Cover

FRANZISKA SCHLÄPFER

1414

Die Erfolgsgeschichte
der rega und ihre Gesichter

Fotografien von Gianni Pisano

WÖRTERSEH

Die Rega ist im Inland verehrt, geliebt und bewundert, im Ausland als Organisation und Partnerin respektiert. Gegen 2,4 Millionen Gönnerinnen und Gönner bilden ihr Rückgrat und ermöglichen landesweite Luftrettung und weltweite Repatriierung verletzter und erkrankter Menschen. In «1414» lässt Franziska Schläpfer Menschen sprechen, von denen die Rega lebt: Piloten, Ärztin und Mechanikerin, Einsatzleiterin und Rettungssanitäter, die Mediensprecherin, den langjährigen Stiftungsratspräsidenten. Auch Pioniere der Rega und Gerettete. Sie alle berichten von Erfolgen und Rückschlägen, von schlafraubenden Einsätzen und nie vergessenen Erlebnissen, von glücklichen Momenten und elenden Augenblicken. Gianni Pisano hat die Porträtierten im Hangar der Rega ausdrucksstark ins Bild gesetzt. Eine reich illustrierte Chronik veranschaulicht die abenteuerlichen Anfänge der Rega und ihre fulminante Entwicklung.

Trailer zu »1414 – Die Erfolgsgeschichte der Rega und ihre Gesichter«:
www.woerterseh.ch

© 2012 Wörterseh, Gockhausen

Korrektorat: Andrea Leuthold, Zürich
Umschlaggestaltung: Thomas Jarzina, Holzkirchen
Fotos Umschlag, «Leader und Flieger» und Chronik:
Rega-Archiv, Kloten
Fotos Porträts: Gianni Pisano, Zürich
Organisatorische Betreuung vonseiten der Rega:
Sascha Hardegger und Philipp Keller
Layout, Satz und herstellerische Betreuung:
Rolf Schöner, Buchherstellung, Aarau
Druck und Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Print ISBN 978-3-03763-023-5
E-Book ISBN 978-3-03763-530-8

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Inhalt

Mythos Rega

Eine Einleitung

Pioniere

Georg Hossli, Notarzt

Ueli Bärfuss, Helikopterpilot

Walter Odermatt, Rettungs-Fallschirmspringer

Profis

Verena Wipfli, Telefonistin

Giulia Cimaschi, Gönnerbetreuerin

Claudia Grätzer, Einsatzleiterin

Marco Salis, Rettungsspezialist Helikopter

Fausta Gillis, Helikoptermechanikerin

Beatrice Hinder, Assistentin Chefpilot

Jacques-André Dévaud, Helikopterpilot und Fluglehrer

Eveline Winterberger, Ärztin

Urs Bless, Rettungssanitäter

Cristina Monticelli, Patientenbetreuerin

Juliana Casutt, Rechnungsstellerin

Alessandro Pedrini, Einkäufer

Pius Arnold, Hangarverantwortlicher

Ruth Schuler, Pflegefachfrau als Logistikerin

Oskar Mack, Jet-Pilot 1979–2011

Anne-Lise Stuby, Pflegefachfrau

Walter Stünzi, Kommunikationschef 1987–2009

Ariane Güngerich, Mediensprecherin

Albert Keller, Stiftungsratspräsident 2002–2011

Gerettete

Corina Meyer, Verbrennungsopfer

David Utz, Verschütteter

Alois Zgraggen, Verunfallter

Leader und Flieger

In memoriam: Rudolf Bucher, Fritz Bühler, Peter J. Bär, Fredy Wissel, Hermann Geiger, Sepp Bauer, Ursula Bühler Hedinger

Ernst Kohler im Interview

Der CEO über die Rega – heute, morgen

Die Chronik

60 Jahre Rega

Quellen

Mythos Rega

Eine Einleitung

Das modernste Luftrettungssystem der Welt, im Inland geliebt und bewundert, im Ausland als Organisation und Partnerin respektiert. Kein Schweizer Unternehmen ist angesehener, keine Institution geniesst grösseres Vertrauen als die Rega. Keine Marke glänzt heller. Diese Einzigartigkeit hat mindestens vier Gründe.

Erstens: Die Rega ist ein quasi volkseigener Betrieb. Das Rückgrat bilden 2,380 Millionen Gönnerinnen und Gönner. Was solch ein direktes Engagement bewirken kann, erlebte die Rettungsflugwacht erstmals 1956: Angeregt von Chefpilot Hermann Geiger, organisierte der Verband Schweizer Konsumvereine (heute Coop) durchs ganze Jahr eine landesweite Sammlung. Im Topf lagen schliesslich 500 000 Franken. Der erste Helikopter wurde bestellt.

2010 gewann die Rega 84 000 neue Gönner, 2011 sogar 86 000. Schon träumt CEO Ernst Kohler vom Tag, an dem der Gönnerausweis so selbstverständlich sein wird wie die Identitätskarte. Dieses Ziel vor Augen, wird der Rega-Gedanke unermüdlich und fantasievoll verbreitet – vor allem das jugendliche Interesse geweckt. Ein Kindertraum, der Ferienjob im Hangar des Rega-Centers Zürich-Kloten. Buben und Mädchen polieren Helis und Jets, Hunderte über die Jahre – lauter künftige Gönner –, und schreiben danach euphorische Dankeskarten: «Rega forever!»

