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Inhaltsverzeichnis

Impressum

Was war vor der Psychiatrie?

Wie lebten die Kranken im Asyl oder Hospiz?

Überfüllte Krankenanstalten

Der große Sprung in die heutige Zeit

Kurze Einführung

Klaus und seine Kollegen

Silvia und verschiedene Ansichten über die „Krankheit Schizophrenie“

Dazu ein kurzes Beispiel

Kurt und die Angst seiner Kolleginnen und Kollegen

Susi und der Autounfall

Peter

Ferien in Südfrankreich

Toni, der ehemalige Bankdirektor oder vom Chef zum Sozialfall

Sonja und die Beziehung zu Gott und die Placebo-Tablette

Was ist eine Psychose?

Hans und seine Mutter

Therapie

Irene und die hoch geachteten Männer

Und nun das bittere Ende

Literatur

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2015 novum Verlag

ISBN Printausgabe: 978-3-99048-192-9

ISBN e-book: 978-3-99048-193-6

Lektorat: Volker Wieckhorst

Umschlagfoto: Alexandr Demeshko | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Was war vor der Psychiatrie?

Die Darstellung eines Mitglieds des britischen Unterhauses aus dem Jahre 1817 lautet folgendermaßen: „Es gibt nichts Schockierenderes als Idioten in der Hütte eines irischen Landarbeiters. Werden ein kräftiger Mann oder eine Frau von Beschwerden befallen, bleibt den Angehörigen nichts anderes übrig, als ein Loch in den Boden der Hütte zu graben, nicht so tief, als dass ein Mensch aufrecht darin stehen könnte, mit einem Lattengerüst darüber, damit er nicht herausklettern kann. Das Loch ist ungefähr einen Meter fünfzig tief, dorthin reichen sie dem bedauernswerten Wesen die Mahlzeit, und dort stirbt er im Allgemeinen.1

Im Kanton Fribourg (Schweiz) wurden folgende Feststellungen gemacht, bevor man ein Asyl für Kranke errichtete: „Ein Fünftel der 164 entdeckten Erkrankten war von der Familie völlig entmündigt und in zumeist ungeheizten Räumen und Ställen eingesperrt worden, in engen, dunkeln, feuchten, stinkenden Verließen. Sie lagen in ihren eigenen Exkrementen auf Stroh, die Gesichter von Fliegen umschwärmt.2

Der Marinechirug Louis Caradac, der sich in der Bretagne niederließ, schreibt 1860: „In unsren ländlichen Gebieten, wo die Menschen noch von absurden Vorurteilen durchdrungen sind, betrachtet das Volk Wahnsinn in der Familie als etwas, dessen man sich schämen muss, und ist nicht bereit, die betroffenen Personen ins Asyl zu schicken. Das ist der eigentliche Beweggrund für unsere Bauern, diese armen und gequälten Menschen zu Hause zu behalten. Ist der Irre friedlich, lassen ihn die Leute üblicherweise frei herumlaufen. Aber wenn er tobt oder Schwierigkeiten macht, wird er in einer Ecke des Stalls oder in einem abgelegenen Raum angekettet, wohin ihm dann täglich eine Mahlzeit gebracht wird … Das geschieht auf dem Lande ziemlich häufig, und oft können Jahre vergehen, bis die Behörden von diesen Verbrechen Kenntnis erhalten.3

In England waren die Kranken, falls sie nicht im eigenen Hause angekettet wurden, in einem Arbeits- oder Armenhaus an Pflöcke gekettet.

Die Sozialreformerin Dorothea Dix fand 1840 in Lincoln „eine Frau in einem Käfig, in Medford einen Schwachsinnigen in Ketten und eine weitere, die seit 17 Jahren in einer verschlossenen Pferdebox gehalten wurde; in Barnstable vier weitere Frauen in Pferchen und Boxen. Von zwei weiß sie sicher, dass sie angekettet waren, aber ich glaube, sie waren es alle.4

Wie lebten die Kranken im Asyl oder Hospiz?

