Tesqire sie findet.«

»Es ist gefährlich.« Shukard berührte seine Brust. Sicher dachte er an den Balg, den Hautfetzen Richter Matan Addaru Jabarims, der von ihm Besitz ergriffen hatte, um Atlan die ATLANC abzujagen.

»Ich werde vorsichtig sein. Willst du wirklich nicht mitkommen?«

Shukard zog ein schuldbewusstes Gesicht. »Es würde Daria nicht gefallen.«

»Oh.« In ihrer Trauer hatte Lua gar nicht mitbekommen, dass Shukard eine Freundin hatte.

»Außerdem habe ich von Abenteuern mit Kommandant Atlan erst einmal genug. Ich bleibe hier und passe auf unsere Leute auf.«

»Weißt du, wann die Sonde startet?«

»In zwei Tagen. Wir müssen bloß herausfinden, wie wir dich an Bord schmuggeln.«

Lua lächelte. Sie dachte an zwei Tolocesten, denen sie verbunden war und die wie alle ehemaligen ATLANC-Tolocesten in den Stationen des Katapults lebten und arbeiteten: Schaum auf Zeitwellen und Vor der Atomwacht. »Was das betrifft, habe ich eine Idee.«

 

»Vermeide die Spannung, die entsteht, wenn du zusammensackst. Keiner deiner Körperteile ist schlaff und ohne Zhy. Lasse das Zhy fließen und sei frei von Kraft. Kein Muskel muss mehr tun, als notwendig ist.«

– Zweites Grundlegendes Prinzip, um Zhy zu erreichen;

nach Roe Malut da Kaberna

2.

Weltenende

 

Ich starrte auf die unendliche Ebene aus Sand und Steinen. Helles Licht riss sie aus dem ewigen Finsterschwarz. Tausende von Punkten standen im Himmel, verblassten in grellen Blitzen und tauchten wieder auf. In mehreren Kilometern Entfernung hob ein Grollen an. Land wurde zusammengestaucht, dehnte sich. Sandhügel und Steine spritzten wie eine Fontänenfront in die Höhe. Die Gewalten tobten, kamen immer näher. Ich spürte erste Sandkörner, die auf meine Wangen prasselten und gegen die Körper der Kampfroboter klatschten, die mich begleiteten.

Das Sturmland verging im Feuer. Es war der Untergang der Welt. Das Ende von allem.

Vogel Ziellos und der Pensor waren in die Knie gegangen. Einzig Aiv stand aufrecht neben mir. Sie drehte sich im Kreis, ihr rosaweißes Kleid flatterte im Sturmwind.

Ich hob den Kopf. »Roboter! Schutzschirme um uns zusammenschalten!«

Wir mussten die ATLANC erreichen. Sie war der einzig verbliebene sichere Ort, den es auf dieser Welt gab. Das Richterschiff stammte aus der Abenddämmerung des Universums und würde den Gewalten standhalten, die das Konsortium der Mentalen Schablonen über uns hereinbrechen ließ.

Einen Augenblick fluteten Erinnerungen meinen Geist. Ich war bei den Gechutronen gewesen, bei Fürstmutter Chuom, ohne zu wissen, dass sie die Anführerin jener Truppen war, die dem Konsortiums der Mentalen Schablonen dienten. In meiner Unwissenheit hatte ich gedacht, zu Gast bei den Verteidigern des Sturmlands zu sein, doch Aiv hatte mich zu den Angreifern gebracht.

Ich dachte an die Waffen, die das Konsortium benutzt hatte. An die Gravowerfer, die Schiffe aus der Raumzeit stanzten, sie zerknäulten wie altes Papier und ins Nichts warfen.

Es war das, was nun mit dem Sturmland geschah. Ich hatte Fürstmutter Chuom geholfen, das Kriegsglück zu ihren Gunsten zu wenden – deswegen ging die Welt, auf der ich gestrandet war, unter.