Zweitens: Die Rega ist die Verbündete gegen Schicksalsschläge. Die Rega macht, sagt sie, jederzeit das Menschenmögliche. Holt Bergsteiger aus steilsten Flanken, Gleitschirmflieger von den Bäumen, blockierte Passagiere aus der Seilbahn. Verstiegene, verirrte, unterkühlte Wanderer. Sie rettet den bewusstlosen Fischer aus dem Bach, die Fallschirmspringerin von der Hochspannungsleitung, Verletzte aus Seen, Flüssen, Schluchten, Höhlen, Gletscherspalten, Lawinen. Sie rettet Eistaucher und Eiskletterer. Von einem Stier attackierte Bauersleute. Sie transportiert Frühgeborene und Verbrennungsopfer. Sucht Vermisste. Rückt aus bei Verkehrsunfällen, Arbeitsunfällen, Flugunfällen, Verbrechen. Berät Patienten im Ausland, schickt Medikamente, wenn nötig den Ambulanzjet. Fliegt auch mal ein Skorpion-Serum samt Giftspezialisten von Basel nach München. «Die Rega muss nicht rentieren, sie muss funktionieren», lautet das Motto. Sie bringt mit modernsten Helikoptern Hilfe auf höchste Höhen und mit eigenen Ambulanzjets jährlich 700 Patienten aus der ganzen Welt nach Hause zurück.

Am 5. Oktober 2010 leistete die Rega ihren 300 000. Einsatz; sie flog Zwillinge von der Neonatologie des Kinderspitals Luzern in ihren Heimatkanton Waadt. Sechs Einsätze waren es 1953, 14 240 im vergangenen Jahr 2011.

Drittens: Die Rega verbindet traditionelle Werte und Hightech. Noch besser, noch schneller, noch sicherer. Rettungstechnisch, fliegerisch und medizinisch an der Spitze sein: Das trieb die Rega über sechzig Jahre an. Aus den abenteuerlichen Anfängen freiwilliger Idealisten wuchs eine hochprofessionelle Organisation. Fünf Minuten nach der Alarmierung ist der Heli in der Luft und erreicht bei passablem Wetter in höchstens fünfzehn Minuten jeden Winkel der Schweiz. Die gemeinnützige Stiftung hilft unabhängig von staatlichen oder finanziellen Interessen nach den Grundsätzen des Roten Kreuzes, das heisst ohne Ansehen von Person, Zahlungsfähigkeit, sozialer Stellung, Nationalität, Rasse, Glauben oder politischer Überzeugung. Sie richtet nicht, sie rettet – und versorgt ihre Patienten nicht nur medizinisch, sondern auch seelisch: Nach der Rettung kümmert sich der Sozialdienst um sie, auch um Angehörige – macht Spitalbesuche, telefoniert, schreibt. Eine erstaunlich antizyklische Paarung ultramoderner Ausrüstung und klassischer Werte.

Viertens: Die exklusive Kombination Fliegen und Retten beflügelt die Rega-«Familie». Hier die Freude am Fliegen, die Lust abzuheben, seit Ikarus eher eine Spezialität der Wagemutigen, da der rückhaltlose Einsatz fürs Retten, vermeintlich eher die Domäne der altruistisch Aufgelegten und sozial Engagierten. Das stiftet eine Spannung, die Leute anzieht, die gern bipolar gefordert sind – eigenwillige Hilfsbereite, sozialverpflichtete Technikfreaks. Über 300 hoch qualifizierte Leute arbeiten für die Rega, die meisten haben mehrere Ausbildungen: der Käser als Safety-Officer, die Direktionssekretärin als Einsatzleiterin, der Landmaschinenmechaniker als Rettungssanitäter, die Kinderkrankenschwester als Betreuerin. Über 300 Mitarbeitende sind mit Herzblut bei der Rega tätig, weil die Arbeit eindeutig ist und dringlich. Weil sie Sinn macht. Deshalb funktioniert der Mittelbau selbst in instabilen Führungszeiten tadellos. Denn auch eine solche Vorbild-Institution ist vor Krisen, Machtkämpfen, Anfeindungen nicht gefeit. Patientin und Patient spüren davon nichts. Sie hören den Heli am Himmel knattern und atmen auf: «Zum Glück gibts die Rega!»

Das Buch gibt dem Mythos Rega ein Gesicht – viele Gesichter. Die Rega lebte und lebt von ihren Pionieren, ihren Mitarbeitenden: den Einsatzleiterinnen, Piloten, Rettungssanitätern, Ärztinnen, Gönnerbetreuern … Sie beleben täglich den Geist der Institution.

Im April 2012
Franziska Schläpfer

«Wir wollen den Pioniergeist wachhalten»

Ernst Kohler im Interview

Der CEO über die Rega – heute, morgen

Franziska Schläpfer: Die Rega steht glänzend da – das modernste Luftrettungssystem der Welt, auf dem neuesten Stand der Technik, einzigartig in den Lüften. Im Inland verehrt, geliebt und bewundert, im Ausland als Organisation und Partnerin respektiert. Ihre Abteilungen arbeiten famos, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen sind hoch motiviert – und die Gönner spenden. Sie könnten sich zurücklehnen, den Sonnenplatz geniessen – und wir könnten das Gespräch kurzfassen. Ich beglückwünsche Sie – und will Sie nur noch fragen: Wozu braucht die Rega einen CEO?

Ernst Kohler: Sechzig Piloten, dreissig Ärzte, Rettungssanitäter, Mechaniker, über 300 Mitarbeiter. Wie unterschiedlich sie sind, haben Sie erfahren. Sie wollen geführt sein, nicht im täglichen Einsatz, aber organisatorisch, in den grossen Linien. Das ist das eine. Das andere ist meine Aufgabe als Impulsgeber. Neuerungen, wie etwa die Application iRega, müssen angedacht, angestossen werden. Schliesslich muss jemand gegenüber dem Stiftungsrat die Verantwortung tragen, der Öffentlichkeit, dem Gönner, der Gönnerin Rechenschaft ablegen.