Asyle kannte man bereits im Mittelalter, sie waren absolut keine Neuerfindung des 18. Jahrhunderts. In den Städten gab es Asyle, die ausschließlich Geisteskranken zur Verfügung standen. Es gab Hospize für Kranke und Vagabunden, Gefängnisse für Kriminelle. Die Asyle für Geisteskranke waren aber reine Verwahrungsanstalten. Therapien, wie wir sie heute kennen, waren gänzlich unbekannt.

Johannes Reil, Ordinarius für Medizin in Halle, beschrieb die üblichen psychiatrischen Internierungsmethoden, die in Deutschland um 1800 zeitgemäß waren. „Wir sperren diese unglücklichen Geschöpfe gleich Verbrechern in Tollkolben, ausgestorbene Gefängnisse, neben den Schlupflöchern der Eulen in öde Klüfte über den Stadttoren, wohin nie ein mitleidiger Blick des Menschenfreundes dringt, und lassen sie, angeschmiedet an Ketten, in ihrem eigenen Unrat verfaulen.5

Der Arzt Müller von Würzburg schrieb, dass jeder Mediziner im späteren 18. Jahrhundert wusste, wie wenig ein Medizinstudent über die Geisteskrankheiten lernen konnte und wie die Psychiatrie vernachlässigt wurde.

Die Geschichte der Psychiatrie begann in Amerika wie in Europa mit Verwahrungsanstalten. Mit Institutionen für die Versorgung von aufsässigen oder tobsüchtigen Menschen. Aber erst die Auffindung, dass diese Institutionen auch eine therapeutische Funktion haben sollten, führte zum Beginn der Psychiatrie, einer eigenständigen Disziplin der Medizin.

Der erste Psychiater, der den therapeutischen Nutzen von Anstaltsaufenthalten erkannte, war der Mediziner William Battie. Battie nannte man auch „den führenden Psychiater der damaligen Zeit“.6

Battie zitiert einen Kollegen: „Führung hat viel mehr bewirkt als Medizin (sehr gute Einstellung schon in früheren Zeiten), und die Erfahrung hat mich gelehrt, dass oft allein schon die Absonderung (gemeint von seinem gewohnten Umfeld) für seine Genesung ausreicht, immer aber so grundsätzlich notwendig ist, dass ohne sie jede bislang für die Heilung von Irresein angewandte Methode erfolglos bleiben musste.7

Battie weiß aber auch: „Irresein ist ebenso behandelbar wie viele andere Unpässlichkeiten, die gleichermaßen schrecklich und hartnäckig sind und dennoch nicht als unheilbar betrachtet werden; diese unglücklichen Subjekte dürfen keinesfalls aufgegeben werden, und schon gar nicht darf man sie wie Kriminelle oder gesellschaftliche Übel in ekelerregenden Gefängnissen zum Schweigen verurteilen.8

Diese Erkenntnis ist für das 18. Jahrhundert absolut als fortschrittlich anzuerkennen und zu loben. Obwohl Batties Ansichten vielfach einfach übergangen wurden, ist er doch derjenige, der die Psychiatrie einleitete. Ich möchte gerne sagen: Er ist der Vater der Psychiatrie.

Wichtige Ärzte, die die Psychiatrie gefördert haben, sind der Italiener Vincenzo Chiarugi, der Franzose Pinel. Chiarugi nahm den Patienten die Ketten ab. Pinel ersetzte diese durch die Zwangsjacke. Pinel wurde sehr berühmt, da es hieß, er habe 1793 den Irren in Bicêtre die Ketten abgenommen. In Wirklichkeit war es aber der Krankenhausdirektor Jean Baptiste Pussin, der diese Anordnung traf.

