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Impressum

Inhalt

Kapitel 1.

Kapitel 2.

Kapitel 3.

Kapitel 4.

Kapitel 5.

Kapitel 6.

Kapitel 7.

Kapitel 8.

1.

Der Himmel hatte sich mehr und mehr bezogen. Alles schien in diesen nördlichen Breiten grau in grau zu sein. Undeutlich war an Backbord die zerklüftete Felsenküste Labradors zu erkennen. Eine steife Brise aus Nordost füllte die Segel der „Isabella VIII.“ und setzte ihr zu. Denn um den Kurs zu halten, mußte das Schiff ziemlich hoch an den Wind.

Auf den Wogen in der dunklen See bildeten sich Gischtköpfe. Immer wieder brachen sie sich schäumend an den Bordwänden der „Isabella“, und das eiskalte Wasser sprühte über die Decks.

Ben Brighton, der sich unweit des Ruderhauses auf dem Achterkastell aufhielt, warf zum wiederholten Mal einen prüfenden Blick auf die zerklüftete, tiefgraue Felsenküste, zwischen deren Schroffen sich gerade noch das blauweiße Gletschereis erkennen ließ.

Es war eine höllisch unbequeme und unwirtliche Gegend, in die sie mit der „Isabella“ geraten waren. Es sah auch ganz und gar nicht so aus, als ob sich daran in der nächsten Zeit etwas ändern würde. Im Gegenteil, je weiter nördlich sie segelten, desto unwirtlicher und kälter wurde es. Schon hatten sie treibende Eisschollen gesichtet, und Ben Brighton dachte mit Grauen an die Zeit in der Antarktis, wohin sie bei ihrem Versuch, Kap Horn zu umrunden, von einem Orkan verschlagen worden waren.

Langsam ließ der erste Offizier der „Isabella“, der zugleich auch die Funktionen des Bootsmannes und des Kapitän-Stellvertreters erfüllte, seinen Blick über das Hauptdeck wandern, das er durch die scharf angebraßten Segel gut übersehen konnte. Die Männer trugen die wärmsten Sachen, die es an Bord gab. Hosen und Jacken aus schwerem Schlechtwettersegeltuch, darunter gefütterte Ledersachen, die sie noch von der Antarktis hatten. Lederstiefel, die zum Teil bis zu den Oberschenkeln reichten und meist von den Spaniern erbeutet worden waren, vervollständigten das Bild.

Die Stimmung war an diesem Tag an Bord der „Isabella“ nicht sonderlich gut. Zwar machte den Seewölfen das kalte, unfreundliche Wetter kaum etwas aus, aber dieses ewige Grau in Grau, das begann sie zu nerven.

Edwin Carberry, der narbengesichtige Profos der „Isabella“, wanderte langsam über das Hauptdeck. Hin und wieder überprüfte er den Sitz einer der Persenninge, mit denen die siebzehnpfündigen Culverinen abgedeckt waren. Aber alles hatte seine Ordnung, und Carberry mußte sich ein anzügliches Grinsen Al Conroys gefallen lassen, der ihn bei seinem Tun beobachtet hatte.

Aber Carberry schwieg. Auch er befand sich nicht gerade im Zustand rosigster Laune. Ohne den Geschützmeister eines Blickes zu würdigen, ging er weiter und enterte schließlich zum Vorderkastell auf. Dort traf er auf Ferris Tucker, den hünenhaften Schiffszimmermann der „Isabella“ und auf Big Old Shane, den einstigen Waffenmeister auf Arwenack, der Stammfeste der Killigrew-Sippe.

Old Shane blickte auf, und als er Carberry sah, begann er zu grinsen.

„Ho, Ed, wie ich sehe, ist deine Laune inzwischen bis zum Kielschwein durchgesackt, genau wie die Temperatur, die innerhalb der letzten Stunden mehr und mehr gefallen ist.“

Auch Ferris Tucker legte den Hammer zur Seite, mit dem er eben noch am Spill herumgeklopft hatte.

„Shane hat recht, Ed, die Temperatur ist innerhalb der letzten Stunden ein ganz verdammtes Stück gesunken, das gefällt mir ganz und gar nicht, denn das bedeutet nichts Gutes.“

Carberry, der seinen untrüglichen Instinkt für herannahende Unwetter schon mehr als einmal bewiesen hatte, hob die Nase und begann in den Wind zu schnüffeln.

Erst nach einer ganzen Weile wandte er sich den beiden anderen wieder zu.

„Stimmt genau, wir kriegen gehörig einen auf die Mütze, soviel ist mal sicher, aber es kann noch dauern.“

Er verzog mißmutig sein Narbengesicht.