Kann denn die Zukunft der Rega besser sein als die Gegenwart?

Die Zukunft nicht. Aber wir. Wir können immer besser werden. Wir wollen den Pioniergeist wachhalten, das sind wir den Gründervätern schuldig. Wichtig sind qualifizierte Mitarbeitende, auf allen Stufen. Auch eine Geschäftsführung, die auf dem Boden bleibt und dennoch zukunftsgerichtet ist. Wir müssen, nur zum Beispiel, die Luftrettungsmittel ersetzen, die Basisinfrastruktur erneuern. Die Basis St. Gallen, früher am Rand der Landwirtschaftszone, liegt heute mitten im Industriegebiet. Da braucht es neue Lösungen.

Was Sie aufzählen, klingt bodennah. Haben Sie Visionen?

Unser Gönnerausweis muss eines Tages so selbstverständlich sein wie die Identitätskarte. Rega gleich Schweiz, Schweiz gleich Rega. Kürzlich, in der Basis Berner Oberland, empfingen dreissig Ferienpass-Kinder den landenden Helikopter, drückten ihre Nasen platt an der Scheibe, hockten strahlend um den Heli herum. Es gilt, Kinder und Jugendliche für die Rega zu begeistern.

Das versuchte die Rega im Herbst 2010 via Internetplattform www.myrega.ch mit dem etwas reisserischen Slogan «packend, emotional und nahe dran». Die zwei Sieger des Jugendprojekts «Rega-Tour 2010» durften zwei Wochen lang rund um die Uhr den Retter-Alltag filmen. Lohnt sich eine derart aufwendige und teure Aktion?

Ich gehöre nicht zur Social-Media-Generation, meine Kinder schon. Via Internet wollen wir das Bewusstsein für die Rega schärfen. Wir müssen dort sein, wo die jungen Menschen auch sind.

Hat die Rega Konkurrenz?

Ja, in der Repatriierung. Es gibt einen weltweiten Markt für medizinische Flüge. Die Versicherungen können andere Anbieter wählen. Wir sind nicht billig.

Die Rega fliegt auch in fremdem Auftrag.

Die Schweizer Bevölkerung, unsere Gönner haben Priorität, klar. Fremdaufträge sind jedoch finanziell interessant, sie verringern das Defizit, erhöhen das Know-how unserer Piloten und Mediziner. Und ich sehe die Jets lieber in der Luft als im Hangar. Für anspruchsvolle Fälle gilt die Rega weltweit als Nummer eins.

Und in der Schweiz?

Im Rettungswesen ist Konkurrenz nicht der richtige Begriff. Der Kanton Wallis hat entschieden, die Luftrettung selber zu machen. Er lässt sich das auch etwas kosten – und ist mit den Firmen Air Zermatt und Air-Glaciers anscheinend zufrieden. Die Rega würde es gratis machen – wie in der übrigen Schweiz ja auch.

Das Wallis war und ist ein Spezialfall. Beat H. Perren, Gründer und VR-Präsident der Air Zermatt, beansprucht viel Pionierarbeit für sich: erste Helikopter-Rettung mit Rettungswinde, erste Nachtrettung, erste Gletscherspalten-Rettung mit Kompressor und Dreibein, erster Arzt fix auf der Basis, erste Extremrettung mit 200-Meter-Seil. Was kann die Rega für sich reklamieren?

Air Zermatt hat grosse Verdienste, namentlich in der Bergrettung. Es ist müssig, zu streiten, wer wann was gemacht und geleistet hat. Früher waren es die gleichen Leute, private Unternehmen wie Air Zermatt flogen oft im Auftrag der Rettungsflugwacht. Heute sind die Ansprüche an medizinische Versorgung, fliegerische Verfahren und Sicherheit höher; das führte zur Spezialisierung – sowohl in der Rettung als auch bei kommerziellen Transportfirmen. Unsere Rettungshelikopter sind für Patienten reserviert, genauso wie ein modernes Ambulanzfahrzeug. Die Walliser Unternehmen sind anderer Meinung; sie setzen ihre Helikopter auch für Transport- und Touristenflüge ein. Einen wichtigen Teil unseres Spektrums können sie deshalb nicht leisten: eine kritische Frühgeburt verlegen, auf der Autobahn einen Trauma-Patienten optimal versorgen.

Wie ist denn das Verhältnis Rega–Air Zermatt?

Wichtig für den Patienten ist: Die tägliche Zusammenarbeit mit Air Zermatt und Air-Glaciers klappt gut. Doch künftig wird es notwendig sein, auch strategisch zusammenzurücken. Wir arbeiten daran.

Air-Glaciers warf der Rega vor, sie schicke im Berner Oberland lieber eigene Helikopter, selbst wenn Air-Glaciers näher dran wäre.

Solche Vorwürfe sind schnell zur Hand, wenn es darum geht, mit Rettungsflügen Geld zu verdienen. Wäre ich Chef der Air-Glaciers, würde ich mich vielleicht ähnlich verhalten. Ich wollte die Vorwürfe schon mehrmals besprechen, unsere Haltung darlegen, aber bisher hat niemand meine Einladung angenommen. Wir können jederzeit belegen, warum wir in welchem Fall wie handeln.

Ein Problem bekommen die Walliser wohl mit iRega.