Bedeutung erlangte Pinel durch sein Lehrbuch, welches 1801 erschien und in dem er schrieb: „Es gibt wohlbegründete Hoffnung, dass man Individuen, die als hoffnungslose Fälle gelten, in die Gesellschaft zurück führen kann. Unsere emsige und unermüdliche Aufmerksamkeit muss jenen unzähligen gemütsgestörten Patienten gelten, die konvaleszieren oder wenigstens lichte Momente haben; diese Gruppe sollte in einer abgetrennten Abteilung des Hospizes untergebracht werden und einer psychologischen Behandlung unterzogen werden, welche dem Zweck dient, die Fähigkeiten ihres Verstandes zu entwickeln und zu schärfen.9

Die moderne Psychiatrie beginnt mit Pinel. Er ging fürsorglich mit seinen Patienten um. Er beruhigte sie mit warmen Bädern und mit Arbeiten, und mit anderen Aktivitäten verbrachten sie sinnvolle Zeit.10

Der Schüler Pinels, Jean-Etienne Esquirol, machte sich mit seiner Dissertation 1802 über die Rolle von „Passionen bei Geisteskranken“ einen Namen.

Reil, Pinel und Chiarugi waren mit den verschiedenen therapeutischen Programmen nicht immer einer Meinung (das waren Freud und Jung auch nicht), aber sie bildeten einen mitteleuropäischen Sonderweg bei dem Versuch, die Psychiatrie in eine Heilkunst umzugestalten.

1965 wurde Benjamin Rush, der Arzt in Philadelphia war, von der American Psychiatric Association zum „Vater der amerikanischen Psychiatrie“ ernannt. Er war Oberarzt im Pensylvania Hospital und war mit seinen europäischen Kollegen einverstanden, dass die Ursprünge jeder Geisteskrankheit im Gehirn lägen. Er schrieb 1786: „Menschen, die unter der Zerrüttung oder dem Unvermögen ihrer Geistesgaben leiden, werden völlig zu Recht als Objekte der Medizin betrachtet; im übrigen sind viele Fälle aufgezeichnet, die beweisen, dass sich ihre Leiden der Heilkunst fügen.11

In seinem psychiatrischen Lehrbuch von 1812 schreibt er dann: „Die Ursache von Irresein ist in erster Linie in den Blutbahnen des Gehirns zu finden und hängt von denselben pathologischen und unregelmässigen Vorgängen ab, die auch zu anderen arteriellen Krankheiten führen.12

Rushs Parteigänger haben behauptet, dass seine gelegentlichen Betrachtungen über das sittliche Empfinden spätere psychologische Therapien vorweggenommen hätten. Doch in Wahrheit war psychologische Sensibilität seiner eigenen Praxis kaum anzumerken. Ein Mediziner, der das Pensylvania Hospital besucht hatte, erinnerte sich 1787 an Rushs Visiten. „Als nächstes warfen wir einen Blick auf die Irren. Ihre Zellen lagen im Untergeschoss, das sich teilweise unter der Erde befindet. Diese Zellen sind etwa drei Quadratmeter gross und so massiv verstärkt, wie in einem Karzer … In jeder Türe befindet sich ein Loch, das gross genug ist, um Mahlzeiten und andere Dinge hereinzureichen, und das mit einem von starken Riegeln gesicherten Türchen verschlossen wird. Die meisten Patienten lagen einfach auf Stroh. Einige von ihnen waren ausserordentlich aufgebracht und tobten in ihrer fast vollständigen oder ganzen Nacktheit.13

Rush beschreibt in seinem Lehrbuch auf beschauliche Weise: „Die Patienten bekommen wieder einen Geschmack von den Segnungen der frischen Luft, des Lichts und der Bewegung bei wohltuenden sommerlichen Spaziergängen im Schatten. Sie haben ihr menschliches Ansehen wieder erlangt und damit auch ihre lang vergessenen Beziehungen zu Freunden und der Gesellschaft.14

Rushs Schriften und Taten scheinen doch nicht so genau übereinzustimmen. Dem Schizophrenen wird vorgeworfen, dass Wunschtraum und Realität nicht unterschieden werden könne. Leidet Rush am selben Symptom? Dennoch soll er der Begründer der Psychiatrie sein. Ist es heute im Allgemeinen nicht auch so, dass Versprechungen oft nicht mit den Ergebnissen übereinstimmen? Und dies gerade in der heutigen Psychiatrie.