Eine schwach grünlich schimmernde Blase schloss uns ein, sperrte Wind und Sand aus. Schwarze Blitze zuckten, wo die Energie auftreffende Körner in den Grenzbereich zwischen Normal- und Hyperkontinuum abstrahlte. Die Roboter hatten einen Hochenergie-Überladungs-Schirm um uns vier gelegt, der jegliche Materie, aber keine Geräusche ausschloss. Der unnatürliche Wind pfiff immer heller, peitschte gegen aufgeworfenes Land.

»Kommt!«, schrie ich Vogel und dem Pensor zu. Ich zerrte Aiv mit mir, die keine Anstalten machte, sich zu bewegen. »Bring uns in die ATLANC! Du kannst uns dorthin teleportieren!«

»Die ATLANC gehört nun den Waaghaltern. Für dich ist dort kein Platz mehr.«

»Das werden wir sehen!«

Das Grollen wurde ohrenbetäubend. Nur dank meines Extrasinns gelang es mir, mich im Chaos zu orientieren. Sand und Steine spritzen um uns auf. Das Land erzitterte, zog sich zurück wie ein Meer bei Ebbe.

»Antigravmodus einschalten!«, befahl ich den Robotern. »Schwebt und nehmt uns ins Schlepptau!«

Die Maschinen gehorchten in letzter Sekunde. Der Boden brach weg. Steine und Wüste verschwanden. Unter uns war nichts als wirbelndes Chaos.

»Sieh es ein!« Aivs asiatisch anmutendes Gesicht wirkte traurig. »Es ist zu spät! Wir werden sterben. Alle. Das Sturmland, das auch ein anders sein könnte, ist tot!«

Ich dirigierte die Roboter weiter in Richtung ATLANC, doch ich spürte, dass wir abgetrieben wurden. Die Kräfte um uns waren zu gewaltig, wir nur ein Spielball in einem Inferno. Bald würde der Schirm zusammenbrechen. Er blitzte und irrlichterte durch den aufschlagenden Sand und die Steine. Unter uns war nichts mehr, wir trieben in einem Meer loser Materie, die sich zusammenzog, zu Trichtern wurde, verschwand.

In Vogels Augen sah ich Panik, doch ich selbst spürte nichts dergleichen. Es überraschte mich: Inmitten dieses Chaos, dieser völligen Vernichtung, fand ich Trost. Wenn das mein Ende war, sollte es so sein. Atlan da Gonozal, untergegangen im Sturmland, das auch ein anderes sein konnte, im Zentrum eines Weltenendes.

Weitere Gravotreffer schlugen um uns ein, zerstörten das Land nicht nur, sondern zerfetzten es, zerbrachen es im Innersten, vernichteten es vollkommen.

Der Schirm irrlichterte vor Überschlagsblitzen. Strukturrisse entstanden, verästelten sich, wurden zu gezackten, hässlichen Narben. Von der ATLANC war weit und breit nichts zu sehen. Wir konnten Hunderte von Kilometern abgetrieben worden sein.

»Atlan«, flüsterte Vogel. Er sank innerhalb der schützenden Blase in sich zusammen. »Ich bereue nichts.« Der Junge senkte den Schnabel, erwartete den Tod.

Ich kniete mich neben ihn, schwebte an seiner Seite. Der Pensor wandte den schattigen Helm dem größten Strukturriss entgegen, als wollte er sehenden Auges in den Tod gehen.

Aiv stand einfach da. Regungslos. Eine Puppe ohne Angst und Leben.

Der Schirm fiel in sich zusammen. Ich griff Vogels Hand. Wind erfasste meinen Körper, ein Sog, der mich mit sich riss.

Jeden Moment erwartete ich, von den Gewalten getötet zu werden. Doch das Ende blieb aus. Die Hitze schlug unvermittelt in Kälte um. Weiße Flocken umwirbelten mich. Mein Flug wurde langsamer.