Wer im Wallis unterwegs ist und via Rega-App Hilfe holt, landet in unserer Einsatzzentrale. Wir geben diese Aufträge zurück, sinnvoller wäre, wir könnten die Luftrettung gesamtschweizerisch koordinieren. Ein ausländisches Beispiel hat mich beeindruckt: Bei den Bombenanschlägen 2004 in Vorortzügen von Madrid herrschte ein Chaos zwischen Feuerwehr, Sanität und Polizei. Danach vereinigte die Millionenmetropole als erste europäische Stadt die drei Blaulichtorganisationen in einer Einsatzzentrale. Wir haben 26 Notrufzentralen, unzählige Feuerwehren. Als Demokrat finde ich gewisse föderalistische Strukturen in Ordnung, aber im Rettungswesen geht das etwas zu weit.

In der Wirtschaftswelt bläst ein neuer Wind: Aktionäre wehren sich. «Aktionäre» der Rega sind die Gönner, mittlerweile 2,4 Millionen. Wer vertritt diesen grössten Geldgeber innerhalb der Rega?

So viele Gönner mitbestimmen zu lassen, wäre nicht zu bewerkstelligen. Ich denke auch nicht, dass sie das wollen. Die Ausgangslage ist anders: Die Rega ist kein Verein, kein Rechtsgefäss – der Gönner nicht Mitglied, sein Beitrag ist eine Spende ohne Anspruch auf Mitbestimmung. Das schönste Kompliment ist, wenn er Anfang Jahr die Rechnung zahlt.

Heute reisen die Leute in die entferntesten Winkel der Erde. Risikobereitschaft und Abenteuerlust nehmen zu. Motto: Immer weiter, immer gefährlicher. Hält das Rettungswesen damit Schritt?

Die Rega ist auf jeden Fall gerüstet. Sie ist kerngesund.

Wie verhalten sich Gönner-Einnahmen zu Ausgaben für Gönner?

Die Rettungsfliegerei ist höchst defizitär. Der Gönner finanziert die hohe Einsatzbereitschaft der Rega. Sobald der Helikopter unterwegs ist, kommen meist die Unfall- oder Krankenversicherungen zum Zug. Diese decken etwa vierzig Prozent des Budgets. Sechzig Prozent, jährlich rund achtzig Millionen, tragen die Gönner bei.

Die Kranken- und Unfallversicherer wollen der Rega ans Lebendige. Präventive Einsätze übernehmen sie nicht mehr.

Das stimmt. Holen wir jedoch einen erschöpften oder verirrten Gönner, erlassen wir ihm die Kosten. Das ist das Prinzip des Systems seit den Sechzigerjahren. Ohne Gönner wären Qualität und Dichte des Rettungsnetzes nicht auf dem heutigen Standard zu halten. Wer sonst würde das bezahlen? Die Krankenversicherer? Der Staat? Ob das billiger käme, wage ich zu bezweifeln. Die zunehmend restriktive Haltung gewisser Kassen greift sicher zu kurz.

Wie hoch sind die Debitorenkosten?

Im Rahmen. Zwischen sechs und neun Millionen jährlich wenden wir für Leistungen auf, für die kein Kostenträger gefunden wird. Könnte sein, dass sich gewisse Krankenversicherer einen Sport daraus machen, die Rega zu schröpfen. Sie verfügt über liquide Mittel in der Höhe von 200 Millionen und ist zu hundert Prozent eigenfinanziert. Das weckt Missgunst. Was in der Schweiz zu hoch wächst, wird gestutzt.

Der Preisüberwacher moniert, die Flugtarife seien dreissig Prozent zu hoch.

Er verwechselt Äpfel mit Birnen. Unsere Flugminutentarife und auch die Gönnerbeiträge sind seit Mitte der Neunzigerjahre nicht gestiegen. Gibt es andere Kosten im Gesundheitswesen, die so stabil sind? Wir könnten ja, nach dem System Krankenkasse, jährlich ein paar Prozente aufschlagen.

«Vom Boden in die Luft!», frohlockte Mitte November 2011 der Touring Club Schweiz (TCS). Mit drei Notfallhelikoptern und zwei Ambulanzfahrzeugen bietet er medizinische Überführung in der Schweiz beziehungsweise Rückführung aus dem Ausland – günstiger als bisher die Rega. Die Alpine Air Ambulance (AAA), eine Tochter der Lions Air Group, organisiert alle Transporte; der TCS ist mit 49 Prozent an der AAA beteiligt. Seit Januar 2011 hat die neu gegründete medizinische Fachstelle des TCS für medizinische Fernberatung (ETI-Med) angeblich 650 Rückführungen veranlasst. Ist das eine bedrohliche Konkurrenz?

Nein. Rega und TCS kann man nicht vergleichen. Die Rega stellt den Service public sicher, bildlich gesprochen die Postautoverbindung ins abgelegene Bergtal, auch bei Nacht und Nebel. Der TCS pickt einige Rosinen aus dem Kuchen – er bietet sinngemäss die Intercity-Linie Zürich–Bern an. Sein Angebot ist schlicht überflüssig. Kurzfristig ist die Rega sicher nicht gefährdet. Mittel- und langfristig untergräbt der TCS die Finanzierung der Schweizer Luftrettung. Ob TCS und AAA günstiger fliegen können, ohne bei der Qualität oder Verfügbarkeit grosse Abstriche zu machen, bleibt abzuwarten.

Repatriierungen im Auftrag des TCS gingen seit 2009 um 75 Prozent zurück. Ist der Touring Club, einst ein bester Kunde der Rega, verbunden sogar mit einem Kooperationsvertrag, nicht zufrieden? Ist die Rega zu teuer? Oder will sich der TCS angesichts sinkender Mitgliederzahlen selber profilieren?