Die Anstalten waren und sind auch heute maßlos überfüllt. 1885 war der Schweizer Psychiater Adolf Meyer im Asyl von Wocester, der Geburtsstätte der amerikanischen, staatlich verantworteten Therapie. Dort waren vier Ärzte für 1200 Patienten verantwortlich und zudem hatten sie 600 Neuzuzüge pro Jahr zu bewältigen. Ein Arzt musste 300 Patienten betreuen. Überfüllt sind auch unsere heutigen Kliniken, aber einen solchen Zustand kennen wir doch nicht, obwohl auch aus Spar- und anderen Maßnahmen gutes Personal fehlt.

Auch in Deutschland waren alle Anstalten überfüllt. „Bettenmangel wurde zum ständigen Problem aller Gesundheitsbehörden“, schreibt 1911 ein Arzt.15

Montagu Lomax, der 350 bis 400 Patienten behandelte, schrieb: „Unsere Anstalten verwahren, aber ganz gewiss heilen sie nicht. Und wenn sie einmal einen Heilerfolg haben, dann nur durch Zufall oder Trotz, nicht wegen des Systems.“ Weiter: „Falls auf Heilung ausgerichtete Methoden als Pflicht eines Anstaltsarztes betrachtet werden, so kann ich nur sagen, dass ich während meiner gesamten Dienstzeit keinen Hinweis habe. Staatliche Anstalten dienen im Wesentlichen nur noch dazu, Irre zu verwahren, nicht, sie zu heilen.16

Überfüllte Krankenanstalten

Arme und mittellose Familien mussten vorerst ihre Kranken zu Hause behalten. Julius Wangber-Jauregg schrieb 1901: „Wenn Arme ihre geisteskranken Verwandten über eine beträchtliche Zeit in ihren überfüllten Unterkünften versorgen müssen, leiden viele Familienmitglieder unter der ständigen Unterbrechung ihrer Nachtruhe. Sie sind durch das Verhalten der Patienten permanent verängstigt und aufgebracht, können sich jedoch keine angemessene medizinische Versorgung leisten, weil Geld knapp ist. Es kommt zur Krise. Diese Menschen tragen die Last der überfüllten Anstalten.17

Die Pflege der Kranken war weitgehend in den Händen der Familie, die natürlich nach einiger Zeit mit den Irren überfordert waren.

Aus Statistiken ist zu ersehen, dass sich die Familie schneller von einem Kranken lösen konnte, je stärker der Familienfriede gestört wurde.

Überfüllte Krankenhäuser gab es auch, weil die Leidenden aus Gefängnissen und Armenhäusern in diese Anstalten überwiesen wurden. „Einweisungen von hilflosen, chronischen Fällen aus den Armenhäusern, die eine besondere Pflege bedürfen, gab es nicht wenige. Manch einer beklagte nun, dass die Asyle mit diesen Fällen nur belastet würden; doch ich für meinen Teil bin hoch erfreut bei dem Gedanken, dass die uns zur Betreuung und Pflege dieser armen und gequälten Kranken zur Verfügung stehenden Mittel trefflich und vorteilhaft zur Linderung der schweren Last ihres Leidens angewendet werden können.18

Ein weiterer Punkt war, dass die Zunahme von Geisteskrankheiten während des 19. Jahrhunderts enorm zunahm und der Run auf die Anstalten sehr groß war. Ein Grund der starken Zunahme der Kranken war die Neurosyphilis. In der Napoleonischen Zeit begann sich diese auch in Deutschland und in der Schweiz epidemisch auszubreiten. Zu dieser Zeit kannte man das Penizillin eben noch nicht. Ebenfalls verbreitete sich auch der Alkoholismus unheimlich schnell. So kam es dann auch, dass Personen mit Alkoholvergiftungen in Irrenanstalten eingewiesen wurden.