„Ich werde die Jungens mal ein bißchen aufschwänzen. Luken verschalken und so, Blöcke kontrollieren, ob sie vereist sind, Fallen und Brassen ebenfalls auf Gängigkeit überprüfen. Ich glaube, es ist allerhöchste Zeit, daß sie mal wieder ein bißchen Feuer unter ihre Hintern kriegen, sonst versauern sie noch völlig!“

Der Profos wollte sich abwenden, aber Ferris Tucker hielt ihn zurück.

„Wir sollten mit Ben reden, Ed. Er muß den Seewolf aus der Koje purren …“

Carberry zog sofort ein abweisendes Gesicht.

„Nein, das werden wir hübsch bleibenlassen. Weißt du rothaariges Rübenschwein eigentlich, wie lange Hasard und Siri-Tong ohne eine Stunde Schlaf an Deck gestanden haben? Irgendwo ist sogar bei Hasard mal Pause. Nein, Ferris, den lasse ich pennen, solange er will. Und der Teufel soll den holen, der ihn stört, verstanden?“

Wieder wollte Carberry aufs Hauptdeck abentern, aber Ferris Tucker packte ihn am Arm. Seine Augen blitzten zornig.

„Jetzt hör mir mal gut zu, du alter Seebulle. Es dauert nicht mehr lange, dann ist es dunkel. Und wenn es stimmt, daß wir einen auf die Mütze kriegen, dann haben wir allen Grund, uns für die Nacht einen sicheren Ankerplatz zu suchen, denn niemand von uns kennt diese lausige Gegend mit ihren spitzen Klippen und den vorspringenden Felsen. Und wenn der Sturm auch noch aus der Richtung blasen sollte, aus der der Wind jetzt weht, dann möchte ich mal sehen, wie du die ‚Isabella‘ vor Legerwall schützen willst. Der Sturm jagt uns auf die Klippen, daß es nur so kracht. So, und wenn du nicht mit Ben reden willst, dann werde ich das besorgen. Ich wundere mich sowieso schon die ganze Zeit, daß Ben nicht die geringsten Anstalten trifft, um nach einem Ankerplatz Ausschau zu halten.“

Big Old Shane nickte.

„Ferris hat recht, Ed“, sagte er nur. „Außerdem könnte es sowieso nicht schaden, wenn wir uns in eine Bucht verholen, denn die Frischfleischvorräte des Kutschers sind zu Ende. Wir sollten frische Nahrung zu uns nehmen, solange sie sich uns noch anbietet. Der Teufel allein weiß, wie das werden wird, wenn wir weiter und weiter nach Norden segeln …“

Old Shane unterbrach sich, denn eben erschien der Seewolf auf dem Achterkastell.

Carberrys Narbengesicht überzog ein schadenfrohes Grinsen, als er nach achtern deutete.

„Das kommt davon, wenn sich die Gentlemen den Kopf unseres Kapitäns zerbrechen. Wetten, daß Hasard längst alles das erkannt und bedacht hat, was eure Kakerlakengehirne da eben ausgebrütet haben? Aber nichts für ungut, nehmt mal einen Schluck aus meiner Buddel, dann stimmt’s bei euch wahrscheinlich auch wieder!“

Carberry zog eine Rumbuddel aus seiner Segeltuchjacke und reichte sie den beiden. Grinsend nahmen Tukker und Old Shane einen kräftigen Schluck, dann reichten sie die Flasche dem Profos zurück.

„Also, Ed, manchmal hast du gar keine so schlechten Einfälle, das muß man dir lassen. Los dann, runter aufs Hauptdeck, das Spill ist wieder klar. Sicherlich geht der Tanz gleich los, ein paar Blöcke klemmen bestimmt, weil sie wieder vereist sind, da wette ich mit dir!“

Die drei Männer enterten zum Hauptdeck ab. Sie sahen, daß der Seewolf auf dem Achterkastell mit Ben Brighton sprach und zur Küste deutete. Sie wußten auch, über was die beiden Männer miteinander sprachen. Es hatte sich mehr als einmal erwiesen, daß es gar nicht so leicht war, einen wirklich sicheren Ankerplatz mit gutem Ankergrund zu finden.

Doch dann geschah etwas, was alle ihre Pläne total über den Haufen warf.

„Wahrschau, Deck!“

Die Stimme Gary Andrews übertönte die Geräusche an Deck der „Isabella VIII..“ Gary Andrews befand sich zu dieser Zeit als Ausguck im Fockmars.

Carberry fuhr herum. Ihm schwante nichts Gutes, denn wem, zum Teufel, konnte man in dieser gottverlassenen Gegend schon begegnen?

Gary Andrews ließ den Profos nicht lange im unklaren.