Letzteres trifft wohl eher zu. Das neue Angebot des TCS ist aus meiner Sicht vor allem aus Marketing-Perspektive zu erklären. Viele Versicherer und Auftraggeber sind mehr als zufrieden mit uns: mit den Preisen, der Verfügbarkeit der Flugzeuge, der Qualität.

Überall in der Wirtschaft dienen Wettbewerb und Konkurrenz den Kunden. Ist das im Rettungsbusiness anders?

In einem freien Markt senkt der Wettbewerb die Preise – sofern er nicht zum Zusammenbruch des Marktes führt. Im Rettungswesen, meine ich, gibt es keinen freien Markt, weil man kein Geld verdienen kann. Eine Feuerwehr, die 24 Stunden am Tag bereitsteht, wird nie Geld verdienen. Gibt es für diese Feuerwehr einen freien Markt? Rettungswesen und Feuerwehr sind ein Service public, den jemand leisten muss. Im Fall der Luftrettung ist dieser jemand die Rega. Fliegen nun andere die angenehmen, planbaren Einsätze am Tag und überlassen der Rega die unbequemen, teuren, anspruchsvollen Missionen, wird die Rega für diese Einsätze mehr Geld verlangen müssen – letztlich zulasten des Service public. Das will niemand, weder die Bevölkerung noch die Politik, am wenigsten der Patient. Wir wehren uns gegen eine Kommerzialisierung der Luftrettung in der Schweiz.

Seit Juni 2008 muss die Rega jährlich 5,5 Millionen Franken Mehrwertsteuer auf Gönnerbeiträge bezahlen. Was war der Auslöser?

Die Steuerbehörde stellte fest, dass die Rettungskarten der Air-Glaciers mehrwertsteuerpflichtig sind. Die Walliser zogen den Entscheid vor Bundesgericht – und verloren. Die Eidgenössische Steuerverwaltung machte sich ihren Reim: «Das trifft doch auch auf die Rega zu» – und änderte ihre Praxis.

Sie gingen ebenfalls erfolglos vor Bundesgericht. Was passiert jetzt?

Wir versuchen, auf politischem Weg Einfluss zu nehmen und das Gesetz so zu ändern, dass unsere Gönnerbeiträge von der Mehrwertsteuer befreit sind.

Wie stehen die Chancen?

Gut. Ich hoffe, in einigen Jahren wird es so weit sein, und appelliere an die Vernunft der Politiker, der Gemeinnützigkeit nicht Mittel zu entziehen für eine Aufgabe, die sonst der Staat leisten müsste.

Und sollte es nicht klappen?

Dann würden wir als letzte Möglichkeit vielleicht eine Volksinitiative lancieren. Mit guten Chancen bei 2,4 Millionen Gönnern und Gönnerinnen.

Die Mehrwertsteuer-Millionen könnten Sie bestens gebrauchen für die enormen Anstrengungen, sogenannte GPS-Anflüge und -Abflüge für Helikopter einzuführen. Wem nützen diese? Sind Aufwand und Ertrag gerechtfertigt?

Die Anstrengungen kommen den Patienten zugute, die wir dank Flug nach Instrumenten auch bei schlechtem Wetter in ein Zentrumsspital transportieren können – ohne zeitraubende Umwege. Der Aufwand ist jedoch gigantisch. Zu viele Vorschriften, zu hohe Hürden. Es ist fast unmöglich, auch nur einen kleinen Schritt voranzukommen. Mittlerweile ist immerhin der GPS-Anflug auf das Inselspital Bern bewilligt.

Sie wollen aber mehr.

Es gibt zwei Zentren für Verbrennungsopfer: Zürich und Lausanne. Es muss doch möglich sein, bei jedem Wetter einen Patienten von Interlaken in ein Verbrennungszentrum zu fliegen, statt zweieinhalb Stunden mit der Ambulanz über den Brünig zu fahren. Die Technik ist da, wir brauchen nur noch die Bewilligungen.

Wollen Sie das Schicksal austricksen?

In einem gewissen Mass sicher. Will der Mensch nicht auch Unmögliches möglich machen? Ich bin überzeugt, in zehn Jahren ist es technisch machbar, jeden Punkt in der Schweiz im Nebel anzufliegen. Erinnern Sie sich an die Lawinenschnur, die Skitourenfahrer und Bergsteiger früher um den Bauch trugen und bei Gefahr hinter sich herzogen? Die Retter sind einfach der 25 Meter langen roten Schnur gefolgt …

Hänsel und Gretel mit den Brotbröcklein.

Genau. Das war innovativ und fortschrittlich. Hätte man uns damals von einem zigarettenschachtelgrossen Gerät erzählt, mit dem Verschüttete in dreissig Sekunden gefunden werden können, hätten wir gefragt: «Braucht es das?» Kurz: Wir müssen technisch mithalten.

Also nicht der pure Ehrgeiz, das Neueste zu haben?

Wir wollen mehr Sicherheit für Besatzung und Patienten. Oft bringen wir Verletzte sozusagen «auf dem letzten Zacken» ins Spital. Sie kennen dieses typische Winterwetter: oben blau, unten grau. Dann sind alle auf der Piste. Muss die Rega bei dieser Wetterlage jemanden mit schwerer Kopfverletzung holen, fliegt sie zuhinterst in ein Tal, wo der Nebel ansteht, sinkt zwischen Baumwipfeln und Hochspannungsleitungen unter die Nebeldecke, um tief über den Dächern in ein Spital zu fliegen. Das wäre nicht mehr notwendig. Ist es denn falscher Ehrgeiz, diese Verbesserung zu wollen? Aber zugegeben, das Ganze ist unheimlich teuer – und wird sich rein ökonomisch gesehen auch nie rechnen.