Kranke, die als schizophren bezeichnet werden könnten, erscheinen um 1809. Diese Meinung stammt von Pinel in Frankreich und Haslam aus England. „Es gibt eine Art Irrsinn, die bei jungen Menschen auftritt und mit Gedächtnisschwund kombiniert ist. Das Empfindungsvermögen scheint beträchtlich abgestumpft; sie hegen nicht mehr die gleiche Zuneigung zu ihren Eltern und Verwandten. Sie verloren das Interesse an ihren Freunden, konnten nicht nacherzählen, was sie gerade gelesen hatten, und nicht mehr ein oder zwei Sätze zu Papier bringen. Je mehr ihre Apathie zunimmt, desto nachlässiger werden sie, was ihre Kleidung und persönliche Reinlichkeit betrifft. Es kann sogar zu unwillkürlichen Harn- und Stuhlentleerungen kommen. Ich musste schmerzlich berührt diese hoffnungslose und entwürdigende Verwandlung junger Männer ansehen. In kurzer Zeit wurde aus dem vielversprechenden und kraftvollen Geist ein sabbernder und aufgedunsener Idiot.19

Nach 1914 erklärte der Berliner Neuropathologe Moritz Romberg, dass die Neurosyphilis nach den großen militärischen Feldzügen zugenommen habe. Er nannte sie „Tabes dorsales“.

Der große Sprung in die heutige Zeit

Machen wir nun einen ganz großen Sprung in die heutige Zeit. Prof. Dr. med. Manfred Bleuler schrieb in seinem „Persönlichen Vorwort für Medizinstudenten“: „Fürchte Dich nicht vor der Psychiatrie. Die Psychiatrie ist in ihrem Wesen einfach und menschlich. Mit gesundem Verstand, etwas Lebenserfahrung und mit warmem Herzen sind ihre Grundlagen leicht zu erfassen. Alles was Ihnen in der Psychiatrie kompliziert vorkommt, ist nicht gar so wichtig, und oft ist es bloß übertrieben kompliziert ausgedrückt.

Eine Übersicht über psychische Störungen lässt sich in wenigen Sätzen vermitteln.

Einen wichtigen Teil psychischer Erkrankungen können wir am besten als die natürliche Folge seelischen Leidens, seelischer Entbehrungen oder seelischer Spannungen verstehen, von Kümmernissen aller Art, die den Kümmernissen Gesunder wesensgleich sind (psychogene Störungen). Ihre Verwurzelung im Körperlichen liegt jenseits von allem, was uns biologische und anatomische Studien lehren. Es handelt sich um krankhafte Übersteigerungen dessen, was Sie bereits kennen: z. B. dass man traurig ist, wenn man einen lieben Menschen verliert, dass Angst und Schrecken uns erstarren lassen oder unsere Knie zum Schlottern bringen, dass eine Kette von Enttäuschungen und Versagung unserer Spannkraft und Lebensfreude zermürben und unseren Charakter verändern kann. Ein anderer wichtiger Teil psychischer Störungen hängt von körperlichen Erkrankungen ab, die sie Hirnfunktion stören.20

Meine jahrelange Zusammenarbeit mit Prof. Dr. med. Manfred Bleuler zeigte mir immer wieder, wie er als Arzt „mit warmem Herzen“ seinen Patienten begegnete. Sein Beispiel und seine Schulung ermunterten mich auch zu meinen folgenden Ausführungen.

Kurze Einführung

Alle unsere Mitbewohner kamen mit dem Etikett Schizophrenie zu uns. Dieser Begriff wurde Anfangs dieses Jahrhunderts von dem Schweizer Psychiater Eugen Bleuler (Vater von Prof. Manfred Bleuler) eingeführt.

