JOSEPH HAYDN
Das unterschätzte Genie

FRANK HUSS

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Lektorat: Raphaela Brandner, Paul M. Delavos (Wien)

Cover, Layout und Satz: Nikola Stevanovic (Belgrad)

Druck und Bindung: Prime Rate (Budapest)

Coverabbildung: Joseph Haydn nach Ihrwach’s Medaillon, Kupferstich, in: Biographische Nachrichten von Joseph Haydn. Nach mündlichen Erzählungen desselben entworfen und herausgegeben von Albert Christoph Dies, Landschaftsmaler. Wien: Camesinaische Buchhandlung, 1810, Frontispiz.

Abbildung Vorsatz und Nachsatz: Fürstl. Opernhaus zu Esterház, in: Beschreibung des Hochfürstlichen Schlosses Esterháß im Königreiche Ungern. Preßburg: bey Anton Löwe, 1784.

Frank Huss: Joseph Haydn. Das unterschätzte Genie.
Wien: HOLLITZER Wissenschaftsverlag, 2013

© HOLLITZER Wissenschaftsverlag, Wien 2013

HOLLITZER Wissenschaftsverlag

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Eine Abteilung der

HOLLITZER Baustoffwerke Graz GmbH
Stadiongasse 6–8, A-1010 Wien

www.hollitzer.at

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-99012-110-8 hbk

ISBN 978-3-99012-111-5 pdf

ISBN 978-3-99012-112-2 epub

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT – DER EWIG UNTERSCHÄTZTE „PAPA HAYDN“

DAS NIEDERÖSTERREICHISCHE DORFKIND

HAYDNS WELT

DIE FAMILIE HAYDN – GEBURT IN ROHRAU

KAPELLSÄNGER AM WIENER STEPHANSDOM – EIN KASTRAT SOLL ER WERDEN

SCHULZEIT IN HAINBURG

WIENER SÄNGERKNABE

EINE KLEINE OPERATION WÜRDE DIE STIMME ERHALTEN

ERSTE KOMPOSITORISCHE VERSUCHE UND ENTLASSUNG

AUF EIGENEN FÜSSEN

„DA ICH ENDLICH MEINE STIMME VERLOHR […]“

IM MICHAELERHAUS AM KOHLMARKT – METASTASIO UND PORPORA

ERSTE OPERNKOMPOSITION UND EIN NEUES QUARTIER

ERSTE RICHTIGE ANSTELLUNG UND EHESCHLIESSUNG

BEIM GRAFEN MORZIN

HAYDNS WEG IN SEINE UNGLÜCKLICHE EHE

EXKURS 1

DAS LEBEN DER WIENER ADELSFAMILIEN ZUR ZEIT HAYDNS

WEITERE ADELSKAPELLEN IM WIEN MARIA THERESIAS

VIZEKAPELLMEISTER IN EISENSTADT

DIE FÜRSTEN ESTERHÁZY

„[…] UND WIRD ER JOSEPH HEYDEN ALS EIN HAUS-OFFIZIER ANGESEHEN […]“

DIE KAPELLE DER ESTERHÁZY VON IHREN ANFÄNGEN BIS ZUR ZEIT HAYDNS

DAS EISENSTÄDTER FEENREICH

FÜRST NIKOLAUS I. – „DER PRACHTLIEBENDE“

DIE PRIVATKAPELLE UNTER NIKOLAUS I. – HAYDN WIRD OBERKAPELLMEISTER

DIE JAHRZEHNTE IN ESTERHAZ UND EINE LIEBELEI MIT FOLGEN

SCHLOSS ESTERHAZ – DIE NEUE SOMMERRESIDENZ DES FÜRSTEN

MUSIKERLEBEN AUF ESTERHAZ

OPERN- UND THEATERSAISON IN ESTERHAZ

BESUCH DER KAISERIN

WEITERE ARBEITSREICHE JAHRE (1774 BIS 1778) – DER OPERNIMPRESARIO

HAYDN STÜRZT SICH IN EINE LIEBESAFFÄRE – DER „SOHN“ ANTON NIKOLAUS POLZELLI

HAYDN ALS PRIVATMANN – AUSSEHEN, TAGESABLAUF UND HOBBYS

DAS LETZTE JAHRZEHNT IN ESTERHAZ (1780 BIS 1790)

DER TOD DES FÜRSTEN – ENDLICH IN FREIHEIT

FÜRST ANTON ESTERHÁZY – EINSPARUNGEN

AUF REISEN – ENGLAND (1790 BIS 1792)

HAYDN WIRD IN WIEN SESSHAFT – HAUSKAUF

ZWEITE ENGLANDREISE (1794/95)

EXKURS 2

VOM KAISERLIED ZUR NATIONALHYMNE

FREUNDSCHAFT ZU MOZART

DER BRUDER – MICHAEL HAYDN, DER „SALZBURGER HAYDN“

WIENER FREIMAURERTUM – „LEHRLING“ HAYDN

DER MOHR ANGELO SOLIMAN – HAYDNS LOGENBRUDER

GLUCK ALS HOFKOMPONIST EINES EXZENTRISCHEN PRINZEN

WIEDER IN EISENSTADT

FÜRST NIKOLAUS II. ESTERHÁZY – EIN NEOBAROCKFÜRST

WIEDER IN FÜRSTLICHEN DIENSTEN UND NEUE AUFTRAGGEBER

DIE SCHÖPFUNG

DAS ENDE EINER ÄRA – DER UNTERGANG DES FEENREICHS

LETZTE JAHRE IN WIEN

SCHWERE KRANKHEIT UND SIECHTUM

„HIN IST ALLE MEINE KRAFT, ALT UND SCHWACH BIN ICH“

LITERATUR- UND QUELLENVERZEICHNIS

REGISTER

VORWORT
DER EWIG UNTERSCHÄTZTE „PAPA HAYDN“

Musikhistorisch gibt es wohl kaum eine interessantere Epoche als jene der sogenannten Klassik, die nach ihrer geografischen Wirkungsstätte nicht zu Unrecht mit dem Zusatz „Wiener Klassik“ bezeichnet wird.

Im Unterschied zu seinen beiden anderen Großmeisterkollegen dieser Wiener Klassik, Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) und Ludwig van Beethoven (1770–1828), geht Joseph Haydn auch heute immer noch ein wenig unter. Und dies als Mensch und als Komponist. So war er lange Zeit der Unbekannteste der drei großen Meister und erst seit etwa 30 Jahren liegt sein komplett aufgearbeitetes Gesamtwerk vor.