Das Verhältnis zwischen Luftrettern und Bodentruppen war manchmal gespannt. Wie ist es heute?

Die Rega ist auf terrestrische Rettung angewiesen und schätzt die Bodentruppen. Der Heli kann ja nicht immer fliegen. Wir arbeiten sehr gut mit Polizei und Feuerwehr, Ambulanzen und Pisten-Patrouilleuren zusammen. Die meisten unserer Einsätze werden von den Sanitätsnotrufzentralen 144 veranlasst, das sind herausragende Partner. Gemeinsam mit dem SAC haben wir 2005 die Stiftung Alpine Rettung Schweiz gegründet und finanzieren diese massgeblich. Es gibt keine Differenzen mehr über den Einsatz des Rettungshelikopters im Gebirge.

Wachsen mit den Möglichkeiten auch die Ansprüche? Stimmt es, dass bei jedem Bobo die Rega verlangt wird, dass sich kaum mehr jemand auf den Rettungsschlitten legt?

Nein, das sind höchstens Einzelfälle. Die Pisten-Patrouilleure lassen nur fliegen, was man fliegen muss. Stellt sich heraus, dass der Patient auf dem Schlitten transportiert werden kann, wird das gemacht. Aber ich setze mich dafür ein, dass Patienten, die geflogen werden müssen, auch geflogen werden. Es gibt Fälle, da werden Verletzte auf Teufel komm raus terrestrisch transportiert – nach dem Motto «Der Rega zeigen wirs, das können wir auch». Doch ein möglichst schonender Transport ist oft wichtig für den guten Verlauf der Heilung. Patienten sollen einfach die beste Behandlung bekommen.

Es kommt immer wieder vor, dass Verunfallte auf dem Flug ins Spital sterben. Wäre ihnen und den Angehörigen nicht besser gedient, man würde sie in Ruhe sterben lassen?

Und wer entscheidet das? Wir fliegen jährlich 10 000 Helikopter-Einsätze. Wenige Patienten sterben während des Flugs, wie viele, weiss ich nicht genau. Aber ich weiss, dass die Mitarbeitenden der Rega die ethisch-moralische Verantwortung einem Sterbenden gegenüber wahrnehmen.

Schauen Sie mal, welch ein Riesenaufwand bei einem Verkehrsunfall betrieben wird: Strassensperren, Ambulanzwagen, die Rega, die Polizei, der Chef der Polizei, Untersuchungsrichter, Spurensicherung, Journalisten, Fotografen. Da frage ich mich, von welcher Würde da die Rede ist. Ich habe als Bergretter zahlreiche Todesfälle erlebt. Das Sterben gehört zu dieser Arbeit.

Muss bei jedem Einsatz ein Arzt dabei sein?

Ja, bei uns schon. Wir überlegten auch einmal, bei idealen Verhältnissen auf den Arzt zu verzichten. Doch exakt deswegen ruft man uns, weil wir für alle Eventualitäten gerüstet sind – und der Rettungsdienst die Verantwortung der Rega übergeben kann. Zur Sicherung dieser hohen Qualität zahlen die Gönner ihren Beitrag. Wir machen alles, was sinnvoll ist. Wir haben sogar in Samedan nachts einen Heli auf Pikett, auch wenn er im Jahr nur fünfzigmal gebraucht wird. Man könnte den Heli von Untervaz aufbieten. Aber vielleicht entscheidet unsere Bereitschaft in ein paar Fällen über Leben und Tod.

Wir bräuchten wohl auch nicht drei grosse Ambulanzjets für unsere Gönner. Aber bei einem Ereignis wie dem Anschlag in Marrakesch im April 2011 waren wir in zwei Stunden in der Luft und konnten zwei schwer verletzte Schweizerinnen nach Hause bringen.

Wie löst die Rega bei langen Jet-Flügen das Problem der Übermüdung?

Je länger und je dringlicher der Einsatz, desto mehr Leute gehen mit, um sich abzulösen. Die Übermüdung ist ernst zu nehmen. Wir untersuchen das Problem zusammen mit ausländischen Wissenschaftlern und arbeiten im Moment an einer wegweisenden Studie zum sogenannten Fatigue-Risk-Management. Die Probanden der Crews tragen ein Gerät am Handgelenk, das Informationen registriert, zum Beispiel, wie aktiv jemand ist.

Weshalb machen Sie das?

Weil wir, um Ausnahmebewilligungen zu bekommen, beweisen müssen, dass unsere längeren Flugzeiten sicher sind. Die Schweiz übernimmt 2012 neues internationales Luftrecht und damit auch eine neue Arbeitszeitregelung. Weil wir mehr arbeiten als international vorgesehen, und in Extremfällen sicher an die Grenzen gehen, brauchen wir ein griffiges Management für Risiken infolge Übermüdung. Wenn wir nachweisen können, dass es sicher ist, dürfen wir länger fliegen als eine normale Airline. Wir hatten im Jet-Betrieb noch nie einen Unfall und arbeiten daran, dass es so bleibt.

Fliegt die Rega in politisch instabile Länder?

Nach seriösen Abklärungen, etwa mit der Swiss und dem EDA, dem Departement des Äusseren. Aufgrund unseres transparenten Sicherheitskonzepts sind unsere Dienstleistungen auch international gefragt.

Wie oft fliegt die Rega vergeblich?