Meine Frau und ich verbrachten sehr schöne Zeiten mit unseren psychisch verletzen Frauen und Männern. Wir wohnten, lebten, freuten, trösteten, lachten und weinten zusammen. Wir beide, und dann auch unsere Mitarbeiter, waren von unserer Arbeit voll erfüllt. Wir bekamen Einsicht in viele Schicksale und etliche merkwürdige Erlebnisse, von denen Sie einige kennen-lernen. Wir lernten auch viele Vorurteile, ungenaue, zum Teil sehr oberflächliche Diagnosen, kennen.

Grundsätzlich gibt es wenige Wohnstätten, in denen junge Frauen und Männer mit psychischen Schwierigkeiten Aufnahme finden. Es war uns (meiner Frau und mir) ein Anliegen, Menschen, deren seelischen Schwierigkeiten und Verletzungen tiefer liegen, aufzunehmen, um ihnen eine längere Zeit zur Rehabilitation zur Verfügung zu stellen. Der Zweck unseres Hauses bestand darin, die jungen Menschen zu betreuen, sinnvoll zu beschäftigen und wieder in die Gesellschaft einzugliedern. Alle unsere Bewohner waren seelisch leidende Menschen, die keinen Klinikaufenthalt mehr benötigten oder die man in der Klinik nicht mehr haben wollte, aber sie konnten nicht ohne fremde Hilfe leben. Ein individuelles Förderprogramm, welches mit dem einzelnen Bewohner erarbeitet wurde, eine feste Tagesstruktur, die dem Mitbewohner angepasst ist, Aufarbeitung und mögliche Änderung des Lebensstils und die Ermöglichung des Wiedereinstieges in eine normale Situation sind die Ziele des gemeinsamen Arbeitens.

Jeder Pensionär kann in der persönlichen Auseinandersetzung mit der Gruppe und den Mitarbeitern lernen, tragfähige Beziehungen aufzubauen, eigene Ziele zu formulieren und zu verwirklichen. Ein familiäres Klima soll Geborgenheit und Halt vermitteln. Die persönlich angepasste Tagesstruktur und vielfältige Angebote fördern die Genesung und geben Mut zu neuen Schritten. Das Ziel ist eine einfühlsame praktische Hilfe zur Rückkehr in den alltäglichen Lebensalltag. Problemerfassung, Behandlung und Betreuung erfolgten nach zeitgemäßen Erkenntnissen und bewährten Formen pädagogischer und psychotherapeutischer Hilfen. Der Alltag wird durch ein gutes therapeutisches Milieu bestimmt. Dazu gehörten gemeinsam leben und sich beschäftigen, zusammen lachen und weinen, sich ärgern und freuen. Bei der Begegnung werden entstehende Konflikte gemeinsam bearbeitet.

Nie war ein Mangel an Mitbewohnern zu verzeichnen. Im Gegenteil, oft konnten gar nicht alle Anmeldungen berücksichtigt werden. So ist es nicht verwunderlich, dass sich unser „Haus zur Rebe“, so nannte sich unsere Institution, die übrigens ohne jegliche Subventionen arbeitete, vergrößerte und immer mehr Raum benötige. Schlussendlich wurden aus einem Wohngebäude deren vier. Weitere Häuser mussten angegliedert werden, damit auch eine familienähnliche Wohnsituation angeboten werden konnte. Sechs bis sieben Personen bewohnten zusammen ein Haus, welches sie selbst in Ordnung halten und auch ihre Mahlzeiten selber zubereiten mussten. Nur das Nachtessen nahmen alle gemeinsam ein. Dies verhinderte eine Absonderung einzelner, und die ganze Gruppe traf sich doch einmal am Tage.