Während beispielsweise zu Wolfgang Amadeus Mozart jährlich unzählige Neuerscheinungen an Büchern und Artikeln zu verzeichnen sind, erhielt Haydn lange Zeit keine derartige Beachtung. Haydn war eben nie der Mann von Welt, der schon als Kind mit Kaisern, Königen und dem Papst verkehrte, wie Mozart dies tat, und er war auch kein exzentrischer Beethoven, der durch sein eigenwilliges Auftreten die vornehmen Wiener Salons seiner Zeit durch sein ungehobeltes Auftreten schockierte. Das Bild von dem eher biederen und einfachen niederösterreichischen Dorfkind, vom später in der Abgeschiedenheit der ungarischen Provinz bescheiden lebenden und wirkenden Haydn, den gerade Mozart immer als „Papa Haydn“ bezeichnete, was auch nicht gerade dazu beitrug, das Ansehen Haydns zu verbessern, ist noch heute schwer aus den Köpfen der Menschen zu bringen. Noch dazu starb er nicht früh und geheimnisvoll wie Mozart und verfügte auch nicht über das Handicap der Taubheit wie das Bonner Genie.

Dabei wird oft vergessen, dass Haydn am Ende seines langen Lebens vielleicht der berühmteste der drei großen Meister der Klassik war und bei den Zeitgenossen auch international ein derart hohes Ansehen genoss, wie kaum einer seiner beiden Kollegen.

Dass er nicht als freischaffender Komponist leben wollte, sondern lieber eine feste, wenn auch in den Augen vieler, provinzielle Stellung bei einer ungarischen Fürstenfamilie annahm, mag für seine diesbezügliche Neigung sprechen, es sagt jedoch nichts über die Qualität seiner Kompositionen aus. Joseph Haydns große Bedeutung als Schöpfer der Wiener Klassik ist heute unbestritten und es ist längst an der Zeit, dass er aus dem Schatten Mozarts und Beethovens heraustritt.

Diese Biografie soll, basierend auf den neuesten Forschungen, das Leben dieses ungewöhnlichen Komponisten anschaulich darstellen und das Bild des niederösterreichischen Genies in einem neuen Licht zeigen.

Darüber hinaus war es mir ein Anliegen, ein anschauliches Bild des Lebens der Menschen zur Zeit Haydns zu zeichnen und dadurch dem Leser ein detailliertes, kulturhistorisches Zeitgemälde zu liefern.

In diesem Sinn wünsche ich Ihnen viel Spaß beim Lesen.

Dr. Frank Huss

DAS NIEDERÖSTERREICHISCHE DORFKIND

Sie scheinen […] über meinen völligen Anzug verwundert zu sein, da ich doch krank und schwach bin, nicht ausgehen kann und nichts als Zimmerluft einatme. Meine Eltern haben mich schon in der zartesten Jugend mit Strenge an Reinlichkeit und Ordnung gewöhnt; die beiden Dinge sind mir zur zweiten Natur geworden1

(Joseph Haydn)

HAYDNS WELT

Als Haydn im Jahre 1732 geboren wurde, existierte in Österreich noch die alte feudale Lebensordnung des Hochbarock. Im nahen Wien, für die Menschen in Haydns Umgebung allerdings eine Weltreise entfernt und fernab jeder Vorstellungskraft, residierte Kaiser Karl VI., ein äußerst behäbiger und in alten Grundordnungen behafteter Habsburger, der noch an die göttliche Auserwähltheit seiner Dynastie glaubte und schon unter anderem deswegen dem alten und steifen spanischen Hofzeremoniell nachhing. Wie die Arbeiterinnen eine Bienenkönigin im Bienenstock, bediente und umschwärmte der Hofadel den Kaiser in der zugigen Wiener Hofburg, der außer der Musik, der Jagd sowie der sentimentalen Liebe zu seinem verlorenen Königreich Spanien keinerlei Leidenschaft zu entwickeln vermochte.

Und wie stand es um sein Reich und seine Untertanen? Nun, nach dem Türkenkrieg von 1683 galt es zunächst, neue Siedler zu holen und die zerstörten Gebiete wieder aufzubauen. Erst 1713 wurde die Bevölkerung durch eine Pestepidemie, die allein in Wien 2500 Menschenleben kostete, neuerlich dezimiert. Österreich hatte nach dem Aufstieg zur Großmacht um die Mitte des 18. Jahrhunderts ungefähr sechs Millionen Einwohner, Ungarn nur etwa zwei Millionen.

Nach der Ordnung von 1671 wurde die nichtständische Bevölkerung in fünf Klassen eingeteilt. Die erste Klasse bildeten die wirklichen kaiserlichen Räte, Beamte und hohe Hofbediente, Offiziere, Doktoren der Rechte und der Medizin, die Nobilitierten, die zugleich Landgüter besaßen, der Salz- und der Eisenamtmann, Hof-Regierungsbuchhalter, fürstliche Kammerdiener, Burggrafen, daneben auch die Bürgermeister und Stadtrichter von Wien und Linz. Die zweite Klasse bestand aus den Nobilitierten ohne Landgüter, Buchhalterei-Rechnungsräten, Hofmusikern, überhaupt einer Reihe von niederen Hofbediensteten der mittleren Ebene, Mautnern und anderen Beamten, öffentlichen Notaren, Richtern und Bürgermeistern der anderen landesfürstlichen Städte und Märkte, den Niederlagsverwandten, den Hofbefreiten, Handelsleuten, den oberen Beamten der grundbesitzenden Adeligen und so weiter.

Zur dritten Klasse zählten Buchhalterei-Bediente, Konzipisten, Kellermeister, Zimmerwarter, Tafeldecker, Gardesoldaten, Trompeter des Hofes etc., ferner die vornehmen bürgerlichen Handelsleute wie auch andere angesehene Bürger, die kein Handwerk trieben, die Künstler (Maler, Bildhauer etc.), Faktoren, Schreiber, Kaufleute und die Adelsbeschließerinnen. Die vierte Klasse waren Falkner, Jäger, Heger, Kapelldiener, Torsteher, Sesselträger, Sänftenträger, gemeine Bürger und Handwerksleute, Schulmeister, Mesner, niedere Kanzleibeamte, Heizer, ferner Köche und Köchinnen. In die fünfte Klasse kamen die Untertanen, also vorwiegend Bauern und andere Inleute, Tagelöhner und das übrige sogenannte gemeine Volk. 1721 waren die umherziehenden Bettlerheere derart angewachsen, dass die in den österreichischen Landen zuständigen Landgerichte über 1.000 Mann Kavallerie und 400 Infanteristen, begleitet von Priestern und Henkern, einsetzte, um das „Gesindel“ aufzuspüren und dann an Ort und Stelle aburteilen und hinrichten zu lassen. 1723 wurden zudem alle Bettler, Exsoldaten oder Handwerksburschen, die über keinen gültigen Pass verfügten, in den Sammelplätzen Melk, Korneuburg, Horn und Baden bei Wien zusammengefasst und über die Landesgrenze abgeschoben.