Selten. Es sind meist Suchaktionen, bei denen man nicht genau weiss, wo suchen. Trotz allen Bemühungen kommen wir hin und wieder zu spät. Doch für die Angehörigen ist es tröstlich, zu wissen, dass das Menschenmögliche unternommen wurde.

Ich meine «vergeblich» wie 1978 bei der Gasexplosion auf einem Zeltplatz in Spanien, als die gecharterte DC-9 leer zurückkehrte, weil man das Ausmass der Katastrophe zu wenig abschätzen konnte, die Verbrennungsopfer nicht transportfähig waren.

Solche Einsätze gibt es nicht mehr oder höchst selten. Vielleicht wird ein Patient als transportfähig eingestuft, weil das lokale Spital die Verantwortung nicht mehr tragen kann oder will. Und bei der Ankunft stellt unser Team fest: Der Patient wird einen Transport nicht überleben oder das Risiko ist einfach zu gross.

Im Range eines Obersten der Luftwaffe waren Sie jahrelang in leitender Stellung tätig. Führen Sie militärisch?

Was unterscheidet zivile und militärische Führung? Basisdemokratisch kann man nicht führen. Die Leute mögen es, wenn der Chef weiss, was er will. Wenn sie wissen, was sie an ihm haben. Dass sie sich in stürmischen Zeiten auf ihn verlassen können. Dass er Interessen gegen oben, aber auch gegen unten vertritt. Führung bedeutet Verantwortung übernehmen für alles, was hier gemacht wird. Mir ist wichtig, dass die Mitarbeiterin, der Mitarbeiter mir vertrauen kann. Dass er weiss, ich vertraue auch ihm. Schliesslich bedeutet Führen auch Vorbild sein. Das versuche ich ein Leben lang. Vorbild sein heisst auch etwas gern machen, mit Engagement und Herzblut.

Manche sagen, Sie seien unnachgiebig.

Man kann gleichzeitig hart und fürsorglich sein. Je turbulenter es zu- und hergeht, desto wichtiger ist es, fürsorglich zu sein. Jede Mitarbeiterin, jeder Mitarbeiter kann sich auf den Kohler verlassen. Wenn sie ehrlich sind, wissen sie: Der sorgt für uns. Das heisst aber, dass er auch mal sagen muss: So nicht. Es ist nicht einfach, den richtigen Führungsstil zu finden für dieses explosive Gemisch verschiedenster Fachleute. Die Rega wäre prädestiniert, ein Klub der Zufriedenen zu werden. Jeder Helikopterpilot will Rega-Pilot sein. Dutzende Pflegefachpersonen bewerben sich auf eine Ausschreibung. Einer muss dafür sorgen, dass die Rega nicht zur Wohlfühloase wird.

Ich führe seit der Unteroffiziersschule, militärisch und zivil. Mit zwanzig gründete ich eine Familie mit schliesslich vier Kindern. Was ihr macht, sage ich ihnen, spielt keine Rolle, aber übernehmt Verantwortung – und macht die Arbeit gern! Dann macht ihr sie auch gut. Das ist matchentscheidend.

Sind Sie per Du mit Ihren Mitarbeitern?

Zum Teil. Aus Prinzip Duzis zu machen, finde ich aber lächerlich.

In der Rega arbeiten viele Frauen. Weshalb sind Kader und Stiftungsrat so männerlastig?

Im Stiftungsrat sind in den letzten sechs Jahren immerhin zwei Frauen dazugekommen. Wir haben eine Einsatzchefin Helikopter, eine Chefin der Einsatzzentrale Jet und eine Personalchefin. Fliegerei und Medizin sind eher männliche Domänen. Wir haben noch Aufholbedarf, sicher. Während meiner Zeit muss ich mir nichts vorwerfen.

Auffallend ist auch das Alter mancher Stiftungsratsmitglieder.

Die Erneuerung ist im Gang. Seit 2011 gilt eine Altersbeschränkung: Mit siebzig kann ein Stiftungsrat ein letztes Mal für eine vierjährige Amtszeit gewählt werden. Doch lieber als junge HSG-Manager, die alles umkrempeln wollen, sind mir Persönlichkeiten, die den Wert unserer Stiftung kennen, die wissen, wie man die Rega strategisch führen muss. Das Fachwissen hat die operationelle Führung; und die Überwachung dieses Fachwissens ist umfangreich, angefangen beim Bundesamt für Zivilluftfahrt über Stiftungsaufsicht, Finanzkontrolle, Interverband für Rettungswesen, die Qualitätsmanagementnorm ISO 9001 und so weiter.

Seit Januar 2011 sind Sie CEO der Rega, vorher «nur» Vorsitzender der Geschäftsleitung. Haben Sie das langjährige Primus-inter-Pares-System beendet?

Der Stiftungsrat, auf Antrag der gesamten Geschäftsleitung. Das alte System kostete zu viel Energie, forderte zu viele Kompromisse. Die operative Leitung ist jetzt breiter abgestützt, die Geschäftsleitung wurde erweitert, wichtige Bereiche sind ebenfalls vertreten. Einerseits sind wir klarer, fassbarer organisiert, andererseits sind mehr Kompetenzen und jüngere Gesichter in der Geschäftsleitung vertreten.

Die Kohlers sind eine Bergführer-, eine Retterdynastie.