„Treibendes Boot Backbord voraus. Etwa sieben, acht Yards lang, ich kann nicht erkennen, ob sich jemand an Bord befindet.“

Unwillkürlich warf Carberry einen Blick in die Richtung, und einmal war es ihm, als könne er einen Schatten an Backbord voraus erkennen. In diesem Moment durchschnitt die Stimme des Seewolfs das Stimmengewirr der Männer an Deck.

„An die Brassen, klar zum Manöver! Wir sehen uns mal an, wer dort in der See treibt. Vielleicht können wir irgendeinem armen Teufel aus Seenot helfen!“

Sofort stürzten die Seewölfe an die Brassen. Die Rahen schwangen herum, Pete Ballie, der am Ruder stand, griff kräftig in die Speichen des Rades.

„Los, wollt ihr mitten am Tage einpennen, ihr Bilgenläuse?“ brüllte Ed Carberry, als die Männer nach dem Segelmanöver erwartungsvoll nach Backbord starrten.

„Ein Boot zu Wasser, und, verdammt, beeilt euch, oder ich werde euch mal wieder ein bißchen anlüften. Das habt ihr wohl schon lange nötig. Oder wie, glaubt ihr, sollen wir zu dem treibenden Boot gelangen? Hinschwimmen, wie, was?“

Der Profos hatte die Arme in die Hüften gestemmt und funkelte die Männer an.

Batuti, Stenmark, Luke Morgan und Blacky gingen daran, eins der beiden Boote klarzumachen. Luke Morgan, der Carberry am nächsten stand, warf dem Profos einen schiefen Blick zu.

„Dir könnte jedenfalls ein kalter Hintern auch nicht schaden“, sagte er, „vielleicht würdest du dann langsam wieder normal!“

Carberry war das nicht entgangen. Mit ein paar Schritten war er bei Luke Morgan.

„Sag das noch mal, Luke“, forderte er drohend. „Ich bin heute gerade in der richtigen Stimmung, so einem lausigen Affenarsch wie dir das Fell zu vergerben, ich …“

„Mister Carberry!“ Die sanfte Stimme Siri-Tongs ließ den Profos mitten in der Bewegung erstarren. „Was ist mit euch verdammten Kerlen eigentlich los?“ fragte sie und sah die beiden Kampfhähne aus ihren kohlschwarzen Augen an. „Dreht ihr schon bei so ein bißchen Kälte durch? Es wird noch kälter werden, viel kälter sogar. Dies alles hier ist erst der Anfang. Also an die Arbeit, oder euch alle holt der Teufel, klar?“

Carberry ließ die Fäuste sinken. Luke Morgan kroch in sich zusammen. Es hätte dem hitzköpfigen Engländer überhaupt nichts ausgemacht, sich mit dem riesigen Profos herumzuprügeln – im Gegenteil, vielleicht hätte das die ganze Stimmung an Bord im Nu bereinigt. Aber mit der Roten Korsarin anzubinden, das war schon eine andere Sache. Erstens konnte man sie nicht behandeln wie irgend jemanden aus der Crew, zweitens gab das ganz bestimmt massiven Ärger mit dem Seewolf und drittens wußte sich Siri-Tong auch recht gut selber zu behaupten.

Luke Morgan warf Carberry einen Blick zu. Dann hob er resignierend die Schultern und ging zu den anderen hinüber. Auch Carberry verdrückte sich. Er hatte eine Schwäche für die Rote Korsarin, jedermann an Bord wußte das, auch wenn er niemals die Grenzen überschritt. Aber auch er wollte sich mit der Roten Korsarin nicht anlegen, zumal zu allem Unheil in diesem Moment auch noch die beiden Söhne des Seewolfs an Deck erschienen und natürlich prompt aufs Hauptdeck hinunterstürmten.

Die Rote Korsarin, die das alles sehr rasch begriff, konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Doch dann wandte sie sich den Männern zu, die eben das Boot von der Persenning befreiten.

„Ich übernehme das Ruder“, sagte sie beiläufig. „Such ein paar Männer aus, Profos, die das Boot pullen.“

In diesem Moment, noch ehe Carberry etwas erwidern konnte, meldete sich Gary Andrews erneut aus dem Fockmars.

„Es ist jemand im Boot. Vielleicht ein Toter, er rührt sich nicht mehr. Soweit ich erkennen kann, handelt es sich um eins jener großen Fellboote, die die Eskimos Umiak nennen. Es ist beschädigt, der Mast ist gebrochen, das Segel zerfetzt, es liegt im Vorschiff und bedeckt eine Gestalt, die ebenfalls dort liegt.“

Der Seewolf gab abermals ein paar Kommandos, die „Isabella“ drehte in den Wind, die Rahen wurden vierkant gebraßt. Langsam verlor das Schiff an Fahrt.