Der Boden war in Österreich und Ungarn fest in den Händen des Adels und der Kirche, die ihn von Leibeigenen bearbeiten ließen und dadurch teilweise enorme Einkünfte erzielten. So wurden Paläste, Klöster und Schlösser gebaut. Nebenbei konnten die Bauern auch noch zum Bau der Adelspaläste herangezogen werden.

Die Robotforderungen konnten sich ebenfalls höchst unangenehm auswirken, mancher stolze Barockbau verdankte seine Errichtung in verhältnismäßig kurzer Zeit der rücksichtslosen Ausnützung der Hand- und Spanndienste der Untertanen. Die im „Tractatus“ vorgesehene Robotablöse durch Geld wurde nicht realisiert. Auch drei Robotpatente Karls VI. hatten keine durchgreifende Wirkung.2

Der Robot war, zusammengefasst gesagt, eine von Land zu Land unterschiedlich geregelte Zwangsarbeit, die der Bauer für seine Grundherrn leisten musste. Es war unter anderem die Aufgabe von Haydns Vater in seiner Funktion als Marktrichter, die umliegenden Bauern jede Woche zu ihrer Robotleistungsverpflichtung einzuteilen. Die Bauern in Haydns Umgebung durften übrigens gleich drei Tage pro Woche zu Frondiensten bei ihrem Grundherren, in ihrem Falle waren dies die Grafen Harrach, denen die Herrschaft Rohrau gehörte, herangezogen werden.

Bei Todesfällen, Hochzeiten, Übergabeverträgen, Schenkungen und diversen Käufen mussten die Bauern darüber hinaus bis zu zehn Prozent des Liegenschaftswertes und der beweglichen Habe an den Grundherrn abliefern. Zudem sorgten das Jagdverbot und das Verbot, die bebauten Felder durch Zäune vor Wildschäden zu schützen, was das adelige Luxusbedürfnis eingeschränkt hätte, für die schlechte Lage der Bauern. Fürstenfamilien wie die Esterházy beispielsweise, denen Haydn später diente, besaßen unglaubliche sieben Millionen Morgen Land (ein Morgen entspricht 0,25 ha). Ein durchschnittlicher Adeliger konnte bis zu 50.000 Morgen Land sein Eigen nennen. Im frühen 18. Jahrhundert gab es rund 2.000 Adelige, gegenüber etwa 500 im 16. Jahrhundert, die auf Kosten ihrer Bauern gut leben wollten.

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Haydns Geburtshaus in Rohrau

DIE FAMILIE HAYDN –
GEBURT IN ROHRAU

Die Familie Haydns stammte ursprünglich aus Tadten (Tétény), einem Dorf in der Nähe des Neusiedlersees, wo sein Urgroßvater Kaspar Haydn geboren wurde. Im Jahre 1657 übersiedelte jener nach Hainburg an der Donau, wo er als Tagelöhner arbeitete und eine Bürgerstochter heiratete. Mit der Zeit wurde dieser Kaspar Haydn ein angesehener Weinbauer, der ein eigenes Haus samt Weingärten erwarb. Allerdings verlor er vermutlich bei dem Marsch der Türken auf Wien im Jahre 1683 sein Leben. Sein ältester Sohn Thomas, Haydns Großvater, erblickte im Jahr 1660 das Licht der Welt und übte als erster der Familie den Beruf des Wagnermeisters aus.

Mathias Haydn, der Vater des Komponisten (1699–1763), wurde ebenfalls in Hainburg geboren, zog aber nach einer Lehre als Wagner, die er bei seinem Stiefvater Mathias Seefranz absolvierte, nach Rohrau, in das Herrschaftsgebiet der Grafen von Harrach, wo er ebenfalls einen Weingarten samt Haus erwarb und als Kleinbauer sowie Wagnermeister lebte. Mathias Haydn heiratete am 24. November 1728 Anna Maria Koller (1701–1754), die Tochter eines örtlichen Bauern. Maria, wie man sie nannte, gehörte bis zu ihrer Heirat zum insgesamt neunköpfigen Küchenpersonal, das im Schloss des Grafen Karl Anton von Harrach (1692–1758) diente.

Der Vater, der von 1741 bis zu seinem Tod als Marktrichter des kleinen Marktfleckens fungierte, erzog seine Kinder zur Strenge. So achteten laut Joseph Haydn er und seine Frau auf Reinlichkeit, Ordnung, Fleiß, Sparsamkeit und Gottesfurcht. Der Marktrichter hatte verschiedene Aufgaben zu erfüllen. Beispielsweise hatte er darauf zu achten, dass die Bevölkerung regelmäßig den Gottesdienst besuchte, sich keiner dem Trunk und/oder der Spielleidenschaft hingab, dann hatte er gegebenenfalls Ehebruch zu bestrafen und für die Einhaltung der Sonntagsruhe zu sorgen. Darüber hinaus teilte er die Bauern seines Marktfleckchens zu den Robotleistungen bei ihrem Grundherren ein, was ihm ab und an verständlicherweise auch deren Zorn einbrachte. Dem gräflichen Verwalter hatte er jeden Sonntag um sechs Uhr früh Bericht zu erstatten.