Ebenfalls gemeinsam wurden einzelne Aktivitäten unternommen. Nach der Hausarbeit wurde je nach Können und Veranlagung an verschiedenen Orten gearbeitet. Spaziergänge und Ausflüge werden durchgeführt oder Ausstellungen, Kino oder Theater besucht. Wichtig ist, dass Menschen, die für kürzere oder gar längere Zeit hospitalisiert waren, wieder mit der Öffentlichkeit in Kontakt kommen und dadurch lernen, Hemmungen gegenüber der Umwelt und den Mitmenschen abzubauen.

Dies alles tönt sehr einfach, und man könnte sich vielleicht denken, dass die Bewohner des „Hauses zur Rebe“ eigentlich ein sehr angenehmes Leben führten. Dem ist aber nicht so. Es sind Ängste da, die einen Schritt an die Öffentlichkeit fast unmöglich machen. Der Schritt nach außen konnte zur Qual werden und möglicherweise in eine tiefe Depression führen. Hier ist es Aufgabe der Gesamtleitung und jedes einzelnen Mitarbeiters, das richtige Maß und den richtigen Einstieg zu finden. Es war eine sehr schöne, aber auch harte Arbeit, die wir auf keinen Fall vermissen möchten.

Damit man den Schluss dieses Buches verstehen kann, muss ich jetzt einfügen: Am 15. März 1995 wurde das „Haus zur Rebe“, das seit 1986 als eine AG und Einzelfirma bestand, in einen Verein „Christlich sozialtherapeutischer Wohngruppen, Haus zur Rebe“ umgewandelt. Was unser größter Fehler war.

Jetzt zurück zu unseren Patienten.

Schizophrenie zeigt kein einheitliches Krankheitsbild, und sie kann sogar bei demselben Kranken zu unterschiedlichen Zeiten sehr unterschiedlich verlaufen. Die Psychiatrie spricht von Bewusstseinsspaltung. Damit meint man, dass das Erleben des Erkrankten geteilt ist in die Wahrnehmung der Realität, wie sie ist, und in die Wahrnehmung einer scheinbaren, einer eingebildeten Realität. Bei akuter Überforderung des Gehirns, was durch den Wahrnehmungsstress verursacht werden kann, werden alle Dinge, zumindest viele Dinge, die um einem herum passieren – oder scheinbar passieren –, auf die eigene Person bezogen und fehlinterpretiert. In diesem Moment ist der Betroffene in eine Falle geraten und wandelt auf Spuren des Wahns. Sein Verstand bleibt ihm aber – und dadurch ist er auch therapierbar. Die genauen Ursachen der Krankheit sind noch heute nicht genau bekannt. Es gibt verschiedene Erklärungsversuche, aber keine schlüssigen Beweise.

Rosmarie Stein schreibt: „Ein Schizophrenieforscher ähnelt einem Menschen, der in einem dunklen Raum eine Katze fangen will, aber nicht einmal weiß, ob das, was sich bewegt, überhaupt eine Katze ist oder ob es vielleicht zwei, drei oder mehr sind. Dieser Vergleich drängt sich dem Außenstehenden auf, der Einblick in eine ‚Forschungswerkstatt der Zeit‘ nehmen konnte, in der mit ungewöhnlicher Offenheit alle Schwierigkeiten und Misserfolge der Ursachenforschung diskutiert werden.21

Wenn man die Schizophrenie erforschen will, kommt einem die Geschichte von dem Mann in den Sinn, der nachts seinen Hausschlüssel verloren hatte und diesen unter der Straßenpampe suchte, nicht weil er ihn dort verloren hatte, sondern weil es dort so schön hell war.

Von einer Erbkrankheit im engeren Sinne kann auch nicht gesprochen werden. Es gibt Hinweise, dass die Veranlagung zur Schizophrenie – zur Vulnerabilität (Verletzlichkeit) – familiär bedingt sein könnte. Um das zu beweisen, müsste aber die Anamnese der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern sehr genau vorliegen. Dann könnte man mit Bestimmtheit auch feststellen, dass diese Vorahnen auch ihre seelischen Verletzungen erlitten hatten.