Carberry klarierte die Talje an der Großrah, und inzwischen langten auch Ferris Tucker und Big Old Shane mit zu. Der alte O’Flynn humpelte heran, so rasch das mit seinem Holzbein ging. Düster starrte er auf die See hinaus.

„Ein Toter“, murmelte er, „das bringt Unglück, das ist der Vorbote herannahenden Unheils“, fügte er noch hinzu, wich aber geschickt zurück, als Carberry ihm einen finsteren Blick zuwarf.

Ferris Tucker grinste, ihm war das alles nicht entgangen.

„Los, hol den Kutscher, Donegal“, sagte er. „Wahrscheinlich werden wir ihn brauchen. Und beeil dich!“

Der alte O’Flynn stieß eine Verwünschung aus, aber dann humpelte er davon.

Das Boot wurde in Rekordzeit zu Wasser gefiert. Ferris Tucker, Ed Carberry, Luke Morgan, Big Old Shane und Batuti, der riesige Gambia-Neger, sprangen hinein. Ihnen folgte die Rote Korsarin und als letzter noch der Kutscher, der zusammen mit dem Profos Posten im Bug des Bootes bezog.

Das Boot legte ab. Ein Schneeschauer fegte über die See und eiskalter Gischt übersprühte die beiden Männer im Bug. Carberry quittierte das mit einem Fluch.

Batuti, Big Old Shane, Luke Morgan und Ferris Tucker pullten aus Leibeskräften. Die See ging hoch, ein eiskalter Wind, immer wieder vermischt mit dichten Schneeschauern, fegte über das Wasser.

Carberry dachte in diesem Moment wehmütig an die Sonne und die Wärme der Karibik. Obwohl er die See vor sich keinen Moment aus den Augen ließ, gaukelte ihm seine Phantasie Trugbilder von blauem Himmel, tiefblauer See und heller Sonne vor. Gewaltsam mußte er diese Phantasien abschütteln.

Aber Tatsache blieb, daß der eisenharte Profos der „Isabella“ dieses ewige graue Einerlei, den ewigen Schnee, die Kälte und Nässe, die immer weiter ins Schiff kroch und einen selbst im Schlaf noch verfolgte, haßte. Er hätte das nie zugegeben, aber er haßte sie. Und Carberry dachte mit Grauen daran, was ihnen bevorstand, wenn sie noch weiter nach Norden segelten.

Schnee, Eis, erbarmungslose Kälte, gegen die keine Kleidung schützte. Der einzige Ort, an dem man sich allenfalls aufwärmen konnte, war die Kombüse des Kutschers, und der sah, das absolut nicht gern, wenn man ihm dort auf die Nerven ging, zumal er schon zeitweise Sir John, den Papagei, und auch Arwenack, dem Schimpansen, Asyl vor der grimmigen Kälte gewährte, denn die Seewölfe wollten vermeiden, daß die beiden Maskottchen der Crew jämmerlich zugrunde gingen.

Außerdem hatte er so manchesmal die beiden Rangen des Seewolfs zu Gast – und die waren schlimmer, als Sir John und Arwenack zusammen. Denn so schnell, wie die beiden dem Kutscher irgend etwas klauten, Kandis oder ein Stück Fleisch oder Schiffszwieback, so schnell konnte er seine Augen gar nicht überall haben.

Bei dem Gedanken grinste der Profos plötzlich wieder. Sie waren schon eine ganz verdammte Bande, diese beiden Rübenschweine des Seewolfs! Aber helle waren die Kerlchen, so helle, daß sogar Siri-Tong, die sich viel um die beiden kümmerte, oft ihre liebe Not mit ihnen hatte und ihnen hin und wieder den Hosenboden gehörig strammzog. Jedenfalls war das in der letzten Zeit ein paarmal passiert, wenn sie es gar zu toll an Bord getrieben hatten. Aber sonst schienen die Rote Korsarin und die beiden Jungen ein Herz und eine Seele zu sein, ganz im Gegensatz zur ersten Zeit nach der Schlangen-Insel.

Wieder mußte der Profos grinsen. Hatte ihn der Hasard, dieses Rübenschweinchen, doch glatt einmal gefragt, wieso man diese verdammte Siri-Tong nicht einfach an Land setzen oder in den Harem stecken könne. Da gehörten nach Meinung des kleinen Hasard nun mal alle Frauen hin. Oh, verdammt, das war gar nicht so leicht gewesen, dem Bürschchen klarzumachen, was es mit Frauen wie Siri-Tong für eine Bewandtnis hatte!

Der Profos wurde aus seinen Gedanken gerissen. Vor dem Boot tauchte ein länglicher Schatten auf, der aber immer wieder im Schneegestöber verschwand.

„Boot Steuerbord voraus“, sagte Carberry, als er den Schatten wieder gesehen hatte. „Mehr nach Steuerbord, sonst laufen wir glatt vorbei!“