Trotz der Strenge des Vaters aber blieb auch noch genügend Raum für musikalischen Geist im Hause Haydns. Wie damals üblich gab es in praktisch jedem Haushalt Musikinstrumente und auch bei den Rohrauer Bauern wurde wie anderswo im Zuge der Feldarbeit oder nach geendigtem Tagwerk gesungen und musiziert. Schnell hatte ein Knecht seine alte Geige oder ein anderes Instrument zur Hand und schon wurde zum Gaudium aller aufgespielt. Neben dem Musizieren gab es natürlich noch das Wirtshaus, auch ein Ort für Musik und Gesellschaftsspiele. Haydns Vater jedenfalls hatte sich schon als er noch fahrender Wagnergesell und auf Wanderschaft war, das Harfenspiel beigebracht, natürlich ohne Noten zu können, und griff auch später noch oft auf diese Fertigkeit zurück. Die Tenorstimme des Vaters, die mitsingende Mutter und Vaters Harfe müssen dann auch die ersten musikalischen Klänge gewesen sein, die der junge Haydn zu hören bekam, wie auch Georg August Griesinger, Haydns erster Biograf, bestätigt:

Die Melodien dieser Lieder [die seine Eltern sangen, Anm. d. Verf.] hatten sich so tief in Joseph Haydns Gedächtniß geprägt, daß er sich derselben noch in seinem höchsten Alter erinnerte.3

Franz Joseph Haydn wurde am 31. März 1732 eben in jenem niederösterreichischen Dorf Rohrau als zweites von insgesamt zwölf Kindern geboren. Am 1. April taufte man den Knaben auf den Namen „Franziskus Josephus Haiden“4, wie es in der Taufmatrikel heißt. Als die Mutter Haydns 1754 starb, heiratete sein Vater ein Jahr später ein zweites Mal. Joseph war von den dann insgesamt 20 Kindern, die sein Vater mit zwei Frauen zeugte, der älteste Sohn. 1737 wurde Haydns Bruder Michael, genannt „Hansmichel“, geboren, der ebenfalls den Beruf des Komponisten ergriff, und 1743 der Bruder Johann Evangelist, der später als Berufssänger sein Geld verdiente. Alle anderen Söhne starben leider früh, und die Schwestern Haydns, die das Erwachsenenalter erreichten, heirateten durchwegs Handwerker.

Als Joseph Haydn später Kapellmeister bei den Fürsten Esterházy geworden war, galt er von da an, soviel sei schon vorweggenommen, als Mittelpunkt seiner Familie und auch als deren Wohltäter. Viele seiner Verwandten zogen in der Folge in seine Nähe und versuchten von ihrem hochgestellten Familienmitglied zu profitieren. Sein jüngerer Bruder Johann Evangelist beispielsweise, der als Einziger den Beruf des Vaters erlernt und ausgeübt hatte, kam spätestens im Jahre 1765 nach Eisenstadt, um als Tenor der Esterházyschen Kapelle beizutreten. Da er dort allerdings nach entbehrungsreichen Jahren, in denen er unbesoldet blieb, nur ein geringes Gehalt erhielt, besserte er seine Einnahmen durch Gesangsunterricht etwas auf. Haydn überließ ihm dann 1787, da das Geld eigentlich nie reichte, großzügig seinen eigenen Anteil am väterlichen Erbe, obwohl er zu jener Zeit noch längst nicht der reiche Mann war, der er nach seiner Rückkunft der ersten Englandreise im Jahre 1792 wurde. Damit aber noch nicht genug. Nach 1802 eignete er für Johann Evangelist noch zusätzlich jährlich 50 Gulden zu, die er als Kapital beim Fürsten Esterházy für ihn angelegt hatte.

Auch Haydns ältere Schwester Anna Maria Franziska zog nach 1771 mit ihrer Familie in das etwa eine Stunde zu Fuß vom Schloss Esterhaz gelegene Dorf Fertőszentmiklós, wo ihr Mann als Bäckermeister arbeitete. Bei den Kindern, die aus der Ehe der gleichnamigen Tochter der Schwester mit einem Gastwirt zwischen 1772 und 1789 hervorgegangen waren, fungierte Haydn stets als Taufpate.

Darüber hinaus ließ sich eine Tochter seiner jüngeren Schwester Anna Maria Fröhlich direkt in Süttör, wo das prächtige neue Schloss der Fürsten Esterházy stand, nieder. Auch deren Sohn Mathias, der später sein Universalerbe wurde, unterstützte er finanziell, als jener in Wien eine Ausbildung in der Vieharzneikunst absolvierte.

Die fürsorgliche Hilfe aber, die Haydn seinen Verwandten angedeihen ließ, war auch nicht ohne Probleme. So musste er mehrfach für die beträchtlichen Schulden einer anderen Tochter seiner jüngeren Schwester, deren Mann er die Stelle eines esterházyschen Hausmeisters in Ödenburg verschafft hatte, aufkommen, die der Ehemann gemacht hatte.

Zu seinem jüngeren Bruder Michael, der später als Organist im Dienste des Fürsterzbischofs von Salzburg stand, hatte er aufgrund der räumlichen Trennung Zeit seines Lebens wenig Kontakt.

KAPELLSÄNGER AM WIENER STEPHANSDOM –
EIN KASTRAT SOLL ER WERDEN

Damals waren am Hofe und an den Kirchen in Wien noch viele Kastraten angestellt, und der Vorsteher des Kapellhauses glaubte ohne Zweifel des jungen Haydns Glück zu gründen, wenn er mit dem Plane, ihn sopranisieren zu lassen, umging, und auch wirklich den Vater um seine Einwilligung befragte.5

(Georg August Griesinger)

SCHULZEIT IN HAINBURG

Eines Tages kam Johann Mathias Franck (1708–1783), Schulrektor und Chorregent im benachbarten Hainburg und gleichzeitiger Ehemann der Halbschwester von Haydns Vater, zu den Eltern Haydns auf Besuch. Als dann abends wieder einmal alle im fröhlichen Kreise musizierten, wurde Franck auf Joseph aufmerksam, als er sah, wie der kleine Haydn neben seinen Eltern sitzend einen Geiger nachahmte, indem er „einen Stab auf dem linken Arme“6 strich. Franck war augenblicklich vom musikalischen Talent des Knaben überzeugt und machte den Eltern den Vorschlag, ihn auszubilden.

Der Dorfschullehrer nahm den Fünfjährigen daraufhin im Jahre 1737 ins nahe Hainburg mit, wo er ihn in sein Haus aufnahm. Joseph besuchte in der Folge als eines von insgesamt 70 Kindern den Unterricht Francks in einem Raum des Schulgebäudes, das neben Francks Dienstwohnung im Erdgeschoss auch ein Wirtshaus beherbergte. Das Leben war hart für die Schulkinder. Der Unterricht begann um sieben Uhr morgens und dauerte bis 10.00 Uhr. Um diese Zeit wurde die Heilige Messe besucht und dann ging es zum Mittagessen nach Hause. Der Unterricht ging dann am Nachmittag weiter. Die Eltern Haydns waren froh über diese Chance für ihren Sepperl, schienen sie für ihren ältesten Sohn doch anfänglich von einer Laufbahn als Geistlichem geträumt zu haben. Neben dem Lesen, Rechnen und Schreiben erhielt der kleine Haydn auch Unterricht in Gesang, lernte ferner Geige, Orgel, Cembalo und Pauke, seinem Lieblingsinstrument, das er auch später noch mit Vorliebe schlug, wann immer er konnte:

Frank war durch den Tod seines Paukenschlägers in große Verlegenheit gesetzt worden. Er warf sein Auge auf Joseph, der sollte in der Eile die Pauken schlagen lernen, um ihn aus der Verlegenheit zu ziehen. Er zeigte Joseph die Vorteile im Schlage und ließ denselben nunmehr allein. Joseph nahm einen kleinen Korb, wie ihn die Landleute zum Brotbacken gebrauchen, überspannte denselben mit einem Tuche, stellte seine Erfindung auf einen mit Tuch beschlagenen Sessel und paukte mit so vielem Enthusiasmus, daß er nicht bemerkte, wie das Mehl aus dem Körbchen herausstaubte und der Sessel zugrunde gerichtet wurde. Er bekam dafür einen Verweis, doch war sein Lehrer leicht besänftigt, als er mit Erstaunen bemerkte, daß Joseph so geschwind ein vollkommener Paukenschläger geworden […]7

Joseph sang während jener Zeit einige Male im Zuge kirchlicher Hochämter in Messen mit und erhielt demnach in diesen frühen Jahren einen ersten Einblick in die Kirchenmusik, die er später auch schätzen sollte. Wie jeder Dorfschullehrer, so hatte nämlich auch Johann Mathias Franck die Aufgabe, neben seiner Tätigkeit als Pädagoge auch den Kirchenchor samt Kirchenmusik zu leiten. Abgesehen davon war es für ihn eine willkommene zusätzliche Einnahmequelle zu seinem mehr als dürftigen Schulmeistergehalt. Besonders die für aus Anlass hoher kirchlicher Festtage komponierten feierlichen Messen oft verwendete Tonart C-Dur faszinierte den jungen Joseph und schien ihm im Gedächtnis geblieben zu sein. Ebenso wie der Brauch, gerade in solchen C-Dur-Messen verstärkt Pauken und Trompeten einzusetzen. Denn später sollte er diese Tonart häufig für eigene Messkompositionen verwenden.

Zusätzlich dürfte Haydn ab und an dem Schulmeister zugesehen haben, wie er an Sonntagen nach den Gottesdiensten, wieder um sich sein dürftiges Gehalt aufzubessern, im hauseigenen Wirtshaus zu den Frühschoppen aufspielte.

Letztlich sollte Haydn etwas über drei Jahre im Hause Francks verbringen. Am Ende seines Lebens gestand er Griesinger gegenüber Folgendes über diese offenbar nicht immer angenehme Phase seines Lebens und seinen einstigen Lehrer: „Ich verdanke es diesem Mann noch im Grabe […] daß er mich zu so vielerley angehalten hat, wenn ich gleich dabey mehr Prügel als zu essen bekam.“8

Dann aber sollte Haydn durch einen glücklichen Umstand eine weitere wichtige Stufe auf dem Weg zum großen Komponisten erklimmen können.

WIENER SÄNGERKNABE

Als Georg Reutter, der damalige Kapellmeister des Wiener Stephansdomes, 1739 auf der Suche nach neuen Sängerknaben durch Hainburg kam, stellte ihm der stolze Franck seinen Schüler Joseph Haydn vor. Als der Kapellmeister sah, dass der Knabe beim Singen selbst die schwierigsten Passagen bewältigen konnte, engagierte er den jungen Haydn mit dessen schöner Sopranstimme für seinen Chor am Stephansdom. Haydn war damals sieben Jahre alt. Albert Christoph Dies berichtet über diese Begegnung:

Joseph wurde herbeigerufen. Er erschien. Reutter fragte ihn: „Büberl, kannst du einen Triller schlagen?“ – Joseph mochte der Meinung sein, es sei nicht erlaubt, mehr zu können als andere ehrliche Leute. Er beantwortete daher die Frage mit den Worten: „Das kann ja der Schulmeister auch nicht.“

„Schau“, erwiderte Reutter, „ich will dir einen Triller vormachen; gib recht acht, wie ich ihn mache! Öffne den Mund sehr mäßig, halte die Zunge still, ohne Bewegung; singe langsam einen Ton und dann, ohne abzusetzen, den daneben liegenden; dann wieder den ersten […] Kaum hatte er denselben geendigt, so stellte sich Joseph mit der größten Freimütigkeit vor ihn hin und schlug nach höchstens zwei Versuchen einen so vollkommenen Triller, daß Reutter vor Verwunderung „Bravo!“ ausrief, in die Tasche griff und dem kleinen Virtuosen einen Siebzehner schenkte […] Reutter gab dem Vater die tröstende Zusage: er wolle für des Knaben Fortkommen sorgen, doch sei derselbe noch zu jung zu seinem Vorhaben, müsse bis zum vollendeten achten Jahre warten, bis dahin fleißig die Tonleiter singen, um die Stimme rein, fest und geläufig zu bilden.9

Johann Georg Reutter der Jüngere wurde am 6. April 1708 in Wien als Sohn des gleichnamigen Organisten und Komponisten geboren. Den ersten Musikunterricht bekam er von seinem Vater. 1726 trat er erstmals als Organist im Frauenkloster zur Himmelpforte auf. Seine Bemühungen, als Hofscholar in die kaiserliche Hofkapelle aufgenommen zu werden, scheiterten an Johann Joseph Fux (1660/61–1741), dem mächtigen ersten Hofkapellmeister Kaiser Karls VI. 1729 oder 1730 reiste Reutter jedenfalls nach Italien und hielt sich dort nachweislich in Venedig und Rom auf. 1731 kehrte er nach Wien zurück, erhielt nun auch seine erstrebte Anstellung bei Hof als Hofkomponist mit einem Jahresgehalt von 600 Gulden und heiratete die Sängerin Ursula Theresia Hozhauser. In den folgenden Jahren komponierte er hauptsächlich dramatische Werke für den Wiener Hof. Insgesamt wurden bis 1740 38 Opern und Serenate von ihm aufgeführt. Somit war er nach Antonio Caldara (1670–1736) in Wien der fruchtbarste Komponist jener Zeit. 1738 wurde Reutter als Nachfolger seines Vaters Erster Kapellmeister am Stephansdom und reiste in dieser Funktion durch das damalige Österreich, um singbegabte Knaben wie Joseph Haydn aufzuspüren. Im Jahre 1740, als Haydn Mitglied der Kapelle des Stephansdoms wurde, erhielt Reutter vom Kaiser auch den Adelstitel. Nach dem Tod von Johann Joseph Fux, der ihn offenbar nicht sehr schätzte, machte Reutter auch bei Hof Karriere. 1747 wurde er kaiserlicher Vizehofkapellmeister und schon 1751 übernahm er die alleinige Leitung der Hofkapelle unter Kaiserin Maria Theresia. Reutter starb hoch angesehen am 11. März 1772 in Wien.