Die Geschichte der Luftrettung begann eigentlich im November 1946, nach dem Absturz einer amerikanischen Douglas C 53 Dakota auf dem Gauligletscher. Die Rettungskolonne erreichte nach dreizehn Stunden Aufstieg die Unfallstelle. Ernst Kohler, Jahrgang 1915, war dabei, mein Grossvater. Dann gibt es Ernst Kohler, Jahrgang 1940, auch Bergführer, mein Vater. Schliesslich mich. Als ich 25-jährig stellvertretender Rettungschef von Meiringen wurde, herrschte in der Familie nicht nur Freude. 1975 stürzte mein Onkel, Bruno Kohler, Ausbildungschef der Schweizer Bergführer, 33-jährig bei einer Helikopterrettung ab. Flog nachts ein Heli Richtung Grimsel, Susten, Engelhörner über Grossmutters Haus, fragte sie sich, ob wohl der Aschi drin sei, ihr Enkel. Sie verbarg ihre Angst, telefonierte vielleicht anderntags in der Hoffnung, ich nehme das Telefon ab.

Klettert der Aschi Kohler noch?

In meiner Freizeit. Leichte und mittlere Bergtouren, das schon. Letzten Samstag war ich mit den Söhnen auf dem Mönch.

Ernst Kohler, 1963 in Meiringen (BE) geboren, gelernter Elektromonteur, Bergführer, stellvertretender Rettungschef der Rettungsstation der Alpinen Rettung in Meiringen. 1987 trat er ins damalige Bundesamt für Militärflugplätze ein, war zuletzt im Range eines Obersten der Luftwaffe Betriebsleiter und Kommandant des Militärflugplatzes Meiringen. Karriere bei der Rega: 1999 bis 2005 Stiftungsrat, seit 2006 Vorsitzender der Geschäftsleitung, seit 2011 CEO.

Pioniere

«Die rechte Zeit ist nur ein Augenblick»

Georg Hossli, Notarzt

Georg Hossli, Pionier der Intensivmedizin und Notarzt an der Front

«Das ist mein Leben.» Georg Hossli klappt den letzten Fotoband zu. Stundenlang hat er erzählt, als wäre es gestern gewesen. Kaum zu glauben, der Mann ist neunzig. Prägte die moderne Anästhesie in der Schweiz. Wissenschaftler, Professor, Familienvater, Notarzt im Dienst der Rega. Ein Leben? Zwei, drei, vier. Er deutet zum Waldrand neben seinem Haus in Witikon, hier habe er jeweils auf den Helikopter gewartet, und berichtet von allerlei Fällen – bis mir ist, als würde der Heli gleich über die Wipfel rattern.

Der einwöchige Papstbesuch im Juni 1984 war ein Höhepunkt. Er lacht: «Ich bin gottlob katholisch!» Erstmals hatte die Schweiz einen Papst zu Gast: Johannes Paul II. Die Rega war für sein gesundheitliches Wohl zuständig. Von Genf nach Fribourg flog das Kirchenoberhaupt mit der Crossair. Dort wartete der «Papst-Heli», ein aufgerüsteter Super Puma. Und die Bölkow BO 105 der Rega mit Pilot Ueli Soltermann, Flughelfer Heinz Enz und Notarzt Georg Hossli. «Wir flogen direkt hinter dem Papst, als erster der sieben Begleithelis. Bei allen Anlässen und Messen stand ich im roten Rega-Gwändli mit Heinz Enz und Notarztkoffer in der Nähe des Papstes. Die erste Nacht in Fribourg war er im Priesterseminar untergebracht; ich lag im Zimmer neben ihm.«

Ein gutes Jahr später der eintägige Papst-Besuch im Fürstentum Liechtenstein. In Zürich-Kloten wartete Bundespräsident Kurt Furgler – und wiederum die Rega-Crew. «Der Papst kam zuerst auf mich zu: Da ist ja Professor Hossli!» Fürstenfamilie und Regierung bedankten sich später bei ihm und seinen Leuten mit einem Empfang auf dem Schloss.

Georg Hossli hatte schon früher Kontakt zum Vatikan. 1979 brachte er den schwer kranken polnischen Kardinal Andrzej Maria Deskur – verwandt mit dem Papst, engagierter Medienmann und Chef von Radio Vaticana – in seine Heimat, vermeintlich zum Sterben. «Bewacht von Schweizergardisten wurde er in einem Spezialauto vom Spital Santa Croce zum Militärflugplatz geführt. Wir repatriierten ihn via Universitätsspital Zürich nach Warschau.» Als Hossli 2006 mit der Schweizerischen Gesellschaft für militärhistorische Studienreisen am 500-Jahr-Jubiläum der Schweizergarde teilnahm, traute er seinen Augen nicht: Unter den Gästen, im Rollstuhl, Kardinal Deskur.

Wie aber hat der Arzt zur Rega gefunden? Im März 1955, anlässlich der ersten grossen Propaganda-Aktion mit Fallschirmabsprüngen über dem Zürichsee. «Dem Rega-Gründer Rudolf Bucher war das Unterfangen nicht ganz geheuer. Er kontaktierte das Kantonsspital, ich wurde delegiert, die ärztliche Betreuung zu organisieren.»

Georg Hosslis Grossmutter väterlicherseits war Hebamme: Das sind die medizinischen Wurzeln. Der Vater war Bahnhofvorstand in Zürich Enge. 1940 machte Georg die «Kriegsmatura» und begann Medizin zu studieren. Achtmal rückte er zum Aktivdienst ein. Der Leutnant war stolz, nicht als Sanitäter, sondern als Infanterist im Zürcher Gebirgsschützen-Bataillon 11 zu dienen. Während des achten Einsatzes 1944 erkrankte er an Pleuritis exsudativa, einer «nassen» Brustfellentzündung. Fünf Monate Liegekur im Militär-Sanatorium Leysin. Dort liess er sich von der Laborantin Mathilde Huber nicht nur in die Geheimnisse der Labormethoden einführen. 1947 heirateten die beiden.