Bei allen unseren Klienten konnten wir feststellen, dass der Diagnose Schizophrenie eine ganz schwere seelische Verletzung vorausgegangen ist. Dass durch diese Verletzungen sich die verschiedenen Menschen immer abkapseln, ja, beinahe fest einbetoniert haben. Die medikamentöse Behandlung dieser Menschen hat dann noch zur Verschlimmerung des geistigen Zustandes beigetragen – was wir später noch deutlich sehen werden. Aus dieser meist langen Vereinsamung heraus brechen die seelisch verletzten Gefühle dann noch vielfach erst in der Pubertät oder später aus.

Ich spreche nicht gerne von Schizophrenie, da dieses Krankheitsbild wissenschaftlich noch nicht genau abgesichert werden konnte, sondern ich spreche von schweren, tiefen, von sehr krankmachenden seelischen Verletzungen. Alles, was unsere jungen Frauen und Männer erlebt haben, wird meine Meinung bestätigen. Bei mir steigt dann die Frage auf: Muss man die Familie und die nächste Umgebung nicht verantwortlich machen, dass diese blühenden, jungen Menschen zu seelischen Krüppeln gemacht werden?

Die Stigmatisierung psychisch schwer verletzter Menschen, das heißt die öffentliche Brandmarkung bringt für die Betroffenen weitere Beschwerden, nämlich Erniedrigung, Diffamierung, Ausgrenzung und Missachtung jeglicher seelischen Gefühle. Die sogenannten psychisch Kranken erhalten eine Vorverurteilung mit schwerwiegenden Folgen wie soziale Isolation und Diskriminierung. Sie werden oft behandelt, als ob sie gefährlich seien – moderne Aussätzige. Die Isolation geht so weit, dass sie aus gewöhnlichen Wohngebieten ausgeschlossen werden, geschweige denn noch eine Wohnung oder nur ein Zimmer bekommen. Personen mit einer körperlichen Behinderung oder mit einer Verhaltensauffälligkeit werden mit einem sozialen Stigma besonders hoch belastet. Wie schon erwähnt, diese Personen erleiden Verluste an Prestige, Wertschätzung, Anerkennung und Zuwendung.

Durch die Stigmatisierung als Verrückte (ver-rückt, gleich verrücken) werden sie an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Die Vorstellung, dass tief verletzte Menschen oder eben schizophrene Patienten keine Persönlichkeit hätten, ist eine falsche Annahme. Die Meinung über diese Mitmenschen ist:

Diese Vorurteile führen Menschen in die Isolation und bei vielen Ärzten, Angehörigen und Freunden zur Meinung, dass die Heilungschancen sehr gering seien.

Sehr gefährlich für diese verletzten Menschen ist, dass die Konfliktsituationen wie Angst, Depressionen, Rückzug aus der Familie und von Freunden, Veränderungen von persönlichen Gewohnheiten zu spät erkannt werden und damit für eine Therapie, die einen günstigen Einfluss auf den Krankheitsverlauf nehmen könnte, viel zu spät eingesetzt werden kann.

Bevor ich nun die einzelnen Schicksalsschläge unserer Hausgenossen bespreche, möchte ich Folgendes sagen: Alle Frauen und Männer wünschten, dass wir sie mit ihrem Vornamen und nicht mit dem Nachnamen ansprechen sollten. Sie lehnten das Sie immer ab. Da es sich aber um erwachsene Menschen handelte, entsprachen wir ihrem Wunsch, indem wir sie mit ihrem Vornamen und mit „Sie“ ansprachen. Also zum Beispiel: Sie, Klaus oder Sie, Silvia etc. In einzelnen Fällen wollten unsere Mitbewohner unbedingt mit Du angesprochen werden. Alle Namen sind aus Datenschutzgründen geändert.