Im Jahre 1740 wurde Haydn dann, als er alt genug war, als Chorknabe in das Konvikt des Wiener Stephansdomes aufgenommen. Gemeinsam mit fünf anderen von Reutter entdeckten Chorknaben wohnte er in der Folge im Kapellhaus, der 1803 abgerissenen Kantorei, des Domes von St. Stephan, in dem auch Reutter seine Dienstwohnung hatte. Die musikalische Welt Wiensv war zu jener Zeit gerade in einem Wandel befindlich. Der Tod der beiden kaiserlichen Hofkapellmeister Johann Joseph Fux und Antonio Caldara, Zweiterer war auch Lieblingskomponist Karls VI., beschleunigte den Wechsel vom altmodischen strengen Barockstil hin zum empfindsamen und galanten Stil der Frühklassik. Zudem hatte der junge Haydn in Wien die Möglichkeit, sämtliche Sparten der Musik kennenzulernen. In den Kirchen erklangen diverse sakrale Werke (Tedeum, Messe, Requiem, Oratorium oder Passion), in den Adelspalästen betrieb man Kammermusik, in den vielen Theatern der Reichs-, Haupt- und Residenzstadt wurden Opern aller Arten (seria, buffa und Deutsches Singspiel) gegeben und in den Gassen tummelten sich Straßenmusiker, die die volkstümlichen Hits jener Zeit wiedergaben. Genau der Platz also für jemanden, der die Musik zu seinem Beruf machen will.

Besonders wird den jungen Haydn im Zuge seines Dienstes am Wiener Stephansdom beeindruckt haben, welchen großen Aufwand Kaiser und Hof in religiösen Dingen trieben. Wie mächtig die Kirche zu jener Zeit noch war, zeigt der Bericht, den uns Johann Mattheson (1681–1764) in seinem Vollkommenen Capellmeister über Ignazio Maria Conti (1699–1759), einen kaiserlichen Hofmusiker und Sohn des berühmten kaiserlichen Hofkomponisten Francesco Bartolomeo Conti (1682–1732), der im September 1730 in Wien einen sizilianischen Priester verprügelte, überlieferte:

[…] Am 10. September ist zu Wien der Kaiserliche Compositore di Musica […] Conti10, vermöge des, von dasigem Consistorio über ihn erkannten Kirchen-Bannes, vor die Thür der Cathedral-Kirche zu St. Stephan gestellte worden. Es hatten zwar Ihro Kaiserl. Maj. aus angebohrner höchsten Milde, das dreimahlige Stehen auf eines gesetzet; nachdem sich aber der Mann das erstemahl, im Gesichte vieler hundert Personen, sehr übel aufgeführet, als ist derselbe den 17. Sept. zum andernmahl, vor obgedachte Kirch-Thüre, in einem langen, härenen Rock, so man ein Buß-Kleid nennet, zwischen zwölff Rumor-Knechten, die einen Kreis um ihn geschlossen, mit einer brennenden schwarzen Kertze in der Hand, eine Stunde lang gestellet worden; desgleichen auch am 24. dito geschehen soll. Seine Speise ist Wasser und Brodt, so lange er unter der geistlichen Obrigkeit stehet; nach Ubergebung aber an die weltliche soll derselbe dem von ich geschlagenen Geistlichen 1.000 Gulden Schmertzen-Geld, und noch alle Unkosten bezahlen, sodann vier Jahr auf dem Spiel-Berg sitzen, und nachgehends auf ewig aus den Oesterreichischen Landen verwiesen werden […]11

In der Festtagshierarchie des Kaiserhofes gehörten die Besuche der öffentlichen Gottesdienste der kaiserlichen Familie nach den Galatagen und dem Fest des Ordens vom Goldenen Vlies zu den höchsten Feiertagen des Hofkalenders. Zu hohen kirchlichen Festtagen fanden oft sogenannte Stationsgottesdienste statt, im Zuge derer Kaiser und Hof in einer großen Prozession durch alle Kirchen Wiens gingen und an den jeweiligen Messen teilnahmen. Auch Haydn wird oft zu solchen Anlässen gesungen haben.

Ein solch hoher kirchlicher Feiertag war beispielsweise das Fronleichnamsfest. Der Kaiser sah dabei kniend, wie das Allerheiligste vorbeizog, und schloss sich dann in einfacher Kleidung am Ende dem Festzug an. Dass er dabei neben seiner Kutsche demütig zu Fuß ging, sollte die Frömmigkeit des Hauses Österreich unterstreichen. Bei solchen feierlichen Umzügen gingen dem Kaiser, wenn seine Gemahlin dabei war, die Kardinäle und Gesandten voraus. War sie nicht dabei, dann befanden sie sich unmittelbar hinter ihm. Der Kaiser behielt dabei immer den Hut auf und hob ihn nur, um den Gesandten anzuzeigen, dass sie jetzt auch ihre Hüte aufsetzen dürften.

Am Karfreitag gehörte darüber hinaus der Besuch der Heiligen Gräber zur Christenpflicht der barocken Menschen. Dabei pilgerten Kaiser, Adel und Volk betend und staunend von Kirche zu Kirche. Staunen konnte man über die aufgestellten Heiligen Gräber, wie jenem in der Augustinerkirche, das zu den schönsten seiner Art zählte. Es stellte einen Wald dar, mit wirklichen Bäumen, einem Hirsch und einem Ross, neben dem der heilige Eustachius samt Hundemeute kniete. Zwischen dem Geweih des Hirsches stand das Allerheiligste. Als Vögel dienten teils lebendige Kanarienvögel, teils künstlich erzeugte Vögel der heimatlichen Wälder. Ein Knecht musste die einzelnen Vogelstimmen anschaulich nachahmen. Passionspreziosen, wie Kreuz und Geißelsäule, sorgten darüber hinaus für Dekoration. Wegen seiner prunkvollen Jagdkostüme und der Vogelstimmen galt das Heilige Grab der Augustinerkirche während der Osterzeit als echte Attraktion Wiens und wurde von vielen Wienern in Scharen aufgesucht. Ebenfalls als fromme Demutsgeste galt der Brauch des Kaisers, am Karfreitag die Fußwaschung an einigen armen Männern der Stadt Wien vorzunehmen. Während der Waschung las ein Priester laut die entsprechenden Stellen aus der Bibel vor. Seit Leopold I. war es üblich geworden, dass der Kaiser drei- bis viermal pro Woche den Klöstern und Kirchen der Residenzstadt einen Besuch abstattete. Lady Wortley-Montague berichtet in einem Brief vom 1. Oktober 1716 über die allgemeine Frömmigkeit, die in Wien herrschte:

[…] Nie schwärmte ich weniger für den Katholizismus, als seitdem ich das Elend sah, das er so vielen armen unglücklichen Geschöpfen bereitet. Und dann der große Aberglaube des gewöhnlichen Volkes, von denen immer einige Tag und Nacht Kerzenstücke vor den hölzernen Heiligenbildern, die an den Straßen aufgestellt sind, opfern. Die Prozessionen, die ich häufig sehe, sind lärmende Aufzüge, und ebenso vernunftwidrig wie chinesische Pagoden. Gott weiß, ob nur weiblicher Widerspruchsgeist aus mir spricht. Aber niemals früher war ein solcher Eifer gegen das Papsttum in dem Herzen Ihrer […]12

Bei diesen zur Schau gestellten Ausprägungen von Habsburger Frömmigkeit sollte die vielgerühmte Pietas Austriaca und die Treue zur Kirche demonstriert werden. Das Wienerische Diarium ist voll von Berichten, die über tägliche Kirchenbesuche einzelner Mitglieder der kaiserlichen Familie Auskunft geben.

Diese intensiven Kirchen- und Klösterbesuche fanden vorwiegend während der Advent- und Fastenzeit statt. Die Fastenzeit dauerte von Aschermittwoch bis zum Ostersonntag. Da der Kaiser auch während dieser Zeit nicht auf Opernaufführungen verzichten wollte, diese aber nicht stattfinden durften, wurden Oratorien inszeniert. Ein Oratorium war im Prinzip dasselbe wie eine Oper, nur stammten die Stoffe aus der Bibel. Sie wurden immer nichtszenisch aufgeführt, also ohne Bühnenbild, Kostüme und Theatralik der Sänger, und bestanden nur aus zwei Akten. Während der Fastenzeit wurde in der Hofburgkapelle jede Woche ein Oratorium aufgeführt. Im Jahre 1759 erst ist im heutigen Palais Augarten, damaliges Palais Rofrano, ein szenisch aufgeführtes Oratorium belegt. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass es am Wiener Kaiserhof zur Barockzeit auch eine Reihe von Oratorienkomponistinnen gab. Zu nennen sind hier vorwiegend Maria von Raschenau, Caterina Benedetta Grazianini und Camilla de Rossi, die vermutlich alle geistliche Stiftsdamen waren. Berühmtheit erlangte aber Maria Margherita Grimani, deren Geburts- und Sterbedaten unbekannt sind. Vielleicht stammte sie aus der gleichnamigen kunstsinnigen venezianischen Patrizierfamilie, der auch das Teatro San Giovanni Crisostomo gehörte. Zwischen 1713 und 1718 sind drei dramatische Werke von ihr belegt. Zwei dieser Musikdramen, La decollazione di S. Giovanni Battista (1715) und Visitazione di Santa Elisabetta (1718), waren Oratorien. Ihre Serenata aber, die unter dem fiktiven Titel Pallade e Marte in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek aufliegt, war das erste weltlich-dramatische Werk einer Komponistin am Wiener Kaiserhof überhaupt und verdient schon deshalb hier erwähnt zu werden.

Doch zurück zu Joseph Haydn. Die Kapelle des Stephansdomes bestand neben Kapellmeister, Vizekapellmeister und einem Organisten aus insgesamt dreizehn Musikern – elf Streichern, einem Horn und einem Fagott – und weiteren zwölf Sängern, zu denen auch sechs Kapellknaben, darunter Haydn, gehörten. Die Musiker und Sänger der Domkapelle hatten nicht nur im Bereich der Kirchenmusik zu den täglichen Gottesdiensten zu dienen, sondern durften ab und an auch in der kaiserlichen Hofkapelle aushelfen. Aus Einsparungsgründen hatte Kaiserin Maria Theresia die aus 134 Mitgliedern bestehende kaiserliche Hofkapelle ihres Vaters nach dessen Tod stark reduzieren müssen. Und da nun offenbar hin und wieder Musiker fehlten, wurden einfach, da der Hofkapellmeister Reutter ja in Personalunion die Hofkapelle und die Domkapelle leitete, die Dommusiker oft bei Hofe eingesetzt, wo sie beispielsweise in Kammerkonzerten oder als Tafelmusiker mitwirkten. Die Chorknaben freuten sich immer auf Einsätze bei Hofe, besonders zu den Konzerten, die man damals Akademien nannte, da sie dabei auch immer ausreichend verpflegt wurden, ganz im Gegensatz zum Konvikt des Domes:

Josephs Magen mußte sich an immerwährendes Fasten gewöhnen, doch suchte er sich bei vorfallenden musikalischen Akademien, wo den Chorknaben etwas zur Stärkung gereicht wurde, für eine Weile zu entschädigen […] Er befliß sich, so schön als möglich zu singen, um als ein geschickter Sänger bekannt und – welches der verborgene Endzweck war – überall hingerufen zu werden, damit er Gelegenheit fände, seinen nagenden Hunger zu stillen […]13

Neben dem allgemeinen Schulunterricht, der vorwiegend aus Latein, Religion sowie Lesen und Schreiben bestand, hatte „Sepperl“ noch Unterricht in der Singkunst, dann in Klavier und Geige. Nebenher hatte er natürlich auch Proben und diente als Sänger bei den Vespern und deren zahlreichen Unterabteilungen. Kurz, er hatte ein extrem anstrengendes Leben. Kinder wurden gnadenlos ausgebeutet. Aber schließlich bedeutete es für einen armen niederösterreichischen Sohn eines Handwerkers sowie für dessen Eltern eine große Ehre, dort dienen zu dürfen. Haydn wusste das Glück auch zu schätzen. Vermutlich sang er anlässlich der Begräbnisfeierlichkeiten für den am 20. Oktober 1740 verstorbenen Kaiser Karl VI. Der Monarch tat gegen halb ein Uhr nachts seine letzten Atemzüge, nachdem er schon am 19. Oktober die letzte Ölung empfangen und sich Gott empfohlen hatte. Seiner Tochter Maria Theresia, die wieder schwanger war, verbot er zuvor aufgrund ihrer gezeigten Niedergedrücktheit ihn an seinem Krankenbett zu besuchen. Das Kind in ihr, das hoffentlich der ersehnte Knabe war, durfte nicht einer möglichen Fehlgeburt zum Opfer fallen. Leider hat Karl VI. die Geburt dieses Kindes, das tatsächlich männlichen Geschlechts wurde und als Kaiser Joseph II. in die Geschichte eingehen sollte, nicht mehr erlebt. Von seinem Schwiegersohn und Jagdfreund Franz Stephan hatte er sich mit den Worten verabschiedet: „Klage nicht, auch wenn du einen wahren Freund verlierst.“14 Der Kaiser starb im Alter von 55 Jahren, zwei Wochen und vier Tagen im 30. Regierungsjahr als Kaiser und im 38. als spanischer König. Am Montag, dem 24. Oktober 1740, wurde er zu seinen Ahnen in die Kapuzinergruft gelegt. Vorher fand im Wiener Stephansdom die feierliche Einsegnung des kaiserlichen Leichnams statt. Ebenso sang Haydn im Requiem, das im Zuge der Trauerfeier für den überraschend am 28. Juli 1741 in Wien verstorbenen Komponisten Antonio Vivaldi (1678–1741) aufgeführt wurde, sowie zu dem Dankesgottesdienst, den Kaiserin Maria Theresia dann ebenfalls 1741, aus Anlass der erwähnten Geburt ihres ersten Sohnes Joseph im Stephansdom abhalten ließ.

Im Jahre 1745 wurde dann auch Haydns kleinerer Bruder Michael in die Kapelle des Stephansdomes aufgenommen, dem später auch noch Johann Evangelist, der jüngste Bruder, folgte.

Nebenbei begann Haydn ohne Anleitung zu komponieren, natürlich mit mäßigem Erfolg. Davon aber später mehr.

EINE KLEINE OPERATION WÜRDE DIE STIMME ERHALTEN

Reutter selbst aber, der immerhin 700 Gulden jährlich für die Ausbildung jedes Sängerknaben erhielt, hatte zunächst ganz andere Pläne mit dem jungen Haydn, als ihm Kompositionsunterricht zu erteilen. Seine kindliche Stimme fand solchen Gefallen, auch bei Mitgliedern der kaiserlichen Familie, denn er sang wie erwähnt auch ab und an am kaiserlichen Hof, dass sich Reutter überlegte, ob man diese schöne Sopranstimme nicht erhalten sollte. Er ließ den jungen Haydn kommen und erklärte ihm, was es für ein Glück für ihn und seine Familie wäre, wenn er sich einer bestimmten Operation unterziehen würde, die seine Singstimme für alle Zeiten erhalten könnte.

Haydn sollte demnach ein Kastrat werden und für die Zukunft seine alleinige Daseinsberechtigung im Singen finden.

Durch die besonders in Italien stetig anspruchsvoller werdende Vokalmusik in der Mitte des 16. Jahrhunderts, die „normale“ Sängerinnen und Sänger nicht mehr oder nur schwer bewältigen konnten, war man auf der Suche nach einer neuen Art von Sängern. Solche, die auch die schwierigsten Arien mühelos trällern konnten und mit hohen sowie mit mittleren Tönen keine Probleme hatten.

Da es Frauen in der katholischen Kirche verboten war, in den Gotteshäusern zu singen, half man sich zunächst mit Knaben oder Falsettisten, die jedoch bei den hohen Tönen keine Kraft mehr hatten. Die Lösung war bald gefunden. Als Papst Pius IV. im Jahre 1562 bei der Besetzung neuer freier Stellen für den Chor seiner Sixtinischen Kapelle erstmals einen solchen Sänger hörte, erkundigte er sich, was bei diesem Sänger so anders sei, was ihn so viel besser machte, als seine gewöhnlichen, aus Spanien stammenden Falsettisten. Als man ihn aufklärte und ihm sagte, dass man diesen Bewerber kastriert hatte, war er so begeistert, dass er nun vermehrt Kastraten für den Chor seiner Kapelle engagierte. Die ersten Kastraten kamen aus Spanien oder Frankreich. Bald aber schon wurde Italien, besonders Neapel, die Heimat der Kastraten und von dort eroberten sie die ganze damalige Welt.

Bei der Kastration, die vor dem Eintreten der Pubertät vorgenommen wurde, entfernte man entweder die Hoden ganz, was allerdings nur sehr selten gemacht wurde, oder durchtrennte die Samenleiter, was zur Folge hatte, dass die Hoden mit der Zeit verkümmerten und zu ganz kleinen Bällen mutierten. Die Kastraten waren demnach zumeist eher „Sterilisaten“. Der Betreffende vermisste bei sich später alles, was den Mann so zum Mann macht. Kastraten hatten keinen Bartwuchs, ihnen gingen im Alter nicht die Haare aus, sie hatten lebenslang eine weiche Haut, sie kamen nie in den Stimmbruch und verfügten auch über kein aggressives Verhalten, wie sonst bei Männern üblich. Der erwachsene Kastrat hatte auch körperliche Abnormitäten aufzuweisen. So war sein Oberkörper extrem lang, bewirkt durch den sogenannten „Eunuchiden Hochwuchs“, während sie im Alter zusätzlich Fett ansetzten. Sieht man sich zeitgenössische Karikaturen von Kastraten an, so erblickt man Riesen, mit übergroßen und extrem fetten Operkörpern, die auf kleinen, wulstigen Beinen stehen. Der Hals ist fast nicht vorhanden und ihre Hüften gleichen jenen von Frauen.

Ihre Ausbildung dauerte insgesamt bis zu zwölf Jahre und neben ihrer ungeheuren Gesangskunst verfügten sie über ausreichende Kenntnisse in Komposition und Instrumentalspiel. Viele Kastraten waren in der Lage, ihre ihnen zugeordneten Arien umzukomponieren oder auszuschmücken. Dies war üblich und entsprach der zeitgenössischen Praxis. In den als Internate geführten Konservatorien, ihren Ausbildungsstätten, erhielten sie die schönsten Zimmer und waren der ganze Stolz und das Kapital ihrer Lehrer. Später hatten sie, wenn sich ihre Stimme mit etwa 14 oder 15 Jahren als überdurchschnittlich zeigte, vieles zu erwarten. Wessen Stimme allerdings nicht aufging, landete irgendwo im Kirchenchor. Bei vielen versagte die Stimme ganz und es blieb nur der Selbstmord, wie 1770 Johann Jakob Volkmann (1732–1803) in seinem Reisehandbuch über Italien erwähnt:

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